Ein postmoderner Bildungsroman. Christian Krachts \"1979\", in: Gegenwartsliteratur 3/2004. Ein germanistisches Jahrbuch / A German Studies Yearbook, hg. v. Paul Michael Lützeler u. Stephan K. Schindler, Tübingen: Stauffenburg 2004, S. 200–224.

May 27, 2017 | Author: Leander Scholz | Category: German Literature
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EIN POSTMODERNER BILDUNGSROMAN. CHRISTIAN KRACHTS "1979" Von Leander Scholz

I. Nach Niklas Luhmann besteht die "Individualität des Individuums", wie sie vor allem seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts diskutiert wird, darin, dass das "Individuum" sich selbst überlassen ist.1 Diese Überlassenheit, die man als "Freiheit", "Autonomie" oder auch "Selbstverwirklichung" ansprechen kann, beschreibt zunächst einmal Spielräume, die sich aus dem Übergang von einer stratifikatorisch zu einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ergeben. Selbst wenn man wie Luhmann davon ausgeht, dass sich diese Spielräume nicht hinreichend durch das traditionelle Schema von Individuum und Gesellschaft beschreiben lassen, sondern eine "Autopoiesis" des "psychischen Systems" annimmt, dann haben sich seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts doch signifikante Unterschiede herausgebildet, wie die Kontingenz dieser Spielräume bewältigt wird, wenn es seitens der Gesellschaft immer weniger strikte Einschränkungen und feste Vorgaben für die "psychische Autopoiesis" gibt.2 Neben der emphatischen Betonung von Individualität lässt sich ebenso früh auch schon deren Scheitern beobachten, wenn das Thema des kopierten Menschen als die andere Seite der Individualität in der modernen Literatur auftaucht. "Individualität" auszuprägen, und das heißt, eine prinzipiell "kriterienlose Selbstreferenz" zu leisten, kann demnach nur gelingen, wenn sich die individuellen Spielräume in einem Muster von Wiederholung und Abweichung bewegen. Spätestens seit dem Dandyismus des späten 19. Jahrhunderts weiß man, dass die Kopie ein Lebensschicksal sein kann, der man sich auch nicht durch gesteigerte Originalität entziehen kann. Im Gegenteil, andere Lebensläufe zu kopieren kann eine gelungene Strategie sein, mögliche Kriterien für die eigene Selbstreferenz zu finden.3 Neben dieser Lösung des Orientierungsproblems spricht Luhmann von einer zweiten Strategie des Austestens. Während sich das Kopieren immer im Spannungsverhältnis von Wiederholung und Abweichung bewegt, geht der "Anspruchsindividualismus" mit dem Überprüfen der Differenz von "System" und "Umwelt" einher. Ansprü-

che werden ausgetestet und können erfüllt oder enttäuscht werden. Auch hier bleibt das, was Individualität letztendlich ausmacht, unbekannt. Vielmehr geht es beim Austesten der Umwelt darum, welche "eigenen Erfahrungen" mit ihr gemacht werden können. Im Unterschied zur Strategie des Kopierens führt diese Strategie, Kriterien für die eigene Selbstreferenz aus der Umwelt zu gewinnen, zu einer Authentizitätssemantik, die nach der fortgesetzten Möglichkeit "eigener Erfahrungen" fragt. Michael Rutschky hat das in einem Essay mit dem programmatischen Titel Erfahrungshunger für die Selbstverwirklichungsansprüche der 70er Jahre im 20. Jahrhundert ausführlich beschrieben.4 Beide Strategien, die "kriterienlose Selbstreferenz" zu bewerkstelligen, gehen dabei mit der Tatsache um, dass die "Individualität des Individuums" in modernen Gesellschaften keine Substantialisierungen mehr zulässt. Die Überlassenheit des Individuums kennzeichnet daher eine prinzipielle Schrankenlosigkeit. Dennoch spricht Luhmann von einer "Co-evaluation" des psychischen und des gesellschaftlichen Systems, die wechselseitig füreinander Umwelt sind und sich durchaus in einem Steigerungsverhältnis befinden können, ohne sich gegenseitig einzuschränken. Trotzdem oder gerade deshalb lässt sich die Frage stellen, "welche Beschränkungen in der soziokulturellen Evolution zu erwarten sind, wenn das Gesellschaftssystem mit der Struktur seiner eigenen Reproduktion so hohe Varianz für individuelle Selbstkontinuierung freigibt."5 Um nicht der trügerischen Idee Vorschub zu leisten, dass sich diese "Freigabe" ohne sozioökonomische Wettbewerbsnachteile wieder rückgängig machen ließe, müsste man genauer formulieren: "freigeben muss". Denn es geht dabei nicht um die Frage, wie liberal eine Gesellschaft sein sollte, sondern darum, was diese "hohe Varianz für individuelle Selbstkontinuierung" möglich macht. Auch wenn es sich bei dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft folglich nicht um ein Entweder-Oder handelt, bei dem das eine stets auf Kosten des anderen stärker betont werden kann, lassen sich doch signifikante Unterschiede in der freigegebenen Varianz feststellen, an deren "Höhe" das Individuum auch leiden kann. Orientierungslosigkeit und die Unmöglichkeit, die geeigneten zu kopierenden Vorbilder zu finden, sind nicht ohne Grund ein zentraler Gesellschaftsdiskurs der letzten Jahrzehnte. In der Postmoderne kann prinzipiell alles kopiert werden,6 was umgekehrt heißt, dass die Strategie des Kopierens selbst in eine Krise geraten ist. Weil man trotzdem gezwungen ist, 2

ein Vorbild zu kopieren, dann nicht ohne Ironie, weil man weiß, dass auch dieses Vorbild nicht das letzte gewesen sein wird. Man rechnet schon damit, dass man sich in Zukunft auf ein anderes Vorbild wird einstellen müssen. Wenn man überhaupt sinnvoll zwischen der Strategie des Kopierens und des Austestens unterscheiden kann, dann wird man sagen müssen, dass das Austesten oder zumindest Kombinationen zwischen Kopieren und Austesten zunehmend wichtiger werden. Und das nicht zuletzt, weil das Modell von Wiederholung und Abweichung und der damit einhergehenden "Normalisierung" unter den Bedingungen einer diskontinuierlichen Flexibilität möglicher Weise nicht mehr trägt. In gewisser Weise ist es schwerer geworden, zwischen einem normalen und einem abweichenden Lebenslauf zu unterscheiden. Es spricht einiges dafür, dass das Dispositiv der Normalität und dessen operative Bevölkerungsregulierung, wie es Jürgen Link für die Moderne im Unterschied zu bloßen Normativitätskonzepten herausgearbeitet hat,7 in einer postindustriellen Gesellschaft seine Regulierungsleistung so nicht mehr erfüllen kann. Denn worin auch immer die spezifische "Normalität" einer "Normalisierung" jeweils bestehen mag, sie setzt stets einen homogenen Erfassungshorizont wie den der "Bevölkerung" voraus, die als Kategorie der Erfassung historisch erst im Übergang von einer höfischen Souveränität zu einem Bevölkerungssouverän entstehen konnte. Erst dann konnte die "Bevölkerung" Gegenstand der souveränen Macht sein, wie Michel Foucault es ausgeführt hat,8 und sich damit einhergehend ein Disziplinarregime entwickeln, das sich vor allem für die Abweichungen interessiert. Zu fragen wäre, ob in einer postindustriellen Gesellschaft, die für bestimmte Bereiche anstelle von Disziplin auf Kontrolle setzen und damit die "Varianz für individuelle Selbstkontinuierung" signifikant erhöhen muss, stabile Beschreibungskategorien wie "Regel" und "Ausnahme" prinzipiell nicht mehr greifen, weil der Erfassungshorizont der "Bevölkerung" keineswegs mehr selbstverständlich ist. Dahingegen lässt sich in der industriellen Epoche der Disziplinargesellschaft eine deutliche Bevorzugung der Strategie des Kopierens feststellen. So konnte Hegel in seiner Anthropologie noch die "Freiheit" des Subjekts auf der "Magie der Wiederholung" gründen und die "Gewöhnung" mit der "zweiten Natur" in eins setzen. Alle Widerstände dagegen erscheinen dann als "Partikularitäten", die sich dem Rhythmus dieser Bewegung entgegen stellen. Die Feier des Ablaufs lässt sich etwa auch anhand der technischen All3

tagsdarstellungen in der Encyklopédie von Diderot und d'Alembert beobachten. Während Diderot in der "Routine" eine "Tugend" und eine "Würde" sah, die er in seinen Schriften zum Schauspieler ebenso wie Hegel mit dem Auswendiglernen von Texten verglich, bemerkte Adam Smith die Folgen der Abstumpfung, die mit der Arbeitsteilung und dem Übergang von einer Domuswirtschaft – der Einheit von Arbeits- und Wohnraum – zur Freisetzung und Rekrutierung von Lohnabhängigen einherging.9 Was Karl Marx als "ursprüngliche Akkumulation" des Kapitals und der Arbeitskräfte beschrieben hat, ist deswegen zumindest als äußere Voraussetzung der Varianz anzusehen und scheint eine Präferenz für die Strategie des Kopierens nahe zu legen, die der industriellen Reproduktionslogik korrespondiert. Richard Sennett hat in seinem Buch Der flexible Mensch auf eine neue Form dieser Varianz aufmerksam gemacht, deren Flexibilität geradezu auf Diskontinuitäten in der Wahrnehmung der eigenen Biographie angewiesen ist.10 Was im letzten Jahrzehnt unter dem Stichwort Lebenslanges Lernen diskutiert wurde, ist demnach grundsätzlicher, als es diese Formeln suggerieren wollen. Zwar lässt sich schon im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine Dynamisierung der traditionellen Lehre von den Lebensaltern beobachten, die mit der Ausweitung der Jugend einhergeht, aber entscheidend an dieser neuen Form der Varianz ist, dass sich aufgrund der fehlenden Routine und der kurzfristigen Planbarkeit des Lebenslaufs kein Wissen über die eigene Biographie ansammeln kann. Sennett spricht in diesem Zusammenhang von abrupten Diskontinuitäten in der Zeitwahrnehmung, die den interventionistischen Umbauten von Arbeitsorganisationen entsprechen, so dass sich eine permanente Fluktuation ergibt. Dadurch wird es nicht nur schwerer, sich die eigene Zeiterfahrung zu erzählen und Selbstreferenz aufzubauen, sondern es muss sogar ein Misstrauen gegen diese Selbstreferenz gehegt werden, weil Kontinuität ein Zeichen für Unflexibilität sein könnte. Postmoderne Erzählstrategien sind ganz allgemein dadurch gekennzeichnet, dass unwahrscheinliche Sprünge in der Handlung kein Problem für das Vertrauen in die Fortsetzung der Erzählung darstellen. Sie trainieren, solche Sprünge zu verkraften. Die postdisziplinarische Identität besteht insofern darin, jederzeit zu einer Intervention gegen sich selbst bereit sein zu können. Das Paradox, das diese Identität heimsucht, besteht in einer Feindschaft gegen sich selbst, bei der die eigene Erfahrung und somit die zeitlich 4

aufgebaute Selbstreferenz zum Gegenstand des Verdachts werden kann. Von seinem eigenen biographischen Wissen abgeschnitten zu sein, macht gerade die Identität dieser Flexibilität aus. Auch wenn das in der Systemtheorie nicht vorgesehen ist, so könnte man zumindest metaphorisch sagen, dass nicht nur die Differenz zwischen System und Umwelt ausgetestet werden muss, sondern dass das psychische System zu seiner eigenen Umwelt werden muss. Denn die Operation, mit der die Selbstreferenz des Systems geschlossen wird, könnte gerade diejenige sein, mit der die Anpassungsfähigkeit blockiert wird. Das Funktionieren des Systems wäre dann zugleich seine Störung. Mit Intervention könnte man somit das Kippen von System und Umwelt charakterisieren. Während in der klassischen Subjekttheorie der Unterschied von "Träumen" und "Wachen" mit einem "durchgängigen Urteil" des Subjekts über sich selbst und seine Wirklichkeit begründet und die Störung dieser Unterscheidung der "Verrücktheit" zugerechnet wird, so ist das flexible Subjekt dadurch gekennzeichnet, dass es die Schwelle zum Traum offen halten muss und eben kein "durchgängiges Urteil" über sein "Wachen" und "Träumen" fällen darf. Natürlich wird man einwenden können, dass spätestens seit der Psychoanalyse Sigmund Freuds die Durchgängigkeit und die Geschlossenheit dieser Bezüge prinzipiell in Frage gestellt sind. Aber in soziokultureller Perspektive muss man sagen, dass gerade eine psychologisierte Gesellschaft die Voraussetzung dieser neuen Form der Varianz darstellt. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass sich postmoderne Subjektivitätstypen zunächst in den USA entwickeln konnten und zwar als Reaktion auf die ökonomische Krise des Fordismus.11 In diesem Zusammenhang müsste man den Stellenwert des "amerikanischen Traums" und seiner "Traumfabrik" jenseits der Diskussionen um Versprechen und Illusion analysieren. Denn die Einbildungskraft scheint nicht nur eine konstitutive Rolle in der Schließung des psychischen Systems zu spielen, wie schon in den subjektzentrierten Epistemologien des späten 18. Jahrhunderts, sondern die Abgrenzung von ihren bedrohlichen Doppelgängern namens "Phantasmen" scheint zunehmend unmöglicher zu werden und wenigstens dann auch nicht mehr sinnvoll, wenn die Schließung selbst zum Problem werden kann.

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II. Eine literarische Gattung, die zumindest für die deutsche Literatur seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts den Zusammenhang von "Einbildungskraft", "Bildung" und "Lebenslauf" explizit thematisiert, ist der "Bildungsroman". Der Bildungsroman behandelt das klassische Schema von Individuum und Gesellschaft in einer besonders paradoxen Form, insofern er nach dem Individuum jenseits seiner funktionalen Inklusion im Sinne von "Ausbildung" fragt und gleichzeitig danach, welche Erfahrungen der ausgeschlossenen Seite des Individuums in der funktionalen Gesellschaft zuzurechnen sind. Wenn sich das Individuum nur ex negativo in seiner Überlassenheit beschreiben lässt, also lediglich dadurch, dass es in seiner reinen Funktionsbestimmtheit nicht aufgeht, dann bezeichnet "Bildung" genau jenen Bereich der Individualität, der nicht der Funktionsbestimmung unterworfen ist und sich zu diversen Bildungsmaßnahmen anbietet, die in jedem Fall "zweckfrei" sein sollen und zumindest zum Teil durch holistische Individualitätsutopien gesteuert werden.12 Das besondere Paradox des Bildungsromans besteht deshalb in der Frage, auf welche Weise die ausgeschlossene Seite der Individualität in der funktionalen Gesellschaft vorkommen und das heißt im besten Fall wieder inkludiert werden kann.13 Dass die beschriebenen Lebensläufe im Sinne einer vollständigen Inklusion der ausgeschlossenen Individualität schon im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts nicht aufgehen können, reflektieren die meisten Bildungsromane dadurch, dass ihre Protagonisten in der Regel nirgendwo endgültig ankommen, was umgekehrt heißt, dass es sich nur um temporäre Inklusionen handeln kann. Es geht also vielmehr um das "Wie" der Inklusion des Exkludierten und um die Art und Weise der Grenzziehung zwischen "zweckgebundener Ausbildung" und "zweckfreier Bildung". Das beschriebene Paradox des Bildungsromans hängt insofern mit der Einbildungskraft zusammen, als auch diese in ihrer prägnantesten Ausformulierung bei Kant in eine "dienende" der praktischen und theoretischen Urteilsbildung, das heißt in eine "zweckmäßige", und in eine "freie" im Rahmen der ästhetischen Urteilsbildung unterteilt wird, die Kant bekanntlich mit der paradoxen Formel von der "Zweckmäßigkeit ohne Zweck" umschrieben hat. Der Bereich des Ästhetischen leistet deshalb neben der sozialen Funktionsbestimmung eine Art zweite Sozialisation 6

der "Geselligkeit" und des "Geschmacksurteils", die beide im Unterschied zur zweckgebundenen Interaktion prinzipiell unabschließbar sind. Dass sich der Bildungsroman zunächst adressatenspezifisch als ein literarisches Genre für die "gebildeten Leser" entwickelt hat, hängt mit dieser zweiten Sozialisation zusammen, bei der sich die ausgeschlossene Seite der Individualität auf unterschiedliche Weise wieder einbringen kann.14 Entscheidend ist zunächst, dass das Interesse für den Bereich des Ästhetischen seit der programmatischen Beschreibung dieses Bereichs durch Alexander Gottlieb Baumgarten immer auch ein Interesse für die Möglichkeit der Inklusion des von der Funktionsrationalität Ausgeschlossenen darstellt. Die Grenze, die mit dem Bereich des Ästhetischen thematisiert wird, markiert daher nicht einfach nur eine Art utopischen Gegenentwurf zum Zweckgebundenen, sondern macht die Grenzziehung von Inklusion und Exklusion selbst sichtbar, um die unsichtbare Seite der Varianz zumindest indirekt kontrollieren zu können. Der Diskurs zur Einbildungskraft im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ist deshalb einer der ambivalentesten, der stets auch die Gefahren ihrer Zügellosigkeit zum Gegenstand hat. Wenn sich im Ästhetizismus und den Kunstmetaphysiken des späten 19. Jahrhunderts die gesamte Erfahrungswelt als eine ästhetisch verfasste darstellt,15 dann scheint sich die Grenzziehung zwischen der ausgeschlossenen und der eingeschlossenen Seite der Individualität grundsätzlich verschoben zu haben. Die ganze Welt wird dann zum Gegenstand einer ästhetischen Perspektive, was sich umgekehrt auch so deuten lässt, dass die ausgeschlossene Seite des Individuums in der Verschärfung der industriellen Arbeitsteilung Züge einer invertierten Totalisierung annimmt. Das Ästhetische ist demnach nicht einfach eine Verschleierung der realen Verhältnisse, sondern die andere Seite der funktionalen Tauglichkeitsmachung, die zugleich die Grenze und damit die Varianz der individuellen Überlassenheit produziert. Die Ästhetizismen unterschiedlichster Ausprägungen zeugen daher immer auch von der Dimension der Überlassenheit, wenn die ganze Welt zum Ort der Einbildungskraft werden kann und diese damit zugleich selbst ortlos. Die Erzählstruktur des Bildungsroman scheint schon sehr früh die Strategie des Austestens bevorzugt zu haben, weil nicht nur die Möglichkeiten des Lebenslaufs im Sinne des Schemas von Individuum und Gesellschaft ausgetestet werden, sondern stets auch die Einbildungskraft des Protagonisten, was seine Vorstellungen über den Ort des Ankommens 7

angeht. Insofern beschreibt der Bildungsroman nicht nur die äußeren Umstände und die konfrontativen Erfahrungen des Protagonisten, sondern erzählt immer auch eine Geschichte der Einbildungskraft, einen Trip des Bewusstseins gewissermaßen, der vor allem in Kombination mit bewusstseinserweiternden Drogen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterschiedlichste Formen der Entgrenzung angenommen hat. Das Thema der Inklusion und der Exklusion hängt dabei auch etymologisch mit dem Begriffsfeld von "Bildung" und "Einbildung" zusammen, da mit "Bildung" einerseits in Verbindung mit der Imago-Dei-Lehre die gestaltgebende theistische Kraft bezeichnet wird und mit "Einbildung" andererseits der Prozess des "Einbildens" oder "Eingebildetwerdens" in diese gestaltgebende Kraft.16 Insofern beschreibt die seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in eine "reproduktive" und in eine "produktive" unterteilte Einbildungskraft stets auch eine Wiedereintrittsfigur, bei der es genau um jene Kopplung des sozialen und des psychischen Systems geht und damit um die Varianz der "produktiven" Seite der Einbildungskraft. Diese Unterscheidung wäre allerdings dann nicht mehr möglich, wenn nicht nur die "Produktivität" der Einbildungskraft ausgetestet werden muss, sondern auch ihre "Reproduktivität". Dieses Austesten bezieht sich nämlich nicht nur auf die "Produktivität" der Einbildungskraft, das heißt auf die Fähigkeit, Abweichungen zu produzieren und neue Originalitäten freizusetzen, sondern ebenso auf ihre "Reproduktivität", was nichts anderes als die Form der Anschlussfähigkeit an vorangegangene Kommunikation meint, vor allem aber auch die Fähigkeit zu Abbrüchen und Diskontinuitäten umfasst. Wenn die Struktur der Einbildungskraft nicht mehr durch das Spannungsfeld von "Reproduktion" und "Produktion" bestimmt ist, dann wäre die postmoderne Varianz nicht nur eine gesteigerte Varianz der Spielräume, sondern eine Varianz neuen Typs, mit der auch die Grenzverwaltung von Inklusion und Exklusion eine andere Form annimmt, bei der gerade die Ununterscheidbarkeit der inkludierten und der exkludierten Seite der "Individualität des Individuums" eine wesentliche Rolle zu spielen scheint. Diese neue Form der "Varianz für individuelle Selbstkontinuierung" könnte in dem Sinne zu einer "Beschränkung in der soziokulturellen Evolution" führen, dass das Individuum nicht mehr das unteilbare Element dieser Evolution darstellt, sondern als solches überschritten werden muss. Ein postmoderner Bildungsroman handelt daher nicht mehr von den Mög8

lichkeiten und Unmöglichkeiten der Persönlichkeitsgenese, sondern geradezu vom Gegenteil, von der gelungenen oder misslungenen Fragmentarisierung des Protagonisten, die vor allem den identitätsverbürgenden Körper des Individuums betrifft, für den sich die Disziplinarmacht so intensiv interessiert hat. Gerade auf diesen Körper und seine präsentische Disziplinierung nämlich scheint die Kontrollgesellschaft zumindest zum Teil verzichten zu können.

III. Einer der letzten Sätze des Romans 1979 (2001) von Christian Kracht lautet: "Ich habe mich gebessert".17 Gesagt wird dieser Satz von dem namenlosen Ich-Erzähler in einer Situation, die durch eine absolute und der Individualität gegenüber blinde Macht gekennzeichnet ist, nämlich in einem Umerziehungslager im maoistischen China Ende der 70er Jahre. "Ich war ein guter Gefangener", erklärt der Protagonist, "Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten." Auch wenn diese "Besserung" durch den letzten Satz des Romans "Ich habe nie Menschenfleisch gegessen" scheinbar ironisch oder sogar grotesk konterkariert wird, so wird mit dieser extremen Schwelle doch zugleich die Dimension des "nackten Lebens" angesprochen, die nach Giorgio Agamben die Biopolitik des Lagers kennzeichnet.18 Der Roman erzählt den Weg des reisenden Protagonisten vom vorrevolutionären Iran bis in dieses Erziehungslager und damit in die Dimension des "nackten Lebens" als eine Art umgekehrten Bildungsweg, bei dem die Selbsterziehung dadurch geleistet wird, dass der Protagonist ihn bestimmende Umstände aufsucht, die diese Erziehung für ihn leisten. Denn Ausgangspunkt und Motivation der Handlung ist gerade die Unfähigkeit des Ich-Erzählers, mit den Spielräumen, die traditionell den Bereich der Bildung eröffnen, angemessen umzugehen. Genau jene Spielräume werden im Gegenteil als belastend empfunden und konstituieren ein Begehren nach Entlastung, das konsequenter Weise nur noch in der absolut zurichtenden Zugriffsweise des Lagers gestillt werden kann. Der Ort des Ankommens, nach dem der Protagonist vom Beginn des Romans an sucht, ist also alles andere als ein locus amoenus, sondern ein expliziter und sehr realer locus terribi9

lis, dessen Härten im letzten Kapitel des Romans auch beschrieben werden, indem die gängigen literarischen Topoi von Lagerbeschreibungen aufgerufen werden. Obwohl man sicherlich sagen kann, dass es sich bei dieser Beschreibung eher um eine Hereinnahme der Lagerbeschreibung in die subjektivistisch-ironische Struktur der Ich-Erzählung handelt, als um eine historisch-fiktionale Existenzerfahrung, ist es doch bemerkenswert, dass das Lager als utopischer Ort aufscheinen und dementsprechend der Struktur der erzählerischen Subjektivität korrespondieren kann. Man könnte sagen, die einzige Möglichkeit, den Wiedereintritt der sich selbst überlassenen Einbildungskraft in ihre Reproduktivität noch zu leisten, besteht in der Imagination einer umgekehrten und absoluten Verfügbarmachung des Subjekts der Imagination. Die paradoxe und utopische Imagination des Lagers ist nicht nur durch die vollständige Exklusion der Individualität und die Reduktion des Gefangenen auf sein bloßes körperliches Dasein gekennzeichnet, wie sie der Ich-Erzähler beschreibt, wenn er das Wesen der Erziehungsmaßnahmen darin sieht, dass sie nicht den guten Willen und die Einsicht der Gefangenen in die Erziehungsziele motivieren sollen, sondern jeden Willen und jede Einsichtsfähigkeit der Gefangenen als unwichtig und subjektiv auslöschen sollen. Daher geht es auch nicht darum, den Inspektionen und den Verhören der Lagergewalt geschickt oder auch aufrichtig entgegenzukommen, sondern die grundsätzlich fremde Macht gerade in ihrer Willkür anzuerkennen. Dementsprechend besteht das Bemühen des Ich-Erzählers nur in der Aufrechterhaltung seiner körperlichen Funktionen, was alle anderen Überlegungen und Sorgen absorbiert. Diese Absorption allerdings markiert sehr genau die andere Seite der imaginierten Lagerexistenz, bei der sich die vollständige Exklusion der Individualität zugleich als vollständige Inklusion zeigt. Denn die Macht, in die sich die erzählende Subjektivität hinein imaginiert, ist keine fürsorgliche oder paternalistische, sondern eine rücksichtslose, die sich nicht für die Individualität interessiert und genau deshalb dem Begehren nach der Auslöschung der individuellen Überlassenheit entgegenkommen kann. Ironisch und zugespitzt könnte man sagen, dass sich die Maßnahmen und die Behandlungen des Lagers für den erzählerischen Blick als eine Art heilsame Kur darstellen, die im Dienstleistungsangebot der westlichen Gesellschaft, aus welcher der Ich-Erzähler stammt, noch nicht zu haben ist. Tatsächlich aber sagt dieses Begehren mehr über die Form der subjektiven Überlassenheit aus, als über den 10

historischen und sozialen Ort, an den der postmoderne Bildungsroman 1979 seinen Protagonisten ankommen lässt. In dem Buch Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett (1999) zeichnen die Autoren Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin v. Stuckrad-Barre das Porträt einer Generation, für die nach eigener Aussage aufgrund des fehlenden Existenzkampfes die Langeweile zum Hauptfeind geworden ist. Weder der bürgerliche Traum von einem aufsteigenden Lebensweg vom eigenen Auto bis zum eigenen Haus mit Familie, noch die Idee eines Ausstiegs aus diesem bürgerlichen Leben kommt für diese Generation in Frage, weil die Perfektion der spätkapitalistischen Kultur darin besteht, alle Alternativen zu absorbieren, sogar selbst noch die Frage nach diesen Alternativen. In der Selbstbeschreibung zeichnen die Autoren das Bild eines postmodernen Fin de siècle und nehmen dabei die nihilistischen und dandyistischen Topoi der Literaturgeschichte auf, ohne ihre eigene Situation besser beschreiben zu können, als selbst noch die Möglichkeit einer sinnvollen Fragestellung dem Spott der Ironie auszusetzen. Das Pochen auf die Ernsthaftigkeit des Gesprächs, das die Autoren in Tristesse Royale im Stile der romantischen Salons führen, gerät deswegen selbst zu einer leeren Pose, ebenso wie die Versuche, sich in eine konservative Tradition der verlorenen Mitte einzuschreiben. "Interessant" und "traurig" sind die beiden häufigsten Stichworte, die sowohl den Zustand der postmodernen Kultur kennzeichnen als auch die Lage der Gesprächsteilnehmer. Ihr Versuch, sich in ein exklusives Hotel zurückzuziehen, um die eigene Lage zu erkennen, ist daher von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil auch ein solches Projekt und selbst die Artikulation eines grundsätzlichen Sinndefizits schon zum Kitsch verkommen ist.19 Vom Beginn ihres Gesprächs an sind sich die Teilnehmer vor allem selbst suspekt und erfüllen somit eines der zentralen Kriterien des Dandys, nämlich sich selbst der Lächerlichkeit preis zu geben.20 Mit der Erfahrung, dass keine historische Erfahrung mehr zu machen ist, wächst natürlich umgekehrt das Bedürfnis nach dieser Erfahrung. Wenn jedoch alles der Ironie unterworfen ist, dann wird ebenso der Wunsch nach dem Ausstieg aus dieser Ironie zu einer ironischen Geste. Im Laufe des Gesprächs erhält dieser Wunsch unter dem Abschnitt Das reinigende Bad unterschiedliche Namen: So kann etwa die Kultur der Rockmusik im Unterschied zur Popmusik für Authentizität stehen oder eine Bekehrung zum 11

Christentum das gleiche versprechen oder auch eine Reise zu einem realen Kriegsschauplatz die letzte Hoffnung darstellen. Aber schon im Moment des Aussprechens dieser "Fluchtmöglichkeiten" wird auch die Unwahrscheinlichkeit des Gelingens mitgedacht und dadurch ironisch eingeholt. Auf dem Umschlag der von Kracht herausgegebenen Anthologie Mesopotamia: Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends (1999), die neben der Gesprächsrunde auch weitere Popautoren versammelt, ist das Ölgemälde Water Protectors (1985) des norwegischen Künstlers Odd Nerdrun abgebildet, der sich explizit mit Kitsch als einem ästhetischen Programm auseinandergesetzt hat. Das Bild zeigt Soldaten im Stil der Renaissance, die jedoch mit modernen Gewehren ausgerüstet sind. Dem korrespondiert das Foto des Herausgebers neben dem Klappentext, das Kracht vor einem dunklen Himmel mit einem Maschinengewehr in der Hand als ernste und zugleich lächerliche Figur zeigt. Dieses Paradox von der nichtendenden Ironie wird noch dadurch verstärkt, dass auf dem Buchrücken Jarvis Cocker, der Sänger der Britpop-Gruppe Pulp, mit dem Satz "Irony is over. Bye Bye." zitiert wird. In Tristesse Royale formuliert Benjamin v. Stuckrad-Barre die Unmöglichkeit der selbstgewählten Flucht folgendermaßen: "Kann man sich überhaupt selbst reinigen? Ist das alles wirklich nur der Ballast von draußen, oder ist nicht vielmehr das Draußen die Fluchtmöglichkeit? Ich hätte nicht das Zutrauen in meine Person, daß in mir die Wahrheit ist. Ich vermute sie ganz woanders, vermute Gott außerhalb von mir."21 Dieser Gottesvorstellung eines deus absconditus, die Stuckrad-Barre hier mit einem vollständigen "Draußen" andeutet, korrespondiert auf der Innenseite des Wunsches nach diesem "Draußen" eine postmoderne und ironische Haltung, die eher als Fluch denn als postideologische Freiheit empfunden wird. Allerdings sehen sich gerade die versammelten Autoren allesamt als Agenten dieser ironischen Haltung, insofern sie zumindest zum Teil als Redakteure des Zeitgeistmagazins Tempo selbst zu ihrer diskursiven Durchsetzung beigetragen haben. Die Flucht besteht deshalb nicht nur in einer Flucht vor sich selbst, sondern ganz konkret gegen sich selbst. Es wäre daher zu kurz gegriffen, die Probleme, die hier im dandyistischen Gewand artikuliert werden, als ein Leiden am Überfluss abzutun, wie das in vielen Reaktionen auf die Literatur der beteiligten Autoren geschehen ist. Der Typus der Ironie, der die Gespräche in Tristesse Royale strukturiert, lässt sich mit Ernst Behler und im Anschluss an Paul de Man als eine Form spezifisch postmoderner 12

Ironie verstehen,22 insofern nicht nur das, was ironisiert im gleichen Moment auch paradoxiert wird, sondern ebenso derjenige, der ironisiert, sich in eine Positionierung gegen sich selbst bringen muss. In dieser Ironie erscheint die Notwendigkeit des eigenen Ironisierens als eine unfreiwillige und ungewollte, was zugleich die Grenzen der Ironie markiert, ohne sie überschreiten zu können. Aus diesem Grund kann die Immanenz einer solcher Ironie auch als ein Schicksal erfahren werden, in dem sich der romantische Schwebezustand tatsächlich als ein Zwang enthüllt. Diese paradoxe Form der postmodernen Ironie könnte man somit als ein Training begreifen, die Widersprüche einzuüben, die eine postdisziplinarische Subjektivität kennzeichnen. Im Unterschied zu frühromantischen Ironiekonzepten und auch zur tragischen Ironie in der Tradition Nietzsches ermöglicht diese Ironie gerade keinen neuen Raum des Sagens, sondern beschreibt einen Kontrollverlust, der fatalistische Züge annehmen kann. Nicht die erfahrungslose Langeweile ist deshalb zum Hauptfeind der Subjektivität geworden, sondern eine Subjektivität, die ständig gegen sich selbst intervenieren muss, um ihre Varianz erhöhen zu können, und damit sich selbst zum Feind erklären muss. Während Kracht in seinem ersten Roman Faserland (1995) die postmoderne Überlassenheit der Individualität entlang einer medien- und warenweltförmigen Oberfläche erzählt, bei der die Langeweile und damit die Erfahrungslosigkeit eines "Draußen" die einzige verbliebene Motivation ist, mittels der die Selbstironie bis zur eigenen Unerträglichkeit perpetuiert werden kann, inszenieren die Reisebeschreibungen aus dem Sammelband Der gelbe Bleistift (2000) den Versuch, die Macht der eigenen Subjektivität durch die Restauration eines kolonialen Blicks wiederherzustellen. Gerade aber weil sich diese Position ebenso einfach einnehmen lässt, erscheint die etablierte Asymmetrie als eine vergangene und maximal zu einer erstarrten Nostalgie tauglich. Über diesen Zustand der Flexibilität, der nach Sennett bei erfolgreicher Fragmentarisierung als positiv empfunden werden kann, bei nicht erfolgreicher aber als ein Selbstzwang,23 geht der Bildungs- bzw. Erziehungsroman 1979 signifikant hinaus, indem er aus dem Begehren nach einem "Draußen" und dessen spiegelbildlicher Konzeption des inneren Zwangs die Konsequenzen zieht.

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IV. Ausgangspunkt des Romans ist die Stadt Teheran im Jahr 1979, in die es den namenlosen Ich-Erzähler und seinen Geliebten Christopher als Jet-Set-Reisende verschlagen haben. Parallel zur persischen Partyszene der iranischen Oberschicht, in die sich die beiden gleich nach ihrer Ankunft begeben, werden kurz die politischen Verhältnisse skizziert: es herrscht Kriegsrecht, und auf der Taxifahrt durch die Stadt ist an einer Brücke ein Stoffband mit der Aufschrift "Death to America – Death to Israel – Death to the Shah" zu lesen. Die iranische Revolution steht also kurz bevor und markiert die Gegenwelt zur Dekadenz der Herrschenden. Das Thema des Versprechens wird zusätzlich durch den Musiktitel My prayer eingeführt, den der Taxifahrer in der populären Version der Gruppe Ink Spots hört, wobei die Liedzeile des lyrischen Textes von Jimmy Kennedy "My prayer is a rapture in blue ..." durch den Ich-Erzähler wiederholt wird, was zugleich eine Liebes- und eine politisch-religöse Semantik aufruft. Beide werden allerdings im weiteren Verlauf der Handlung auseinanderfallen. Der Ich-Erzähler wird als Innenarchitekt vorgestellt, womit das zentrale Verhältnis von innen und außen angedeutet ist und ebenso das Design von Innenräumen auch im psychischen Sinne; die Beschäftigung mit der Außenarchitektur hingegen sei ihm zu "kompliziert", so der Ich-Erzähler (S. 19). Angesichts des geschmacklich perfekt eingerichteten Hauses des iranischen Gastgebers reflektiert der Ich-Erzähler das Verhältnis zu seinem eigenen Körper: "Zum ersten Mal, seitdem wir in Persien waren, hatte ich das Gefühl des Ankommens und der Reinheit, ein Kindheitsgefühl; es war das Gegenteil des Gefühls, das ich selbst als Kind hatte, in meinem französischen Kindergarten; damals hatte ich immer versucht, die Milchränder an meinem täglichen Zehnuhr-Glas Milch zu umtrinken, indem ich das Glas langsam im Uhrzeigersinn vor mir herumdrehte, so sehr ekelte ich mich vor meiner eigenen Milchspucke." (S. 34) In dieser kurzen Passage wird der Körper zugleich als imaginäre und reine Identität angesprochen, die schon im Moment ihrer Projektion in die Kindheit als verdorben erscheint. Parallel dazu wird der Körper des Geliebten als von einer nicht weiter spezifizierten Krankheit gezeichnet vorgestellt: "Seine Gesichtshaut schien gelb geworden zu sein, trotz des Sonnenbrands auf der Stirn. Seine Wangenknochen und sein Adamsapfel 14

waren noch stärker hervorgetreten als sonst." (S. 21) So verwundert es denn auch nicht, dass Christopher nach exzessivem Drogenkonsum auf der folgenden Party in ein Koma fällt, aus dem er nicht mehr erwachen wird. Der Ich-Erzähler kommentiert den plötzlichen Tod des Freundes in einem heruntergekommenen Krankenhaus auf lakonische Weise, da die Desillusion des Liebesversprechens schon vom Beginn des Romans an eingesetzt hat: "Irgendwann in der Nacht starb er. Sein Mund war geöffnet, ich versuchte, ihn zu schließen, aber es gelang mir nicht. Er lag da, bleich, mit offenem Mund, und ich fühlte eine Zartheit aufsteigen, die ich seit vielen Jahren ihm gegenüber nicht mehr gekannt hatte." (S. 77) Von dem Moment des Todes an setzt eine Art Selbstspaltung des Ich-Erzählers ein, für die eine rätselhafte und prophetische Figur mit dem Namen Mavrocordato, die der IchErzähler auf der Party kennen gelernt hat, den Wendepunkt einleitet. Parallel zu Christophers Sterben erscheint Mavrocordato als der Verkünder der "Gegenbewegungen zu all dem Horror hier" (S. 61). Interessanter Weise steht gerade der sterbende Christopher für das Konzept eines bildungsbürgerlichen Anspruchs, das zusammen mit dem westlichen Lebensstil unter den Vorzeichen der islamischen Revolution dem Untergang geweiht ist: "Der Mensch dort auf dem Rücksitz hatte nichts mehr vom goldenen Christopher; der von allen geliebte, hochintelligente Architekturkenner, Alleskenner, Alleswisser, der herrlich blasierte, viel zu gut aussehende blonde Zyniker, Christopher, mein Freund, war verschwunden." (S. 69) Als Mavrocordato dem Ich-Erzähler die Geschichte des islamischen Führers Hasan-i Sabbah mit dem Beinamen Der Alte vom Berge erzählt, wünscht sich dieser genau jenes bildungsbürgerliche Wissen, das ihm aber auf seinem weiteren Bildungsweg wenig nützen wird: "Ich wünschte in diesem Moment, ich hätte etwas gelernt. Nicht mich mit Interieurs zu beschäftigen, sondern richtig viel zu wissen, so wie Christopher, Bildung zu haben, denken zu können." (S. 55) Hasan-i Sabbah (gest. 1124) ist vor allem durch die Reisebeschreibungen Marco Polos bekannt geworden und seine Bergfestung Alamut gilt als mythischer Ort. Von dieser Bergfestung berichtet Mavrocordato die Legende der Assassinen, deren Verklärung in der Dandyliteratur bekanntlich eine zentrale Rolle spielt.24 Dieser Legende nach sollen die Assassinen vor dem Assassinat (Meuchelmord, Attentat) für eine bestimmte Zeit auf der Bergfestung in paradiesartigen Zuständen gefangen gehalten worden sein, um einen 15

Vorgeschmack auf das Jenseits zu bekommen, in das sie als Märtyrer nach dem Gotteskrieg gelangen sollten. Eine zentrale Rolle für dieses vorweggenommene Paradies spielt der Einfluss von halluzigenen Drogen, so dass der Zustand des vorgetäuschten Paradieses auf die Ambivalenz von locus amoenus und locus terribilis verweist. Baudelaire brachte die Rückhaltlosigkeit der Assassinen mit der Fähigkeit des Dandys zur absoluten Selbstdisziplinierung in Verbindung, wenn er deren vermeintliche Losung "Perinde ac cadaver" für das dandyistische Selbstverhältnis geltend macht.25 Auch der Name der rätselhaften Figur Mavrocordato, die den Ich-Erzähler aus den Wirren der islamischen Revolution führen wird, verweist in die literarische Tradition der Romantik und der Exzentrik. Alexander Mavrocordato (1791-1865) war einer der wichtigsten Protagonisten im griechischen Unabhängigkeitskrieg gegen die Türken (18211829), für den sich die englischen Romantiker Lord Byron und Percy Bysshe Shelley engagierten. Shelley hatte sich schon vorher mit den Assassinen in der unvollendeten Novelle The Assassins von 1814 beschäftigt und publizierte 1818 das epische Gedicht The Revolt of Islam, in dem die französische Revolution in einer diffusen orientalischen Umgebung wiederholt und idealisiert wird. Die romantisch-politischen Ideen dieses Poems und auch des lyrischen Dramas Hellas von 1821, das Shelley dem Prinzen Mavrocordato widmete, huldigen dabei einem liberalen Panhellenismus, der sich ebenso auf Christus wie auf Mohamed berufen kann. Insofern die Figur Mavrocordato bei Kracht aber gerade nicht die Identifikation der "Gegenbewegung" mit der islamischen Revolution leistet, scheint die Verbindung der romantisch-exzentrischen Literaturtradition mit einer politischen Ambition unter postideologischen Bedingungen nicht mehr in Frage zu kommen. Man könnte sagen, die Solidarität mit den politischen Bewegungen der dritten Welt ist als Modell des Ausgangs das erste, das aus dem Bildungsweg des Protagonisten ausscheidet; zumal die iranisch-islamische Revolution zugunsten eines Gottesstaats nicht in das traditionelle Schema der Solidarität passt. Das ist auch hinsichtlich der aktuellen Diskussionen um das Phänomen des islamischfundamentalistischen Terrorismus interessant, da besonders der selbsternannte Führer einer weltweiten islamischen Revolution Osama bin Laden an das Führerbild des Alten vom Berge anzuschließen versucht. Es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn der namenlose Protagonist aus 1979 eine Sympathie mit den Gotteskriegern empfunden und 16

Kracht damit zugleich aktuelle Ästhetisierungen des Politischen angesprochen hätte, die als politische Gewaltphantasien gerade in einer ästhetizistischen Literaturtradition ihren hervorragenden Ort haben. Aber die prophetisch-ironische Überzeichnung der Figur Mavrocordato weist die ästhetizistische Sehnsucht nach dem ganz Anderen zurück. Man kann den Roman 1979 deshalb auch, wie Hubert Spiegel, als eine Persiflage auf die exzentrisch-gebildete Orientreise lesen, wie sie Robert Byron (1905-41) in seinem Klassiker der Reiseliteratur The Road to Oxiana (1937) festgehalten hat und die Bruce Chatwin 1981 mit einer Einleitung versehen und für den Gentleman-Ästhetizismus wiederentdeckt hat.26 Allerdings darf man dann nicht übersehen, dass Kracht weit über eine Persiflage hinausgeht, indem er der Literaturgattung der "Persischen Briefe" gemäß die Reisebeschreibung invertierend an die Adresse Europas richtet.27 Dementsprechend wird die persische Reise nicht etwa deshalb zu einem Höllentrip, weil das alte Persien als Naher Osten in Terror und Anarchie versunken ist und damit einen Gentleman-Ästhetizismus nicht mehr zulassen würde, sondern weil dieser Ästhetizismus auf dieser Reise seine eigene Hölle offenbaren kann. Kracht schickt seinen Protagonisten aber nicht in eine fiktionale persische Reise, um diesen Ästhetizismus ad absurdum zu führen, sondern um ein fiktives Außen aufzusuchen, das dem Innen der überlassenen Individualität auf eine paradoxe Weise entspricht. Auch in diesem Punkt übersteigt 1979 Byrons The Road to Oxiana, da es dem Protagonisten dieses Reisetagebuchs gerade um das Aufsuchen der originären islamischen Architektur geht, während dieses Motiv der Sehnsucht in der Figur des Christopher gleich zu Beginn des Romans ausfällt. In einer zweiten Hinsicht korrespondiert deshalb die Figur Mavrocordato eher den sinnsuchenden Romanprotagonisten eines Hermann Hesse, deren Suche mitunter kitschige Züge annehmen kann, wenn sie mit fernöstlicher Weisheit konfrontiert wird. Das zweite Modell, für das die rätselhaften Weissagungen Mavrocordatos stehen, besteht dementsprechend in einer Esoterik, deren Bezugsrahmen für eine postmoderne Subjektivität und deren psychische Reproduktion zunehmend wichtiger zu werden scheint. Es ist das Modell der inneren Einstellung. Vorbereitet wird dieser Ausweg durch ein kurzes lakonisches Gespräch zum Problem der Theodizee zwischen dem Ich-Erzählers und dem deutschen Vizekonsul anlässlich der Überführung des Leichnams, das auf das Ende des Romans vorausweist. "'Glauben Sie an das Böse?'", fragt der Vizekonsul den Ich-Er17

zähler, "'Nein.' / 'Woher kommt das Böse?' / 'Ich weiß es nicht.' / 'War es schon immer da? War es schon immer in uns?' / 'Nein.' // 'Wir werden besser sein', sagte er. / 'Ja.' / 'Wir werden uns bessern.'" (S. 90) Wenn das Böse nicht immer schon da war, im Inneren, dann muss es auch möglich sein, es aus diesem Inneren auszutreiben. Der Weg der inneren Reinigung, den Mavrocordato dem Protagonisten weist, führt diesen in eine religiöse Dimension, allerdings weg von den christlichen und islamischen Propheten hin zu einer buddhistischen Spiritualität. Deren Versprechen der Ich-Auslöschung scheinen am besten dem "leeren Zentrum" zu korrespondieren, als das "Amerika" und damit die westliche Zivilisation insgesamt in einem Gespräch mit einem Komplizen Mavrocordatos beschrieben wird. "Wir haben uns alle verschuldet", fährt der Komplize fort, "weil wir Amerika zugelassen haben. Wir müssen alle Buße tun. Wir werden Opfer bringen müssen, jeder von uns." (S. 98) Man kann diesen Opferdiskurs als Austreibungsphantasie des inneren "Amerikas" verstehen. Dazu legt der Protagonist seine westlichen Markeninsignien ab: er zieht seinen "Cecil-BeatonPullover" aus und tauscht seine "Berluti-Halbschuhe" gegen "weiche chinesische Ballettschuhe mit einer Gummisohle" (S. 109). Als weiteres Zeichen der Leere fungiert eine technische Feedback-Schlaufe, die Mavrocordato gegen das diktatorische System in Stellung bringt, indem er eine Überwachungskamera sich selbst aufnehmen lässt und damit eine unendliche Schlaufe installiert. Die Gegenbewegung zum leeren Zentrum "Amerika" scheint dann in Mavrocordatos Erzählung vom "heiligen Berg Kailasch" in Tibet auf, der für viele Religionen das eigentliche "Zentrum des Universums" darstelle (S. 114). Der Protagonist soll wie die Pilger diesen Berg im Uhrzeigersinn umrunden, um damit seine Sünden reinzuwaschen und das Gleichgewicht wiederherzustellen. Obwohl Mavrocordato dem Ich-Erzähler zuweilen wie ein alberner und lächerlicher Hippie vorkommt, folgt er seiner Weisung. Damit beginnt nach dem ersten Teil des Romans unter dem Titel Iran, Anfang 1979 der zweite Teil unter dem Titel China, Ende 1979.

V.

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Schon diese zweite Bildungsstation der Pilgerreise beschreibt das Zusammenfallen von innen und außen, das in der Situation des Lagers seinen extremsten Punkt erreichen wird. Einerseits reproduziert das Modell der inneren Einstellung letztlich nur die gleiche Leere des Zentrums "Amerika", vor welcher der Ich-Erzähler schließlich auf der Flucht ist. Andererseits ermöglichen die Strapazen der Reise gerade eine Dissoziation von Körper und Psyche, die als Entlastung erfahren werden kann. Wenn es gilt, dass das, was außen ist, zugleich innen ist, dann kann nur ein anderes und verschärftes Außen dieses Innen wiederum überwinden. Wie in der bürgerlichen Tradition der Projektionsfläche "Natur" erscheint deswegen zunächst die Macht der tibetischen Landschaft als dieses erneuernde Versprechen: "Ich hatte mich noch nie so sauber gefühlt, so zutiefst und im Inneren rein." (S. 132) Zugleich ruft der Ich-Erzähler die Macht der tibetisch-arischen Ursprungsphantasmen auf, die bekanntlich in der Tibetologie des Nationalsozialismus eine zentrale Rolle gespielt haben, wenn er an der Südflanke des heiligen Berges deutlich "ein gigantisches, von der Natur aus Eis und Fels geschaffenes Hakenkreuz zu sehen" glaubt (S. 140). Trotz aller symbolischer Investitionen bleibt der Berg bei der Ankunft nur ein Berg: "Ich hatte ganz gewiß nicht das Gefühl, Mount Kailasch sei das Zentrum des Universums." (S. 141) Das große Erlebnis bleibt aus, bis der Protagonist sich einer tibetischen Pilgergruppe anschließt, die ihn ausgerechnet mit der schon eingeführten Liedzeile "My prayer is a rapture in blue ..." empfängt. Auch wenn sich sowohl für den IchErzähler als auch für den Leser die ganze tibetische Passage wie eine groteske Replik auf den im ersten Teil des Romans angeschlagenen kolonialen Abenteuerduktus darstellt, der einen Bezugsrahmen von Joseph Conrad bis zum Comicstrip Tim & Struppi eröffnet, so bereitet diese Erziehungsstation doch die Lagersituation vor, indem sie die Selbstauslöschung mit einer Gemeinschaftserfahrung in Verbindung bringt. Die Bergumkreisung stellt zwar nicht das Gleichgewicht der Welt wieder her, gliedert jedoch den Protagonisten in eine disziplinäre Gemeinschaft ein. Das Bedürfnis nach einer buddhistisch konnotierten Esoterik ist daher stets mit dem Wunsch nach einer bedeutungslosen Disziplin gekoppelt, in die der Disziplinierte nicht nur keine Einsicht hat, sondern deren Fremdartigkeit gerade die Bedingung darstellt, sie anzunehmen. Folglich ist auch die Gemeinschaft mit den Pilgern einerseits eine leere Gemeinschaft, sie hat nur die Form der Gemeinschaft, weil sie ohne gemeinsame Sprache bleiben muss. 19

Gerade deshalb erinnert sie den Ich-Erzähler an die Kindheit und an Erlebensphasen der Sozialisation: "Ich hatte, während ich mit ihnen wanderte, das wunderbare Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, als ob ich plötzlich eine Erinnerung zurückerhalten hätte, wie es im Kindergarten war, oder an den ersten Schultagen; es war wie ein goldenes Geschenk des Himmels." (S. 146) Auf der anderen Seite kann aus dem gleichen Grund der Körper selbst in das Zentrum der Gemeinschaft treten, gewissermaßen als unmittelbares und magisches Erfahrungsmedium. Die Gemeinschaft, die hier im klassischen Gegensatz und als Gegenwelt zur Gesellschaft fungiert, kann nur als leer bleibende Gemeinschaft funktionieren, indem die Bergumkreisung unendlich fortgesetzt würde. Sie kann nur auf Dauer gestellt werden, indem sie eine permanente Phase der Sozialisation darstellt, so dass der Sozialisierte immer auf der Schwelle von innen und außen verbleibt. Das ist auch der Grund, warum die Sätze "ich war regelrecht süchtig danach geworden" und "ich wollte nichts mehr, ich war frei" diese Erfahrung beschreiben und in einem Absatz fallen können (S. 146). Auch wenn die Gefangennahme der Pilger durch chinesische Soldaten zunächst wie ein unvermittelter Abbruch der paradiesischen Situation erscheint, so geht es in der folgenden Lagererfahrung um die Fortschreibung dieser Schwellenexistenz. Nach Agamben ist das Lager "der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt."28 Die juridisch-politische Struktur des Lagers ist dadurch gekennzeichnet, dass zwischen "Norm" und "Ausnahme" nicht mehr unterschieden werden kann, was zur Folge hat, dass die rechtliche Norm und das außerrechtliche Faktum permanent ineinander übergehen: eine "Norm, die über das Faktum entscheidet, das über ihre Anwendung entscheidet." Für den Subjektstatus, der in der modernen politischen Philosophie an den identifizierbaren Körper des Subjekts gebunden ist, bedeutet das die vollständige Reduktion auf das "nackte Leben", durch die der Körper außerhalb der Sphäre des Gesetzes steht und ihm zugleich vollkommen unterworfen ist. Der Körper ist deshalb nicht mehr der zur Identifikation abgerichtete Körper, sondern in dem Maße "bloßer Körper", als er der biopolitischen Zugriffsmacht ausgeliefert ist. Genau in dem Maße ist er auch kein Körper der "Individualität des Individuums" mehr. Die Beschreibung des chinesischen Umerziehungslagers, in das der Ich-Erzähler gebracht wird, nachdem in Verhören seine Reformfähigkeit festgestellt wurde, fokussiert 20

genau diese Schwellensituation, in der sich die Gefangenen befinden. Alle Maßnahmen zielen darauf ab, die Volksgesundheit der Arbeiter außerhalb des Lagers zu erhöhen. So verschwinden eines Tages die "Mongoloiden", weil man ihre Organe gebraucht hat, oder steht das Blutspenden der Häftlinge im Dienst einer biopolitischen Ökonomie: "Unser Blut würde wieder in den Volkskreislauf gelangen, unsere Schuld gegenüber dem Volk und der Partei könnten wir so ein bisschen wiedergutmachen." (S. 178) Das Lager markiert eine absolute Erziehungsmaßnahme, insofern sie unendlich ist und sich für die Gefangenen als eine unmittelbare physische Behandlung darstellt: "Das Denken wurde geleitet und dann abgebremst, ich hatte das Gefühl, als sei dieser verordnete Durst vollkommene Absicht, als sei er Teil des Umerziehungsmechanismus des Lagersystems. Ähnlich wie die Gedanken an und die ständige Sehnsucht nach dieser halben Tasse Wasser fühlte ich wirklich tief in mir den Wunsch nach Besserung, nach etwas, das einer Verpflichtung gleichkam und Halt bedeuten würde, Verpflichtung und Moral dem Volk gegenüber." (S. 162) Da der Zustand, in den der Bildungsroman 1979 seinen Protagonisten ankommen lässt, diese unendliche Erziehungsmaßnahme selbst ist, und nicht ihr Ziel, die Entlassung aus dem Lager, könnte man sagen, es handelt sich um den Wunsch nach einer Sozialisationspassage in Permanenz. Die letzten Seiten des Romans erzählen ein fast idyllisches Bild von den einfachen Freundschaften zwischen den Häftlingen und den einfachen Vergnügen, die sich die Häftlinge unter den extremen Lagerbedingungen verschaffen: es wird Schattentheater gespielt, kleine Mao-Figuren werden geschnitzt, und nach dem Essen sitzen alle gemütlich inklusive Aufseher wie eine Großfamilie zusammen. Wenn man mit Agamben das Lager als biopolitisches Paradigma der Moderne auffasst, in dem die konstitutiv Ausgeschlossenen auf eine spezifische Weise inkludiert werden, dann ist diese Idylle hinsichtlich der Durchkreuzung von Ausnahmezustand und Normalzustand interessant. Während das Lager die Inklusion des Außen als Außen ist, kann sich im Inneren des Lagers genau jene zivile Situation abbilden, die eigentlich das Begehren motivieren müsste, das Lager zu verlassen. Der Satz "Ich war ein guter Gefangener" bedeutet deshalb nicht nur, dass der Protagonist die Lagerdisziplin anerkannt hat, sondern dass die Gefangenschaft gut für ihn war.

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Diese Inversion wird auch durch den Umstand unterstrichen, dass das oben beschriebene Verhältnis von Ironie und Ernst ebenso vor der historisch-fiktionalen Lagererfahrung nicht halt macht. Wie ein roter Faden zieht sich das Wort "seriously" durch den Roman und erinnert in seiner verzweifelten Logik des ironischen Ernstes an The Importance of Being Earnest / A Trivial Comedy for Serious People (1895) von Oscar Wilde. Angesichts der entwürdigen Behandlung der Gefangenen und deren chronischer Unterernäherung bleibt der Ich-Erzähler trotz seiner Besserungsabsichten ganz Dandy: "Ich dachte an Christopher, daran, daß ich mich immer zu dick gefühlt hatte, und ich war glücklich darüber, endlich seriously abzunehmen." (S. 166) Daher kann man 1979 gerade nicht als Selbstabrechnung von Kracht mit einer früheren ästhetizistischen Haltung lesen, die den dandyistischen Held ins Elend führe, sondern muss ihn als eine konsequente Verschärfung des Ästhetizismus verstehen, indem ein vermeintliches Außen des Ästhetizismus wie die Schwelle des "nackten Lebens" in die ästhetizistische Haltung integriert wird. Dem Ästhetizismus wird keine Grenze gesetzt, sondern geradezu umgekehrt bedeutet die Ausweitung des Ästhetizismus eine signifikante Ausweitung der Überlassenheit des Individuums, die vor allem die Sphäre seines "nackten Lebens" betrifft, die nicht mehr ein Jenseits des Zivilen markiert. Agamben hat darauf hingewiesen, dass es gilt, den Metamorphosen des Lagers nachzugehen, das man sich nicht mehr als ein klar umrissenes Territorium des eingeschlossenen Außen vorstellen darf, sondern das sich als Hybridisierung womöglich prinzipiell durch jeden Körper ziehen kann.29 Dieser Entortung entspricht in Krachts Roman 1979 das Begehren nach dem Lager insofern, als es die Gestaltwerdung eines Zustands herbeisehnt, die in Faserland und Tristesse Royale als Leiden an der eigenen zwanghaften und ironischen Selbstintervention thematisch wurde. Die Imagination des Lagers korrespondiert daher nicht mehr einfach einem Ausnahmezustand, sondern einer Ausnahmesituation, die zum Normalzustand geworden ist. 1979 ist kein historischer Roman in dem Sinne, dass sich der Ich-Erzähler in eine historische Erfahrung zurückzuversetzen versucht, sondern in dem Sinne, dass historische Bilder aufgerufen werden, mit denen sich die eigene Situation beschreiben lässt. Aber wenn sich der reproduktive Wiedereintritt und die Wiederangliederung nur in der kollektiven Vorstellung des Lagers imaginieren lässt, bedeutet das zugleich, dass das Lager zum eigentlichen Ort der Dauersozialisation 22

geworden ist. Der "Beschränkung in der soziokulturellen Evolution", nach der Luhmann gefragt hat, stünde dann vielmehr eine Entelementarisierung des Individuums als Medium der Gesellschaft entgegen. Denn im Lager wird die unteilbare Einheit von identifizierbarem Körper und Individuum in der Dimension des "nackten Lebens" gerade aufgelöst. Der Roman 1979 ist deshalb keine Selbstabrechnung des Ästhetizismus oder etwa eine politische Trendwende, sondern in seiner ästhetizistischen Entgrenzung Agent eines Versprechens, dem Kracht mit dem programmatischen Titel Ferien für immer. Die angenehmsten Orte der Welt30 ebenfalls ein Reise- und Erziehungsbuch gewidmet hat.

Niklas Luhmann: Individuum und Gesellschaft, in: Universitas Jg. 39 (1984), S. 1-11. Vgl. Georg Stanitzek: Genie: Karriere/Lebenslauf. Zur Zeitsemantik des 18. Jahrhunderts und zu J.M.R. Lenz, in: Jürgen Fohrmann (Hg.): Lebensläufe um 1800, Tübingen: Niemeyer 1998, S. 241-255. 3 Vgl. Rudolf Stichweh: Lebenslauf und Individualität, in: Jürgen Fohrmann (Anm. 2), S. 223-234. 4 Michael Rutschky. Erfahrungshunger. Ein Essay über die 70er Jahre, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1980. 5 Luhmann: Individuum und Gesellschaft (Anm. 1), S. 11. 6 Vgl dazu: Paul Michael Lützeler (Hg.): Räume der literarischen Postmoderne: Gender, Performativität, Globalisierung, Tübingen: Staufenburg 2000. 7 Jürgen Link: Versuch über den Normalismus: wie Normalität produziert wird, Opladen Westdeutscher Verlag 1996, vor allem: S. 15-74. 8 Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 282-311. 9 Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen, München: Beck 1974, Buch V, S. 662. 10 Richard Sennett: Der flexible Mensch: die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Berlin Verlag 2000, S. 57-80. 11 Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M./New York: Campus 2002, S. 252-290. 12 Vgl. dazu Wilhelm Voßkamp: Utopie und Utopiekritik in Goethes Romanen Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: Wilhelm Vosskamp (Hg.): Utopieforschung, Frankruft/M.: Suhrkamp 1985, 3 Bde., Bd. 3, S. 227-249. Zur Entwicklung des Bildungsromans vgl. Gerhart Mayer: Der deutsche Bildungsroman: von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Stuttgart: Metzler 1992. 13 Zum Problem der Exklusion in modernen Gesellschaften vgl. Rudolf Stichweh: Inklusion/Exklusion, funktionale Differenzierung und die Theorie der Weltgesellschaft, in: Soziale Systeme 3, 1997, S. 123-136. 14 Zu den unterschiedlichen Programmen vgl. ausführlich Jürgen Fohrmann: Schiffbruch mit Strandrecht. Der ästhetische Imperativ in der >KunstperiodeBildung< v. E. Lichtenstein, Hist. Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 17 Christian Kracht: 1979, Roman, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001, S. 183. Zitiert wird im Folgenden unter der Angabe der Seitenzahlen im Text. 18 Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 127-189. 19 Vgl dazu Eckhard Schumacher: >Tristesse Royale


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