Die Literatur macht ihrerseits nichts anderes, als die Beziehungen zu der Welt, die in der Wissenschaft, in der Philosophie, in der Psychologie usw. entweder schon existieren oder bald hergestellt werden, wieder-‐ zufinden oder vorherzusagen – man weiß ja nie, ob sie der Philosophie und der Wissenschaft voraus ist oder hinten nachhinkt. 1 Alain Robbe-‐Grillet
Ein Fall für die Philosophie -‐ Zur Vorherbestimmung in der Literatur
Es mag für philosophisch gebildete Leser einen gewissen Anreiz haben, wenn ein Kriminalroman das Kausalitätsproblem aufwirft; es könnte im Roman zum Beispiel ein Philosophieprofessor, während er in einer Vorlesung darüber spricht, ermordet werden. Um die Leser in einer dem Genre entsprechenden Weise zu unterhalten, wird die Erzählung nicht auf die Spekulation mit hypothetischen Kausalketten (gleichgültig, ob sie nun diese durch Anspielungen und Hinweise im Leser provoziert oder selbst explizit anstellt) und für die Lösung ihres Falls nicht auf fiktiv faktische Zusammenhänge verzichten können. Daß Erzähl-‐ und Erklärungsmuster besonders zwingend scheinen, gilt vielleicht gerade für jene Art von Kriminalromanen, die von literarisch Anspruchsvolleren zur Trivialliteratur gezählt werden, nicht weil sie den detektivischen Trieb des Lesers befriedigt, oder weil zu viele Vorannahmen im Spiel sind, sondern weil ein bewährtes Schreibschema mit den entsprechenden Coups und Klischees zum zigsten mal einfallslos variiert wird. Daß wir aber Ansätze und Schemata brauchen, daß wir bestimmter Rahmen bedürfen, um überhaupt das, was in oder um uns vorgeht, interpretieren zu können, wird niemand bezweifeln. Neben ihrem Unterhaltungs-‐ und Marktwert mißt sich der eigentliche Wert der literarischen Produktionen, der Bewältigung literarischer Formen daran, wie sehr sie unsere Interpretationsmöglichkeiten bereichern. Damit ist ein erster Berührungspunkt mit Philosophie gegeben, denn nicht nur läßt sich das Gleiche über philosophische Werke sagen, auch wenn die Klärung von Begriffen, von Problemen in philosophischer Strenge einen anderen Stil verlangt als den literarischer Formen, sondern Gedankenlosigkeit und fehlende Sensibilität für die Grundlagen unserer Anschauungsweisen produzieren im Literarischen, sobald erzählt und erklärt wird, bestenfalls jene Variationen von Klischees, die so gut ankommen. Auf welcher Ebene der geglückte Eingriff der Literatur in die untrennbare Einheit der fiktiven Wirklichkeit ihrer Gegenstände und der faktischen ihrer Formen stattfindet, auf welche Weise sich die gelungenen Erweiterungen manifestieren können, hängt also nicht nur von den Gattungen der Literatur und den mit ihnen verknüpften Konventionen ab, sondern auch von den Begriffen, die sich die Schreibenden von der Wirklichkeit (inklusive der Gattungen) machen. So kann für ein Kennzeichen des hohen Niveaus eines Science-‐fiction-‐Romans gelten, daß die Möglichkeiten seiner Projektionen nicht im Widerspruch zu den Gesetzen der Physik stehen, andererseits könnte ein bewußtes Außer-‐Kraft-‐Setzen eines anerkannten Gesetzes im Nachhinein als Vorwegnahme neuer wissenschaftlicher Paradigmen, 1
Alain Robbe-‐Grillet, Vom Anlaß des Schreibens, Tübingen 1989, S. 39
Erkenntnisse oder ihrer Anwendung gedeutet werden. Wird das Verhalten der Protagonisten eines solchen Romans mithilfe von Psychologie des neunzehnten Jahrhunderts beschrieben und erklärt, wird dieser trotz wissenschaftlicher Fortschrittlichkeit der technischen Accessoires einen veralteten Eindruck machen, und beruht die gesamte Komposition auf einem einfachen Helden-‐ und Handlungsschema, auf naiven anthropomorphen oder moralisierenden Kontrasten, werden dem Werk, das aufgrund seines Genres mit Vorurteilen verstaubter Vereine zu rechnen hat, die Ehren der höheren Literatur mit Recht verwehrt bleiben. Im Fall des Kriminalromans können Komplexität oder gewiefte Zirkularität, das in Schwebe Halten gleich plausibler Tathergänge, ein neuer Sprachduktus, verschlüsselte Botschaften oder Bedeutungsebenen ebenso zur Rettung seiner Literarizität beitragen wie zeitliche Vielschichtigkeit, die genaue Beschreibung einer Landschaft, eines Milieus, oder geschickte Darstellung der institutionellen Folgen des Glaubens an Willensfreiheit. In einem 1989 (nach Tonbandaufzeichnungen) in Buchform erschienenen Vortrag, den Alain Robbe-‐Grillet in Tübingen frei gehalten hat, kommt der Autor auf seinen im Präsens geschriebenen Roman Les Gommes (1953) zu sprechen, einen Kriminalroman, dessen wesentliches Gestaltungsprinzip sei, daß er auf dem Mangel beruht, daß das Verbrechen, um das es im Roman geht, zunächst nicht begangen worden ist. Derjenige, der das Verbrechen aufzuklären, bzw. zu rekonstruieren versucht, begeht es schließlich, um diesen Mangel auszufüllen, aus logischer Notwendigkeit, wie Robbe-‐Grillet meint: „Man nimmt an einer Art Umkehrung dieser von einer Lücke organisierten Welt teil, einer Lücke, die dann geschlossen wird. Sie wird geschlossen, aber falsch, also ‚falsifiziert’, durch den Helden des Romans selber.“ (Robbe-‐Grillet 1989, 41) Was man als guten Einfall eines ungewöhnlichen Kriminalromans behandeln könnte, will Robbe-‐Grillet als Bild für die Grundkonstitution modernen Schreibens verstanden wissen, das sich wissenschaftlichem Denken auf der Höhe seiner Zeit verdankt. Um die Relation zwischen Literatur, Wissenschaft und Philosophie plausibel zu machen, spart Robbe-‐Grillet in diesem Vortrag weder mit Namen berühmter Wissenschaftler und Philosophen, noch mit breit angelegten perspektivischen Festlegungen, die als entscheidende erkenntnistheoretische Paradigmenwechsel auftreten. So gilt es ihm beim Gesetz der Schwerkraft für erwiesen, „daß die betreffende Gleichung weniger über den Fall des Apfels aussagte als über das Funktionieren des Newtonschen Gehirns“ (ebda, 35) und Einstein wird nicht wegen seines berühmten Vorbehalts („Gott würfelt nicht“) gegen die Zufallswelt der Quantenphysiker zitiert, sondern weil er die Verifizierbarkeit problematisiert habe. Karl Popper habe diese wissenschaftliche Einsicht vulgarisiert, indem er stattdessen den Begriff der Falsifizierbarkeit eingeführt habe, womit „das Kriterium der Wissenschaftlichkeit darin besteht, die Theorie, in einem Punkt zumindest, des Mangels zu überführen.“ (ebda) Die Analogie des Verbrechens, das erst im Zuge der (Re-‐)Konstruktion seiner Verursachungen begangen wird, zu der Falsifikationstheorie Poppers beruht auf der sehr bildlichen Rede von Mangel und Lücke, und es ist nicht unmittelbar verständlich, in welchem Sinn das begangene Verbrechen als Falsifikation gelten kann, wenn der Aufdecker durch seine eigene Beweisführung sich dazu gezwungen sieht, es zu begehen. Sieht man die Beweisführung oder die hypothetischen Kausalketten des Aufdeckers als Theorie und das Faktum des Verbrechens (im Roman) als von der Theorie nicht nur vorausgesagtes, sondern herbeigeführtes Datum, wird vielmehr, bestreitet man individuelle Handlungsfreiheit, die Theorie bestätigt. Wird die Beweisführung durch das Begehen des Verbrechens aber ad absurdum geführt, etwa weil jemand, der sich durch den Glauben an die eigene
Beweisführung gezwungen sieht, ein Verbrechen zu begehn, diese nicht bestätigen kann, weil sein Glauben an die Beweisführung nicht Bestandteil der Beweisführung sein kann, könnte das Verbrechen im übertragenen Sinn als falsifizierendes Datum interpretiert werden. (Das Beispiel eines ähnlichen Falles, das ich meiner Biographie bzw. einem früh verstorbenen Schulfreund verdanke, ist dessen von ihm astrologisch vorausgesagter Tod. Er glaubte, seine Voraussage durch den an dem bestimmten Datum durchgeführten Freitod verifizieren zu können.) Nun ist Poppers Falsifikationstheorie, die Robbe-‐Grillet zur Illustration seiner Rede von Mangel und Lücke herbeizieht, selbst Gegenstand wissenschaftstheoretischer Auseinandersetzung. Der an die Herleitung seines Verbrechens glaubende Verbrecher kann zwar sehr gut als literarisches Gleichnis für einen Kausalitätsbegriff nach Hume und Kant verstanden werden, für die Verursachungen nur im Geist des Urteilenden verankert sind, bei Kant als Resultat sinnlicher Anschauung, bei Hume als Resultat der Gewohnheit, Popper dagegen steht für einen Deduktivismus, der die logische Funktion der Negation zum Paradigma erklärt. Er rühmt sich, Humes induktiven Ansatz ständiger Stärkung oder Schwächung von Hypothesen mittels Falsifikationstheorie logifiziert zu haben, und hat Humes theoretische Skepsis insofern entschärft, als ein einziges Datum genügt, um eine Theorie zu falsifizieren und damit zu der nach Popper einzig möglichen, der negativen Form der Wahrheit zu kommen. (Vgl. Popper 1984, 20: „Der grundlegende Unterschied zwischen meinem Ansatz und demjenigen, den ich schon vor langer Zeit ‚induktivistisch’ genannt habe, ist meine Betonung der negativen Argumente wie Gegenbeispiele, Widerlegungen, Widerlegungsversuche – kurz: Kritik –, während der Induktivist den Nachdruck auf die ‚positiven Fälle’ legt, aus denen er ‚nicht-‐deduktive ‚Schlüsse’ zieht und von denen er sich eine Garantie der ‚Verläßlichkeit’ dieser Schlüsse verspricht.“) Mit ihrer Verneinung ändert sich zwar der logische Wert, aber nicht die logische Struktur von Theorien. Dieses Festhalten an theoretischen Zusammenhängen, auch wenn sie gemäß der „Logik der Forschung“ nur im Hinblick auf eine spätere Verneinung konstruiert werden, deutet Robbe-‐Grillet, der seine Wissenschaftsanalogie (in Anlehnung an Husserl und Lacan) auf den philosophisch angeschlagenen Begriff des Bewußtseins ausweitet, literarisch-‐weltanschaulich: „Es gibt strukturierende Lücken in uns und ich würde sogar soweit gehen zu sagen, daß wir der Ausdruck einer Lücke sind, aber einer Lücke die mit etwas anderem im Streit liegt, mit der alten Fülle, die uns im letzten Jahrhundert abhanden gekommen ist und von der wir immer noch geprägt sind.“ (Robbe-‐Grillet 1989, 33) Die Feststellung paart auf seltsame Weise einen Fortschrittsgedanken mit einem Verlustgedanken oder -‐gefühl. Mit dem Grundton ist die Tonalität verloren gegangen, doch die Figuren führen losgelöst von einem organisierenden Zentrum ihr Eigenleben weiter. Auf die Logik der Sophisten übertragen: Die Axiomatik wird ohne gegenständliche Rechtfertigung gesetzt, die Prämissen werden vom Argumentierenden zwar nicht mehr geglaubt, doch die angewandten Beweismethoden bleiben die einzig überzeugenden; für die abgeleiteten Sätze genügt, daß sie abgeleitet sind. Robbe-‐Grillet will in seiner Tübinger Rede keine erkenntnistheoretische Grundsatzdiskussion führen, sondern seine Wissenschaftsanalogien dienen ihm zur Erläuterung von Stilunterscheidungen, die er anfangs zwischen Romanen trifft. Balzacs Romane stehen dort für die zentrierte Fülle klassischen Schreibens, während Dostojewskij (mit Die Dämonen) und Flaubert (mit Madame Bovary) als Anfänge der Moderne gelten: „Im Roman Balzacs wird der Leser von Fülle zu Fülle getragen, er weiß immer, wo er seine Füße aufsetzen kann. Er bewegt sich in einer sicheren, beruhigenden Welt fort, ohne Angst haben zu müssen, daß er
in ein Loch hineinfällt. Von den Romanen Flauberts hingegen konnte man sagen, daß sie wie ‚eine Kreuzung von Lücken und Mißverständnissen’ sind.“ (ebda, 13) So, wie er hier aus der Meinung eines Rezensenten zitiert, erklärt Robbe-‐Grillet sein Konzept des Mangels entweder damit, daß der besprochene Autor selbst ein ähnliches Bild verwendet: „Aber Flaubert sagt: ‚Es war wie ein Loch, das ihre Existenz ausgehöhlt hatte.’ Die Verwendung der Metapher des Loches genau zu diesem Zeitpunkt gibt zu denken“ (ebda, 9), oder er erklärt es aus der Handlung: Stavrogin, der Held in Die Dämonen, wird die meiste Zeit als abwesend, als im Ausland weilend beschrieben, oder aus einem durch verlegerische Willkür bzw. Vorsicht entstandenen Mangel der Komposition: Das Kapitel der Beichte Stavrogins, in der er sein Vergehen bekennt, fehlt in der ersten Ausgabe (ein aus außerliterarischen Gründen fehlendes Verbrechen) und wird in den folgenden ans Ende des Romans gestellt. Um das Erzählen in der Geschichtsschreibung zu verteidigen, verfällt Golo Mann, auch zitierend, auf das gleiche Bild wie Robbe-‐Grillet: „Der Vergleich zwischen Roman und Historie ist sinnvoll, für mich wenigstens; [...] Paul Veyne nennt die Historie einen ‚wahren Roman mit Lücken’. Wahr, weil nichts erfunden werden darf, Roman, weil erzählt wird, mit Lücken, weil man nicht alles weiß.“ (Mann 1979, 436) Nur im Nachhinein sähe in der Geschichte alles determiniert aus, als ob alles nur noch eine Frage der richtigen Auswahl der Parameter wäre, die die materialistische Geschichtsschreibung mit ihren Strukturanalysen treffen zu können meint: Was auch die beste Strukturanalyse niemals kann: Uns die Fülle vergangenen Lebens in ihrer Offenheit nach der Zukunft darzubieten. Die Offenheit nach der Zukunft hin: Für die Lebenden war die Zukunft nie entschieden, sie wußten durchaus nicht, was kommen würde, genau so wenig wie wir heute wissen, was im nächsten Jahr sein wird, viel weniger in zehn Jahren. Der erzählende Historiker kann beides verbinden: Von außen, als ein ohne eigenes Verdienst besser Wissender an vergangene Menschenwelt herantreten, und auch im Strom vergangnen Lebens schwimmen, so als gehörte er dazu und wüßte er nicht, was, im Vergangnen, demnächst kommen wird. Der Analytiker weiß alles. Aber er weiß es nur nachher – eine billige Überlegenheit über die Toten. [...] Es ist, rein logisch, und Logik hat hier Bedeutung, ein Unterschied zwischen unvermeidlich Hervorbringen oder zur Verursachung beitragen auf der einen Seite. [...] Deutschlands soziale Strukturen haben das Abenteuer Adolf Hitlers nicht verhindert, nicht unmöglich gemacht, soviel ist ganz sicher richtig, und mehr nicht. Ich behaupte: Hitlers Abenteuer war beinahe unmöglich und wurde Wirklichkeit, gerade weil es den Zeitgenossen unmöglich schien: den alten deutschen Mächten, den konservativen oder reaktionären zuerst, den Engländern und Franzosen dann. Hätten sie es für möglich gehalten, dann hätten sie anders gehandelt und hätten es unmöglich gemacht. (ebda, 442ff .) Das Wort „Abenteuer“ sitzt hier so schief wie die Beurteilung des politischen Umfelds als Generalabsolution mißverstanden werden könnte, aber mit der prinzipiellen Kritik an statistischer Berechenbarkeit menschlicher Handlungsräume steht Golo Mann nicht alleine. So findet sich in der Dialektik der Aufklärung von Adorno/Horkheimer Kritik ähnlicher Stoßrichtung, allerdings nicht mit der Intention, das Erzählen als die adäquate Ausdrucksform der Geschichtswissenschaften zu propagieren: „Mir ist ein Gespräch in Erinnerung, in welchem ein Nationalökonom aus den Interessen der bayrischen Bierbrauer die Unmöglichkeit der Uniformierung Deutschlands bewies. Dann sollte nach den Gescheiten der Faschismus im Westen unmöglich sein. Die Gescheiten haben es den Barbaren überall
leicht gemacht, weil sie so dumm sind. Es sind die orientierten, weitblickenden Urteile, die auf Statistik und Erfahrung beruhenden Prognosen.“ (Horkheimer/Adorno 1993, 218) Das Beispiel führt mit dem Kontrast zwischen einseitigem Interesse und der Annahme seiner gesamthaften Auswirkung die prinzipielle Blindheit statistischer Erwartung gegenüber dem nächsten Ereignis vor. Ebenso könnte argumentiert werden, daß statistische Erhebungen sozialer Umstände Entscheidungen bei Politikern hervorrufen können, die es totalitären Bestrebungen schwer macht, Einfluß zu gewinnen. Prinzipiell müssen sich soziologische Untersuchungen wie andere wissenschaftliche Beschreibungen auch, an einen bestimmten Grad der Verallgemeinerung halten, der sie zwingt, Gegebenheiten des beobachteten Gebietes (als „nicht relevant“) oder Merkmale des zur Bestätigung herangezogenen Ereignisses auszublenden, bzw. eine bestimmte Grenze gegenüber ihren Gegenständen in den Analysen nicht mehr zu übertreten. Das gilt natürlich auch für entsprechende Untersuchungen literarischer Phänomene, wie sie zum Beispiel Pierre Bourdieu in seinem Buch Die Regeln der Kunst (dt. 1999) anstellt. Aussagen innerhalb eines bestimmten Spektrums von Verallgemeinerungen über literarische Werke einer bestimmten Zeit und Region und genetische Erklärungen über Stil, (intellektuelles, Unterhaltungs-‐) Niveau, Zugehörigkeit zu literarischen Zirkeln etc. lassen sich so treffen (die Untersuchung ist umso interessanter, je tiefer sie mit ihren Methoden und Kategorien zu differenzieren, individualisieren vermag), aber bei dem einzelnen Werk eines bestimmten Autors wird die Untersuchung an ihre Grenzen stoßen. Bourdieus Untersuchung ist gerade deshalb so virtuos, weil er diese Grenzen mithilfe von Gustave Flauberts Roman L’éducation sentimentale zu überwinden scheint. An den Anfang seiner Arbeit stellt er die „Lektüre“, eine detaillierte Analyse dieses Romans, der mit literarischen Mitteln genau jene Zeit und Gesellschaft beschreibt, um die es Bourdieu in seiner Untersuchung geht. „Die Erziehung des Herzens [...] liefert alle erforderlichen Instrumente zu seiner eigenen soziologischen Analyse.“ (Bourdieu 1999, 19) Somit macht er sich auf beeindruckende Weise Flauberts Potential der, so lückenhaft sie auch sei, lebendigen Vergegenwärtigung soziologisch zunutze. Im Abschnitt „Die notwendigen Zufälle“ heißt es: Die Möglichkeit des Zufalls, des unerwarteten Zusammentreffen sich gesellschaftlich ausschließender Möglichkeiten, ist jedoch in der Koexistenz unabhängiger Serien enthalten. Frédérics Erziehung des Herzens ist das fortschreitende Erlernen der Unvereinbarkeit der beiden Welten: Kunst und Geld, reiner Liebe und käuflicher Liebe; ist die Geschichte der strukturell notwendigen Zufälle, die soziales Altern bestimmen, indem sie den Zusammenprall der strukturell unvereinbaren Möglichkeiten bestimmen, die durch die Doppelspiele der „Doppelexistenz“ im Vieldeutigen nebeneinanderher bestehen konnten: In diesen aufeinanderfolgenden Zusammentreffen unabhängiger Kausalreihen gehen nach und nach alle „lateralen Möglichkeiten“ zugrunde. (ebda, 47) Wie weich die soziologische Zusammenfassung des Romans sich hier mit der rührenden Parallelität von „Kunst“ und „reiner Liebe“ auch gibt, die „unabhängigen Kausalreihen“ wecken nicht nur das Gefühl, daß sie hier stehen, weil die soziologische Determiniertheit zwar auf sich willentlich ändernde Akteure verzichtet, auf anderen Wirklichkeitsebenen aber deterministische Lücken hinterläßt, sondern auch den Verdacht, daß durch die Rückschlüsse von einem Roman auf eine soziologisch verwissenschaftlichte Wirklichkeit Kompositionskriterien, die für den Autor wesentlich gewesen sein mögen und für das Werk wesentlich sind, zu kurz kommen. Bourdieu macht vergessen, daß er bei den anderen
Werken (der Symbolisten, Décadents etc.), die in seiner Untersuchung zur Sprache kommen, genau an jener Grenze halten muß, die seinen Verallgemeinerungen und Methoden gesetzt ist, nämlich dort, wo die Werke nicht selbst die Gesellschaft beschreiben und damit die „erforderlichen Instrumente“ liefern, auch wenn er erklärt, warum, bzw. in Reaktion worauf sie entstanden sind (z.B.: „Verlaine rühmt die Einfalt [...], und dieser Verlainesche Sinn für Schlichtheit und Ungeschminktheit trägt gewiß dazu bei, Mallarmés Hang zur Hermetik des ‚Rätsels in der Lyrik’ zu verstärken“ – ebda, 424). Natürlich ist Bourdieu gewitzt genug, seinen Methoden, wo ihre Kapazität zu enden droht, kategorielle Schützenhilfe zu geben: „Der Feldbegriff ermöglicht es, über den Gegensatz zwischen interner und externer Analyse hinauszugelangen, ohne irgend etwas von den Erkenntnissen dieser traditionell als unvereinbar geltenden Methoden aufzugeben. Wenn man aufgreift, was der Begriff Intertextualität impliziert, die Tatsache nämlich, daß der Raum der Werke sich jederzeit als ein Feld der Positionierungen darstellt.“ (ebda, 328) Text-‐Interpretationen, die in jedem Werk nur ein Spiegelbild des Literaturbetriebes sehen, werden, wenn sie wegen des anekdotischen Tratsches nicht langweilen, zumindest etwas Einseitiges haben. Sicher spielt auch der allzu verständliche Wunsch jedes Forschers eine Rolle, die Untersuchungsebene seiner Wissenschaft für allumfassend zu erklären. Es bleibt dennoch eine kategoriale Fehlleistung, soziologische Regelmäßigkeiten mit ästhetischen und poetologischen Regeln zu verwechseln, oder genetische Erklärungen, die sich auf Typisierungen des sozialen Umfelds berufen, gegen literaturwissenschaftliche auszuspielen, die sich philologisch mit einzelnen Werken und Autoren auseinandersetzen, sich bei der Interpretation der Werke Flauberts, um beim Beispiel zu bleiben, wenn es um ihre Entstehung geht, auf seine Briefe stützen (aus denen auch Bourdieu ausgiebig zitiert), in denen viel von seiner Poetik, seinen Entscheidungskriterien beim Schreiben preisgegeben wird. Als Beweis, daß Bourdieus Wissenschaft ihm keine Scheuklappen anlegt, daß er, auch wenn es ihm immer um den Rückschluß auf die Welt der soziologisch deutbaren Tatsachen geht, die Einschränkungen dieses Ansatzes bewußt in Kauf nimmt, mag folgender luzider Absatz aus seiner Untersuchung dienen, in dem er selbst die Grenze seiner Art der Lektüre, die dort enden will, wo die technischen Fragen der Kunst beginnen, zur Sprache bringt: Die Geschichte des Romans kann mindestens seit Flaubert auch als eine lange Arbeit an der Aufgabe beschrieben werden, „das Romanhafte zu töten“, wie Edmond de Goncourt sagte, das heißt, den Roman von all dem zu reinigen, was ihm eigen scheint, die Intrige, die Handlung, der Held: seit Flaubert und seinem Traum vom „Buch über nichts“, seit den Goncourts und ihrem Streben nach einem „Roman ohne Wendepunkt, ohne Intrige, ohne niederes Amüsement“ bis hin zum Nouveau Roman und der Auflösung linearen Erzählens sowie, bei Claude Simon, der Suche nach einer quasi bildhaften (oder musikalischen) Komposition, die auf periodischer Wiederkehr und internen Entsprechungen zwischen einer begrenzten Anzahl narrativer Elemente – Situationen, Personen, Orten, Handlungen – aufbaut, auf ihrer modifizierten oder modulierten Reprise. Dieser „reine“ Roman erfordert evidentermaßen eine neue Lektüre, verlangt eine Lesehaltung, wie sie bisher der Lyrik vorbehalten war – ihr „idealer“ Grenzfall ist die scholastische Übung der Entzifferung oder der auf wiederholter Lektüre aufbauenden Neuschöpfung. Faktisch kann das Schreiben der Forderung nach einer derart anspruchsvollen Lektüre nur Gestalt verleihen, weil es in einem Feld realisiert wird, in dem die Bedingungen nach Erfüllung dieser Forderung vereinigt sind: Der „reine“ Roman ist Produkt eines Feldes, in dem sich die Grenze zwischen Kritiker und Schriftsteller
verwischt; letzterer theoretisiert um so besser über seine eigenen Romane, als diese bereits den Roman und seine Geschichte reflektieren und kritisieren, wobei sie unaufhörlich seinen Fiktionscharakter in Erinnerung rufen. (ebda, 381ff.)
Letztlich muß von jedem Werk, das den Anspruch, Literatur zu sein, für sich geltend machen will, gesagt werden können, daß es die Geschichte seiner Gattung mitreflektiert. Und auch Romane, wie z.B. jene Nabokovs, die ihre Einsätze weniger deutlich als ein Nouveau Roman markieren, beruhen auf einer streng durchdachten Komposition. Nichtsdestotrotz sagt Bourdieus Beschreibung einer, wenn auch nicht unbedingt bejahten, Entwicklung in der Literatur eigentlich mehr aus als Robbe-‐Grillets Mangelmetapher und Wissenschaftsanalogie. Der Vorwurfston eines, der aus Literatur historisch-‐soziologische Rückschlüsse ziehen will, die nicht die Geschichte ihrer Formen betreffen, ist deutlich zu hören. Wenn die Roman-‐ bzw. die lineare Erzählform von Golo Mann gepriesen wird, weil sie für alle Ebenen, auf denen für die Geschichte relevante Ereignisse stattfinden, durchlässig sei bis zu individuellen Ereignissen, die jeder wissenschaftlichen Verallgemeinerung und Vorhersage entgehen müssen, hat er dabei den realistischen, Zusammenhänge erklärenden Roman im Sinn, die an historischen „Fakten“ orientierte, Zusammenhänge herstellende, altmodische, aber stilsichere Erzählweise, die er selbst in seinem historischen Roman Wallenstein vorexerziert hat. Einem Realismus verpflichtet, den nach eindeutigen Gründen verlangt, lobt er Tolstois Krieg und Frieden, lehnt aber die dort mitgelieferte Geschichtstheorie ab, die sich gegen die Geschichtserklärung durch diplomatische Noten und politische Entscheidungsträger wendet. Tolstoi schreibt: „Um die Gesetze der Geschichte kennenzulernen, müssen wir den Gegenstand unserer Betrachtung vollkommen ändern, müssen Kaiser, Minister, Generale gänzlich beiseite lassen und dafür die unendlich kleinen gleichartigen Elemente studieren, welche die Massen leiten.“ (Tolstoi 1989, 1126) Bei Fritz Mauthner findet sich trotz der sonst geübten Sprachskepsis die Festlegung auf einen bestimmten Erzählstil in der Geschichtsschreibung noch expliziter: „Von jeher war Geschichte eine künstlerische Erzählung von äußerstem Naturalismus. Und die besten Romane (Zolas Dèbâcle, Stendhals Chartreuse de Parme) sind Geschichte.“ (Mauthner 1980, 424) Damit wird von Mauthner die Tatsache ignoriert, daß auch der Darstellungsmodus geschichtlicher Entwicklung unterworfen ist, und die Frage nach dem Gegenstandsbereich ist zu einer des Stils geworden. Mag die Welt oder das, was geschieht, nur einmal da sein, es macht einen Unterschied, in welcher Hinsicht davon gesprochen wird. Diese Hinsicht wirkt sich stilistisch auf die Komposition von Ereignissen aus. Die Darstellung kann dabei auf verschiedenen Stilebenen gleichzeitig operieren, hierarchisch geordnet oder nicht: Auf einer können Ereignisse z.B. genau beschrieben werden, während auf einer anderen die sprachlichen Repräsentationen selbst auf dem Spiel stehen. Eine der klarsten Variationen über dieses Thema sind Raymond Queneaus berühmte Stilübungen, Exercices de style (Queneau 1947), in denen eine Episode, eine Autobusfahrt, bei der dem Erzähler ein junger Mann auffällt, den er zwei Stunden später auf der Straße vor dem Bahnhof Saint-‐Lazare wiedersieht und einen Gesprächsfetzen auffängt, neunundneunzig unterschiedlichen rhetorischen Bearbeitungen unterworfen wird, die vom metaphorischen Sprechen, über Anagramm, Gedichtformen wie Sonett und Ode, Vers libres, Dramatisierung, dem Sprechen hinsichtlich der taktilen, visuellen, auditiven Sinne bis zur logischen Analyse und philosophischen Verfremdung reichen. Dem ganzen
Projekt liegt die rhetorische Figur der Ironie zugrunde, aber trotz des (unterschiedlich starken) parodistischen Charakters der einzelnen Bearbeitungen zeigt sich, welches Mißverständnis es in der Literatur jedes Tonfalls bedeuten kann, stilistische Faktoren für im ursprünglichen Sinn gegenstandslos zu halten, als ob, wie ich über etwas spreche, unabhängig davon wäre, was ich davon zu fassen bekomme. Nun will Queneau mithilfe der katalysatorischen Wirkung der Autobusepisode zeigen, wie unterschiedlich Sprache Gegenständlichem beikommt, womit sich die Untersuchungsrichtung gewissermaßen umkehrt und mit diesem Zeigen auf ökonomischste Weise über die Verwendungsweisen von Sprache etwas gesagt ist. Daß der Gegenstand selbst der analytische Faktor ist, um in der Sprache Aspekte des Begreifens zu relativieren oder zu bestätigen, ist für Literatur viel wesentlicher als ihre Fiktionalität, das lückenhafte Bewußtsein oder das Umschreiben eines Mangels. Queneaus Versuch wirkt fast wie ein Gegenparadigma zu Robbe-‐Grillets Rede vom Mangel im Text, die die Analogie zur selbst fraglichen Falsifikationstheorie Poppers behauptet. Wenn Robbe-‐Grillet die Abwesenheit des Gatten in La jalousie als zentrales Symbol für seinen Text versteht, „die Gesamtheit des Textes, die ganze Erzählung wird von diesem zentralen Loch generiert, welches der abwesende Gatte ist, eine Figur, die an der Geschichte ganz und gar nicht teilnimmt“ (Robbe-‐Grillet 1989, 43), so ändert diese Intuition nichts an der Tatsache, daß der fehlende Gatte ein Element auf der Erzählebene seiner Prosa bleibt, die sich, was die Neuartigkeit betrifft, vielmehr durch ihre extreme Gegenständlichkeit, durch ihre Beschreibungsgenauigkeit auszeichnet, die nicht nur in jedem Moment vorgibt, zu wissen, wovon sie spricht, sondern auch, von welchem Ort aus im Erzählraum des Romans sie spricht (was Professor Frantisek Lesák dazu verleitet hat, von dem Haus, um das die Erzählung kreist, ein Modell zu konstruieren – vgl. Lesák 1999). Robbe-‐Grillets Auswahl ist dabei sowohl, was beschreibbare Phänomene und zugelassene Erklärungen, als auch, was die Schreibstrategien betrifft, streng: „das optische, beschreibende Wort, dem es mit dem Messen, dem genauen Hinstellen, dem Abgrenzen, dem Bestimmen genug ist.“ (Robbe-‐Gillet 1965, 23) Die natürlichen Sprachen sind ein Arsenal von oft überkommenen Vorherbestimmungen, und die bereitgestellten Kategorien und Zusammenhänge, die nicht nur auf Definitionen, sondern auch auf verwandten Wortstämmen und grammatischen Möglichkeiten beruhen (wie sie bei den verschlüsselnden Schreibstrategien der Poesie eine Rolle spielen), laufen quer durch sich oft ausschließende Weltauffassungen und ineinander unübersetzbare Wirklichkeitsebenen. Welche davon nicht mehr relevant oder auszublenden sind, gibt Stilfragen erst ihre Brisanz. Die positivistische Beschränkung des Gegenstandsbereichs auf das sinnlich Wahrnehmbare, daß die deskriptiven Strategien in La jalousie auf die Spitze getrieben werden, macht die Radikalität dieses Textes aus: „Zwischen dem noch Haftenden, durch das Alter verblaßten grauen Anstrich und dem unterm Einfluß der Nässe grau gewordenen Holz erscheinen kleine Flecken, die rötlichbraun aussehen – wie die natürliche Farbe des Holzes –, eben dort, wo dies unlängst durch das Abfallen von Schuppen entblößt wurde. Drinnen im Schlafzimmer steht A [...] am Fenster und schaut durch eine der Spalten.“ (Robbe.Grillet 1966, 102) Das kausal erklärende „unterm Einfluß der Nässe“ setzt Zusammenhänge voraus, die auf der Ebene, auf der hier beschrieben wird, Lücken eher als ganz konkrete Eigenschaften erwarten läßt, z.B. Löcher, die Astansätze im bearbeiteten Holz zurücklassen, oder eben Zwischenräume, Spalten, wie sie sich bei Jalousien finden. Es wirkt dann eher so, als ob Robbe-‐Grillet auf die von ihm selbst beim Schreiben penibel beobachteten Unterschiede
zwischen den Beschreibungsebenen vergißt, wie ein für eine oberflächliche literarische Übertragung mißbrauchter Kategorienfehler, wenn er auf die Frage eines Zuhörers antwortet: Was sie für möglich halten, ist, daß es Substanzen ohne Löcher geben könnte! In jeder modernen Auffassung der Materie jedoch wird die Substanz selbst zum größten Teil von dem gebildet was fehlt. Sie ist etwas, das sich bewegt, eben weil es den Mangel gibt. Zur Zeit Balzacs war die Materie kontinuierlich und fest, heute ist sie diskontinuierlich und in Bewegung. Die Dinge können nur deshalb existieren, weil es die kleinen harten Kerne aus Protonen und Neutronen gibt und die großen leeren Räume, um die Elektronen kreisen. (Robbe-‐Grillet 1989, 45) Was hat nun die fiktionale Wahrnehmung, wie sie im obigen Zitat aus La jalousie beschrieben wird, mit der wissenschaftlichen Beschreibung von Materie gemein, die Robbe-‐ Grillet hier bringt, außer daß sich beide eben auf die Wirklichkeit beziehen? „Die Literatur strebt andere Ziele an. Nur die Wissenschaft kann dagegen behaupten, das Innere der Dinge zu kennen“. (Robbe-‐Grillet 1965, 74) Gerade das macht die Demonstration der Stilübungen Queneaus deutlich: daß bei ein und demselben Ereignis die rhetorischen Vorentscheidungen mitbestimmen, wie wir die sich uns bietenden Oberflächen und Verläufe zergliedern, so wie es bei der sinnlichen Wahrnehmung darauf ankommt, welchem Sinn (oder welcher technischen Prothese, Versuchsanordnung etc.) wir „Gehör“ schenken, daß in der Literatur also die beiden Aspekte, was wir über etwas sagen und wie wir darüber sprechen, zusammengedacht gehören und immer schon zusammengedacht wurden (was nicht heißt, daß sie zu allen Zeiten gleich intensiv reflektiert wurden). Diese Konzentration auf die Möglichkeiten der Sprache, bei den auf logische Fehlschlüsse spezialisierten Skeptikern und den auf rhetorische Strategien erpichten Sophisten gang und gäbe, hat in der Philosophie (vor allem hinsichtlich der logischen Funktionen von Sprache) mit der sprachanalytischen Richtung wieder Einzug gehalten und auch Dogmatikern neuen Auftrieb gegeben. Ein schönes Beispiel für die sprachphilosophische Wende von Ontologie zu logischer Analyse von Sätzen findet sich explizit in Nelson Goodmans Tatsache, Fiktion, Voraussage. Er definiert dort philosophische Probleme folgendermaßen: „Ein philosophisches Problem ist die Forderung nach einer brauchbaren Erklärung auf einer annehmbaren Grundlage. Wenn man alles als klar gelten lassen will, dann gibt es nichts mehr zu erklären; und wenn man sauertöpfisch überhaupt nichts auch nur vorläufig als klar gelten lassen will, dann läßt sich nichts erklären. Was uns als Problem beschäftigt, und was uns als Lösung befriedigt, das hängt von der Trennungslinie ab, die wir zwischen dem bereits Klaren und dem zu Klärenden ziehen.“ (Goodmann 1975, S. 49) Um sich ganz dem Problem, bzw. den logischen Funktionsweisen der „irrealen Bedingungssätze“ widmen zu können, zieht Goodman, analytisch so genügsam wie genau, eine Trennungslinie innerhalb philosophischer Probleme, die wie nebenbei einen kleinen Katalog der Grundfragen der Philosophie liefert: „Beispielsweise werde ich mich nicht auf die Unterscheidung zwischen kausalen Verknüpfungen und zufälligen Beziehungen stützen, ebensowenig auf die zwischen wesentlichen und künstlichen Gattungen und zwischen analytischen und synthetischen Aussagen.“ (ebda, 52) Grammatikalische Formen wie der Konjunktiv, mit denen wir im Alltagsgebrauch keine Schwierigkeiten haben (sollten), stellen für den wie alle Philosophen (und Logiker hinsichtlich ihrer Berechenbarkeit) an Wahrheit weiter interessierten Sprachanalytiker ein Problem dar, dem er zuerst mit Umformulierungen beizukommen
versucht. Als Beispiel für einen irrealen Bedingungssatz bringt Goodman: „Wenn k zur Zeit t einer richtig gewählten Kraft unterworfen worden wäre, hätte sich k gebogen.“ (ebda, 53) Und spricht von dem „kleinen Schönheitsfehler in Form des Konjunktivs“. Als nächster Schritt folgt die Umformulierung des Satzes in: „Wenn die Aussage „k war zur Zeit t einer richtig gewählten Kraft unterworfen“ wahr wäre, dann wäre die Aussage „k bog sich zur Zeit t“ wahr.“ Für Goodman bedeutet es einen Gewinn, daß nun „der Konjunktiv von den Prädikaten getrennt“ ist. „Wenn man sich derart auf die Ebene der Beziehungen zwischen Aussagen begibt, hat man den Eindruck, von einem ontologischen Problem zu einem sprachlichen übergegangen zu sein.“ (ebda, 54) Im Weiteren kann man den Sprachphilosophen bei der logischen Analyse seiner Ausdrucksmittel beobachten. „Einige Philosophen freilich betrachten die irrealen Bedingungssätze lieber als Regeln oder Erlaubnisse zum Ziehen von Schlüssen, nicht als Aussagen, die wahr oder falsch sind. Doch ob man nun wahre und falsche Aussagen oder gültige und ungültige Regeln unterscheiden möchte, Aufgabe ist die Auffindung der notwendigen und hinreichenden Bedingungen, unter denen die Verknüpfung von Vorder-‐ und Nachsatz im irrealen Bedingungssatz zutrifft.“ Solch ein restriktiver Denkstil bewahrt davor, voreilige Schlüsse aus bzw. Analogien zu Wirklichkeitsmodellen einer bestimmten Wissenschaft zu ziehen. Wenn es um die prinzipielle Funktionsweise von Aussagen geht, scheint eine Toleranz gegenüber den Oberflächen, gegenüber den Beobachtungsräumen garantiert zu sein, über die etwas ausgesagt wird. Andererseits ist die methodisch bedingte Ferne zur Ontologie oder zu Fragen der Wissenschaft gerade das, was gelangweilte Unruhe beim Lesen sprachphilosophischer Abhandlungen erzeugen kann. Daß der Ausdruck „Kraft“ im obigen Beispiel einer weiteren Klärung bedarf, ist nicht nur wegen des Verdachts auf infiniten Regress bei jeder Art von Erklärungen unbefriedigend (die Bemerkung Goodmans, daß irgendwo die Grenze gezogen werden muß, ist einsichtig genug), sondern auch deswegen, weil begriffliche Klärungen solch direkter, wissenschaftlicher Art sprachphilosophisch nicht interessieren. Im Gegenteil, so wie im Deduktivismus die Regeln der Logik nicht beschränkende Funktionsweisen unseres Gehirns, sondern unhinterfragbares Werkzeug sind, um die Wahrheitsfähigkeit sprachlicher Formulierungen zu untersuchen (ein Großteil grammatisch möglicher Formulierungen ist damit schon ausgeschlossen), sind in der Argumentation mit Beispielsätzen, die eingesetzt werden, um zu überzeugen (denn sonst würde es genügen, die Mächtigkeit des jeweiligen Kalküls vorzuführen), bestimmte Wirklichkeitsverständnisse vorausgesetzt, ohne daß deren Voraussetzungen als solche thematisiert werden. Das sinnvolle Gegebensein natürlichsprachlicher Formulierungen wird hingegen vorausgesetzt und thematisiert, die grammatikalische Verkleidung der Aussagen mithilfe von Umformulierungen und abstrahierenden Formalisierungsschritten zu klären versucht, was zur Grundvoraussetzung zu haben scheint, daß hinter der Formulierung ein von sprachlichen Formulierungen unabhängiger Gedanke bzw. zumindest eine logische Form steht. Daß hier, wie bei jeder logischen Analyse, die Untersuchungsrichtung nicht unbedingt mit der Ausrichtung auf Anwendbarkeit bestimmter syntaktischer Formen zusammenfällt, die z.B. aus den Erfordernissen einer Ökonomie des Sprechens entstanden sein mögen, hat in der Sprachphilosophie, initiiert von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen, eine Richtung hervorgebracht, die nicht mehr die logischen Implikationen, sondern die Sprechsituationen untersucht, in denen die Formen angewendet werden. (Diese Art zu philosophieren muß sich nicht mehr auf Sätze beschränken, die mit einem Wahrheitswert
belegbar sind, sondern kann eine viel größere Vielfalt grammatikalischer Formen, wie Interjektionen, Fragesätze etc., zum Gegenstand ihrer Untersuchung machen.) Um zu zeigen, daß es schließlich auch dem logischen Analytiker darum gehen muß, welche Voraussetzungen im Weltverständnis getroffen werden, sei noch ein Versuch Goodmans gebracht, das Problem der irrealen Bedingungssätze zu umschreiben. Sein Bedingungssatz A lautet: „Wenn [das Streichholz] s zur Zeit t angestrichen worden wäre, hätte sich s entzündet. A sagt nicht bloß, wenn die Umstände günstig gewesen wären, dann hätte sich das Streichholz entzündet; es besagt, daß die Umstände günstig waren. Ein irrealer Bedingungssatz ist genau dann wahr, wenn der Vordersatz in Verbindung mit wahren Aussagen über maßgebende Begleitumstände mit Hilfe eines wahren allgemeinen Grundsatzes den Nachsatz liefert.“ (ebda, 55) Das Urteil, ob die Begleitumstände maßgebend sind, muß auf einer anderen Ebene als der sprachlichen getroffen werden, mit der sich die analytische Philosophie bei ihren Untersuchungen bescheiden will. Wie tief die Verunsicherungen der Lese-‐ bzw. Welterwartungen liegen, sagt nichts über ihren Wirkungsgrad aus, und sie können hinsichtlich eines Literaturbegriffs irrelevant sein, wenn andere Kriterien (der Komposition, Grammatik, Wortwahl ...) unberücksichtigt bleiben. Auch vordergründige Verfremdungen der Sprachoberfläche, (pseudo-‐) etymologisches oder formal restriktives Schreiben, die auf das Sprachmaterial abzielenden Techniken der Poesie können ästhetisch wertlos sein, wenn ihnen differenzierte Begrifflichkeit abgeht, Bedeutungspotential nur verspielt wird und interpretatorische Decodierungsversuche auf jeden Fall ins Leere laufen müssen. Andererseits können das Inkorporieren mathematischer Verhältnisse, Musikalisierung durch metrisch-‐rhythmische und klangliche Figuren, sowie semantische Selbstaufhebung Zeichen großer Sprachkunst sein. Fast unentwirrbar miteinander verschlungene Stränge und semantische Dichte können ästhetisch genauso Gewinn bedeuten wie einfache Vorstellungen und klare Verläufe. Die primäre Unentscheidbarkeit, was literarische Kriterien betrifft, zeigt, daß ihre Auswahl selbst, sei es für ein bestimmtes Werk oder eine bestimmte Poetik, eigener ästhetischer Kriterien bedarf. Die Unterscheidung von Literaturgattungen hilft ansatzweise, nicht nur um Erwartungen im Leser zu wecken oder absichtlich zu enttäuschen, sondern auch um das, was gesagt werden soll, als mögliche Form zu bestimmen, genauso wie rhetorische Figuren nicht nur ausgelegt sind, um bestimmte Wirkungen beim überrumpelten Rezipienten zu erzielen, sondern um über die zur Verfügung stehenden Kategorien und Begriffssysteme hinaus Beziehungen innerhalb der Sprache für das auszunützen, was erfahren und gesagt sein will. Um allgemeine Aussagen über Literatur machen zu können, und hier liegt eines ihrer Paradoxe, müssen die Unterscheidungen tiefer, ins Besondere der (Sprach-‐)Phänomene reichen. Dieses Paradox des Allgemeinen im Besonderen zu untersuchen, ohne ihm seine Produktivität zu rauben, gehört zu den Tätigkeiten, bei denen die spezifischen Probleme und Lösungsversuche der Philosophie den mit Literatur Beschäftigten zu Denken geben können. Bibliographie Pierre Bourdieu : Die Regeln der Kunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999 Nelson Goodman: Tatsache, Fiktion, Voraussage. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975
Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung – Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993 Frantisek Lesák: Texttreue. Notizen zum Thema Beobachtung und Beschreibung eines Hauses in einem Roman. In: Wespennest Nr. 114, Wien 1999, S 92-‐101 Golo Mann: Zeiten und Figuren. Frankfurt am Main: Fischer 1979 Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie, Bd.1. Zürich: Diogenes 1980 Karl R. Popper: Objektive Erkenntnis. Hamburg: Hoffmann und Campe 1984 Alain Robbe Grillet: Les Gommes. Paris: Les Éditions de Minuit 1953. Dt.: Ein Tag zuviel Alain Robbe-‐Grillet: Argumente für einen neuen Roman. München: Hanser 1965 Alain Robbe-‐Grillet: La Jalousie oder die Eifersucht. Stuttgart: Reclam 1966 Alain Robbe-‐Grillet: Vom Anlaß des Schreibens. Tübingen: Verlag Claudia Gehrke 1989 Raymond Queneau: Exercises de style. Paris: Éditions Gallimard 1947 Leo Tolstoi: Krieg und Frieden. München: Winkler Verlag 1989
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Report "Ein Fall für die Philosophie - Zur Vorherbestimmung in der Literatur "