Draussen zu Hause? - Ein explorativer Forschungsbericht über Interaktionen auf dem Idaplatz

July 25, 2017 | Author: Antonia Steger | Category: Öffentlichkeit, Raumsoziologie, Raumplanung, Architektur Zürich, kulturanalytische Linguistik
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Universität Zürich Deutsches Seminar Prof. Dr. Angelika Linke HS 13/FS 14, deutsche Sprachwissenschaft: Kulturanalytische Linguistik

Draussen zu Hause? Ein explorativer Forschungsbericht über Interaktionen auf einem Zürcher Quartierplatz

Abgabe: 15. Mai 2014 Antonia Steger Pflanzschulstrasse 36 8004 Zürich [email protected] 4. Semester Masterstudium in Kulturanalyse und Germanistik

Inhaltsverzeichnis Einleitung ................................................................................................................................... 2 1. Der Raum als Akteur .............................................................................................................. 5 2. Akteure im Raum ................................................................................................................... 8 2.1 Terminologie .................................................................................................................... 9 2.2 Beobachtet: Interaktionseinheiten .................................................................................. 11 2.3 Beobachtet: Bankkonfigurationen .................................................................................. 15 3. Kulturanalytische Implikationen .......................................................................................... 17 Rück- und Ausblick .................................................................................................................. 20 Bibliographie ............................................................................................................................ 23 Anhang ..................................................................................................................................... 25

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Einleitung Der Stadtraum ist Verhandlungsort und materielle Sedimentierung von unterschiedlichen Interessen. Sei dies die Regierung, die für Sicherheit sorgen muss, seien dies Architekten, die ästhetische Kriterien anlegen oder auch Privatfirmen, die wirtschaftliche Interessen verfolgen. Dabei bleiben jedoch nicht selten gerade diejenigen nur vage in die Planung einbezogen, die diesen öffentlichen Stadtraum benutzen: die Stadtbewohner selbst 1. Dominanter als der Diskurs über deren Bedürfnisse ist der Diskurs über Stadtbewohner als Störfaktoren. So ist in europäischen Städten eine zunehmende Debatte um Sauberkeit zu beobachten, die Müllfragen und ästhetische Normierung als Grundlage für eine sichere und damit gute Stadt in Stellung bringt und in diesem Zusammenhang eine Praxis der Wegweisung verfolgt (vgl. Rolshoven 2008). Andererseits ist in den letzten Jahren ein erwachendes Interesse der Stadtbewohner an der Urbanität nicht zu übersehen 2. Der Stadtbewohner will an der Gestaltung und Organisation des öffentlichen Stadtraumes teilnehmen. Dies zu akzeptieren bedeutet, dass Entscheidungs- und Planungsprozesse verkompliziert werden und schwieriger gesamtheitliche oder ästhetische Gestaltungskonzepte durchgezogen werden können. Doch birgt die Integration der Interessen des Stadtbewohners auch die Chance, nicht an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbeizubauen, sondern einen Stadtraum zu schaffen, den sich die Benutzer aneignen können. In der Stadt Zürich taucht einigermassen regelmässig Kritik an Neubauprojekten auf, denen vorgeworfen wird, an den Bedürfnissen ihrer Nutzer vorbeigebaut zu sein. Letztes Beispiel dafür ist in der Europaallee zu finden, welche über die Landesgrenzen hinaus kritisiert wurde 3. Ob diese Kritik gerechtfertigt ist oder nicht, sei hier nicht diskutiert. Sie zeigt jedoch das Interesse der Stadtbewohner an ihrer Stadt, in deren Gestaltung sie mehr Mitspracherecht wünschten. Dabei sind Regierung und Architekten zwei einflussreiche Gegen- bzw. Mitspieler. Um die Machtansprüche von politischer Seite aus deutlicher zu machen, ist eine Betrachtung des Strategiepapiers „Strategie für die Gestaltung von Zürichs öffentlichem Raum 4“ auf-

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In den 1970er Jahren setzte sich Lucius Burckhardt für eine soziologisch denkende Architektur und Planung ein, die weniger von individualistisch-ästhetischen Kriterien ausgeht und mehr die sozialen Praktiken der Benutzer in den Fokus stellt. Sein Denken erfährt zur Zeit eine neue Konjunktur in Institutionen wie der Architekturbiennale in Venedig und der ETH Zürich, was auf die unverminderte Aktualität seiner Thesen hindeutet. 2 Eine euphorisch vorgetragene Beispielsammlung findet sich in Rauterberg (2013), der in Phänomenen wie Urban Gardening, Guerilla Knitting, Flashmobs etc. eine durch das Internet angefeuerte Urbanität beschreibt. Aussen vor lässt er dabei andere Formen der Urbanität wie z.B. wirtschaftlich dominierte Stadtregionen oder etwa hochbürgerliche Traditionsquartiere. 3 Die Süddeutsche Zeitung warf dem Projekt einseitige Gewinnmaximierung vor und Blindheit gegenüber den Bedürfnissen von Stadtbewohnern, vgl. Bericht im Tages-Anzeiger unter http://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/stadt/Sueddeutsche-schimpft-ueber-Zuerichs-Europaallee-/story/29250043 . 4 Einzusehen unter https://www.stadt-zuerich.ch/stadtraeume.secure.html

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schlussreich. Mangelhafte Aufenthaltsqualität in öffentlichen Aussenräumen soll mit Einsetzen von Kunst im Aussenraum vermindert werden. Alternative Überlegungen wie etwa die Frage nach sozialen Praktiken der Nutzer (z.B. das Bedürfnis nach Sitzgelegenheiten oder einem guten Verhältnis von Offenheit und Kleinteiligkeit) werden nicht diskutiert. Ebenso möchte die Stadt einheitliche Gestaltungsrichtlinien erlassen, die zwar einen kreativen Spielraum lassen, aber überall erkennbar sein sollen. Damit wird ein Machtanspruch der Regierung über den öffentlichen Raum markiert. Neben dem politischen orientiert sich der architektonische Machtanspruch ebenfalls stark an ästhetischen Kriterien. Im Gespräch mit einem Landschaftsarchitekten, der einen Quartierplatz in einer Neubausiedlung plant, wurde das fehlende Bewusstsein über soziale Praktiken der Nutzer deutlich. Gefragt danach, was einen guten Quartierplatz ausmache, wurde mit ästhetischen Kriterien geantwortet und eine Vorstellung von Nutzungsmöglichkeiten war nicht Teil der Planung. Dabei möchte ich betonen, dass im Folgenden keiner Partie Machtansprüche abgesprochen werden sollen. Es steht auch ausser Frage, dass jede Partie ihren wertvollen Beitrag zum Funktionieren des Gebildes „Stadt“ beiträgt. Es ist meines Erachtens jedoch lohnenswert, die Stadtbewohner als Teil dieses Akteurensembles zu verstehen.

Abb. 1; Visualisierung geplanter Umbau Idaplatz ohne Einbezug der Anwohner

Abb. 2; Visualisierung geplanter Umbau Idaplatz nach Einbezug der Anwohner

In öffentlichen Aussenräumen wie Quartierplätzen und Parks, die keine technische Funktion erfüllen müssen, sondern der Freizeit und Erholung zugeordnet sind, macht eine verstärkte Orientierung an den Bedürfnissen von Nutzern besonders Sinn. Ein gutes Beispiel für eine Zusammenarbeit der Planer mit Anwohnern ist der Idaplatz in Zürich. 2006 wurde zunächst eine gesamthafte Erneuerung des Platzes geplant, wobei die ursprüngliche Gestalt des Platzes nicht mehr wiederzuerkennen gewesen wäre. Eine grosse Leerfläche über die Hälfte des Platzes prägte diesen Entwurf, wobei in der anderen Hälfte eine Baum- und Bankgruppierung vorgesehen war (Abb. 1). Dagegen formierte sich jedoch Widerstand der Anwohner, worauf 3

das Tiefbauamt eine Projektgruppe ins Leben rief und in einem aufwendigen Verfahren zu einer sanften Lösung kam (Abb. 2). Primär wurde dabei der Platz leicht erhöht und neu umrandet, es wurden mehr Bänke aufgestellt und zusätzliche Bäume gepflanzt. Zudem wurden in den umliegenden Strassen Parkplätze entfernt und der Platz zu den Strassen hin geöffnet. Im Folgenden untersuche ich mit dem Idaplatz einen städtischen Aussenraum, der als gut funktionierender Platz gilt. Das heisst, dass der Platz über sein Einzugsgebiet hinaus mit kollektiver Bedeutung und positiven Emotionen aufgeladen wird – dass man den Idaplatz schlichtweg mag. Der Fokus, mit der die Beobachtungen begannen, war die offene Frage danach, wie Menschen auf dem Idaplatz reagieren, wie sie sich auf ihm verhalten und wie sie ihn sich aneignen. Dieses explorativ angelegte Projekt konzentriert sich methodisch auf das äusserlich sichtbare Körperverhalten in Interaktionen. Für eine solche Herangehensweise gibt die multimodale Interaktionsanalyse spannende Perspektiven, die zunehmend die Räumlichkeit in den Fokus der Analyse stellen (vgl. Schmitt 2007). Gespräche werden in diesem Zusammenhang in enger Wechselwirkung mit dem Raum, in dem sie stattfinden, betrachtet. Dabei beeinflusst der Raum die Interaktion und die Interaktion formt sowohl materiell als auch semiotisch den Raum zurück. In der Ausarbeitung der Beobachtungen werden deshalb zwei Dimensionen unterschieden. In einem ersten Schritt arbeite ich gemäss Konzeptionen von Heiko Hausendorf die Interaktionsarchitektur des Platzes heraus, also welche Benutzbarkeitshinweise räumlich vorhanden sind (Kapitel 1). Im zweiten Schritt schildere ich in Anlehnung an Konzeptionen von Erving Goffman, Adam Kendon und neueren Beiträgen die Beobachtungen, wie die Platzbesucher diese Interaktionsarchitektur verwenden und wo sie kreative Lösungen suchen, um ihren Bedürfnissen trotz Hindernissen gerecht zu werden (Kapitel 2). Der im Folgenden häufig verwendete Begriff der sozialen Praxis leitet sich aus dem Verständnis von Reckwitz (2003) ab. Betont wird damit die Körperlichkeit der Interaktion, die besonders im öffentlichen Raum wichtig ist, wo viel nonverbale Interaktion stattfindet. Ebenso betont Reckwitz (2003) die Gleichzeitigkeit von Routinisiertheit und Unberechenbarkeit der sozialen Praktiken, was sich in den Beobachtungen als wichtig herausstellte. Diese Feldforschung auf dem Idaplatz versteht sich als erste explorative Phase, als Zwischenbericht, woraus Beobachtungstendenzen destilliert werden, die in weiterer Forschungsarbeit quantifiziert werden können. Im dritten Schritt dieser Arbeit eröffne ich im fachlichen Verständnis von Angelika Linke (2011) eine kulturanalytische Perspektive (Kapitel 3). Dabei betrachte ich die These, dass die Menschen auf dem Idaplatz etwas über das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit aufzeigen.

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1. Der Raum als Akteur Zunächst soll dargestellt werden, was am Idaplatz auffällt, wenn er unvoreingenommen und ohne Berücksichtigung von sich darauf befindenden Menschen betreten wird. Hausendorf/Schmitt (2013) folgend, kommuniziert die Interaktionsarchitektur bereits vor ihrer Aneignung in Interaktion etwas darüber, welche Verwendung naheliegend ist. Die Interaktionsarchitektur gibt also Benutzbarkeitshinweise, welche „Anknüpfungspunkte für Wahrnehmung, Bewegung und Handlung zur Verfügung [stellen]. Im Alltag werden sie häufig wie selbstverständlich verstanden und körperlich ‚beantwortet‘“ (Hausendorf 2012, 139). Besonders interessant wird es dort, wo kein eindeutiges praktisches Wissen über die Benutzung vorhanden ist und die Handelnden eigene soziale Praktiken entwickeln müssen. Dabei soll im Folgenden weniger der Fokus auf die Hervorbringung von Interaktionsarchitektur gelegt werden, sondern auf die Interaktionsarchitektur als Ressource für Interaktionen. Der Raum wird dabei als Akteur in der Interaktion verstanden, indem er den Raumbenutzern etwas kommuniziert, worauf reagiert werden muss (zur Ansicht des Idaplatzes vgl. Anhang S. 25). Die Bänke sind die zentrale Schnittstelle zwischen Interaktion und Raum. Mit ihrer Anzahl, Ausgestaltung und Positionierung beeinflussen sie, wie sich Menschen einen Platz aneignen. Der Idaplatz ist mit auffällig vielen Bänken bestückt, an deren Anzahl 17, ohne die Aussenbestuhlung der anschliessenden Cafés mitgerechnet. Zudem weisen alle Bänke eine Rückenlehne auf (was durchaus nicht selbstverständlich ist). Anzahl und Gestaltung der Bänke verweisen darauf, dass der Idaplatz aufs lange Verweilen angelegt ist. Weiterhin auffällig an den Bänken des Idaplatzes ist deren Positionierung im Raum. Diese beschränkt sich nicht darauf, Bänke am Platzrand entlang aufzureihen. Es gibt zwar einige Bänke, die mit Blickrichtung zur Platzmitte hin gestellt sind und mit dieser Ausrichtung den Platz einrahmen und zentrieren. Jedoch gibt es auch einige Bänke, die in den Platz hineinragen und die Blickrichtung sogar aus dem Platz hinauslenken. Diese vielfältige Verteilung im Raum wird ergänzt durch eine geringe Distanz zwischen den einzelnen Bänken. Jede Bank hat in einem vergleichsweise kleinen Radius eine Nachbarsbank. Dieser Abstand ist relevant für die Entstehung eines Gemeinschaftsgefühls. Ciolek/Kendon (1980) haben in ihrer Platzforschung beobachtet, dass jede interagierende Gruppe von Menschen einen Raum im Radius von 6-7 Metern relativ gut überwacht und auf Geschehnisse in diesem Raum reagiert. Erst die Geschehnisse, die weiter weg stattfinden, werden ignoriert. Die Bänke auf dem Idaplatz sind durchaus innerhalb dieser Abstände voneinander positioniert, sodass auf jeder Bank eine andere Bank im Aufmerksamkeitsradius steht. Durch diese Anordnung ergibt sich ein Netz an 5

Aufmerksamkeiten auf dem Platz, die zwar nicht primär verbal ausgeschöpft werden müssen, aber ein grundsätzliches Gemeinschaftsgefühl erzeugen können. Am Auffälligsten am Idaplatz ist die Ausrichtung der Bänke aufeinander. Die Bankkonfiguration hat eine unmittelbare Auswirkung auf die Interaktion, da sie die Interagierenden räumlich zueinander positioniert. Darum sollen hier die auffälligen Bankkonfigurationen mit ihren Implikationen an die soziale Praxis beschrieben werden.

Rondell (Bänke 5-9) Charakteristisch für diese Bankkonfiguration ist eine grosse Sichtbarkeit, da die Interagierenden in einem Kreis von ein paar Metern Durchmesser einander zugewandt positioniert sind. Die kreisförmige Bankkonfiguration sondert damit einen Raum innerhalb des Platzes ab, der mit dem Brunnen in der Mitte an einen Dorfplatz erinnert. Andererseits ist der Kreisradius zu gross, als dass eine bankübergreifende Hörbarkeit gewährleistet sein könnte. Entstehen im Rondell trotzdem separierte Gemeinschaften innerhalb der gesamten Platzgemeinschaft? Findet überhaupt Interaktion zwischen den Bänken hinweg statt? Ist die gute Sichtbarkeit kombiniert mit fehlender Hörbarkeit den Platznutzern nicht unangenehm? Das Rondell als Konfiguration wirkt sehr markiert, birgt jedoch bezüglich sozialer Praxis eher Rätsel als deutliche Implikationen. Interessant ist besonders bei dieser Konfiguration deren Geschichte. In der Platzumgestaltung im Jahr 2006 sollte das Rondell ursprünglich mitsamt Brunnen abgebaut werden. Doch gerade gegen diese Massnahme formierte sich vehementer Widerstand der Anwohner. Aus einer Art symbolischen Bedeutung heraus sei der Erhalt dieses Rondells ein zentraler Wunsch der Anwohner gewesen, kam im Interview mit dem Tiefbauamt hervor. Dies zeigt, dass dieser Bankkonfiguration neben ihrer funktionellen Rätselhaftigkeit ein grosser Symbolwert inhärent ist. Sie kann nicht in erster Linie als Sedimentierung von gewachsenen Interaktionsbedürfnissen verstanden werden, sondern muss als Hervorbringung aus einem symbolisch-kulturellen Akt gedacht werden.

Rückenbänke (11-14) Die Rückenbänke verhalten sich gegensätzlich zum Rondell. Da die Benutzer mit den Rücken zueinander sitzen, ist die Sichtbarkeit ausgeschlossen, die Hörbarkeit gleichzeitig aber gross. Es ist kaum vorstellbar, dass in einer solchen Konfiguration intime Gespräche nebeneinander herlaufen – hört man doch ebenso alles vom Banknachbarn im Rücken wie man selbst gehört wird, ohne eine visuelle Vertrauensabsicherung 6

leisten zu können. Diese Bankkonfiguration bietet zwar Platz für viele Menschen auf engem Raum, trennt die Menschen jedoch durch die Rücken-in-Rücken-Position wieder voneinander. Hier stellt sich besonders die Frage, welche Gruppengrössen hier was machen und unter welchen Bedingungen hier Gespräche entstehen können.

Rundbank (17) Diese Bank ist im weiteren Sinn ebenfalls eine Konfiguration als eine sich selbst umkreisende Bank. Sie ermöglicht eine grosse körperliche Nähe, zwingt jedoch schon unmittelbar Nebeneinandersitzende in auseinanderstrebende Blickrichtungen. Ihre Positionierung am Rand des Platzes führt auch die Blickrichtungen der Hälfte ihrer Sitzgelegenheiten direkt aus dem Platz hinaus. Die Rundbank gibt ebenfalls grosse Rätsel auf, da sie Interaktion scheinbar völlig verhindert.

Neben den Bänken weist der Idaplatz weiteres Immobiliar auf, d.h. raumgestaltende Elemente, die einen Objektcharakter besitzen, aber unverrückbar sind. Sie geben jedoch weniger eindeutige Benutzbarkeitshinweise als die Bänke. Die in der Platzmitte positionierte Litfasssäule kann im weiteren Sinn als Interaktionsarchitektur betrachtet werden, da sie in ihrer zylindrischen Form eine Sichtbarkeit von allen Seiten impliziert und damit einen kulturellen Diskurs auf dem Idaplatz einbettet. Der interaktionsarchitektonische Status der ungleichmässig verteilten Bäume ist jedoch bereits unklarer. Sie geben keine Benutzbarkeitshinweise als direkte Ressource für Interaktion, jedoch bedeutet dies nicht, dass sie gar keinen Einfluss nehmen können. Die Bäume sind teilweise abschirmend, z.B. erzeugen sie bei Bank 4 einen fast intimen Kleinstraum. In weniger prägendem Ausmass durchbrechen sie die Platzfläche, ohne sie jedoch zuzustellen. Die Bäume vermindern damit Ausgestelltsein auf dem Platz, ohne den Raum abzuschotten. Die materielle Gestaltung der Bodenfläche kommuniziert zwar ebenfalls keine direkten Benutzbarkeitshinweise, trägt jedoch einen Teil zur Interaktion bei. So markiert das Kies als Bodenbelag die Platzfläche, welche sich vom Asphalt des Gehsteigs rund herum abhebt. Das Kies macht eine Verhaltensanpassung in der Fortbewegung nötig: Die längeren Bremswege für Fahrräder sowie eine leicht verminderte Trittfestigkeit erfordern eine Verlangsamung oder grössere Aufmerksamkeit auf das Fortbewegen. Wer sich auf dem Idaplatz bewegt, wird sich seines auf-dem-Platz-Seins bewusst. Die Platzgrenze ist zudem vom umgebenden Gehsteig durch eine Steinkante abgegrenzt, der an zwei Stellen radgerecht abgeschrägt ist und damit die hauptsächliche Durchgangsachse markiert.

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Dies führt zu einer letzten Beobachtung, nämlich die Leerflächen als Interaktionsarchitektur. Es gibt zwei Durchgangsachsen, welche über Kreuz gegenüberliegende Strassen über den Platz hinweg verbinden. Diese Freiräume und ebenso die Freiräume zwischen den Bankkonfigurationen sind jedoch nicht nur Bewegungsraum, sondern auch multifunktionale Verweilräume. Sie sind insofern interaktionsrelevant, da es keine Freifläche gibt, auf die keine Bank ausgerichtet ist. Die Freifläche ist zwar zur freien Verwendung konzipiert, jedoch stets in Nachbarschaft und Blickachsen von Bänken und verfügen insofern sogar über einen gewissen Bühnencharakter. Die hier getroffenen Beobachtungen zur Interaktionsarchitektur zeigen eine räumliche Ausgewogenheit des Idaplatzes. So bieten die Bänke verschiedene Kommunikationsmöglichkeiten an, ohne eine spezifische Nutzung zu fixieren. Die Bäume durchbrechen die Leerfläche des Platzes, ohne ihn unübersichtlich werden zu lassen. Auch die Freiflächen ermöglichen ein hohes Mass an individueller Nutzung, ohne undefiniert leer zu sein. Der Idaplatz bietet insgesamt als städtischer Aussenraum einen Rahmen, der Individualität unterstützt, ohne durch Leere zu überfordern. Die Frage stellt sich nun als nächstes, wie die Nutzer mit diesen Freiheiten und Gegebenheiten umgehen, um sich den Platz anzueignen.

2. Akteure im Raum Interaktionsarchitektur ist ein Angebot an Möglichkeiten, das noch nichts über seinen tatsächlichen Gebrauch aussagt. Im folgenden Kapitel wird darum dargestellt, wie die beobachteten Platzbenutzer auf die Interaktionsarchitektur reagieren. Durch die explorative Annäherung an die Fragestellung ergibt sich in diesem Stadium der Forschung noch kein Datenkorpus, mit dem quantitative Aussagen getroffen werden könnten. Aus rechtlichen Gründen wurde auf Filmaufnahmen verzichtet und die Beobachtungen stattdessen in einer offenen Tabelle erfasst (vgl. Anhang auf CD). Die hauptsächlichen Erfassungsvariablen waren der Wochentag, die Tageszeit, das Wetter und die Temperatur, die Banknummer sowie Anzahl Personen und deren Verweildauer. Im Folgenden sollen nach einer terminologischen Klärung (Kapitel 2.1) diese explorativen Beobachtungen dargestellt werden. Dabei erwies es sich als sinnvoll, die beobachteten Interaktionen zwischen verschiedenen Gruppierungen von Interagierenden (Kapitel 2.2) sowie der Verteilung auf die interaktionsarchitektonischen Bankkonfigurationen zu unterscheiden (Kapitel 2.3).

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2.1 Terminologie Für das, was Menschen tun, wenn sie miteinander in gleichzeitiger Präsenz in Paaren oder Gruppen interagieren, gibt es verschiedene Konzepte und Begriffe. Erving Goffman prägte die Bezeichnung fokussierte Interaktion für die „Interaktion, die statthat, wenn Personen eng zusammenrücken und offensichtlich kooperieren, die Aufmerksamkeit also ganz bewusst auf einen einzigen Brennpunkt gelenkt ist“ (Goffman 1971, 35). Alle andere Kopräsenz mehrerer Personen im selben Raum, d.h. in gegenseitiger Sichtbarkeit, nennt Goffman unfokussierte Interaktion. „Das ist jene Art Kommunikation, die praktiziert wird, wenn jemand sich eine Information verschafft über einen anderen Anwesenden, indem er, und sei es nur für den kurzen Moment, da ihm der andere ins Blickfeld gerät, zu ihm hinschaut“ (Goffman 1971, 35). Dies ist besonders interessant für den öffentlichen Raum, worin viel unfokussierte Interaktion stattfindet, indem sich fremde Leute ohne verbale Kommunikation organisieren. Für die vorliegende Arbeit stellte sich als fruchtbar heraus, dass mit Goffmans Begriffen nicht nur die fokussiert interagierenden Gruppen betrachtet werden können, sondern darüber hinaus auch die nonverbale Interaktion zwischen den Gruppen bzw. Einzelpersonen. Weiter betont Goffman mit dem Engagement auch die Intensität der Tätigkeiten von Interagierenden. „Engagement betrifft die Fähigkeit des Einzelnen, seine gesammelte Aufmerksamkeit einer Aktivität, die gerade statthat, zu widmen oder sie ihr vorzuenthalten (…). [Dies] impliziert eine gewisse eingestandene Nähe zwischen dem Einzelnen und dem Gegenstand seines Engagements“ (Goffman 1971, 50). Goffman diagnostiziert die westliche Kultur so, dass diese Engagements in Haupt- und Nebenengagements eingeteilt werden können und jedes Individuum stets beides inszenieren muss: ein Hauptengagement, um seine Präsenz zu zeigen, und Nebenengagement, um gleichzeitig Desinteresse zu zeigen und damit den Vorwurf einer okkulten Beschäftigung zu vermeiden. Diese Demonstration einer graduellen Intensität von Präsenz im öffentlichen Raum durch die Signalisierung seiner eigenen Tätigkeiten war bei allen Beobachtungen deutlich auszumachen. Kendon präzisiert die körperliche Anordnung einer fokussierten Interaktion, bei der die Teilnehmenden „place themselves in a spatial-orientational arrangement such that each is facing inward around a space to which each has immediate access“ (Ciolek/Kendon 1980, 237). Dabei überlappen sich transactional segments der Interagierenden, d.h. die räumlichen Zonen vor den Körpern der Individuen, über die sie rein körperlich die meiste Kontrolle haben. Das transactional segment wird ausserhalb der fokussierten Interaktion nur vom Individuum besetzt und andere dürfen in der Regel nicht darin eindringen. Der Grund für eine Überlappung 9

der transactional segments in der fokussierten Interaktion ist der gleichberechtigt zugängliche Raum für Blicke, Gesten und verbalen Austausch für die Interagierenden innerhalb der fokussierten Interaktion. Kendon nennt diese Konfigurationen F-formations, “whenever two or more individuals in close proximity orient their bodies in such a way that each of them has an easy, direct, and equal access to every other participant’s transactional segment, and when they maintain such an arrangement” (ebd., 243). Die Distanz der Teilnehmer einer Fformation ist dabei variabel. „By standing close or far, by orienting fully or only partly to one another, participants may express the extent to which they are involved in the encounter at hand that is, whether their attention is wholly or only partly taken up with it” (ebd. 237f.). Interessant an diesem Konzept ist die Überlappung der transactional segments für eine Gleichberechtigung in der Interaktion und die Möglichkeit, aus der visuell beobachtbaren Körperpositionen die Intensität einer Interaktion abzulesen. Linke (2012) und Mondada (2007) lassen sich beide im weiteren Sinn den Entwicklungen der multimodalen Interaktionsanalyse zuordnen. Mondada (2007) untersucht, wie Interagierende Raum erzeugen und sich damit im Raum koordinieren. Das Interesse von Linke (2012) gilt der historischen Materialisierung von Gesprächssituationen, deren Normierung sich im Bürgertum u.a. in der Sitzgruppe sedimentierte. Das räumliche Gebilde, welche Interagierende während der Dauer ihrer Interaktion kurzfristig (wenn auch durch soziale Praktiken reglementiert) einnehmen, bezeichnen die Autorinnen als Interaktionsraum, „d.h. [die] räumlichen Konfigurationen, die die Interaktanten im Verlauf ihrer Aktivitäten herstellen“ (Mondada 2007, 55). Der Begriff des Interaktionsraumes ist demnach ein Oberbegriff für die räumlichen Arrangements der Körper von Interagierenden in einer fokussierten Interaktion, welche sich in verschiedenen Konfigurationen zeigen (die klassische Konfiguration ist face-to-face, Alternativen sind die L-Form oder Ko-Orientierung mit parallelen Blickrichtungen). Im Folgenden möchte ich daran anschliessend den Begriff der interaktiven 5 Konfiguration dazu verwenden, um relativ offen die körperlich-räumliche Situierung von Interaktionen zu bezeichnen. Damit können auch bewegliche Objekte wie Fahrräder, Taschen und Flaschen einbezogen werden. Eine letzte terminologische Bemerkung ist meine Verwendung des Begriffs der Interaktionseinheit. Damit meine ich die Gesamtheit der Interagierenden, die an einer interaktiven Konfiguration mitwirken. Eine Interaktionseinheit kann demnach aus einer Gruppe von zwei oder auch aus mehreren Interagierenden bestehen, aber unter Rückbesinnung auf Goffman auch aus einer Einzelperson. 5

Linke (2012) verwendet den Begriff der kommunikativen Konfiguration. Sie untersucht damit Gesprächssituationen, während auf dem Idaplatz auch viele Interaktionen ohne verbalen Austausch zu beobachten waren. Darum verwende ich hier den unspezifischeren Begriff der interaktiven Konfiguration.

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2.2 Beobachtet: Interaktionseinheiten Schnell wurde deutlich, dass zwischen Einzelpersonen, Zweiergruppen und grösseren Gruppen (drei und mehr Interagierende) unterschieden werden muss. Diese drei Interaktionseinheiten verhalten sich jeweils deutlich verschieden.

Abb. 3; Einzelpersonen

Abb. 4; Einzelperson

Abb. 5; Einzelpersonen

Auf dem Idaplatz wurden Einzelpersonen als häufige Interaktionseinheiten beobachtet. Diese blieben auffällig lange auf dem Platz (nur rund 30% verliessen den Platz nach wenigen Minuten). Die häufigste Tätigkeit der Einzelpersonen ist Lesen, es wurde aber auch Bier trinken, Telefonieren, Umschauen und seltener Essen beobachtet. Der Grad der Kontaktoffenheit wurde von den Einzelpersonen vor allem durch die Körperhaltung und deren Variabilität gezeigt. Besonders beim Lesen wurde mit einer vom Banknachbar deutlich abgewandten oder geschlossenen Haltung (Abb. 3) hohes Hauptengagement gezeigt und Kontaktoffenheit vermindert, insbesondere wenn diese Haltung stabil eingenommen wurde und nicht von Zeit zu Zeit variierte. Die Geschlossenheit der Körperhaltung liest sich vor allem darin ab, wie die Person mit ihrem transactional segment umgeht. Die beobachteten Personen verengten oft deutlich den Raum vor sich, sei dies durch eine Beugung des Oberkörpers oder durch das Abstellen von Dingen, z.B. des eigenen Fahrrades, direkt vor sich oder neben sich 6 (Abb. 4). Mit den materiellen Gegenständen bauten sich die Einzelpersonen eine eigene interaktive Konfiguration. Kontaktoffenheit wurde hingegen durch eine grössere Gestaltungsvariabilität des transactional segments sowie durch wandernde Blicke signalisiert. Es wurden zudem einige auffällige Körperhaltungen beobachtet, die sich gleichermassen abgrenzen wie auch durch ihre Entspanntheit Offenheit signalisieren (Abb. 5).

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Dies zeigt, dass diesbezüglich nicht nur das transactional segment direkt vor dem Interagierenden, sondern auch die seitlichen Raumdimensionen in Betracht gezogen werden müssen.

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Abb. 6; stark engagierte Zweiergruppe

Abb. 7; stark engagierte Zweiergruppe

Bei den beobachteten Zweiergruppen wurde noch deutlicher, dass der Idaplatz als Ort des Verweilens verwendet wird. Kaum eine einzige Zweiergruppe verliess den Platz nach kurzer Zeit. Im Verhalten unterschieden sich die Zweiergruppen nach stark und schwach engagierten interaktiven Konfigurationen. Als erstes fielen die stark engagierten auf, die durch eine hohe Intensität oder gar Intimität der Gespräche charakterisiert waren und dies auch gegen Aussen kommunizierten. Dies machte sich vor allem deutlich an einer starken körperlichen Zuwendung und Überlappung der transactional segments. Die Bank ist dabei eine Interaktionsarchitektur, welche diesem Bedürfnis zunächst einmal widerläuft, da sie eine Sitzordnung fördert, in der die Interagierenden Seite an Seite sitzen und einander nicht anschauen. Doch die engagierten Zweiergruppen auf dem Idaplatz hatten keine grosse Mühe, dies zu umgehen. Sie drehten sich auf horizontaler Ebene ihren ganzen Körper zu (Abb. 6). Je stärker diese Drehung ausfiel, also je stärker die Interagierenden sich einer face-to-face-Konfiguration annäherten, desto auffälliger wurde auch das Verhalten ihrer Extremitäten. Bei vielen war zu beobachten, dass gerade die Banklehne für vielfältige Armhaltungen benutzt wurde, welche die Konfiguration unterstützten. In Extrembeispielen stellten bzw. legten die Interagierenden auch ein bis zwei Beine auf die Sitzfläche der Bank (Abb. 7).

Abb. 8; schwach engagierte Zweiergruppe

Abb. 9; schwach engagierte Zweiergruppe

Abb. 10; schwach engagierte Zweiergruppe

Die schwach engagierten Zweiergruppen, welche Seite an Seite sitzend oft sogar wortlos gemeinsam auf den Platz schauen (Abb. 8), stellten sich erst im Verlauf der Beobachtungen 12

als interessante Beobachtungsgrösse heraus. Ihre Körperhaltung wirkt für uns Beobachtende nicht auffällig, doch gerade darin drückt sich eine selberverständliche soziale Praxis des Erholens in einem öffentlichen Stadtraum aus (vgl. Kaspar 2012). Die Bank als Interaktionsarchitektur ist nicht nur den interaktiven Konfigurationen widerstrebend, wie es bei den engagierten Zweiergruppen beobachtet wurde, sondern ermöglicht auch eine gelassene NichtKommunikation. In diesem Sinne kann verbale Kommunikation nicht nur als erstrebenswert, sondern gleichermassen auch als Anstrengung betrachtet werden, der es zeitenweise auszuweichen gilt. Durch ihre materielle Form legitimiert die Bank die Interagierenden, sich parallel hinzusetzen und in gemeinsamer Anwesenheit nicht viel sagen zu müssen. Diese Funktion darf gerade in einem öffentlichen Raum, der der Freizeit zugeordnet ist, nicht unterschätzt werden. Vereinzelt wurden zudem schwach engagierte Zweiergruppen beobachtet, die auffällige interaktive Konfigurationen einnahmen. Darunter fallen gemütlich markierte Konfigurationen wie lang ausgestreckte Beine sowie die Sitzposition rittlings auf der Bank (Abb. 9) und die Kombination von einer sitzenden und einer liegenden Person (Abb. 10).

Abb. 11 grössere Gruppen

Abb. 12 grössere Gruppen

Abb. 13 grössere Gruppen

Was grössere Gruppen (ab drei Personen) betraf, stellte die Interaktionsarchitektur grössere Schwierigkeiten an die interaktiven Konfigurationen. Dabei schien bei grösseren Gruppen weniger zentral, die Engagiertheit der Interaktion zu inszenieren, wie dies bei den Zweiergruppen beobachtet wurde. Interessantere Gesichtspunkte zeigen sich in der Koordination der Körper für eine egalitäre Gruppendynamik. Denn je grösser die Gruppe, desto schwieriger wird es, auf Bänken eine Anordnung der Körper hinzubekommen, in der für Gleichheit zwischen den Interagierenden gesorgt ist. Es wurde deutlich, dass die Interagierenden häufig nach einer Überlappung ihrer transactional segments suchten oder wenigstens Sichtkontakt herstellen wollten. Dreiergruppen konnten das Problem zum Beispiel dadurch lösen, dass sich die zwei Personen am Rand sehr stark zur Mitte hin drehten und die mittlere Person mit Oberkörper und Armen möglichst weit nach hinten lehnte (Abb. 11). Es wurde auch ein paar Mal die Konfiguration beobachtet, dass eine Person im 90-Grad-Winkel zu den anderen auf der Nach13

barsbank sass (Abb. 12). Häufig kam auch die vertikale Ebene als Gestaltungsdimension ins Spiel, indem eine oder mehrere Personen vor die anderen hinsteht (Abb. 13) oder indem sogar der 1 Meter hohe Elektrokasten neben Bank 14 als Sitz- und Liegegelegenheit umfunktioniert wird. Doch diese interaktiven Konfigurationen waren oft instabil und änderten sich schnell. Zudem wurden auch viele Fälle beobachtet, in denen

verschiedene

interaktive

Konfigurationen ausprobiert wurden und die Interagierenden dabei auf relativ kreative Lösungen kamen, die nicht zeichnerisch wiedergegeben werden können. Als Abb. 14, grössere Gruppe mit kreativer interaktiver Konfiguration

Anschauungsbeispiel

für

die

Rundbank 17 dient Abb. 14. Zwischen den einzelnen Interaktionseinheiten fand kaum verbale Interaktion statt – die Ausnahmen waren über die Vermittlung von Kindern und Hunden sowie bei Nachfrage nach Feuer für die eigene Zigarette. Unfokussierte Interaktion in Form von Blickkontakten konnten vereinzelt beobachtet werden, wenn sie auffällig markiert waren. Es kann davon ausgegangen werden, dass noch weitere Blickkontakte unter der Wahrnehmungsschwelle der Beobachtenden passierten, dafür müssten jedoch Videoaufzeichnungen gemacht werden. Doch kann auch dafür argumentiert werden, dass die beobachteten interaktiven Konfigurationen an sich nicht nur körperlich-räumliche Situierung der fokussiert Interagierenden sind, sondern auch Interaktion mit den anderen Personen auf dem Platz, also unfokussierte Interaktion. Besonders deutlich ist dies an den auffälligen interaktiven Konfigurationen (Abb. 5, 7, 10, 14). Diese zeigten in ihrem Körperverhalten einen hohen Aufwand, der nicht durch reine Funktionalität wie Gesprächsförderung oder Entspannung begründet werden kann. Vielmehr bieten diese interaktiven Konfigurationen körperliche Hinweise für Anschlusshandlungen (wollen sie in Ruhe gelassen werden? Kann ich mich in die Nähe oder sogar auf dieselbe Bank setzen? etc.), die in der Regel von den Umgebenden eingehalten werden. Wo dies nicht funktionierte, zum Beispiel wenn sich eine Person zu nahe an eine bereits auf dem Platz befindende Person setzte, resultierte dies in körperlichen Reaktionen. So drehte sich die erste Person etwa ab, legte Gegenstände zwischen sich und die neue Person oder stand in Extremfällen wenige Minuten nach Ankunft der neuen Person auf und ging. 14

2.3 Beobachtet: Bankkonfigurationen Nicht nur die Formen der interaktiven Konfigurationen, auch die Nutzung der verschiedenen Bankkonfigurationen ist aufschlussreich. Wird die Personenverteilung nach Bank betrachtet, zeigt sich ein überraschendes Ergebnis: Während Bank 4 unbesetzt bleibt, ist Bank 10 auf der anderen Platzseite praktisch durchgehend besetzt. Ein gewisser Einfluss darauf hat die direkte Sonneneinstrahlung, wobei Bank 10 lange im Sonnenlicht und Bank 4 lange im Schatten steht. Doch ist dies nicht die einzige Erklärung, da dies ebenfalls auf andere Bänke zutrifft, die jedoch keine solch deutliche Präferenz bzw. Ablehnung erfahren. Bank 4 ist als einzige Bank auf dem Platz charakterisiert durch eine relativ hohe Abgeschlossenheit zum restlichen Platz hin, da direkt vor und links von ihr Bäume stehen. Bank 10 hingegen ist nach allen Seiten hin offen, von ihr aus kann praktisch der gesamte Platz überblickt werden (mit Ausnahme von Bank 6). Dass Bank 10 die beliebteste Bank des Platzes ist, zeigt sich auch an den unterschiedlichen Gruppengrössen, die auf ihr Platz genommen haben, welche von 1 bis 4 Personen reichen. Eine Situation war besonders bezeichnend, als ein Paar an einem sonnigen Tag auf dem relativ vollen Platz eine Sitzgelegenheit suchte. Auf den Bänken 11 und 12 hätte es am meisten Platz gehabt, das Paar entschied sich jedoch für Bank 10 – obwohl dort bereits zwei Einzelpersonen sassen, die nichts miteinander zu tun hatten und es zu viert auf der Bank sehr eng wurde. (Die zwei Einzelpersonen verschwanden denn auch nach wenigen Minuten und liessen das Paar alleine). Eine andere Zweiergruppe wechselte umgehend von Bank 12 auf 10, als letztere frei wurde. Im Rondell, für dessen Erhalt sich die Anwohner so deutlich einsetzten, sitzen nicht auffällig viele Leute. Meistens sind es Einzelpersonen oder Zweiergruppen, die auf den Bänken 5-7 eher ruhigen Tätigkeiten nachgehen. Auf den Bänken 8 und 9 finden häufiger Gespräche statt, die häufig durch einen stark intimen Anschein charakterisiert sind. Jedenfalls fanden dort häufig auffällige interaktive Konfigurationen statt (vgl. Abb. 7 und 12). Die Bankkonfiguration des Rondells erzeugt einen Platz im Platz, wobei offenbar diese Abgrenzung zu einer vermehrten Ruhe und Intimität für die Platznutzer führt. Über den Brunnen hinweg wurde keine Interaktion beobachtet. Die Rückenbänke sind hingegen durch eine grosse Lebendigkeit des Geschehens charakterisiert. Auch hier nehmen viele Einzelpersonen Platz, die sich jedoch meistens kontaktoffener zeigen und sich körperlich weniger stark abgrenzen als die Einzelpersonen im Rondell. Zudem ist diese Bankkonfiguration auch ein Ort für grosse Gruppen ab vier Personen. Die grösste beobachtete Gruppe von sieben Leuten machte deutlich, dass als Sitzgelegenheit nicht nur 15

die Bänke in Betracht gezogen werden müssen, sondern auch die Elektrokästen neben den Bänken 11 und 14, welche trotz ihrer beachtlichen Höhe ebenfalls benutzt wurden. Dadurch, dass die Rückenbänke in den Platz hineinragen, scheint zudem sowohl eine erhöhte Sichtfreiheit auf den Platz wie auch eine erhöhte Sichtbarkeit der Platzbenutzer selbst erreicht zu sein. Bezeichnend dafür ist die Positionierung von vier jugendlichen Mädchen. Sie setzten sich auf die Bänke 13 und 14, gestikulierten lebhaft und schienen sich ihrer Wahrnehmbarkeit sehr bewusst zu sein. Sie kreierten auch selbst eine Bühnensituation, indem ein Mädchen häufig vor die anderen hinstand und etwas nachahmte, was sie scheinbar zuvor im Smartphone zusammen betrachtet hatten. Ihr Publikum waren dabei Bänke 13 bis 17 und in erweitertem Radius 1 bis 4 sowie 10. Als dritte auffällige Bankkonfiguration wurde die Rundbank 17 genannt. In der Analyse von Benutzbarkeitshinweisen gab diese Bank grosse Rätsel auf, die jedoch in der Beobachtung der Nutzer interessant beantwortet wurden. Auf der Rundbank nahmen nämlich mehr Leute Platz als erwartet und dies vor allem in grösseren bis sehr grossen Gruppen. Dabei zeichneten sich hauptsächlich zwei Nutzergruppen ab: Mütter mit Kleinstkindern und eine bestimmte Gruppe von jungen Männern, die regelmässig auf dem Idaplatz anzutreffen sind („Quartierjungs“). Beide Gruppen zeichnen sich in der Beobachtung dadurch aus, dass wenig verbale Kommunikation stattfindet. Die Kleinkinder können entweder noch nicht sprechen oder sind eher am handlungsbetonten Spielen interessiert. Die „Quartierjungs“ sitzen zeitenweise schweigend oder nur sporadisch und wechselhaft miteinander sprechend nebeneinander. Und doch entsteht durch die Bankkonfiguration eine hohe körperliche Nähe. Diese Rundbank ermöglicht also gerade durch ihre gesprächsverhindernde Konfiguration ein Gemeinschaftsgefühl, das von der verbalen Interaktion entlastet ist. Wollten die Interagierenden auf Bank 17 trotzdem intensiveren Gesprächen nachgehen, führte dies zu kreativen Lösungen, wie Abb. 14 zeigte. Nicht ignoriert werden kann der Freiraum des Idaplatzes als interaktionsarchitektonische Ressource. Dieser erwies sich als multifunktionaler Raum, in dem sich viel Verschiedenes abspielte. Neben der erwarteten Funktion als Durchgangsachse fanden auch zahlreiche Interaktionen darin statt. So beobachteten wir Begrüssungsszenen, die teilweise über den gesamten Platz hinweg vorbereitet wurden und nicht selten ein erstaunliches Mass an Theatralität erreichten. Über Hunde oder Kinder als Vermittler fand im Freiraum zudem der einzige verbale Kontakt zwischen Fremden statt. Die raumgreifenden Spiele von Kindern fanden auch häufig in den Freiflächen statt, wobei von Seiten der Eltern meist eine grosse Gelassenheit herrschte. So war einmal ein Mädchen zu beobachten, das mitten im Spielen innehielt, die Hosen runter16

liess und auf den Platz pinkelte. Die Mutter reagierte mit erstaunlicher Ruhe, schlenderte zu dem Kind hin und wies das Kind freundlich an, damit aufzuhören. Die Litfasssäule war auch einige Male das Zentrum von Aufmerksamkeit, wobei es nicht immer klar wurde, wann sich die Platzbesucher für den Inhalt der Plakate interessierten oder wann der Säule eher eine gesprächserhaltende Funktion zukam. Der Freiraum des Idaplatzes wird also vielfältig genutzt, wobei er nirgendwo eine undefinierte Fläche ist, sondern in jedem Punkt in einer Blickachse irgendeiner Bank steht. Die auf den Bänken Sitzenden reagierten zwar nur selten verbal auf das Geschehen im Freiraum, jedoch kann davon ausgegangen werden, dass sie die gelassene Geschäftigkeit sehr wohl wahrnehmen – besonders diejenigen Platzbesucher, die ohne grosses Hauptengagement vor sich hin schauen.

3. Kulturanalytische Implikationen Im folgenden Kapitel geht es mir darum, eine mögliche kulturanalytische Herangehensweise darzustellen. Diese besteht in einem zweiten, interpretativen Schritt, der anhand von empirischen Beobachtungen kulturelle Implikationen diskutiert (vgl. Linke 2011, Schröter 2014). Ich möchte die These verfolgen, dass das körperliche Verhalten der Besucher des Idaplatzes etwas über den Status und das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit aussagen und dass aus diesen kulturellen auch theoretische Implikationen diskutiert werden können. Öffentlichkeit ist ein oft und unterschiedlich gebrauchter Begriff. Seine Begriffsgeschichte kann hier nicht ausgebreitet werden 7, er wird im Folgenden auf seine Wichtigkeit für den öffentlichen Aussenraum reduziert. Grundbedingung für einen öffentlichen Stadtraum ist zunächst eine allgemeine Zugänglichkeit. Öffentlichkeit im Stadtraum ist grundsätzlich durch eine allgemeine Sichtbarkeit von Individuen charakterisiert, womit Partizipation assoziiert wird (vgl. Schmale 2005-2012). Kaspar (2012) sieht die Funktion von urbanen Grünräumen als basales Erleben von Öffentlichkeit: „Diese gegenseitige Sichtbarkeit macht Parkbesuchende und ihre Tätigkeiten zu einer öffentlichen Angelegenheit – und gewährt ihnen gleichzeitig Teil dieser Öffentlichkeit zu sein“ (ebd., 149). Ein Verständnis von Öffentlichkeit als „Bedingung, die Situationen der gegenseitigen Sichtbarkeit schafft“ (ebd., 150) geht dabei von unpersönlichen Kontakten aus, die es ermöglichen, in „Gesellschaft Unbekannter zu sein“ (ebd., 150). Wie wichtig die Sichtbarkeit untereinander im öffentlichen Erholungsraum ist, zeigt die Beobachtung auf dem Idaplatz, dass die abgeschottete Bank 4 kaum je besetzt ist, während

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Gute Überblicke bieten die Enzyklopädie der Neuzeit oder das Neue Handbuch philosophischer Grundbegriffe unter den Einträgen „Privatheit“ und „Öffentlichkeit“.

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die zentriert plazierte und offene Bank 10 die beliebteste von allen ist. Ein allen zugänglicher 8, durch gegenseitige Sichtbarkeit bestimmter Raum charakterisiert sich weiterhin durch ein Aufeinandertreffen vieler Interessen und untersteht demnach bestimmten sozialen Praktiken oder Normen. Goffman (1971) prägt dafür den Begriff der öffentlichen Etikette: Die Möglichkeit, denselben physikalischen Raum als Rahmen für mehr als einen sozialen Anlass und damit als Ort zu verwenden, der mehr als einen Komplex von Erwartungen zu erfüllen hat, kennt die Gesellschaft schon, und bezeichnenderweise schränkt sie sie ein. So besteht in den westlichen Gesellschaften hinsichtlich jenes wichtigen Phänomens öffentlicher Strassen die Tendenz, diese Orte zu definieren als Szenerie eines umfassenden sozialen Anlasses, dem andere Anlässe unterzuordnen sind. Potentiell konkurrierende Definitionen innerhalb der Situation stehen demnach hinter einer Art öffentlicher Etikette zurück. (ebd., 32) Kaspar (2012) erfährt diese Etikette am eigenen Leib, wenn sie ihren Blick als Feldforscherin in urbanen Grünräumen als aufdringlich erlebt und in die Intimsphäre der Gegenüber einzudringen droht: „Die Richtlinie des angemessenen gegenseitigen Betrachtens stellt die Wahrung der Anonymität sowie einer ‚privaten‘, intimen Sphäre im öffentlichen Raum dar“ (ebd., 165). Die hier angesprochenen Normen wurden auf dem Idaplatz ebenfalls beobachtet, besonders deutlich in den unengagierten Interaktionseinheiten, die sich oft in gelassenem Umherschauen betätigten, ohne ihre Blicke stark zu fixieren. Dies weist auf die soziale Praxis des kontemplativen Erholens in einem städtischen Aussenraum hin und erweist sich gerade durch seine Unauffälligkeit als übliche Praxis. Ein häufiges alltagsgebräuchliches und theoretisches Vorgehen ist es, die öffentliche Etikette an bestimmte Orte zu knüpfen. Je unbeschränkter der Zugang zu einem Ort, desto stärker soll die Etikette gelten, so der normative Anspruch. Darum entsteht Irritierung, wenn zum Beispiel Jugendliche den Hauptbahnhof als ihren intimen Treffpunkt institutionalisieren oder sich ein Paar an einer Bushaltestelle innig küsst. Selbstverständlich gibt es auch situationelle Ausnahmen (so wird ein inniger Kuss spätabends am Wochenende in einer Ausgehmeile weniger stören) oder funktionelle Unterscheidungen. So sind in Parks und Quartierplätzen prinzipiell gelockerte Praktiken möglich, da diese Stadträume der Freizeit zugeordnet sind 9: Hier darf der Mensch reduzierte situationelle „Anwesenheit“ bekunden, indem er seine Krawatte lockert, seine Schuhe auszieht, ein bisschen döst, verknitterte alte Kleidung trägt und kaum Wert darauf legt, sein Rülpsen zu verbergen. Hier ist es auch zulässig, ein wenig Unengagiertheit zu zeigen, sich völlig in Rollen wie die des dritten Mannes beim Baseball oder die des Fängers zu versenken. Und wie mit sich selbst darf er auch mit Objekten umgehen: im Park kann er sich intensivem wechselseitigem Engagement hingeben, er kann streiten, lieben (bis zu einem gewissen Grad), einem Freund, der den Weg entlang kommt, 8

Die allgemeine Zugänglichkeit muss an anderer Stelle kritisch hinterfragt werden, wie dies Rolshoven (2008) an der Praxis der Wegweisung Randständiger aufzeigte. 9 Dies unterscheidet sich von Plazas in südlicheren Kulturen, die nicht nur freizeitliche, sondern auch gewerbliche und direkt gemeinschaftsstiftende Funktionen erfüllen (vgl. Low 2000 und Streeck 2013)

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laut zurufen; er kann sich mit sich selbst beschäftigen, indem er seine Ohren von Schmalz befreit, Hühnchen aus der Einkaufstüte isst oder einen Beinmuskel massiert; er darf in offensichtlichem Nichtstun herumgammeln, völlig gedankenverloren sein und sogar noch weniger Sorgfalt als sonst darauf verwenden, nicht den Anschein zu erwecken, mit okkulten Dingen beschäftigt zu sein. (Goffman 1971, 183f.) Was wir auf dem Idaplatz beobachtet haben, war jedoch teilweise noch stärker der Privatoder sogar Intimsphäre zugeordnet als Goffman dies in diesem Zitat beschreibt. So wurden viele als höchst privat markierte Gespräche geführt, Paare liebkosten sich, Einzelpersonen plazierten sich so wie auf ihrem Wohnzimmersofa, Leute nahmen ihre eigenen Stühle und Kleintische mit etc. Interessanterweise fanden wir keine Anzeichen, dass dieses Verhalten gestört hätte. Was bedeutet aber nun solch akzeptiertes privates Verhalten in einem öffentlichen Raum? Die Ausweitung der Privatsphäre wird bei Linke (2012) kommentiert. Sie merkt an, dass in den letzten Jahrzehnten in den Grundrissen von Wohnungen eine Kolonialisierung vieler Räume durch das Wohnzimmer sichtbar wird, die sich über den Wohnbereich hinaus auch im (halb-)öffentlichen Raum zeigt. Umgekehrt kommt mit dem frei stehenden Küchentresen auch die „Raumsemiotik“ (ebd., 209) des öffentlichen Raumes in die Privatsphäre. Diese Beobachtungen widerspiegeln sich gerade in Zürich, wenn die städtische Entsorgung & Recycling mit dem Motto wirbt: „Damit es in der Stadt so schön ist wie zuhause“ 10. So gesehen bestätigen auch die Beobachtungen auf dem Idaplatz eine hohe Wichtigkeit von privatem bis sogar intimem Verhalten im urbanen Erholungsraum. Doch kann dieses private Verhalten nicht ohne die Situierung in einem öffentlichen Stadtraum mit allgemeiner Sichtbarkeit verstanden werden. Die beobachteten Interaktionen zeigten sich nämlich allesamt als auf die Bedingungen des Sehens und Gesehenwerdens reagierend – darunter auch das Verhalten der Einzelpersonen, das mit Goffman (1971) gesprochen auch Interaktion ist. Alle beobachteten Personen zeigten sich auf die eine oder andere Weise bewusst, sich in einem öffentlich zugänglichen Raum zu befinden, in dem sie wahrgenommen werden und selbst wahrnehmen. Gerade die engagierten Interaktionseinheiten schlossen sich in ihren interaktiven Konfigurationen deutlich vom sie umgebenden Raum ab – nicht nur, um besser miteinander zu kommunizieren, sondern durchaus auch als Signal gegen Aussen, um die Intimität des Gesprächs zu markieren und den umgebenden Personen einen erwartbaren Handlungsrahmen zu bieten. Damit meine ich nicht primär die Ausgrenzung der Umgebenden zu Zwecken einer Identität oder „withness“ (Ciolek/Kendon 1980, 244), sondern im Gegenteil eine körperliche Kommunikation, welche Anschlusshandlungen für andere Personen signalisiert. Diese körperliche Abgrenzung ist also ein sozialer Akt. 10

vgl. http://www.stadt-zuerich.ch/ted/de/index/entsorgung_recycling.html

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Wenn Öffentlichkeit und Privatheit essentialistisch betrachtet werden, ist die Konsequenz solcher Beobachtungen eine Diagnose des Verfalls dieser zwei Konzepte (wobei sowohl der Verlust der Öffentlichkeit als auch der Privatheit beklagt werden kann). Wenn Öffentlichkeit und – mit der öffentlichen Etikette – bestimmte Verhaltensnormen an bestimmte Orte gebunden werden, muss eine Veränderung der Etikette zu Instabilität führen, von wo aus der Gedanke nach Zerfall nicht weit ist. Die Beobachtungen auf dem Idaplatz haben jedoch nahegelegt, Öffentlichkeit und Privatheit konstruktivistisch zu sehen. Sie sind wählbare Interaktionsmodi, über die Interagierende als eine Art praktisches Wissen verfügen und die sie in sozialen Praktiken verwirklichen. Zwischen diesen Interaktionsmodi können die Interagierenden auch innerhalb einer Interaktion mehrfach wechseln. In diesem Sinn kann weder von Verlust der Öffentlichkeit noch von Intimisierung des gesamten Lebens pauschal die Rede sein. Vielmehr ist es interessant, diese beiden Konzepte als Handlungsmodi zu betrachten, die sich gegenseitig beeinflussen und koexistent im selben städtischen Aussenraum vorhanden sein können. Öffentlichkeit und Privatheit als Handlungsmodi sind dabei nicht mehr normativ über eine angemessene Etikette oder essentialistisch über bestimmte Orte zu definieren, sondern über ihre sozialen Praktiken im Hinblick auf die allgemeine Sichtbarkeit im öffentlichen Raum. Diese Sichtweise lässt auch neue Fragen zu, wie der urbane Erholungsraum gestaltet werden kann.

Rück- und Ausblick Die Ausgangslage dieser Arbeit war es, sich den sozialen Praktiken von Stadtbewohnern anzunähern, um ihren Status im Akteurensemble um die Planung und Gestaltung des öffentlichen Aussenraums zu festigen. Die explorative Anordnung dieses Projektes erlaubt es noch nicht, quantifizierte Daten zu liefern. Jedoch wurden Beobachtungstendenzen festgestellt, woraus auch Beobachtungsvariablen für weitere Forschung gewonnen werden können. Die Beobachtungen an der Gestaltung des Idaplatzes zeigten eine gestalterische Ausgewogenheit, indem die Interaktionsarchitektur einige Benutzbarkeitshinweise liefert und gleichzeitig grosse Nutzungsfreiheiten lässt. Ebenso unterbricht verschiedenes Immobiliar die freie Fläche, ohne sie zuzustellen. Die Gestaltung des Idaplatzes ist also durch eine gewisse Kleinteiligkeit charakterisiert, die der glatten und leeren Ästhetik 11 vieler Neubauprojekte Zürichs entgegen steht. Die Interaktionsarchitektur bot auch Rätsel, besonders bezüglich der Bankkonfiguratio11

Neben das Beispiel der Europaallee zählen auch Projekte wie der Turbinenplatz oder einige Neubausiedlungen in Neu-Oerlikon in diese architektonische Ästhetik der „semantischen Nüchternheit“ (Kaspar 2012, 139), die sich durch strenge Formen, reduzierte Pflanzenvielfalt und eine gewisse Leere auszeichnet.

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nen. Deren räumliche Anordnung erzeugt unterschiedliche Verhältnisse von Sicht- und Hörbarkeit für die Platzbesucher. Die Beobachtungen an den Interaktionen zeigten, dass die Platzbesucher keine Mühe hatten, sich den Platz anzueignen. Die Rätsel um die drei auffälligen Bankkonfigurationen lösten sich in der Beobachtung auf, indem in jeder Konstellation tendenziell charakteristische soziale Praktiken stattfanden: Das Rondell wurde für Ruhe und intime Gespräche benutzt, die Rükkenbänke eher für geselligen verbalen Austausch und lebendiges Geschehen und Bank 17 für nonverbale Interaktionen. Der Idaplatz bietet also gerade in seinen unterschiedlichen Bankkonfigurationen Interaktionsräume für unterschiedliche Bedürfnisse und kann damit Vielfalt aufnehmen. Die Interaktionsarchitektur bot andererseits für engagierte Zweiergruppen und grosse Gruppen auch interaktionshemmende Hindernisse, wofür die Platzbesucher jedoch kreative Lösungen fanden. Diese wurden am Körperverhalten beobachtet, woraus für weitere Forschung besonders aufschlussreiche Beobachtungsvariablen zusammengestellt werden können: -

vertikale Ebene: stehend, sitzend, liegend

-

horizontale Ebene: Grad der Zugewandtheit der Interagierenden

-

Extremitäten: Haltung der Arme und der Beine

-

Dauer: stabile bis häufig wechselnde Konfigurationen

-

Engagement: Verhältnis von Haupt- und Nebenengagement

Neben zu erwartendem Verhalten wie kontemplatives Umherschauen wurden auch besonders privat oder gar intim markierte Interaktionen beobachtet. Interaktionen, die an Verhalten im eigenen Wohnzimmer erinnern, fanden hier in einem öffentlichen Aussenraum statt. Und doch zeigt gerade ihre starke Markierung als privat oder intim, dass sich die Interagierenden bewusst sind, Privatheit bzw. Intimität gerade in der Öffentlichkeit auszuführen. Die Bedingungen der Sichtbarkeit – des Sehens und Gesehenwerdens – war eine Grundlage, auf die alle Interaktionen reagierten. In diesem Zusammenhang habe ich dafür argumentiert, die Konzepte von Öffentlichkeit und Privatheit nicht essentialistisch zu betrachten, sondern als Interaktionsressourcen in Form von verschiedenen Handlungsmodi zu verstehen, die sich in konkreten sozialen Praktiken realisieren. Öffentlichkeit und Privatheit sind zwei kulturelle Konzepte, die stets interaktiv hergestellt werden (müssen) und auch innerhalb einer Interaktion mehrfach wechseln können. Ein solches Verständnis von Öffentlichkeit führt auch zu stärker soziologisch fokussierten Fragestellungen für die Stadtplanung. Ein allgemein zugänglicher Raum ist nicht per se Öffentlichkeit und damit Teil dieses positiv konnotierten Diskurses, sondern erst wenn die Be21

nutzer ihn sich auch aneignen können. Erst wenn die Nutzer die Bedingungen von gegenseitiger Sichtbarkeit auch ausleben, ist ein urbaner Aussenraum für Konzepte von Öffentlichkeit relevant. Oder etwas pathetisch ausgedrückt: Öffentlichkeit ist nicht etwas, was den städtischen Räumen per se zukommt, sondern das sie sich erst verdienen müssen. Ein prominentes Zürcher Beispiel, wo dies trotz zunächst heftiger Kritik überraschend gut funktioniert hat, ist der Sechseläutenplatz, der von der Bevölkerung nach seiner Fertigstellung augenblicklich angenommen wurde. Interessant ist dabei auch, nach den Bedürfnissen von Privatheit in öffentlichen Räumen zu fragen. Dies ist zwar nicht für alle Arten von Plätzen relevant, doch beim hier untersuchten Quartierplatz war dieser Aspekt zentral. Dabei wäre etwa interessant zu fragen, wie öffentlicher Stadtraum so gestaltet werden kann, dass auch private Interaktionsmodi bzw. Mischformen ausgelebt werden können. Diese Fragestellung bekommt besondere Brisanz in eher jüngeren Entwicklungen im Städtebau. Es ist ein wachsendes Bewusstsein darüber zu beobachten, dass Neubausiedlungen nicht als Schlafsiedlungen gestaltet werden, sondern auch ein soziales Leben beinhalten sollen. Wenn dabei an Projekte wie die neue Siedlung an der Kalkbreite oder das Projekt „Mehr als wohnen“ im Hunziker Areal gedacht wird, fällt auf, dass dabei eine Form von halböffentlichem Quartierplatz eine zentrale Rolle spielt. Ob dabei punkto Öffentlichkeit und Privatheit nur an die Zugänglichkeit gedacht wurde oder auch Vielfalt der sozialen Praktiken ermöglicht wurde, wird sich in der tatsächlichen Aneignung der Anwohner zeigen.

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Anhang a) Plan des Idaplatzes

Legende: Die Bänke sind durchgehend numeriert; der Pfeil zeigt die Blickrichtung an Unregelmässige Schraffuren: Bäume Hellgrau schraffierte Flächen: Durchgangsachsen Dunkelgrau schraffierte Flächen: Bestuhlung der anliegenden Cafés bei schönem Wetter

b) Datentabelle der Beobachtungen vgl. separates Excel-File

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