Die ‚Zirkustier\'-Mensch-Verhältnisse. Zwischen Anthropomorphisierung und Othering, in: Interdisziplinäre Fachzeitschrift Tierstudien, 2/2012, Berlin: Neofelis.

June 2, 2017 | Author: Aiyana Rosen | Category: Human-Animal Relations, Critical Animal Studies, Human-Animal Studies, Animal-Human Interaction
Report this link


Description

Die ‚Zirkustier‘-Mensch-Verhältnisse Zwischen Anthropomorphisierung und Othering Aiyana Rosen Kulturelle und künstlerische Praxis war seit dem Beginn das Experimentierfeld, auf dem die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Mensch und Tier durchgespielt wurden. Sie schuf symbolische Räume, in denen die Grenze mal befestigt und ausgebaut, dann aber durchbrochen oder ganz eingerissen wurde.1

Entgegen der Annahme einer langen Zirkuskultur ist die Geschichte des Zirkus, wie wir ihn heute kennen, nicht einmal 300 Jahre alt. Dressierte Tiere, Clownerie und Seiltanz wurden zwar bereits im Alten Rom und im Hellenismus der Menge vorgeführt,2 der Zirkus, für den die „Einheit der Vielfalt“ 3 verschiedenster Darbietungen in einer Manege charakteristisch ist, bildete sich jedoch erst im 18. Jahrhundert. Seine Geburtsstätte hatte er in Großbritannien, wo er sich aus den zu dieser Zeit in Mode kommenden Kunstreitergesellschaften entwickelte,4 die wiederum aus der militärischen Pferdedressur entstanden waren.5 In den deutschen Staaten kamen die ersten modernen Zirkusse zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf.6 Im modernen Zirkus steht die Präsentation von Menschen und Tieren mit jeweils außergewöhnlichen Fähigkeiten im Mittelpunkt. Diese Fähigkeiten haben sich die Menschen mittels (Selbst-)Disziplin angeeignet; die Tiere wurden mithilfe von Strategien der Dressur zu einer Aneignung dieser Fähigkeiten gezwungen. Bis circa 1900 waren Zirkus und Menagerie in den deutschen Staaten bzw. im Deutschen Reich zwei voneinander getrennte Unternehmen. Die Menagerien stellten ihre ‚Tiersammlungen‘ oftmals nicht nur aus, sondern führten auch Wildtierdressuren durch, die sich zu dieser Zeit nur wenige Zirkusse finanziell leisten konnten.7 So begann die Dressur nicht-domestizierter Tiere erst im späten 19. Jahrhundert auch für den Zirkus im Deutschen Reich zu einem kennzeichnenden Merkmal zu werden. Zwar gibt es auch heute diverse Zirkusse, die sich auf die Vorführung menschlicher Fähigkeiten in Artistik, Jonglage oder Clownerie spezialisiert haben und auf die Vorführung dressierter Tiere verzichten, dennoch ist die Wildtierdressur heutzutage in Deutschland für die meisten Zirkusse charakteristisch. Aber was sagt die Nutzung von Tieren in Zirkussen über die hegemonialen Mensch-Tier-Verhältnisse 8 aus? Welche 1

Bernd Hüppauf: Vom Frosch. Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie. Bielefeld: transcript 2011, S. 20. 2 Vgl. Marja Keyser: Hochverehrtes Publikum. Ein Streifzug durch die Circusgeschichte. In: Jörn Merkert (Hrsg.): Zirkus Circus Cirque. Ausstellungskatalog der Nationalgalerie Berlin. 28. Berliner Festwochen 1978. Obertshausen: Greno 1978, S. 12–35, hier S. 12. 3 Ernst Günther / Dietmar Winkler: Zirkusgeschichte. Ein Abriß der Geschichte des deutschen Zirkus. Berlin: Henschel 1986, S. 14. 4 Vgl. ebd., S. 11ff. 5

Vgl. Thomas Macho: Zoologiken: Tierpark, Zirkus und Freakshow. In: Hartmut Fischer (Hrsg.): TheaterPeripherien. Konkursbuch 35. Tübingen: Konkursbuchverlag 2001, S. 13–33, hier S. 20. 6 Vgl. Günther / Winkler: Zirkusgeschichte, S. 24ff. 7

Vgl. ebd., S. 102f.

8

In Abgrenzung zum Begriff der Mensch-Tier-Beziehung verstehe ich Mensch-Tier-Verhältnisse als die Gesamtheit aller konkreten Mensch-Tier-Beziehungen, ihre Einbettung in gesellschaftliche

1

Strukturen liegen den ‚Zirkustier‘-Mensch-Verhältnissen zu Grunde, und in welchen Prozessen finden diese ihren Ausdruck? Diesen Fragen werde ich auf den folgenden Seiten nachgehen. Da in diesem Aufsatz nicht nur verschiedene Tierspezies und -individuen von Bedeutung sind, sondern auch die Begrifflichkeit ‚Tier‘ eine zentrale Rolle spielt, möchte ich kurz die Nutzung dieses Begriffs problematisieren. Unter anderem aufgrund seiner Verwobenheit mit einer starr gedachten Mensch-Tier-Grenze sowie aufgrund der in ihm vorgenommenen Subsumierung zahlreicher unterschiedlicher Spezies von Krabbe bis Krähe, von Schmetterling bis Schimpansin unter einen Begriff (bei gleichzeitiger Ausklammerung der Spezies Mensch) ist der Begriff ‚Tier‘ eine Wortschöpfung, die weder neutral noch lediglich beschreibend ist. Vielmehr liegen dem Begriff eine Reihe von Vorannahmen zu Grunde und er ist nicht frei von menschlichen Herrschaftsansprüchen zu denken. Darauf wollte auch der französische Philosoph Jacques Derrida aufmerksam machen, als er „im Singular den Plural an Tieren zu verstehen“9 gab: Es gibt nicht das Tier (l’Animal) im allgemeinen Singular, das vom Menschen durch eine einzige unteilbare Grenze getrennt wäre. Wir müssen in Betracht ziehen, daß es ‚Lebende‘ gibt, deren Pluralität sich nicht in einer einzigen Figur der Tierheit (animalité) versammeln läßt, die der Menschheit (humanité) schlicht entgegengesetzt wäre.10

Zur Vermeidung umständlicher Formulierungen und in Anbetracht mangelnder Alternativen (eine Ausnahme bildet Derridas Wortschöpfung „animot“ 11) werde ich den Tier-Begriff in diesem Text nicht umgehen, ihn aber zum Teil durch den Begriff ‚nichtmenschliche Tiere‘ ersetzen oder ihn, wie z.B. bei der Kategorie ‚Zirkustier‘-Mensch-Verhältnisse, in Anführungszeichen setzen. Für die Analyse dieser Verhältnisse möchte ich mich nun zunächst einigen Faktoren zuwenden, die für die ‚Zirkustier‘-Mensch-Verhältnisse bestimmend sind: dem Moment der Sensation, der Dressur und Zähmung sowie der Reisetätigkeit. Sensationsmoment Tiger, Löwen, Elefanten, Giraffen, Schlangen, Seelöwen und Pferde sind nur einige der Tierarten, die in Zirkussen vorzufinden sind. Die meisten Zirkusse in Deutschland legen den Fokus ihrer Tierdressuren auf ‚wilde‘, nichtdomestizierte Tiere, u.a. auf Raubtiere und sogenannte exotische Tiere, was sich mit dem Attraktionscharakter von Zirkusvorführungen erklären lässt. In Zirkussen sollen die Zuschauenden in eine ‚andere Welt‘ entführt werden. Das Sensationsmoment ist für Zirkusse somit von zentraler Bedeutung. Das Publikum ist schaulustig und will den Nervenkitzel ohne persönliche Gefahr. Es sehnt sich nach einer Erfüllung seiner Träume nach dem ‚Exotischen‘ und ‚Wilden‘ – und die Erfüllung dieser Sehnsüchte ist das, was der Zirkus ihm zu bieten verspricht. Bei Vorführungen von Wildtierdressuren geht es folglich um die Befriedigung von Sehnsüchten nach einer Begegnung mit dem ‚Anderen‘ Strukturen sowie ihre Institutionalisierung. 9 Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin. Wien: Passagen 2011, S. 79. 10

Ebd. (Hervorhebung im Original).

11

Vgl. ebd., S. 79f., 242.

2

und ‚Exotischen‘, mit dem ‚Fremden‘. Einige der Wildtiere in Zirkussen faszinieren durch die Gefahr, die diese Tiere potentiell für Menschen bedeuten und der sich die Dompteur_innen aussetzen. Die Erfüllung der Sehnsucht nach dem Erleben von Gefahr und ‚Wildheit‘ im Zirkus geschieht jedoch mithilfe von Dressur und Zähmung – Mitteln, die dem Wunschtraum diametral gegenübergestellt sind. Neben dem Stillen einer Sensationslust dienen die ‚Zirkustiere‘ somit als Projektionsfläche zur Befriedigung menschlicher Träume, die mit dem tatsächlichen Leben der präsentierten Tiere kaum in Zusammenhang stehen. Dressur und Zähmung Die Dressur ist eine wesentliche Grundlage der Tier-Mensch-Beziehungen im Zirkus. Sie wird eingesetzt, um das Moment der Sensation zu verstärken und dem Publikum eine Show darzubieten, die über eine reine Schaustellung der Tiere hinausgeht. Die Kunststücke, die die Tiere hierfür lernen müssen, sind nur über das Mittel der Dressur zu erreichen, die sich wiederum der Zähmung bedient, um eingehendere Mensch-Tier-Kommunikation überhaupt zu ermöglichen und die von den Tieren ausgehende Gefahr zu minimieren. Doch was genau bedeutet Dressur im Konkreten? Bei manchen Tieren reicht Futter als Lockmittel aus, um sie z.B. zu waghalsigen Sprüngen zu motivieren. Soll aber einem Elefanten beigebracht werden, auf den Hinterbeinen oder dem Kopf zu stehen, oder wird mit Spezies gearbeitet, die nur selten Nahrung aufnehmen, wie etwa Löwen und Tiger, reicht Futter als Anreiz nicht aus, weshalb hier mit der sogenannten Putting-through-Methode gearbeitet wird.12 Bei Tigern bedeutet dies beispielsweise das Ausnutzen von Fluchtreaktion und ‚kritischer Reaktion‘ (Übergang des Tigers zu Notwehr/Angriff) des noch nicht gezähmten Tieres sowie der Herbeiführung eines Abbruchs des Angriffs, um auf diese Weise über den Aufenthaltsort des Tieres in der Manege zu bestimmen. 13 Im späteren Stadium der Dressur werden dann die „sogenannten Hilfen (= die zwangsmäßigen Eingriffe)“14 mehr und mehr abgebaut, bis nur noch Symbole übrigbleiben. „Der Klaps wird schließlich zur winzigen Geste, die Peitschenbewegung zu einem auffordernden Blick. Mit anderen Worten: Das ursprünglich notwendige Zwangsmittel wird zum symbolischen Zeichen.“ 15 Was den Grad der direkten physischen Gewaltanwendung in der Dressur angeht, finden sich in der Literatur unterschiedliche Einschätzungen und auch Widersprüche, die zum Teil der jeweiligen Positionierung der Autor_innen geschuldet sind und oft vom Interesse von Zirkussen beeinflusst werden, sich öffentlichkeitswirksam als ‚tierlieb‘ zu präsentieren. Zum anderen gibt es vermutlich sowohl Dompteur_innen, die vorrangig über mentale Kontrolle Zwang auf die Tiere ausüben, als auch solche, die verstärkt auf materielle 12

Vgl. Heini Hediger: Beobachtungen zur Tierpsychologie im Zoo und im Zirkus. Berlin: Henschelverlag Kunst und Gesellschaft 1979, S. 292ff.; Elisabeth Beck: Die andere Seite der Tierdressur. http://www.circustiere.de/dressur/dressur1.htm (Zugriff am 15.04.2012). 13 Vgl. Klaus Zeeb: Wie man Tiere im Circus ausbildet. Stuttgart: Enke 2001, S. 72; Hediger: Tierpsychologie im Zoo und im Zirkus, S. 292ff. 14 Hediger: Tierpsychologie im Zoo und im Zirkus, S. 296. 15

Ebd.

3

Gewaltanwendung in der Dressur durch „Peitschen, enge [...] Halsbänder, Maulkörbe, Elefantenhaken oder sonstige [...] Werkzeuge“ 16 setzen. Dass eine Dressur ohne Gewaltanwendung nicht möglich ist, dürfte dadurch ersichtlich sein, dass Gewalt bereits in dem Moment beginnt, in dem das Tier zu Handlungen gezwungen wird, gegen die es sich verweigert. Dies ist jedoch Kern jeder Dressur. So äußert sich auch der Zoologe und Zoodirektor Heini Hediger: „Es bleibt [...] nichts anderes übrig, als das Tier zunächst mit Gewalt zu den Leistungen zu bringen, die es später lediglich auf Grund von Zeichengebung ausführen soll.“17 Zentrale Themen von Tierdressuren im Zirkus sind die Gewöhnung der Tiere an die Anwesenheit anderer Arten, Vermenschlichung und Zähmung. Die Zähmung führt zu einer Annäherung zwischen Tieren und Menschen und zu einer ‚Ausschaltung‘ oder Veränderung von Verhaltensweisen, die der Dressur und Zähmung vorangingen. Die Tiere lernen, menschliche Zeichen zu deuten, ebenso wie die Dompteur_innen lernen müssen, sich in ihrem Verhalten der jeweiligen Spezieskommunikation anzupassen.18 Auf diesem Wege kommt es trotz extremer Hierarchien zwischen Menschen und Tieren, die nur selten schlagzeilenwirksam durchbrochen werden, zu einer Annäherung zwischen Dompteur_in und dressiertem, gezähmten Tier. Zwischen Dompteur_in und Tier entwickelt sich eine Beziehung, die Hediger als äußerst innig beschreibt – eine Innigkeit, „die für alle Zirkusdressuren so außerordentlich kennzeichnend“ 19 sei. Dabei stehen die affektiven Bindungen, die Dompteur_innen und Tierpflegende oftmals zu ‚ihren‘ Tieren haben, keineswegs im Widerspruch zu der ebenfalls stattfindenden Verdinglichung der Tiere. So betrachtet beispielsweise der Soziologe Theodor Geiger sachbezogene Beziehungen und Ausbeutungsverhältnisse zwischen Menschen und nichtmenschlichen Tieren zwar nicht als „soziale Verhältnisse“ 20, was für ihn das Bestehen von affektiver Zuneigung allerdings nicht ausschließt. „[D]a es affektive (nicht-soziale) Verhältnisse zu Sachen gibt (Pietätsverhältnisse, ästhetische Wertschätzungen), so kann wohl auch das Tier, selbst wenn es Gegenstand menschlicher Affektion ist, doch vom Menschen als Ding affektiv erfaßt sein.“21 Deutlich wird, dass ein auf der Kommunikationsebene angesiedeltes gegenseitiges Verstehen von Mensch und nichtmenschlichem Tier für die Dressur notwendige Voraussetzung ist. Neben Dressur und Zähmung ist die Reisetätigkeit ein weiteres Merkmal, das das Leben der Tiere in Zirkussen bestimmt. Reisetätigkeit 16

PeTA: Zirkusse. Mißbrauch in der Manege. http://www.peta.de/web/zirkusse.126.html (Zugriff am 13.04.2012). 17 Hediger: Tierpsychologie im Zoo und im Zirkus, S. 291. 18

Vgl. ebd., S. 291ff.

19

Ebd., S. 303.

20

Theodor Geiger: Das Tier als geselliges Subjekt. In: Forschungen zur Völkerpsychologie und Soziologie 10 (1931), S. 283–307, hier S. 300. 21 Ebd., S. 300f. (Hervorhebung im Original).

4

In Deutschland existieren zurzeit circa 350 Wanderzirkusse, 22 die im Schnitt an 50 verschiedenen Orten im Jahr Vorführungen darbieten. 23 Der Wanderzirkus ist damit in Deutschland die mit Abstand am weitesten verbreitete Zirkusform. Die Mitarbeit im Wanderzirkus bedeutet für die dort auftretenden nichtmenschlichen Tiere – ebenso wie für die Menschen – gemeinhin, dass sie sich einen Großteil ihres Lebens auf Reisen befinden. Für die ‚Zirkustiere‘ hat die ständige Reisetätigkeit zur Konsequenz, dass sie in extrem beengten Verhältnissen (in Transportwagen und Zelten) leben müssen, in denen sie – im Gegensatz zu den mitreisenden Menschen – fast den ganzen Tag eingesperrt sind und die sie, in der Regel nur wenige Minuten am Tag, 24 lediglich für die Vorstellungen und die Dressurübungen verlassen. In Anbetracht dieser Enge fragte sich Natias Neutert bereits 1984 in der Zeit: Aber sind seine Tiger und Löwen überhaupt noch Tiere oder nur ihre bemitleidenswerten Schatten – zoologische Zombies? Für ihre unbändige Bewegungslust kann doch das eiserne Gitterrund nur ein Kanarienvogelkäfig, ihr Wohnwagen bloß eine Holzschachtel auf Rädern sein.25

Die fehlenden Bewegungs-, Rückzugs- und Beschäftigungsmöglichkeiten, die Einzelhaltung geselliger Arten und die Haltung von Einzelgängern in Gruppen, die klimatischen Bedingungen, denen die Tiere nicht angepasst sind, und der mit den Dressurübungen verbundene Stress resultieren in diversen Verhaltensstörungen, z.B. in Form von Bewegungsstereotypen sowie in Krankheiten und frühzeitigem Tod der Tiere.26 Die Reisetätigkeit, der Attraktionscharakter sowie die Dressur und die Zähmung bringen als Faktoren, die für die ‚Zirkustier‘-Mensch-Verhältnisse zentral sind, spezielle Tier-Mensch-Verhältnisse hervor. Doch welche Strukturen und Prozesse lassen sich hinter der beschriebenen Nutzung von Tieren zur Darbietung von Tierdressuren in Zirkussen ausmachen? Beispielhaft möchte ich nun auf zwei wesentliche und durch starke Ambivalenzen charakterisierte Prozesse eingehen: auf Anthropomorphisierung und Othering. Anthropomorphisierung Das Spiel mit der Mensch-Tier-Grenze ist eines der zentralen Topoi des Zirkus. Nichtmenschliche Tiere werden mithilfe von Dressur dazu gebracht, in der Manege menschliche Verhaltensweisen an den Tag zu legen; auf der anderen Seite schlüpfen Menschen in Tierrollen. So waren Motorrad fahrende Bären 27, Tiere in Menschenkleidern28 und auf Pferden reitende Affen 29 in der Geschichte 22

Vgl. PeTA: Zirkusse.

23

Vgl. Deutscher Tierschutzbund e.V.: Zirkus. http://www.tierschutzbund.de/zirkus.html (Zugriff am 12.04.2012). 24 Vgl. ebd. 25 Natias Neutert: Wo ist der Zirkus? – Woanders! Die neue „Reise zum Regenbogen“ – Darf sie nur immer wieder in die Vergangenheit führen? In: Die Zeit, 16.11.1984, http://www.zeit.de/1984/47/wo-ist-der-zirkus-woanders (Zugriff am 16.08.2012). 26 Vgl. Fred Kurt: Einführung. In: William Johnson: Zauber der Manege? Der grausame Alltag der Tiere in Zirkus, Tierschau und Delphinarium. Hamburg: Rasch und Röhring 1992, S. 7–13, hier S. 11; Deutscher Tierschutzbund e.V.: Zirkus. 27 Vgl. Otto Netzker / Mario Turra (Hrsg.): Zirkus International. Berlin: Henschel 1982, Abb. 198. 28

Vgl. ebd., Abb. 7, 17.

29

Vgl. ebd., Abb. 114.

5

des Zirkus ebenso Teil der vielfältigen Darbietungen wie ‚Schlangen-‘ oder ‚Affenmenschen‘.30 Eine der beliebtesten Tiernummern in Carl Hagenbecks Zoologischem Circus, der 1892 in Hamburg eröffnet wurde, war „der Löwe ‚Prinz‘, von hermelinverbrämtem Purpur umhüllt, selbstbewußt in einem römischen Wagen thronend, von zwei Königstigern gezogen und von Doggen gefolgt“31. Solche sehr starken Vermenschlichungen werden allerdings mittlerweile auch in Zirkussen vermehrt kritisch betrachtet.32 Sie sind nur noch selten Teil der Programme, u.a. da derartige Nummern vom Publikum kaum noch goutiert werden. Allerdings gehören Anthropomorphisierungen wie tanzende Seelöwen und auf Stühlen sitzende oder Fußball spielende Elefanten auch heute noch zu klassischen Tierdressuren im Zirkus. 33 Da Tiere alltagskulturell oftmals als das ‚ganz Andere‘ wahrgenommen werden und die Mensch-Tier-Grenze als starr konstruiert wird, kommen vermenschlichende Darstellungen von Tieren dem Sensationscharakter des Zirkus entgegen. Menschliches Verhalten bei einem nichtmenschlichen Tier verbindet scheinbar Unvereinbares miteinander und wird so zur Sensation. Solche Anthropomorphisierungstendenzen – die Darstellung nichtmenschlicher Tiere mit menschlichen Eigenschaften – sind nicht nur ein integraler Bestandteil vieler Zirkusvorführungen, sondern auch wesentliche Komponente vieler Comics, Werbefilme und Kinderbücher. Kay Milton beschreibt diese Form der Anthropomorphisierung als eine Kreation menschlicher Stereotype, die lediglich in ‚Tierform‘ abgebildet seien, und bei der es somit vorrangig um die Repräsentation von Menschen gehe. Die ‚Tiere‘ seien hier „zoomorphic humans rather than anthropomorphic animals“34. Im Zirkus sind die vermenschlichten Tiere, im Gegensatz zu denen in Kinderbüchern oder Zeichentrickfilmen, allerdings reale Tierindividuen. Damit stellt sich hier neben der ohnehin bedeutenden Frage nach den Auswirkungen auf die Entwicklung von ‚Tierbildern‘ (die wiederum auch auf reale Tiere zurückwirken), auch die Frage nach den Auswirkungen der Anthropomorphisierung auf die konkreten Tierindividuen im Zirkus. Während die Tiere in Zirkussen durch Anthropomorphisierungstendenzen näher an den Menschen heranzurücken scheinen, kommt es zeitgleich zu einem Othering, bei dem die Tiere dem Menschen als Exemplare des ‚ganz Anderen‘ diametral gegenüberstellt werden. Othering Der Begriff ‚Othering‘, der aus der postkolonialen Theorie stammt und von Gayatri C. Spivak geprägt wurde, beschreibt die Abgrenzung der eigenen 30

Vgl. Macho: Zoologiken, S. 21.

31

Ruth Malhotra: Weltweit – Menschen, Tiere, Heiterkeit. Gedruckte Sensationen aus Hamburg St. Pauli. In: Merkert (Hrsg.): Zirkus Circus Cirque, S. 54–75, hier S. 55f. 32 Vgl. Klaus Zeeb (im Interview): „Eine positive Mensch-Tier-Beziehung ist das A und O“. http://www.circustiere.de/zeeb.htm (Zugriff am 15.04.2012); Hediger: Tierpsychologie im Zoo und im Zirkus, S. 295. 33 Vgl. Zeeb: Wie man Tiere im Circus ausbildet, S. 56ff. 34 Vgl. Kay Milton: Anthropomorphism or Egomorphism? The Perception of Non-human Persons by Human Ones. In: John Knight (Hrsg.): Animals in Person. Cultural Perspectives on Human-Animal Intimacies. Oxford/New York: Berg 2005, S. 255–271, hier S. 256.

6

Gruppe zu einer anderen durch den Vorgang des ‚jemanden zu dem Anderen machen‘.35 Im Deutschen wird für diesen Prozess auch der Begriff ‚Veranderung‘ herangezogen. ‚VerAnderung‘ soll heißen, daß der Fremde als Anderer eben nicht einfach gegeben ist, auch niemals gefunden oder entdeckt, beschrieben oder beobachtet werden kann, sondern daß er durch seine Entdecker, Autoren und Beobachter mithervorgebracht wird [...]. 36

Der Prozess des Othering verfolgt den Zweck der Selbstversicherung, der Herstellung und Bestätigung der Identität der eigenen Gruppe, die durch die vorgenommene Abgrenzung und Differenzierung konstruiert wird. So wird beim Othering nicht nur etwas über die Gruppe ausgesagt, die zum ‚Anderen‘ gemacht wird, sondern ebensoviel über die konstruierende Person und deren Beziehung zu dieser als ‚fremd‘ und ‚anders‘ konstruierten Gruppe. Für die bestehenden Mensch-Tier-Verhältnisse ist der Prozess des Othering zentral. ‚Das Tier‘ ist, so die Soziologin Birgit Mütherich, der „Prototyp des Fremden“37 und die Distanzierung und Abgrenzung vom ‚Tier‘ zum Zwecke der Herstellung einer menschlichen Identität hat eine lange Geschichte. Für den philosophischen und anthropologischen Selbstentwurf des Menschen im Europa der Neuzeit war der Unterschied konstitutiv; eine Grenze trennte nicht den Menschen von Tieren, sondern schuf das Tier als generalisiertes Gegenbild zu dem Menschen.38

Auch in den ‚Zirkustier‘-Mensch-Verhältnissen lassen sich folglich Veranderungsprozesse feststellen. Diese Prozesse werden durch das Moment der Sensation und die damit verbundene Schaustellung sogenannter exotischer Tierarten noch verstärkt. Christina Wesselys Einschätzung des Zoos als „Ort der Exotisierung des ‚Fremden‘“39 lässt sich problemlos auch auf Zirkusse übertragen. Wie auch in Zoos bleiben und blieben die Tiere in Zirkussen für das Publikum „‚exotische‘ Repräsentanten des ‚Fremden‘ [...], auch, wenn sie schon jahrelang in europäischen Zoos heimisch waren oder sogar dort geboren wurden.“40 Zudem wurden in Zirkussen – und auch hier lassen sich Parallelen zu den Zoologischen Gärten der Zeit ziehen – noch im 19. Jahrhundert auch Menschen nicht-europäischer Herkunft und Menschen mit aus der Sicht des Publikums auffälligen körperlichen Merkmalen zur Schau gestellt. 41 Veranderungsprozesse sind also für den Zirkus charakteristisch und beziehen sich nicht nur auf die ‚Zirkustiere‘, sondern teilweise auch auf die dort (primär in der Vergangenheit) vorgeführten Menschen. 35

Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? In: Dies.: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Turia + Kant 2008, S. 17–118. 36 Julia Reuter: Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden. Bielefeld: transcript 2002, S. 20. 37 Birgit Mütherich: Die Problematik der Mensch-Tier-Beziehung in der Soziologie. Weber, Marx und die Frankfurter Schule. Dortmunder Beiträge zur Sozial- und Gesellschaftspolitik Bd. 28, hrsg. v. Gerhard Naegele / Gerd Peter. Münster: LIT 2004, S. 227. 38 Hüppauf: Vom Frosch, S. 16 (Hervorhebung im Original). 39

Pascal Eitler: Review of Christina Wessely: Künstliche Tiere. Zoologische Gärten und urbane Moderne. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews, August 2009. http://www.h-net.org/reviews/showrev.php? id=25664 (Zugriff am 07.04.2012). 40 Mitchell G. Ash: Mensch, Tier und Zoo. Der Tiergarten Schönbrunn im internationalen Vergleich vom 18. Jahrhundert bis heute. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2008, S. 17. 41 Vgl. Günther / Winkler: Zirkusgeschichte, S. 59; Malhotra: Weltweit – Menschen, Tiere, Heiterkeit, S. 55.

7

Die Nutzung nichtmenschlicher Tiere in Zirkussen, die Mitchell G. Ash als eine Ausprägung „eine[r] anscheinend schrankenlose[n] Verfügbarkeitsideologie“ 42 erkennt, ist mit einer Objektifizierung der Tiere verwoben. Ebenso ist die Objektifizierung der zur Schau gestellten Menschen ein Kernelement von Völkerschauen und Freak-Shows, aus denen einige Zirkusse des 19. Jahrhunderts Elemente übernahmen. 43 Die Verdinglichung der Tiere im Zirkus ist Bestandteil des Prozesses, in dem Tiere als ‚ganz Andere‘ konstruiert werden. Sie ist nicht nur auf der Ebene der materiellen Gewalt (z.B. in Form von Käfigen oder Zwangsmitteln der Dressur) angesiedelt, sondern hat auch auf der strukturellen Ebene, z.B. in Form von Tierschutzgesetzen, die die ‚Zirkustiere‘ als Besitztümer verhandeln und zudem in Bezug auf ‚Zirkustiere‘ nur in erheblich abgeschwächter Form Geltung haben, ihre Ausprägungen. Auch auf der epistemischen Ebene manifestieren sich Verdinglichung und Othering: in Form von Denksystemen, die die Zirkustiere bereits als das ‚ganz Andere‘ hervorbringen.44 Ambivalenzen und Anthropozentrismus Zwei Prozesse, die den ‚Zirkustier‘-Mensch-Verhältnissen zu Grunde liegen, konnten herausgestellt werden: Anthropomorphisierung und Othering. Diese Prozesse werden jedoch nicht nur in den ‚Zirkustier‘-Mensch-Verhältnissen erkennbar, sondern charakterisieren von der ‚Heimtier‘bis zur ‚Nutztierhaltung‘ ebenso die hegemonialen Mensch-Tier-Verhältnisse im Allgemeinen, wenn auch in jeweils unterschiedlichen Gewichtungen. Die in den ‚Zirkustier‘-Mensch-Verhältnissen zu Tage tretenden Ambivalenzen bewegen sich zwischen der scheinbaren „Innigkeit der Tier-MenschBeziehung“45 zwischen Dompteur_in und dressiertem Tier sowie der oftmals anzutreffenden (anthropozentrischen) Sentimentalisierung der Tiere durch die Besucher_innen auf der einen Seite und der parallel stattfindenden Verdinglichung der Tiere im Zirkus auf der anderen Seite. Diese Verdinglichung verdeutlicht sich letztendlich in einem eklatanten Mangel an Berücksichtigung der tierlichen Bedürfnisse und in der völligen Unterwerfung der Individuen unter ihren Nutzen für den Menschen. Gemeinsam sind den hier in Erscheinung tretenden Tierkonstrukten jedoch die ihnen zu Grunde liegenden anthropozentrischen Grundmuster, die sich durch den mangelnden Versuch eines Überschreitens der rein menschlichen Perspektive sowie durch eine Weltsicht kennzeichnen, bei der der Mensch im Mittelpunkt des Geschehens und der Berücksichtung steht. Die verschiedenen Tierkonstrukte stehen somit nur scheinbar in einem Gegensatz zueinander. So dienen die Tiere in Zirkussen 42

Ash: Mensch, Tier und Zoo, S. 15.

43

Vgl. ebd.

44

Vgl. zu den verschiedenen Ebenen der Gewalt in den Mensch-Tier-Verhältnissen Sven Wirth: Fragmente einer anthropozentrismus-kritischen Herrschaftsanalytik. Zur Frage der Anwendbarkeit von Foucaults Machtkonzepten für die Kritik der hegemonialen Gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisse. In: Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hrsg.): HumanAnimal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen. Bielefeld: transcript 2011, S. 43–84, hier S. 69ff. 45 Hediger: Tierpsychologie im Zoo und im Zirkus, S. 303.

8

vorrangig dazu, um „über und durch Tiere“46 innerhalb der menschlichen Gesellschaft miteinander zu kommunizieren, während der Kommunikation „mit Tieren“47 kaum Bedeutung zugemessen werden kann, auch wenn diese für ein Gelingen der Dressur notwendig ist. In ihrem Durchbrechen der Mensch-Tier-Dichotomie in der kulturellen Praxis und der damit verbundenen Bewegung der Tiere zum Menschen hin ist die Vermenschlichung der ‚Zirkustiere‘ in der Manege ebenfalls nur scheinbar dem Prozess des Othering diametral gegenübergestellt: Die in der Manege zur Schau gestellte Vermenschlichung ist derart eng mit einer Verdinglichung der tierlichen Individuen verbunden und so stark von einem Absurditätsmoment durchzogen, dass sie – weit davon entfernt, den ‚Tierstatus‘ der vermenschlichten Individuen ins Wanken zu bringen – lediglich als eine weitere Technik des Othering verstanden werden kann.

46

Rainer E. Wiedenmann: Geliebte, gepeinigte Kreatur. Überlegungen zu Ambivalenzen spätmoderner Mensch-Tier-Beziehungen. In: Forschung und Lehre 6 (2005), S. 298–300, hier S. 299 (Hervorhebung im Original). 47 Ebd. (Hervorhebung im Original).

9



Comments

Copyright © 2024 UPDOCS Inc.