Die Wiederbelebung der Gallusverehrung im Kloster St. Gallen im 15. Jahrhundert

May 24, 2017 | Author: Philipp Lenz | Category: Medieval History, Medieval Studies, Medieval Church History, History of Monasticism
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Description

Monasterium Sancti Galli herausgegeben von der Stiftsbibliothek und vom Stiftsarchiv St. Gallen

Gallus in den Dornen. Diakon Hiltibod will ihm aufhelfen. Darstellung der Gründungslegende des Klosters St. Gallen vor Bodenseelandschaft. Ganzseitige Miniatur in einem Graduale mit vierstimmigen Gesängen, gemalt von Kaspar Härtli aus Lindau 1562. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 542, S. 439.

Monasterium Sancti Galli 7

GALLUS UND SEINE ZEIT L e b e n , Wi r ke n , Na c h l e b e n Herausgegeben von Franziska Schnoor, Karl Schmuki, Ernst Tremp, Peter Erhart und Jakob Kuratli Hüeblin

Verlag am Klosterhof St. Gallen 2015

Folgende Institutionen haben den Druck unterstützt: Katholischer Konfessionsteil des Kantons St. Gallen Lotteriefonds des Kantons St. Gallen Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung Stadt St. Gallen Ortsbürgergemeinde St. Gallen Ria und Arthur Dietschweiler Stiftung, St. Gallen Raiffeisen Schweiz

Gallus und seine Zeit: Leben, Wirken, Nachleben St. Gallen: Verlag am Klosterhof, 2015 (Monasterium Sancti Galli; 7) ISBN 978–3–905906–13–4 ISSN 1424–358X © Verlag am Klosterhof, St. Gallen Bestelladresse: Stiftsbibliothek St. Gallen, Postfach, CH-9004 St. Gallen; [email protected] Gestaltung, Satz: TGG Hafen Senn Stieger, St. Gallen; Druck: Niedermann Druck AG, St. Gallen; Einband: Buchbinderei Grollimund AG, Reinach; Papier: Normaset Puro, 120 g/m2; Schrift: Rialto

Inhaltsverzeichnis Ernst Tremp und Franziska Schnoor Einführung......................................................................................... 9 Christian Rohr Die Columbansvita und die Gallusviten als Quellen zur Mensch-Natur-Beziehung im Frühmittelalter . ................................... 19 Ian Wood The Irish on the Continent in the Seventh Century . ........................... 39 Pádraig Ó Riain Irische Hagiographie des 7. Jahrhunderts: Wahrheit oder Dichtung .................................................................... 55 Albrecht Diem Die «Regula Columbani» und die «Regula Sancti Galli». Überlegungen zu den Gallusviten in ihrem karolingischen Kontext..... 65 Alain Dubreucq L’œuvre épistolaire de Colomban et les échanges épistolaires de son temps ....................................................... 99 Sébastien Bully, Aurélia Bully, Morana C¬aus¬ evic´ -Bully, in Zusammenarbeit mit Laurent Fiocchi (Übersetzung Guido Faccani) Die Anfänge des Klosters Luxeuil im Licht der jüngsten archäologischen Untersuchungen (6.–9. Jahrhundert) ................. 127 Flavio G. Nuvolone Colomban se place à Bobbio à côté de Pierre, au centre du territoire et de ses fêtes........................................ 161 Max Schär Gallus’ Eremitensiedlung im Steinachwald ................................ 183

Martin Peter Schindler Neue archäologische Erkenntnisse zu St. Gallen ...........................205 Dagmar Ó Riain-Raedel Bemerkungen zum hagiographischen Dossier des heiligen Gallus......223 Ernst Tremp Columbans Vermächtnis im Widerstreit. Die Rechtfertigungsrede des Gallus vor der Gesandtschaft aus Luxeuil im Jahr 629......................................243 Raphael Schwitter Vom Einsiedler zum Apostel Alemanniens. Karolingische «réécriture hagiographique» am Beispiel der Vita sancti Galli ..................................................................267 Alfons Zettler Gallusgrab und Gallusschrein im frühen Mittelalter. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des karolingischen Klosterplans in St. Gallen................................283 Peter Erhart Die «terra sancti Galli» im Frühmittelalter..................................309 Jan Hrdina Der heilige Gallus – seine Patrozinien und seine Verehrung im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Böhmen......................321 Georg Modestin «… ivit ad Sanctum Gallum et crastina fecit aperire sarchofaga». Karl IV. und die St. Galler Reliquien (1353) unter besonderer Berücksichtigung der Schilderung Heinrichs von Diessenhofen.........341 Philipp Lenz Die Wiederbelebung der Gallusverehrung im Kloster St. Gallen im 15. Jahrhundert..............................................................365

Rudolf Gamper Gallus ohne Nimbus. Vadian erforscht den historischen Gallus..........387 Franziska Schnoor Barocke Gelegenheitsdichtung zu Ehren des heiligen Gallus.............407 Werner Wunderlich Gallus – ein Mythos lebt.......................................................439 Verzeichnisse Abkürzungs- und Siglenverzeichnis................................................... 462 Quellenverzeichnis........................................................................... 463 Literaturverzeichnis.......................................................................... 474 Verzeichnis der Handschriften, Inkunabeln und Archivalien .............. 512 Verzeichnis der Orts- und Personennamen......................................... 514 Abbildungsnachweis.......................................................................... 525

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Die Wiederbelebung der Gallusverehrung im Kloster St. Gallen im 15. Jahrhundert Philipp Lenz

Einleitung Das 15. Jahrhundert spielt in der Geschichte des Klosters St. Gallen eine äusserst wichtige Rolle. Zu Beginn dieses Jahrhunderts vereinigte das Kloster noch alle Eigenschaften, die den Niedergang vieler Benediktinerklöster im Spätmittelalter kennzeichneten. An der Stätte der Zelle des Gallus und des karolingischen Grossklosters lagen eine baufällige Klosterkirche, deren Chor durch den Stadtbrand am 20. April 1418 stark beschädigt worden war, sowie die Privathäuser der wenigen Konventsherren, die über persönliche Einkünfte verfügten. Erst nach dem Konzil von Konstanz (1414– 1418) und dem parallel dazu stattfindenden Provinzialkapitel der benediktinischen Ordensprovinz Mainz-Bamberg in Petershausen (1417–1418) setzte der langsame, nicht immer linear verlaufende Wiederaufstieg des Gallusklosters ein, der im Wesentlichen die Verbesserung der wirtschaftlichen und finanziellen Lage, die bauliche Instandsetzung der Klosterkirche und den Neubau der Konventsgebäude, die Wiedereinführung der vita communis und eines würdigen officium divinum sowie den Ausbau der klösterlichen Territorialherrschaft umfasste.1 Im Rahmen der wirtschaftlich-landesherrschaftlichen und geistlich-religiösen Erstarkung des Klosters an der Steinach setzte auch eine Wiederbelebung des Kults seines Gründers, des heiligen Gallus, ein. Dieses Phänomen ist ähnlich der übrigen Liturgiegeschichte des Klosters St. Gallen im 15. Jahrhundert gänzlich unerforscht.2 Die folgenden Ausführungen beabsichtigen, diese Forschungslücke mindestens teilweise zu füllen. Zunächst wird das wiederentdeckte Interesse am heiligen Gallus in den Zusammenhang mit der übergreifenden Rückbesinnung auf die Vergangenheit des Klosters gestellt. Danach durchsuchen wir die neuen, für das Galluskloster angefertigten liturgischen Handschriften nach Spuren des Galluskults. 1 Zur Geschichte des Klosters St. Gallen im 15. Jh. vgl. Lenz, Reichsabtei. 2 Zur Forschungslage vgl. Lenz, Reichsabtei, S. 19–23, 311–312. Zum frühmittelalterlichen Gallusoffizium vgl. Berschin/Ochsenbein/Möller, Gallusoffizium; Tremp/Berschin/Hiley, Historia.

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Schliesslich wenden wir uns einem bedeutenden, aber völlig unbekannten kultischen Ereignis zu, nämlich der Erhebung der Gallusreliquien im Münster. Die Besinnung auf die eigenen Wurzeln und den heiligen Gallus Wie andernorts gingen die Klosterreformen mit der Rückbesinnung auf die eigene Vergangenheit einher.3 Dieser Vorgang zeigt sich in St. Gallen in dem nach über zwei Jahrhunderten plötzlich wieder aufkommenden Interesse an der eigenen Klostergeschichtsschreibung, den von Ratpert gegen Ende des 9. Jahrhunderts begonnenen, sodann von Ekkehart IV., weiteren St. Galler Mönchen und von Conradus de Fabaria bis 1232/1235 in verschiedener Ausformung fortgeführten lateinischen Casus sancti Galli in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Vier im Auftrag oder im Interesse des Klosters geschriebene Handschriften, nämlich VadSlg 70 und Cod. Sang. 610 aus den 1450er-Jahren sowie VadSlg 69 und Cod. Sang. 612 aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert, überliefern jene vierteilige Sammlung lateinischer Geschichtswerke zum Galluskloster.4 Dass man sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit der Geschichtsschreibung und Geschichte des Klosters St. Gallen auseinandersetzte, weist überdies eine Handschrift aus dem Besitz des Konventualen und Rechtsgelehrten Johannes Bischoff († 1495) konkret nach.5 Cod. Sang. 706, hauptsächlich ein Repertorium alphabeticum iuris canonici aus den Jahren 1460–1483, stellt auf S. 373 das Wirken von Columban und Gallus in Lu­ xeuil, Tuggen und Bregenz mittels einfachster schematischer Darstellung ihrer jeweiligen Förderer und Gegner dar (Abb. 1). Dabei stützte sich Johannes Bischoff offensichtlich auf die Casus Ratperts, woraus er einige Exzerpte entlehnte und bearbeitete.6 3 Vgl. Schreiner, Erneuerung. Vgl. auch die Erläuterungen zum Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra in Augsburg bei Graf, Ordensreform, S. 138–146, 157–158. 4 Keine Aufnahme in diese historiographischen Handschriften fanden die vom St. Galler Stadtbürger Christian Kuchimaister 1335 verfassten deutschsprachigen Nüwe Casus Monasterii sancti Galli. Siehe ­S chmuki, Klosterchronistik, S. 181–182, 186–190, 198–201; Ratpert, St. Galler Klostergeschichten, ed. Steiner, S. 84–90. 5 Zu Johannes Bischoff siehe Staerkle, Beiträge, S. 92–95, 117–118, 191–192, Nr. 174; Rehberg, Johannes Bischoff. 6 Vgl. Ratpert, St. Galler Klostergeschichten, ed. Steiner, S. 136, Z. 10 concessit – Z. 13 implevit, S. 138, Z. 2 penitusque – Z. 3 speciosum, Z. 3. vero – Z. 6 perduraverunt, S. 138, Z. 8 plena – S. 140, Z. 10 permanserunt. Zu Cod. Sang. 706 siehe Lenz/Ortelli, Codices 670–749.

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Abb. 1: Cod. Sang. 706, S. 373. Auf Z. 7ff. stehen Notizen des St. Galler Mönchs Jo­ hannes Bischoff († 1495) zum Ursprung des Klosters St. Gallen, eingetragen mitten in seinem «Repertorium iuris canonici»: Monasterium sancti Galli qui primi cultores fuerint tam facto tamque auxilio seu ministerio vel privilegio; qui vero primi emuli ac persecutores nota hic in sequenti figura …

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Abt Ulrich Rösch (1463–1491) und seine Konventualen begnügten sich freilich nicht mit reiner Textvervielfältigung und dem Studium und Exzerpieren der Casus, sondern schufen 1481 erstmals seit einigen Jahrhunderten wieder ein eigenes Geschichtswerk. Es handelt sich um den ersten Teil der sogenannten Kurzen Chronik, einer vor allem gegen die Stadt gerichteten Tendenzschrift im Kleid einer Klosterchronik von 1370 bis 1481, die letztlich der Legitimierung eines Klosterneubaus in Rorschach und der Verlegung eines Teils des Konvents dorthin dienen sollte.7 Die Chronik greift sogar die peregrinatio und das Leben von Gallus als Einsiedler in der Wildnis auf, um die geplante teilweise Klosterverlegung aus der städtischen Enge St. Gallens auf eine Anhöhe oberhalb von Rorschach zu rechtfertigen.8 Die Geschichte und der heilige Gallus standen aber nicht ausschliesslich im Dienst des politischen Diskurses und der Auseinandersetzungen mit der Stadt St. Gallen. An der Schnittstelle zwischen Geschichtsschreibung und Heiligenverehrung stehen die vitae und miracula der St. Galler Hausheiligen, die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts neu abgeschrieben wurden. Es handelt sich in erster Linie um die beiden schon erwähnten Sammelhandschriften VadSlg 70 und Cod. Sang. 610, die neben den Casus sancti Galli unter anderem auch die vitae und miracula der Heiligen Gallus, Otmar, Wiborada und Magnus überliefern.9 Diesen sind die Konstanzer Missionspredigt des heiligen Gallus und Auszüge aus dem Metrum de vita sancti Galli von Notker dem Stammler, welche der klösterliche Hofammann Johannes Hechinger (1460–1466) kurz vor 1464 in einem Kopialband abschrieb, beizugesellen.10 Das wiederentdeckte, aktive Interesse am Klostergründer Gallus darf nicht isoliert betrachtet werden. Denn die Rückbesinnung auf die eigene Vergangenheit erfasste damals auch den St. Galler Mönch und Dichter Not 7 Kurze Chronik, ed. Hardegger, S. 1–109, hier S. 1–23, Z. 8. Vgl. Schmuki, Klosterchronistik, S. 201–202; Gamper, Gotzhus; Stettler, Einleitung, in: Watt, Grössere Chronik 1, S. 16–19. Siehe jetzt auch die jüngste Analyse von Lenz, Reichsabtei, S. 586–594. 8 Kurze Chronik, ed. Hardegger, S. 22, Z. 16–24: den überfal der welt geflochen und als ouch unser lieber husvatter sant Gall ton haut und us sinem vatterland gangen ist und gross rychtum verlaussen haut und an dies ord und end komen ist als in ain wildi sin ruw zuo suchen siner sel zuo trost und zuo hail, und, ob er noch uff ertrich wär, bedarff niemant zwiveln, das er an dem end plibe, denn für war kain gaistlichait an dem end ewigklich niemer mer pflantzett werden mag nach der ordnung und regel sant Benedicts. 9 Scarpatetti, Codices 547–669, S. 186–191; siehe oben Anm. 4. 10 StiASG, Bd. 369, S. 66–67 und S. 76 – f. 85v. Vgl. Berschin, Notkers Metrum; Berschin, Biographie 3, S. 404–413. Zu Johannes Hechinger siehe Staerkle, Beiträge, S. 59, 96–97.

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ker den Stammler († 912) und seine Sequenzen, und zwar schon Jahrzehnte vor seiner Seligsprechung 1513. Zahlreiche ihm zugeschriebene Sequenzen wurden spätestens um die Mitte des 15. Jahrhunderts erstmals wieder im Kloster St. Gallen in neuen liturgischen Handschriften aufgezeichnet.11 Die Verehrung des heiligen Gallus nach den liturgischen Handschriften des 15. Jahrhunderts Während des 13. und 14. Jahrhunderts wurden keine neuen liturgischen Bücher für das Kloster St. Gallen hergestellt; man beschränkte sich bestenfalls auf grössere oder kleinere Nachträge verschiedenster Art in bestehenden liturgica.12 Neun erhaltene liturgische Handschriften aus dem 15. Jahrhundert, die mit grösster Sicherheit im Gebrauch des Klosters standen, legen Zeugnis von der damaligen Erneuerung des officium divinum ab: Cod. Sang. 448 Liber ordinarius 1430er-Jahre Cod. Sang. 337b Missale 1. Hälfte/Mitte 15. Jh. Cod. Sang. 420 Benediktionale 1. Hälfte/Mitte 15. Jh. Cod. Sang. 356 Pontifikalmissale 1463–1491/Ende 15. Jh. Cod. Sang. 1297 Professrituale 1473 Cod. Sang. 1757 Graduale de sanctis, ordinarium missae 1473 Cod. Sang. 1758 Graduale de tempore, Kyriale, Sequentiar ca. 1473 Cod. Sang. 438 Psalter, Antiphonar, Hymnar 1463–1491 / 2. Hälfte 15. Jh. Cod. Sang. 440 Psalter, Antiphonar, Hymnar 146713

Mindestens vier dieser Handschriften bieten kleinere Einblicke in die Gallusverehrung in der damaligen Klosterliturgie. Ein frühes und ziemlich genau datierbares liturgisches Buch des 15. Jahrhunderts, das im Kloster St. Gallen Geltung beanspruchen kann, liegt im Liber ordinarius (Cod. Sang. 448) vor und stammt aus den 1430er-Jahren. Zwar mag er von den auswärtigen Hersfelder Mönchen, die damals im Kloster St. Gallen weilten, beeinflusst worden sein, doch war er eindeutig und wahrscheinlich zu bedeuten 11 Zunächst wurden nur die Sequenzentexte (so in Cod. Sang. 337b), dann, in der zweiten Hälfte des 15. Jh.s, auch die Melodien in gotischer Notation auf Linien, freilich unter Verwendung auswärtiger oder neu geschaffener Melodien, neu abgeschrieben. Siehe dazu Labhardt, Sequentiar, S. 11–17, 95, 163–167, 178–186, 260, 263–266; Bruggisser-Lanker, Musik, S. 36–37. 12 Vgl. Hild, Musical Annotations. 13 Zu Cod. Sang. 448, 337b, 420, 356, 1297, 1757, 1758, 438, 440 vgl. Lenz, Reichsabtei, S. 329–351. Cod. Sang. 448, 356, 1757, 1758, 438 und 440 sind online zugänglich (www.cesg.unifr.ch).

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deren Anteilen in der lokalen Tradition des Klosters St. Gallen verankert.14 Im Kalendar auf S. 12 der Handschrift stehen beim 16. und 23. Oktober die Einträge xvi kl. Novembris. Ffestiuitas [!] sancti Galli confessoris [dann Rasur] dedicatio huius ecclesie in roter Tinte und x kl. Novembris. Octava sancti Galli. Dedicatio capelle sancti Galli zunächst in Texttinte, dann in roter Tinte. Hernach folgen auf S. 203a und S. 203b Ausführungen zum Gallustag und zur Oktav, die im Vergleich zu anderen Feiertagen aber relativ kurz gehalten sind: Galli confessoris. Sequenti die beati Galli servatur dedicatio per totum monas­ terium, quia monasterium ista die consecratum est ob reverentiam sancti Galli. Et ipse est fundator ecclesie nostre et causa nostre libertatis. Ipsa quoque die scilicet dedicationis erit summum festum. … In octava sancti Galli. In primis vigiliis post benedictiones … Als Zweites ist das von Abt Ulrich Rösch (1463–1491) in Auftrag gegebene Pontifikalmissale Cod. Sang. 356 zu behandeln (Abb. 2).15 Für das Gallusfest führt es auf S. 51–56 je nach Zählung elf oder dreizehn Texte auf. Es handelt sich einerseits um die gesungenen Propriumstexte des In­ troitus, des Graduales, des Alleluia-Verses, der Sequenz, des Offertoriums und der Communio, die hier aber ohne musikalische Notation überliefert sind, andererseits um die gelesenen Propriumstexte des Alten und Neuen Testaments der ersten und zweiten Lesung sowie der Oratio (Collecta), Secreta und Complenda (Postcommunio), d. h. jener einfachen Gebete, welche die Messeröffnung, die Gabenbereitung und die Kommunion abschlossen:16 –  Introitus: Antiphon. Iustus ut palma florebit … domus dei nostri.17 Ps 91,2. Bonum est confiteri … altissime.18 – Oratio. Deus, qui nos beati Galli confessoris … imitemur. Per.19 – 1. Lesung: Sir 45,1–6. Dilectus deo et hominibus … discipline.20 14 Zu dieser Handschrift siehe im Detail Lenz, Reichsabtei, S. 53–57. 15 Duft, Abt Ulrich, S. 74–76; Katalog der datierten Handschriften 3, S. 33, Nr. 84; Ochsenbein, Schreiben, S. 40; Bräm, Buchmalerei, S. 337, BR 10. 16 Vgl. Jungmann, Missarum sollemnia 1, S. 445–481; 2, S. 108–112, 509–516; Martimort, Handbuch 1, S. 360–365, 402–403, 455–456. 17 Ähnliche, ausführlichere Fassung davon unter In nativitate sancti Iohannis in Cod. Sang. 339, S. 47, nur der Beginn ebd., S. 129. Antiphonale missarum sextuplex, ed. Hesbert, Nr. 14, 119, 177ter jeweils nur Iustus – multiplicabitur. 18 Antiphonale missarum sextuplex, ed. Hesbert, Nr. 14. 19 Das fränkische Sacramentarium Gelasianum, ed. Mohlberg, B 25; Tremp/Berschin/Hiley, Historia, S. 89. Auch Cod. Sang. 438, S. 18. 20 Entsprechende Rubrik auch in Cod. Sang. 339, S. 178.

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– Graduale: Responsorium. Domine prevenisti eum in benedictionibus … de lapide precioso.21 Versus. Vitam petiit a te et tribuisti ei … seculi.22 – Alleluia-Vers. Iustus ut palma florebit … multiplicabitur.23 – Sequenz des Notker Balbulus. Dilecte deo Galle perenni … deo dilecte.24 – 2. Lesung: Mt 19,27–29. In illo tempore dixit Symon Petrus … posside­ bit.25 – Offertorium. Posuisti domine in capite … tribuiste ei.26 – Secreta. Hostias domine, quas nomini tuo … defendi. Per.27 – Communio. Fidelis servus et prudens … mensuram.28 – Complenda. Beati Galli confessoris tui … letantes.29 Abgesehen vom Psalm des Introitus, der jedoch aus den Psalterien bekannt war, dem Responsorium und dem Vers des Graduales konnte ich alle Texte vollständig oder mindestens als Rubriken in früheren liturgischen Handschriften St. Gallens nachweisen. Der Inhalt des Messpropriums ist demnach stark in der St. Galler Tradition verwurzelt. Vergleicht man das Messproprium des Pontifikalmissales Ulrich Röschs mit demjenigen des berühmten neumierten Messantiphonars aus dem Ende des 10. Jahrhunderts in Cod. Sang. 339,30 so zeigt sich gleichwohl eine gewisse Fortentwicklung der Gallusliturgie während knapp einem halben Jahrtausend. Während die beiden Lesungen, der Alleluia-Vers, das Offertorium und die anderswo aufgezeichnete, aber dazugehörige Gallussequenz textlich unverändert 21 Antiphonale missarum sextuplex, ed. Hesbert, Nr. 147; vgl. auch ebd., Nr. 14, 163, 171ter; Corpus Antiphonalium, ed. Hesbert, Nr. 6505. 22 Antiphonale missarum sextuplex, ed. Hesbert, Nr. 147; vgl. auch ebd., Nr. 14, 163, 171ter; Corpus Antiphonalium, ed. Hesbert, Nr. 6505. 23 Entsprechende Rubrik auch in Cod. Sang. 339, S. 178. Siehe oben Anm. 17. 24 Auch in Cod. Sang. 376, S. 397–398. Ed. AH 53, S. 246; von den Steinen, Notker, Editionsband, S. 72. Siehe auch Rep. Hymn. 4692; Labhardt, Sequentiar 1, S. 63 und 100, jeweils Nr. 177 (in Spalte I); Ochsenbein, Gallus-Sequenz. 25 Entsprechende Rubrik auch in Cod. Sang. 339, S. 178. 26 Entsprechende Rubrik auch in Cod. Sang. 339, S. 178. Antiphonale missarum sextuplex, ed. Hesbert, Nr. 148b, 155. 27 Auch in Cod. Sang. 348, S. 11. Das fränkische Sacramentarium Gelasianum, ed. Mohlberg, B 8. 28 Auch in Cod. Sang. 339, S. 60 und die Initia ebd., S. 122, 135. Antiphonale missarum sextuplex, ed. Hesbert, Nr. 32, 104, 132, 170. Jeweils nur der Beginn Fidelis servus et prudens … familiam suam in Cod. Sang. 388, S. 379 und Cod. Sang. 391, S. 186. Corpus Antiphonalium, ed. Hesbert, Nr. 2868. 29 Identisch in: Das fränkische Sacramentarium Gelasianum, ed. Mohlberg, B 9. 30 Vgl. die Ausführungen bei von den Steinen, Notker. Darstellungsband, S. 379–386, und die Rekonstruktion von Ochsenbein, Gallus-Sequenz, S. 158–160.

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Abb. 2: S. 51. Cod. Sang. 356, S. 51. Beginn des Gallusoffiziums im Pontifikalmis­ sale von Abt Ulrich Rösch (1463–1491).

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fortbestanden, stimmen der Introitus, das Graduale und die Communio nicht mehr mit ihren alten Vorgängern überein. Wenden wir uns nun nach der Messe dem Stundengebet des Gallusfests zu. Kaum bekannt und fast gänzlich unerforscht sind die inhaltlich ähnlichen Handschriften Cod. Sang. 438 und 440.31 Beide enthalten den Psalter in biblischer Ordnung mit liturgischen Rubriken, Antiphonen und Hymnen für das Stundengebet über die ganze Woche und an bestimmten Festtagen. Darunter befinden sich in den beiden Handschriften insgesamt vier Hymnen für das Fest des Klostergründers,32 deren Melodien in gotischer Notation auf vier oder fünf Linien notiert wurden.33 Antiphonen, Lesungen oder Orationen sind hier freilich nicht vermerkt. Cod. Sang. 438 führt f. 165r–165v einen Hymnus an, der für die Vesper am Festtag des heiligen Gallus vorgesehen war und dessen Beginn teilweise getilgt wurde (Abb. 3). Die erste Strophe wird von einer gotischen Musiknotation auf Linien begleitet. Beim Hymnus handelt es sich um eine Dichtung des Reichenauer Mönchs Walahfrid Strabo († 849) mit dem Beginn Vita sanctorum, via, spes salusque …,34 welche bereits im Frühmittelalter in der liturgischen Tradition St. Gallens verankert wurde. Zwei an der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert in St. Gallen angefertigte Handschriften überliefern den Text samt musikalischer Notation in Form von linienlosen Neumen,35 während drei weitere Handschriften, die vom 9. bis 11. Jahrhundert im Galluskloster geschrieben wurden oder mindestens über Jahrhunderte in dessen Besitz waren, bloss den Text des Hymnus enthalten.36 Ob der Schreiber von Cod. Sang. 438 die Melodie aus 31 In der Übersicht von Haug, Sankt Gallen, S. 592–593, fehlt Cod. Sang. 440 ebenso wie im Katalog der datierten Handschriften 3, S. 344; Bruggisser-Lanker, Musik, S. 36–37, führt diesen an, gibt aber für den Datierungsvermerk (1467) das falsche Folio (richtig wäre f. 227r) an. 32 Cod. Sang. 438, f. 165r–165v; Cod. Sang. 440, f. 211r–212v. Cod. Sang. 438 beinhaltet überdies auf f. 142v– 144v die Sequenz Cantemus cuncti … samt gotischer Notation auf Linien. Vgl. dazu Scherrer, Verzeichniss, S. 143; Labhardt, Sequentiar 1, S. 49, 97, jeweils die Nr. 22; Bruggisser-Lanker, Musik, S. 36–37. 33 Diese Art der Musiknotation löste die linienlosen Neumen ab und ist eine weitere, obgleich vergleichsweise späte Errungenschaft im Kloster St. Gallen des 15. Jh.s. Vgl. dazu Lenz, Reichsabtei, S. 329–351. 34 Rep. Hymn. 21979; Schaller/Könsgen, Initia, Nr. 17421. Ed. AH 50, S. 171–172 (Nr. 123); MGH Poetae 2, ed. Dümmler, S. 411 (Nr. LXXII); Tremp/Berschin/Hiley, Historia, S. 27, 95–99. 35 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 17.5 Aug. 4°, f. 86v–87v, St. Gallen, ca. 890–920, und London, British Library Add. 21270, f. 94r–95r, St. Gallen, Anfang 10. Jh. Siehe dazu Tremp/Berschin/Hiley, Historia, S. 8–9 (mit Lit.). Ein späterer Zeuge des Hymnus ist Cod. Sang. 439, S. 86– 88, mit gotischer Notation auf Linien, 1. Hälfte 16. Jh. Siehe Scherrer, Verzeichniss, S. 143, 575. 36 Cod. Sang. 562, S. 92, St. Gallen, 2. Hälfte 9. Jh.; Vatikanstadt, Bibliotheca Apostolica Vaticana, Reg. lat. 469, f. 41r–41v, Fulda, 9. Jh., danach vom 10. bis zum 16. Jh. im St. Galler Kloster aufbewahrt; Cod.

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Abb. 3: Cod. Sang. 438, fol. 165r. Gallushymnus des Walahfrid Strabo († 849), überliefert samt Melodie in Hufnagelnotation für die Vesper am Fest des heiligen Gallus in einem Psalter mit Antiphonen und Hymnen, der wohl aus der Zeit des Pflegers und Abts Ulrich Rösch (1457/1463–1491) stammt.

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dem wahrscheinlich ein wenig älteren, 1446 geschriebenen Cod. Sang. 16, einem Psalter der St. Laurenzenkirche, oder wie dieser aus dessen unbekannter Quelle schöpfte, bleibt offen.37 Jedenfalls sind diese beiden Handschriften aus der Mitte bzw. zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die ältesten Zeugnisse für Walahfrid Strabos Gallushymnus mit gotischer Notation auf Linien. Sie erfüllen somit eine wichtige Brückenfunktion zwischen der frühmittelalterlichen und der frühneuzeitlichen liturgischen Überlieferung im Spannungsfeld zwischen Tradition und Erneuerung. Eine grössere Anzahl von Hymnen zum Gallusfest befindet sich in Cod. Sang. 440, f. 211r–212v. Dort stehen nämlich insgesamt drei Hymnen, die zur Vesper während der ganzen Oktav, zur Matutin und zu den Laudes zu singen waren. Auch hier zeigen jeweils bei der ersten Strophe fünf Linien mit gotischer Hufnagelnotation die Melodie des Hymnus an. Für den ersten Hymnus konnte ich keine vollständige Vorlage ausfindig machen. Er teilt mit einem bekannten Hymnus, der vermutlich auf St. Magnus oder andere Heilige für Prozessionen gedichtet wurde und im älteren Cod. Sang. 381 auf S. 155–156 überliefert ist,38 drei Strophen vollständig und zwei weitere teilweise. Diese beiden wurden durch spezifische Verse auf St. Gallus modifiziert (im Folgenden kursiv); zudem befindet sich am Schluss eine zusätzliche, neue Strophe (ebenfalls kursiv):

Sang. 387, S. 461–462 (Strophen 1–5, 10) und S. 479 (Strophen 6–9), St. Gallen, Anfang 11. Jh. Siehe dazu Scarpatetti, Codices 547–669, S. 48–50; Wilmart, Codices Reginenses 2, S. 629–631; Bergmann/Stricker, Katalog 4, S. 1570–1571, Nr. 824; Scherrer, Verzeichniss, S. 131–132; Bruckner, Scriptoria 3, S. 101. Spätere Überlieferungsträger des Texts bzw. nur des Incipit sind Cod. Sang. 503k, f. 269r–269v, St. Gallen, 2. Hälfte 15. Jh. oder um 1500, und Cod. Sang. 541, f. 237r, St. Gallen, 1544. Siehe Scarpatetti, Codices 450–546, S. 208–213, 393–396. 37 Der 1446 geschriebene Cod. Sang. 16 aus der klösterlichen Patronatskirche St. Laurenzen in der Stadt St. Gallen überliefert auf S. 418–419 den Hymnus samt zwei unterschiedlichen Melodien in gotischer Notation auf Linien. Die S. 419 mit Alia melodia eingeleitete Version findet sich in Cod. Sang. 438 auf f. 211r. Siehe dazu Scherrer, Verzeichniss, S. 6; Katalog der datierten Handschriften 3, Nr. 59; Tremp/ Berschin/Hiley, Historia, S. 27, 95. 38 Schaller/Könsgen, Initia, Nr. 7493. Ed. AH 50, S. 258 (194); MGH Poetae 4, 1, ed. Winterfeld, S. 330–331 (Nr. XX). Siehe dazu Stotz, Ardua spes mundi, S. 131–132.

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PHILIPP LENZ

De sancto Gallo et per octavam ad vespera. 1.

Iam fidelis turba fratrum voce dulci consonet, hymnum dicat et serena partiatur dramata, dulci patri et beato Gallo festa factitans.

4. Nos istius semper clara consequuti munia, sanctitati tantae cantu personemus musico: exaudire quod delectet cuncti plasten seculi.

2.

Iamque caelum iamque terra iamque pontus laudibus plaudat atque circumquaque vox emissa plebibus, auctori, patrique tanti tamque clari luminis.

5.

3.

Hinc exultent astra caeli lacteusque circulus, signa tum bissena saltent et corona nobilis ornatusque totus, soli conditori cognitus.

6. Gloria et honor deo usquequaque altissimo una patri filioque inclyto paraclito, cui laus est et potestas per aeterna saecula. Amen.39

Nunc redemptor et creator, auctor veri gaudii largiatur illam nobis Galli sui gratiam, ut sequuti tantum patrem captemus perennia.

Bemerkenswerterweise stimmt die auf S. 211v notierte Melodie nicht überein mit den Neumen des in Cod. Sang. 381 auf S. 155–156 geschriebenen versus, der zum grossen Teil als textliche Vorlage diente oder hätte dienen können. Man griff offenbar mindestens für die Melodie auf auswärtige Quellen zurück.40 Im Gegensatz zum ersten Gallushymnus in Cod. Sang. 440 scheinen die beiden folgenden Hymnen überhaupt nicht in früheren Handschriften überliefert worden zu sein. 39

39 Cod. Sang. 440, f. 211r–211v. Später erstmals identisch abgedruckt in: Officia propria 1612, S. 21–22; ebenso z. B. Officia propria 1736, S. 49a. 40 Den musikgeschichtlichen Vergleich hat dankenswerterweise Frau Elaine Hild, University of Colorado, Boulder, durchgeführt. Gemäss ihrer Analyse stimmt die Melodie grundsätzlich mit einem Einsiedler Hymnar des 12. Jh.s überein. Siehe Stäblein, Hymnen (I), S. 286–287.

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DIE WIEDERBELEBUNG DER GALLUSVEREHRUNG

Ad matutinam.

Ad laudes.

1.

Vox clara laudes insonet noctis quieto tempore, Galli patris encomiis solenniisque dedita.

1.

Iam luce summa consonent sacri triumphi dramata, nil vile, nihil sordidum admittit haec solemnitas.

2.

Procul tenebrae criminum a mente desunt integra, virtutis ipsa lux micat, dum Gallus Christum praedicat.

2.

Hic Gallus alta caelicae perfectionis culmina prendens gerebat angeli vitam mortali corpore.

3.

Fugantur umbrae noctium, cedit caligo mentium, cedit potestas daemonum, tolluntur arae gentium.

3.

Episcopatus infulas abbatiaeque ferulas, superba mundi folia, terrena cuncta respuit.

4. Etiam coluntur angelis deserta culta lamiis, et cella Galli pavula vicina caelo iungitur.

4. Cellae quies, mundi fuga, iunctae preces ieiunio carnisque castigatio, ei voluptas unica.

5.

5.

Densis rosae de vepribus eremo tota prodeunt, deserta in hortos floridos cultore Gallo transeunt.

Has Gallus ipse plantulas virtutis arvo condidit, virtutis et cultoribus pie fovendas tradidit.

6. Precamur ergo caelites, nostras vias ut muniant, quo post eum securius vitae teramus semitas.

6. Hinc daemonas mortalibus pellit locis et bestias, idola sternit et dei infert ubique gloriam.

7. Praesta pater per filium, praesta per almum spiritum, his cum per aevum triplici unus deus cognomine. Amen.41

7. Laus trinitati simplici, laus unitati triplici, patri patrisque filio spiraminique compari. Amen. 42

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PHILIPP LENZ

Der nachfolgende Text unten auf f. 212v und oben auf f. 213r wurde offenbar getilgt. Von den vier Hymnen, die insgesamt in Cod. Sang. 438 und 440 überliefert sind, konnte bis anhin nur einer vollständig und ein weiterer zu grossen Teilen in einer früheren Quelle nachgewiesen werden. Als textliche Vorlagen könnten liturgische Handschriften der Klosterbibliothek, z. B. Cod. Sang. 387, 562 und Reg. lat. 469, gedient haben.43 Aus welchen Quellen die Melodien geschöpft wurden, bleibt vorerst noch offen. Mindestens für eine Hymnusmelodie lässt sich aber nachweisen, dass nicht die naheliegende St. Galler Handschrift, Cod. Sang. 381, sondern eine andere, wohl auswärtige, als Vorlage diente.44 Gewissheit über die Quellen könnte nur eine umfassende textkritische und musikhistorische Untersuchung sämtlicher Überlieferungsträger bringen, eine Arbeit, die hier nicht geleistet wurde. Zwei weitere Hymnen liessen sich in den gängigen Repertorien nicht nachweisen, so dass eine Verankerung in der St. Galler Liturgie des Frühund Hochmittelalters wahrscheinlich auszuschliessen ist. Vielmehr dürfte es sich um eigene Neuschöpfungen des 15. Jahrhunderts oder allenfalls um spätmittelalterliche auswärtige Importe oder Entlehnungen handeln. Es ist also durchaus möglich, dass im 15. Jahrhundert im Kloster St. Gallen neue Hymnen auf den heiligen Gallus gedichtet oder zusammengestellt wurden, die, wie die Klosterdrucke zeigen, bis Ende des 18. Jahrhunderts das Gallusoffizium prägten. Diese Entdeckungen deuten also eine beträchtliche Fortentwicklung des Gallusoffiziums seit dem Früh- und Hochmittelalter an; sie dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir von seiner vollständigen Rekonstruktion für das 15. Jahrhundert (noch) weit entfernt sind. 41 42

Die Erhebung der Gallusreliquien im Münster45 Die wichtigsten kultischen Brennpunkte in der Laienkirche, die durch einen Lettner vom Mönchschor getrennt war, lagen in der zweiten Hälfte des 41 Cod. Sang. 440, f. 211v–212r. Identisch abgedruckt in: Officia propria 1612, S. 22; Officia propria 1736, S. 50a–b; Rep. Hymn. 22200 mit Verweis auf einen späteren Klosterdruck des 18. Jh.s. 42 Cod. Sang. 440, f. 212r–212v. Identisch abgedruckt in: Officia propria 1612, S. 24; Officia propria 1736, S. 56a. Es sei darauf hingewiesen, dass die 5. Strophe Has Gallus [bzw. Magnus] ipse plantulas … und die 7. Strophe Laus trinitati simplici … identisch überliefert sind in einem Hymnus auf St. Magnus. Rep. Hymn. 18974. Abgedruckt in: AA SS Sept. 2, S. 730B–C, 4. und 6. Strophe. 43 Siehe oben Anm. 36. 44 Dieser Befund stimmt somit mit den auf breiter Grundlage erarbeiteten Forschungsergebnissen Labhardts überein. Siehe oben Anm. 11. 45 Dieses Kapitel wurde zu grossen Teilen wörtlich aus Lenz, Reichsabtei, S. 362–373, entnommen.

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15. Jahrhunderts zweifelsohne am St. Annenaltar, dem Ort der 1475 gestifteten täglichen Frühmesse zu Ehren der heiligen Maria und Anna, und am Altar «Unserer Lieben Frau im Gatter», dem Wallfahrtsziel, dessen Besucherzahlen seit 1475 rapid anstiegen. Verglichen mit der Marienverehrung, die durch eine Bruderschaft zusätzlich gefördert wurde und innerhalb eines Jahrzehnts zur Aufzeichnung von ca. 650 Wunderberichten führte,46 drohte die Belebung des Galluskults zu verschwinden. Es gibt freilich ein bislang nicht ausgewertetes, in einer Abschrift des ­17. Jahrhunderts überliefertes Dokument, das die Bedeutung des Gallusfests für das Kloster und die lokale Bevölkerung sowie die Bemühungen des damaligen Administrators Ulrich Rösch (1457–1463; Abt 1463–1491) um dessen würdige Begehung beleuchtet. Demnach bat der Pfleger Ulrich Rösch in einem auf den 7. September 1458 datierten Schreiben den Abt des benachbarten Benediktinerklosters St. Johann im Thurtal, ihm innerhalb von acht Tagen den Konventualen Johannes Scheffmacher zu schicken, damit dieser die St. Galler Mönche bei der Feier des Gallusfests und beim Beichthören während drei bis vier Wochen unterstütze. Er verfüge nämlich nicht über genug Mönche und Priester, um den Zustrom der Gläubigen bewältigen und der Ehre des Klosters und des heiligen Gallus Genüge leisten zu können.47 Während seines Abbatiats führte Ulrich Rösch weitere Massnahmen durch, die seinen Willen zur Stärkung der Gallusverehrung belegen. Zunächst ist auf die Frühamtsstiftung von 1475 und die damit verbundene, 1480 vollzogene Dotierung der Galluskapelle auf dem Klosterhof einzugehen. Dadurch wurde nämlich eine Pfründe für einen Weltpriester geschaffen, der neben seiner aktiven Teilnahme am täglichen Frühamt im Münster auch drei Messen pro Woche in der Galluskapelle zelebrieren musste.48 46 Staerkle, Wallfahrt, hier S. 173. 47 StiASG, Rubr. 13, Fasz. 7, Nr. 612 (17. September 1458; beigegeben beim 12. April 1458): Cum festum sancti Galli patroni nostri, quod summo studio, omni cum solemnitate et honore peragendum fore pernosco ac cupio, bre­ vissimi nobis dies apportent, et quia ad praesens personis cultui divino aptis, videlict monachis et praesbyteris, pluri­ mum deficere videor, qua de causa illud festum, quod mihi magnum videtur, propter copiosam multitudinem adve­ nientium et alias causas mutabiles, non ad meae intentionis libitum nec monasterii honorem vel adventarium favo­ rem perficere valeat, nisi de extraneis gregibus mihi suffragetur. Et cum ad P. V. mihi semper colendam, summam gero confidenciam, precibus multiplicibus eandem P. V. intime rogo, quatenus mihi unum de grege vobis commisso, videlicet dominum Iohannem Scheffmacher, infra octo dies ad monasterium sancti Galli dirigere eumque ad tres vel quatuor ebdomadas meum degere recusare nec velitis, mihi in favorem, divino … [?] cultui in augmentum … Ex sancto Gallo 17. mensis Septembris anno etc. LVIII. Ulricus Rösch administrator. 48 Lenz, Reichsabtei, S. 386–409.

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Sodann sei an die Ausmalung der Laienkirche mit Lebensszenen der beiden Klostergründer Gallus und Otmar auf der linken bzw. rechten Seite erinnert.49 Erwähnung verdient darüber hinaus ein Flügelretabel für den Hochaltar, dessen Erwerb oder Herstellung laut einem Darlehensvertrag von 1485 geplant war.50 Ob dieser Plan tatsächlich verwirklicht wurde, bleibt hingegen offen.51 Bevor wir uns der letzten bedeutenden Massnahme zur Förderung der Verehrung des heiligen Gallus im Münster zuwenden, sei kurz auf den Ort seines Grabs bzw. seiner Reliquien eingegangen. Die Darstellungen der Baugeschichte des Münsters schweigen sich über den Ort des Grabs bzw. der Reliquien des heiligen Gallus vor und nach der Vollendung des Chors 1483 aus.52 Es ist unklar, ob und inwiefern die Krypta und die durch Sichtstollen verbundene karolingische Grablegung des heiligen Gallus verändert wurden. Das Gallusgrab war damals «von der Hallenkrypta durch lange, nicht begehbare Schächte einsehbar, die relativ hoch über dem Kryptenniveau lagen»,53 und befand sich wohl hinter dem Hochaltar,54 teilweise über dem Boden des Chors erhaben.55 Duft vermutete ohne nähere Erläuterungen, dass Ulrich Rösch im Rahmen des Chorneubaus den karolingischen Umgang mit seinen beiden Zu 49 StiASG, Bd. 110, f. 66v: Item die orglen restariert und die stimen darin laussen machen und das gmae l in das mins­ ter machen laussen, sant Gallen und sant Othmars leben und die schilt, costet ob 300 guldin. Vgl. Watt, Grössere Chronik 2, ed. Stettler, S. 739, Z. 23–26; die dortige Aussage, [E]r ließ ouch das münster malen uss des buwmaisters sekell, ist demnach falsch; Watt, Kleinere Chronik 2, ed. Götzinger, S. 376, Z. 25–43; Kessler, Sabbata, ed. Egli/Schoch, S. 313, Z. 11–16. Vgl. auch Anderes, Hans Haggenberg, besonders S. 132–135, 137–138; neuestens Lenz, Reichsabtei, S. 214. 50 StiASG, Bd. 109, f. 123v (8. Juni 1485); Rott, Quellen 1, S. 256. Vgl. Braun, Altarretabel, besonders S. 535– 540. Der Hochaltar war gemäss Kessler, Sabbata, ed. Egli/Schoch, S. 312, Z. 1–6, der die Situation am Vorabend des Bildersturms im Zuge der Reformation 1529 schildert, dem hl. Gallus, dem hl. Otmar, den Hl. Drei Königen und der Muttergottes geweiht. Vgl. Poeschel, Kunstdenkmäler 3, S. 7–48. Zum frühmittelalterlichen Hauptaltar, der ursprünglich allein Maria und Gallus geweiht war, vgl. Müller, Altar-Tituli, hier S. 134–137; Sennhauser, St. Gallen, S. 31, Abb. 32. 51 Zu dem unter Abt Franz Gaisberg errichteten und von einem St. Galler Stadtbürger finanzierten Hochaltar aus dem Jahr 1522 vgl. Hardegger/Schlatter/Schiess, Baudenkmäler, S. 94–95; Poeschel, Kunstdenkmäler 3, S. 47–48. 52 Vgl. Hardegger/Schlatter/Schiess, Baudenkmäler, S. 92–96; Poeschel, Kunstdenkmäler 3, S. 45–50, 155–164. 53 Erdmann/Zettler, Archäologie, S. 128; vgl. ebd., S. 120–121, 127 und Abb. 39, 40. 54 Hardegger/Schlatter/Schiess, Baudenkmäler, S. 63. Ebenso der Klosterplan Cod. Sang. 1092; vgl. dazu Poeschel, Kunstdenkmäler 3, S. 15. 55 Poeschel, Kunstdenkmäler 3, S. 33; vgl. ebd., S. 155–164.

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trittsstollen durch einen einzigen seitlichen Zugang ersetzt habe.56 Die Unsicherheit rührt vor allem daher, dass Johannes Kesslers Chronik, die ausführlichste Quelle zum Münster vor dem Bildersturm 1529, die Grabstätte des heiligen Gallus – übrigens im Unterschied zu derjenigen des heiligen Otmar – wie Joachim von Watt (Vadian) nicht erwähnt.57 Ein erstmals von Arthur Kobler in einer frühen Untersuchung herangezogener Brief des Oberberger Vogts Jakob Christoph Krom vom 24. Dezember 1529 spricht zwar von der Rettung einiger Gallusreliquien aus dem Sarg und aus anderen Behältern, schweigt jedoch ebenfalls über den Ort im Münster, wo jene lagen.58 Mehr Klarheit schafft eine bis jetzt noch nie ausgewertete Quelle aus dem Jahr 1484. Sie besagt, dass die leiblichen Reste des Heiligen bis dahin wörtlich im Hochaltar, dem Sinn nach wahrscheinlich beim oder unter dem Hochaltar lagen (corpus eiusdem sancti Galli, quod in altari maiori ecclesie dicti monasterii est reconditum).59 Die wichtigste Massnahme zur Belebung der Verehrung des heiligen Gallus war die Erhebung seiner Reliquien durch Abt Ulrich Rösch, ein in der bisherigen Geschichtsschreibung beinahe gänzlich ausgeblendetes Vorkommnis.60 Nachdem Rösch schon als Pfleger 1461 einen Ablass zu Ehren der beiden Klostergründer am päpstlichen Hof erwirkt hatte,61 plante er spätestens 1484 die Translation der Gallusreliquien. Am 18. Juli desselben Jahrs gestattete Papst Sixtus IV. Abt und Konvent von St. Gallen, den Leichnam des heiligen Gallus von seiner bisherigen Grabstätte beim Hochaltar an einen anderen, würdigeren Ort im Münster zu übertragen.62 Die Reliquientranslation ist in der Bulle untrennbar mit dem Wiederaufbau des 56 Duft, Gallus-Krypta, S. 13, 15. Poeschel, Kunstdenkmäler 3, S. 158, äussert sich nur zu vorgängigen und nachfolgenden Umgestaltungen der Ostkrypta. 57 Kessler, Sabbata, ed. Egli/Schoch, S. 312–313. Erwähnt werden ebd., S. 333, Z. 8–13, 40–41, einzig die Zerstörung des Gallussarkophags und die darin aufgefundenen Gebeine. Ebenfalls keine Ortsangaben zu den Reliquien des Gallus bei Watt, Kleinere Chronik, ed. Götzinger, Bd. 1, S. 142, Z. 28; Bd. 2, S. 411–412; Watt, Diarium, ed. Götzinger, S. 231, Z. 33 – S. 232, Z. 9, S. 379, Z. 29–31. 58 Kobler, Des heiligen Gallus Tod, S. 43–44. 59 StiASG, Urk. C1 A12 (18. Juli 1484); ebenso als Klosterdruck des 17. Jh.s in Rubr. 13, Fasz. 9a, Nr. 1240. 60 Ich habe es nur bei Hardegger/Schlatter/Schiess, Baudenkmäler, S. 96, erwähnt gefunden. 61 Regesten zur Schweizergeschichte 2, Nr. 177 (30. April 1461), S. 63. 62 StiASG, Urk. C1 A12 (18. Juli 1484): [narratio] corpus eiusdem sancti Galli, quod in altari maiori ecclesie dicti monasterii est reconditum, ad alium locum dicte ecclesie, ob illius novam instaurationem, magis dignum et ydoneum transferre … [dispositio] eisdem abbati et conventui licentiam concedentes corpus huiusmodi de dicto altari maiori ad alium locum honestiorem et digniorem ecclesie predicte cum debitis honore, reverentia, processione et solemnitati­ bus transferendi. Vgl. Wirz, Bullen, S. 178, Nr. 189.

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Klosters und mit päpstlichen Ablässen verknüpft. Als Gründe für die Plenarindulgenzen führt die Bulle die Baulasten des Klosters und die Ehr­ erweisung an den heiligen Gallus bei der Translation an.63 Papst Sixtus IV. erlaubte dem St. Galler Abt, den Gläubigen, die am Tag der Translation oder während der folgenden drei Tage das Münster besuchen und Gaben zur Bestreitung der Baulasten und für die Kirchenausstattung darbringen würden, vollkommenen Ablass aller ihrer Sünden zu gewähren.64 Ausserdem durften Abt und Konvent oder von ihnen bestellte Priester während acht Tagen davor und danach im Klosterbezirk Beichte hören, Absolution von allen Sünden erteilen, Busse auferlegen und Gelübde in fromme Werke – implizit wohl zugunsten der Klosterbauten – umwandeln.65 Einen guten Monat später gestattete der Bischof von Konstanz Abt, Konvent und den von ihnen bestellten Beichthörern, während des oben genannten Zeitraums mit Besitzern unrechtmässig erworbenen Guts, falls die rechtmässigen Besitzer nicht zu ermitteln wären, sogenannte Kompositionen einzugehen, wodurch diesen «gegen Abtragung eines Teiles der Schuld an einen bestimmten frommen Zweck alle weitere Zurückerstattung erlassen» würde,66 sofern die Konstanzer Kurie die Hälfte der Erträge erhielte.67 63 StiASG, Urk. C1 A12 (18. Juli 1484): Nos cupientes, ut structure et edificia tam ecclesie quam monasterii ac illius ambitus huiusmodi debite instaurentur, reparentur et compleantur ac ecclesia predicta calicibus, libris et aliis orna­ mentis ecclesiasticis muniatur necnon in translatione corporis huiusmodi debitus honor adhibeatur ac Christi fideles eo libentius devotionis causa confluant ad ecclesiam predictam ac honorandum corpus huiusmodi dum transferetur eoque promptius manus porrigant adiutrices quo ex hoc ibidem dono celestis gratie uberius conspexerint se refectos… 64 StiASG, Urk. C1 A12 (18. Juli 1484): omnibus et singulis utriusque sexus Christi fidelibus vere penitentibus et confessis, qui ecclesiam predictam in illo, in quo predictum corpus sic, ut prefertur, transferretur et tribus diebus se­ quentibus seu aliquo eorundem dierum devote visitaverint seu etiam translationi huiusmodi interfuerint et ad instau­ rationem, reparationem, perfectionem et munitionem praedictas manus porrexerint adiutrices, plenariam omnium suorum peccatorum indulgentiam et remissionem concedimus pariter et elargimur. Zum Ablass vgl. Paulus, Geschichte des Ablasses 3; Benraht, Ablass. 65 StiASG, Urk. C1 A12 (18. Juli 1484): eidem abbati tot sacerdotes ydoneos seculares et cuiusvis ordinis regulares, quot sibi pro audiendis Christi fidelium illuc confluentium confessionibus necessarii videbuntur, deputandi ac abba­ ti et confessoribus sic deputatis in dicta ecclesia ac infra limites dictis monasterii … etiam per octo dies ante et totidem post tempus indulgentie huiusmodi, quorumcumque fidelium ecclesiam predictam pro consequenda indulgentia hu­ iusmodi, visitantium confessiones audiendi, illisque diligenter auditis, eos ab omnibus et singulis excessibus et pecca­ tis … [einschliesslich gewisser päpstlicher Reservatfälle] absolvendi et penitentiam salutarem iniungendi ac … [Einschränkungen] in alia pietatis opera, prout anime eorundem confitentium saluti uiderint expedire, commut­ andi plenam et liberam auctoritate apostolica tenore presentium concedimus facultatem. Zur Umwandlung von Gelübden vgl. Paulus, Geschichte des Ablasses 3, S. 426–427. Siehe auch oben bei Anm. 47. 66 Vgl. Paulus, Geschichte des Ablasses 3, S. 421–425, Zitat von S. 422. 67 StiASG, Urk. C1 A13 (22. August 1484): Nos … prefatis abbati et conventui ac sacerdotibus ydoneis ab eisdem ad hoc pro audiendis confessionibus deputandis et subrogandis, ut tempore huiusmodi indulgenciarum premissorum

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Die Translation fand aber nicht mehr 1484, sondern frühestens etwa zwei Jahre später statt. Da nach dem Ableben von Papst Sixtus IV. am 12. August 1484 sein Nachfolger Innozenz VIII. alle Indulgenzen widerrief,68 ersuchte ihn Abt Ulrich Rösch um Konfirmation des Vollablasses. Am 18. Januar 1485 bestätigte Innozenz VIII. dem Kloster St. Gallen das Recht, Plenar­ indulgenzen während der – ausdrücklich noch nicht vollzogenen – Translation des heiligen Gallus zu gewähren.69 Ein gutes Jahr später, am 20. Februar 1486, wies der Konstanzer Bischof die kirchlichen Würdenträger seiner Diözese an, den Inhalt dieser Papsturkunde zu verkünden.70 Dass eine Translation bzw. Elevation tatsächlich noch unter Abt Ulrich Rösch, d. h. in den Jahren von 1486 bis 1491 stattfand, bezeugt Joachim von Watt in seiner Kleineren Chronik zwei Mal.71 Eine weitere Quelle bildet das sechsbändige Verzeichnis des Kirchenschatzes aus dem ausgehenden 17. und dem 18. Jahrhundert.72 Zwar fehlen genaue Angaben zur Übertragung oder Erhebung im chronikalischen Teil,73 doch liefert die Beschreibung der dumtaxat dierum in litteris apostolicis contentorum super omnibus rebus et bonis illicite adquisitis et iniuste detentis, in quibus ordinaria saltem auctoritate fungimur, cum huiusmodi detentoribus, si tales ignoraverint, cui restitutio debeatur aut saltem eisdem personis, a quibus huiusmodi bona habuerint, restitutionem facere non possint, ut sic dispensare et cum eisdem componere sive in alium pium usum talia convertere valeant facultatem et licentiam tenore presentium ordinaria auctoritate in domino concedimus et largimur, dimidiam tamen illorum bonorum super quibus huiusmodi compositionem ac dispensationem fieri contigeret nobis reservando. 68 Vgl. Paulus, Geschichte des Ablasses 3, S. 400–401. 69 StiASG, Urk. C1 A15 (20. Februar 1486 mit Insert einer Papsturkunde vom 18. Januar 1485): [Insert] In­ nocentius papa octavus dilecte fili salutem et apostolicam benedictionem. Exponi nobis fecisti, quod felicis recor­ dationis Sixtus IV., immediatus praedecessor noster, concessit isti monasterio quandam plenariam indulgentiam cum certis facultatibus deputandi confessores et absolvendi a casibus quibusdam reservatis per tres dies, in quibus corpus eiusdem sancti Galli transferri de loco ad locum debebat, prout in litteris sub plumbo predecessoris ipsius plenius di­ citur contineri. Verum, quia, ut afferis, translatio ipsa facta adhuc non est, et omnium similium indulgenciarum et facultatum generalis a nobis emanavit revocatio, ideo nobis humiliter suplicari curasti, ut desuper optime providere dignaremur, ne spiritualis huius gratie effectu persone partium istarum priventur. Nos pro devotione, quam ad ipsum sanctum geris, et pro paterna caritate, qua te et dilectos confederatos prosequimur, huiusmodi suplicationi inclinati, tenore presentium indulgentiam ipsam cum facultatibus in ea contentis in pristinum statum robur et vigorem pro dictis tribus diebus restituimus et reponimus. 70 StiASG, Urk. C1 A15 (20. Februar 1486 mit Insert einer Papsturkunde vom 18. Januar 1485). 71 Watt, Kleinere Chronik 2, ed. Götzinger, S. 304, Z. 37–42; S. 392, Z. 45 – S. 393, Z. 1. 72 Cod. Sang. 1718A, 1719–1723. Vgl. Scherrer, Verzeichniss, S. 507–508; Schmuki, Cimelia, Nr. 93. 73 Cod. Sang. 1719, S. 39–40: Elevatio corporis sancti Galli sub Udalrico VIII. anno MCCCLXXXIV [1484]. … Quia vero ad haec usque tempora corpus sancti Galli sub altari maiori conditum quiescebat, Udalricus inde illud translaturus decentiusque recollocaturus plenariam iterum indulgentiam per octiduum ante et post impetravit etiam a reservatis, Sixto IV. pontifice anno millesimo quadringentesimo octagesimo quarto. Dieser Eintrag setzt den Erhalt des päpstlichen Privilegs fälschlicherweise gleich mit der tatsächlichen Translation.

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Reliquien in einer 1699 hergestellten silbernen Büste des heiligen Gallus den ersehnten endgültigen Beleg. Demnach lag in diesem Reliquiar ein alter Zettel, der besagte, Ulrich Rösch hätte diese Reliquien des heiligen Gallus anlässlich seiner Translation am 6. März 1486 gestiftet.74 Da dieses Datum mit den bisher geschilderten Vorbereitungen und mit der Kleineren Chronik Joachims von Watt vollkommen vereinbar ist, lassen sich jegliche Zweifel an der Richtigkeit dieses Zeugnisses ausräumen. Die detailreiche Beschreibung dieses Ereignisses aus der Feder des Joachim von Watt ergibt weitere Aufschlüsse:

Derselben zeit ließ abt Uolrich S. Gallen gebein erheben; und hatt des ein papstlich verwilgung und braucht gar groß pomp. Do ward ein schrank gemacht vor dem chor und ein groß tGch gespanne, bei welchem das gebein in einem grGenen kefi lag. Und warend mönch darbei, die schruwend, man sölte den ablaß lösen. Ward groß gelt auf das tGch geworfen und nachwertz ouch an seinen sarch groß gelt geordnet und v­ ergabet.75

Laut dieser Chronik fanden eine Öffnung des Grabs des heiligen Gallus (beim Hochaltar) und die Erhebung seiner Reliquien verbunden mit einer ostensio reliquiarum vor dem Chor statt. Dabei wurden die Reliquien in einem grünen Gitter vor einem Vorhang zur Schau gestellt, die Mönche gewährten – durch die päpstlichen Privilegien ermächtigt – Plenarablässe und forderten von den Gläubigen Geldgaben zugunsten der Baulasten des Klosters ein.76 Gemäss dem Reliquienverzeichnis aus dem Ende des 17. Jahrhunderts schied übrigens Abt Ulrich Rösch anlässlich der Elevation einige kleine Reliquien aus.77 Unbekannt bleibt hingegen, in welches Behältnis und wohin der Grossteil der Gallusreliquien danach gelegt wurde. Wurden die 74 Cod. Sang. 1718A, S. 132–134 zur Statua pectoralis argentea S.P.N. Galli abbatis, die 1699 hergestellt wurde und verschiedene Reliquien des hl. Gallus enthielt, nämlich zwei Teile des Schädels und sechs Knochen; dann ebd., S. 134: Item adhuc alia particula notabilis de eodem sancto patre nostro cum adiacente scheda mem­ branea antiquissima scripta in hunc modum: «Hic repositae sunt reliquiae sancti Galli donatae per Udalricum ab­ batem monasterii eiusdem huic templo in die translationis sancti Galli celebratae anno domini MCCCCLXXXVIto die sexta mensis Martii», ita scheda. Particula autem ipsa est condylus, ein knoden, de S.P.N. Gallo. Den Hinweis auf diese Quelle verdanke ich Herrn Dr. Karl Schmuki, Stiftsbibliothek St. Gallen. 75 Watt, Kleinere Chronik 2, ed. Götzinger, S. 304, Z. 37–42. Siehe auch ebd., S. 392, Z.45 – S. 393, Z. 1. Zeitlich setzte er die Translation in seinem nicht strikt chronologisch aufgebauten Geschichtswerk etwas zu früh in die Jahre 1483–1485, freilich ohne ein Jahr explizit zu nennen (ebd., S. 303, 304, 320). 76 Zu den Elevationen und Ostensionen vgl. Heinzelmann, Translationsberichte, S. 80–83; Angenendt, Heilige, S. 172–175; Kühne, Ostensio, S. 528–534. Nach Paulus, Geschichte des Ablasses 3, S. 385, «wurde bei vollkommenen Ablässen häufig angegeben, was man zu entrichten habe». 77 Siehe oben Anm. 74.

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DIE WIEDERBELEBUNG DER GALLUSVEREHRUNG

Reliquien tatsächlich an einen anderen Ort im Münster gebracht, wozu Papst Sixtus IV. das Kloster auf Ersuchen Abt Ulrich Röschs ermächtigt hatte? Oder ordnete der St. Galler Abt eine elevatio der Reliquien und ihre depositio in einem neuen Schrein beim Hochaltar an, wie dies häufig geschah?78 Oder wurden die sterblichen Überreste nach der ostensio wieder in die alte Grabstätte zurückgelegt? Da keinerlei bauliche Veränderung aus den Quellen bekannt ist und Abt und Konvent zusammen mit dem Münsterbaumeister 1500 einen silberbeschlagenen Sarg aus Lärchenholz für die Gallusreliquien in Auftrag gaben und diesen 1502 ausgeliefert bekamen, erscheint letztere Möglichkeit am wahrscheinlichsten.79 Die einmalige Erhebung der Reliquien des heiligen Gallus am 6. März 1486 war nicht das Resultat einer inventio, bezweckte nicht die Kanonisa­ tion des Heiligen und bewirkte keine Wunder. Vielmehr diente sie, ähnlich der 1474 vollzogenen Öffnung des Sarkophags mit den Gebeinen des Evangelisten Markus im Inselkloster Reichenau,80 der Zurschaustellung des Heiligen in Verbindung mit der Gewährung von Plenarindulgenzen und den entsprechenden Geldgaben an das Kloster.81 Schluss Der Wiederaufstieg und die Erneuerung des Klosters St. Gallen führten auch zu einer Wiederbelebung des Galluskults im 15. Jahrhundert. Das neue Interesse an Gallus und an seiner Verehrung äusserte sich in drei Bereichen. Erstmals seit Langem wurden in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vitae und miracula des Klostergründers neu abgeschrieben, ein Vorgang, der freilich nicht von der damaligen übergreifenden Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit zu trennen ist. Das Aufblühen der Gallusverehrung lässt sich zudem in den neu angefertigten liturgischen Handschriften nachvollziehen, die stark in der früh- und hochmittelalterlichen St. Galler Tradition wurzelten, aber auch neuere oder sogar eigens geschaffene Gebete, Hymnen und Antiphonen aufnahmen. Die Förderung der Gallusverehrung beschränkte sich aber nicht auf die liturgische Routine des jährlich wiederkehrenden Festes, sondern gipfelte unter Abt Ulrich Rösch 1486 in der Erhebung und Zurschaustellung der Reliquien des heiligen Gallus. Trotz dieser Inszenierung und der Bedeutung in der Liturgie 78 Vgl. Dinzelbacher, Realpräsenz, S. 138–146. 79 Rott, Quellen 1, S. 248–250. 80 Kreutzer, Verblichener Glanz, S. 223, 227–233. 81 Vgl. Heinzelmann, Translationsberichte, S. 82–83, 99; Angenendt, Heilige, S. 160–162.

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PHILIPP LENZ

des 15. Jahrhunderts vermochte der Gründervater des Steinachklosters aber nicht mehr wie im Frühmittelalter Wunder zu bewirken und Pilgerscharen anzuziehen. Diese Rolle übernahm im St. Galler Münster im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts die Jungfrau Maria.

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