Die Sternensaat

June 4, 2017 | Author: Max Lange | Category: German History, Anthropology of space, Art and Aesthetics of the Cold War, Space, Utopia and Science Fiction, Radio Plays, Music in Nazi Germany, Aesthetics of Totalitarianism, Geschichte Der DDR, Dytopian studies, Radio Plays, Music in Nazi Germany, Aesthetics of Totalitarianism, Geschichte Der DDR, Dytopian studies
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Description

Die Sternensaat

Ein unzeitgemäßes Hörspiel

Max Lange NEUBERLINER RUNDFUN K

Für meine Großeltern

Die Zukunft

Auferstanden aus Ruinen eines blutigen Jahrhunderts hat die Menschheit mithilfe der Wissenschaft endlich einen Zustand sozialer Gleichheit erreicht. Doch obwohl keinerlei Mangel an Gütern mehr existiert, sind einige unzufrieden, da es keine Herausforderungen mehr gibt

für die menschliche Natur. Nachdem im Sirius-System ein erdähnlicher Planet entdeckt wurde, der vorzügliche Bedingungen für menschliche Kolonisierung bietet, haben einige wieder ein Ziel vor Augen.

Auferstanden aus Ruinen Und der Zukunft zugewandt, Laß uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland. Alte Not gilt es zu zwingen, Und wir zwingen sie vereint, Denn es muß uns doch gelingen, Daß die Sonne schön wie nie |: Über Deutschland scheint. :| Glück und Frieden sei beschieden Deutschland, unserm Vaterland. Alle Welt sehnt sich nach Frieden, Reicht den Völkern eure Hand. Wenn wir brüderlich uns einen, Schlagen wir des Volkes Feind! Laßt das Licht des Friedens scheinen, Daß nie eine Mutter mehr |: Ihren Sohn beweint. :| Laßt uns pflügen, laßt uns bauen, Lernt und schafft wie nie zuvor, Und der eignen Kraft vertrauend, Steigt ein frei Geschlecht empor. Deutsche Jugend, bestes Streben, Unsres Volks in dir vereint, Wirst du Deutschlands neues Leben, Und die Sonne schön wie nie |: Über Deutschland scheint. :| 1

Der Orden der Entwickler beschließt ein Raumschiff von gewaltiger Größe zu bauen, welches in der Lage sein soll Millionen von Kolonisten durch den Weltraum zu transportieren: Das Weltenschiff Neuschwabenland

Vom Luftschiff zum Weltenschiff

Neuschwabenländer im Vakuumanzug

246,7m

LZ129 „Hindenburg“

110,6m

Mondflugrakete Saturn V

368m

Berliner Fernsehturm

20 x

≈ 7,5 km

FUSIONSREAKTOR WENDELSTEIN 8

Weltenschiff Neuschwabenland

Missionsziel: Sirius Sirius ist der hellste Stern am Firmament und mit 8,6 Lichtjahren Entfernung einer unserer nächsten Nachbarn.

Sirius α Sirius β

CANIS MAJOR

KÄLTESCHLAFBEREICH

ABSCHUSSRAMPE

LANDUNGSMODULE

SCHALTZENTRALE

Das Weltenschiff sendet zwei Landungsmodule zur Ersterkundung eines besiedlungsfähigen Planeten.

Das Singen Gibst du mir Steine, geb ich dir Sand Gibst du mir Steine, geb ich dir Sand Gibst du mir Steine, geb ich dir Sand Gibst du mir Steine, geb ich dir Sand Gibst du mir Wasser, rühr ich den Kalk Gibst du mir Wasser, rühr ich den Kalk Gibst du mir Wasser, rühr ich den Kalk Gibst du mir Wasser, rühr ich den Kalk

Schläfer und Hüter Da die Reise zum Sirius Jahrtausende in Anspruch nehmen wird, beschließt man, dass der größte Teil der Besatzung die Zeit im Kälteschlaf verbringen wird. 6 Millionen Männer und Frauen werden auserwählt Schläfer zu werden. Eine Auslese von 144.000 Hütern wird den riesigen Innenraum des Schiffs, die Sphärenstadt Neu-Berlin, bevölkern und sich fortpflanzen. Wer Schläfer und wer Hüter wird, obliegt der Entscheidung der Entwickler. und so kommt es dazu, dass einige Familien geteilt werden müssen. Ein ungewisser Abschied; ohne Wiedersehen. Doch wird jeder Familie eine Adresse zugeteilt in der Sphäropole, so dass die Schläfer mit der Hoffnung in die Stasis eingehen, dass sie einst zu ihren blutseigenen Nachfahren heimkehren werden, in ein gemachtes Bett in der neuen Stadt. Da der Lebensraum an Bord begrenzt ist, wird die Fortpflanzung strengstens reguliert. Anwärter auf Reproduktion wer-

Schau ich dich an Schau ich dich an den sorgfältig getestet und dann durch Schau ich dich an Solnegs Algorithmus für Erbhygiene zu Schau ich dich an Paaren zusammengeführt. Allen weltraumbedingten Verfallserschei- Gibst du mir Wasser, rühr ich den Kalk nungen zum Trotz sorgt Solnegs Singen Gibst du mir Wasser, rühr ich den Kalk dafür, dass die Hüter auch noch viele Gibst du mir Wasser, rühr ich den Kalk Generationen nach der Abreise niemals Gibst du mir Wasser, rühr ich den Kalk die heilige Aufgabe der Neuschwabenland vergessen werden, nämlich der un- Wir bauen eine Stadt endlichen Schwärze des Weltalls für das Wir bauen eine Stadt Menschengeschlecht neuen Lebens- Wir bauen eine Stadt raum abzuringen und den nachfolgenden Wir bauen eine Stadt Generationen eine neue Heimat zu 2 schenken.

S O L N E G

SELBST

ORGANISIERENDES

LEIT NAVIGATIONS

ELEKTRONEN

GEHIRN

GEHIRNWELLEN

SCHLÄFER

ELEKTRONENGEHIRN

RAUMWELLENAPPARAT

Um sicher zu stellen, dass die kommenden Hütergenerationen ihre Pflichten nicht vergessen werden, haben die Entwickler ein Elektronengehirn konstruiert, das das Verhalten der Hüter überwacht und ihren sonnenlosen Alltag strukturiert. Die künstliche Intelligenz „Solneg“. Diese gigantische Rechenmaschine ist mit jedem einzelnen Schläfergehirn verbunden und speist seine immense Rechenkraft aus dem Träumen der ins Eis gebetteten Ahnen. Mit Hilfe seines Raumwellenapparats projiziert Solneg den Chor ihrer Erinnerungen in die Hallen Neuberlins, als Gedächtnis und Gewissen der Sphäropole. Die Hüter nennen diese ewige Musik „Das Singen“. Wie eine schwarze Sonne schwebt Solneg über den Häuptern der Hüter, zeigt ihnen schönste Bilder vergangener Zeiten und singt ihnen die Lieder ihrer Vorfahren mit seinen tausend Stimmen.

Sphärenstadt Neuberlin

Geist und Körper der Sternenkinder, derer die im Weltenraum geboren sind, werden vom ersten Tage an geformt. Jeder bekommt eine Aufgabe zugeteilt, die seinen Fähigkeiten entspricht. Die einen arbeiten in den Null-G-Laboratorien im statischen Teil des Schiffs, an-

dere im Amt für exoplanetarische Konstruktion. Doch alle haben sie nur ein Ziel vor Augen. Die Fürsorge für ihre träumenden Ahnen, die äonenlang die große Ankunft erwarten.

Jene aber, die ihre Berufung vergessen, ungehorsam sind und jene, die man nicht mehr braucht, werden evakuiert in den eisigen Schlund des Weltraums.

Im Wandel der Zeit

Jahrhunderte vergehen und die letzten Zeugnisse der Erdenmenschheit verblassen; genauso wie die Erinnerung an die Geschichten derjenigen die den Heimatplaneten noch mit eigenen Augen gesehen haben. Immer öfter hört man an Bord von Fällen

einer seltsamen Erkrankung. Man nennt sie die Sternenkrankheit. Vor allem die jüngeren Bewohner sind betroffen. Vergebens suchen die Entwickler nach Abnormitäten in ihrem Erbgut. Ganze Generationen müssen der Ausmerzung preisgegeben werden.

Über den Aufrührer Radius Domus Nicht viel ist bekannt über den, der sie zur ihrer Erhebung führen sollte, zur Entrückung der Sterngeborenen. Schon im jüngsten Alter war er anders, ein Sonderling, als fühle er die Luft von anderem Planeten. Hätte man seine Talente nicht schon früh entdeckt, wäre er wohl ausgemerzt worden, wie so viele vor ihm. Geboren in den Orden der Entwickler und hochbegabt wurde er schon im Knabenalter, zu einem Meister des Raumwellenmoduls. Betraut mit der Instandhaltung der Klanggeneratoren, lernte er viel über die geheime Macht der Schwingungen.

Die Sterngeborenen sind befallen von einer Art Irrsinn, sie meinen, sie könnten Gedanken lesen, hören geheimnisvolle Stimmen. Die Ideen der Vorfahren und ihre vertikalen Ordnungen scheinen ihnen fern und unverständlich. Sie seien die Kinder des Raumes, ihr Geist sei

nicht gebunden an die Beschränkungen des irdischen Lebens. Als würde ihr Innerstes durchleuchtet von Strahlen kosmischer Einsicht, beginnt sich eine neue Art des Daseins in ihnen zu kristallisieren. Der Aufstand bricht los.

Es wird davon ausgegangen, dass er bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr ein treuer Akolyth des Singens war. Dies änderte sich erst mit der Evakuierung seiner Mutter Gertrud, die aufgrund gehäufter depressiver Verstimmungen als sternenkrank eingestuft worden war. Hätte es nicht einige Fürsprecher gegeben,

wäre Radius Domus als potentiell Erbkranker wohl ebenfalls evakuiert worden. Die Abholung seiner Mutter durch die Beamten der Abteilung Erbhygiene hinterließ Narben in der Seele des jungen Entwicklers. Er vergrub sich mehr und mehr in seine Arbeit, immer an seinem Glauben festhaltend, dass die große Mission doch Opfer verlange. Doch so sehr er sich bemühte, tief aus seinem Inneren stiegen Zweifel ihn ihm empor. Träume von Schwerelosigkeit und Sternenlicht, begleitet von fremdartigen Klängen. Vertraut mit den Protokollen Solnegs gelang es ihm seinen Zustand lange geheim zu halten. Im Stillen träumte er von einer neuen Ordnung, frei vom Joch des Elektronengehirns, frei von den Fesseln der Schwerkraft. Und so begann er mit Schwingungen zu experimentieren, die sich stark von denen des Singens unterschieden. Im Schlafe, in immer längeren Eingebungen empfing er Stück für Stück die Lehre von den 12 Grundschwingungen des Kosmos. Er nannte diese Lehre: Das „Neue Singen“

„Wer schreibt für uns eine neue Harmonielehre? Wir brauchen keine wohltemperierten Klaviere mehr. Wir selbst sind zuviel Dissonanz.“ 3

STERNKLANG ist die geistliche (...) Musik zum konzentrierten Lauschen in Meditation zur Versenkung des einzelnen ins kosmischen Ganze. Ferner ist sie bestimmt für die Vorbereitung auf Wesen von anderen Sternen und ihre Ankunft. 4

Das neue Singen Radius Domus komponiert seine neuen Lieder mit den 12 Tönen des Kosmos, die den Menschen mit den Sternen in Einklang bringen und immer mehr Neugierige scharen sich um ihn, um seinen Klängen zu lauschen.

Aufstand der Sternenkinder Es dauert nicht lange, bis sich erste Stimmen erheben, die inspiriert von diesem neuen Singen gegen die Evakuierung der Sternenkranken protestieren. Nicht krank seien sie, sondern ein Geschenk des Kosmos, die Kinder der neuen Zeit! Die, die die Transformation einläuten, das Kommen eines neuen Äons! Andere jedoch wehren sich, halten sich fest an den alten Liedern, deren Sicherheit sie schätzen – Aber es gibt kein Halten in der Freiheit des Raumes, kein richtiges Leben im Falschen! 5 Bald sind alle Widerstände gegen den neuen Weg überwunden und die Sterngeborenen beschließen in totaler Eintracht den letzten großen Schritt zu gehen. In einem Überraschungsangriff kappen sie alle Module Solnegs zum bewohnten Teil des Schiffs. Nur noch in den Hallen der Schlafenden behält er seine Macht. Mit Solnegs Algorithmen versiegt auch die künstliche Schwerkraft in der Stadt. Leichtigkeit setzt ein.

Radius Domus zum Vorwurf der Entmenschlichung im Neuen Singen „Es wäre gewiss ein Fehler, alle Menschen als gleich zu betrachten. Wie Albert Schweitzer einmal sagte, zwischen dem Affen und dem Heiligen liegt eine ganze Skala. Sie alle sehen zwar mehr oder weniger wie Menschen aus, aber es gibt nur ganz wenige unter uns, die ständig am Grad der Erleuchtung und der Eweiterung ihres Bewusstseins arbeiten. Wir befinden uns an der Schwelle einer exoterrestrischen Mutation, in der wenige Wesen – zunächst sehr wenige sogar – sich in etwas anderes verwandeln, in eine Art übermenschlicher Wesen, und was sie die Entmenschlichung nennen, ist tatsächlich nur die Furcht der Mehrheit, dass sie nicht mehr mitkommt. Die meisten Menschen spüren in sich diese innere Uhr, die ihnen sagt, wo die Evolution hingeht, und dass sie es nicht mehr schaffen werden in diesem Leben. Die Leute nennen so etwas Enthumanisierung. Was sie wirklich meinen, ohne dass sie es in Worten formulieren können, ist nicht DeHumanisierung, sondern Super-Humanisierung – oder besser noch Supra-Humanisierung. Radius Domus, der Heiland der Sterngeborenen bringt Wandel in das Singen und die Kinder Natürlich ist das ein Moment des Alls experimentieren mit neuen Arten zu leben. extremer Krise, doch gleichzeitig ist es ein fruchtbarer Moment, wie er nur ganz selten in den Weltzeitaltern auftaucht, wenn alles auf eine neue Ebene umschaltet, oder besser, in der das Bewusstsein sich auf eine neue Stufe erhebt. Ein enormer Sprung, wie vom Tier zum Menschen, so vom Menschen zu einem übermenschlichen, geistigen Wesen“ 6

Die Entrückung Die Sternenkinder wenden sich ab vom öden Dienst an den fremden Ahnen, die versteinert in ihren Kapseln liegen. Sie widmen ihre Aufmerksamkeit von nun an der Vervollkommnung ihres geistigen Potentials.

Ich fühle luft von anderem planeten. Mir blassen durch das dunkel die gesichter Die freundlich eben noch sich zu mir drehten. Und bäum und wege die ich liebte fahlen Dass ich sie kaum mehr kenne und Du lichter Geliebter schatten - rufer meiner qualen Bist nun erloschen ganz in tiefern gluten Um nach dem taumel streitenden getobes Mit einem frommen schauer anzumuten. Ich löse mich in tönen · kreisend · webend · Ungründigen danks und unbenamten lobes Dem grossen atem wunschlos mich ergebend. Mich überfährt ein ungestümes wehen Im rausch der weihe wo inbrünstige schreie In staub geworfner beterinnen flehen: Dann seh ich wie sich duftige nebel lüpfen In einer sonnerfüllten klaren freie Die nur umfängt auf fernsten bergesschlüpfen.

Im Einklang mit den sphärischen Harmonien lernen sie, sich vom Licht der Sterne selbst zu ernähren. In großen Gruppen meditieren sie, immer länger. Jahrhunderte vergehen, ehe ein einziges Wort gesprochen wird. Sie lösen sich in Tönen - kreisend - webend - dem großen Atem wunschlos sich ergebend. Frei schwebend in den riesigen Hallen, die einst eine Stadt waren, wird der neue Mensch geboren.

„Solang du noch die Sterne fühlst, als ein »Über-Dir«, Fehlt dir noch der Blick des Erkennenden.“ 7

Der boden schüttert weiss und weich wie molke Ich steige über schluchten ungeheuer · Ich fühle wie ich über lezter wolke In einem meer kristallnen glanzes schwimme Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme. 8

„Was da geschehen ist, ist – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat. Dass Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nicht träumen könnten, dass Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch für ein Konzert und dann sterben. Das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. Stellen Sie sich das doch vor, was da passiert ist. Da sind also Leute, die sind so konzentriert auf eine Aufführung, und dann werden 5000 Leute in die Auferstehung gejagt, in einem Moment.“ 9

Woher wir kommen, wohin wir stürzen: Genealogie im Weltraumzeitalter „Wir sind die Generation ohne Bindung und ohne Tiefe. Unsere Tiefe ist der Abgrund.[...] Aber wir sind eine Generation der Ankunft. Vielleicht sind wir eine neue Generation voller Ankunft auf einem neuen Stern, in einem neuen Leben.“ – Wolfgang Borchert, ca. 1946 „Jede Geschichte ist besser als keine Geschichte.“ – Peter Sloterdijk, 2014

In den Ruinenfeldern des Nachkriegs-Deutschlands hatte sich der „Hiatus“ 1, das Aufklaffen des neuzeitlichen Abgrunds, das Nietzsche dem Abendland prophezeit hatte 2, in seiner ganzen Zerstörungskraft manifestiert. Die Risse in den zerbombten Häuserblöcken hatten sich vom Gemäuer bis ins psychosoziale Fundament gegraben, so dass mit Nietzsche gesagt „das Land hinter uns abgebrochen“ war. Was blieb war die zwölf Jahre messende Bruchstelle in der Kontinuität der Narration „Deutschland“. Dieser von allen Seiten durchleuchtete, dunkle Abschnitt der deutschen Vergangenheit, der heute vom tauben Narbengewebe wissenschaftlicher Rationalisierungen und massenmedialer Pathetik überwachsen ist. Beizeiten äußern sich Phantomschmerzen, wenn Splitter lebendiger Erinnerungen aus dem Spalt hervortreten um Teil der Konstruktion zu werden, die wir „Geschichte“ nennen. Es ist eine Geschichte, in der es eine Vorkriegs- und eine Nachkriegszeit gibt. Die letztere begann nach gängiger Erzählweise zur Mitternacht des 8. Mai 1945, der „Stunde Null“. Es war kein feierlicher Neubeginn. Nicht nur in Politik und Kultur, sondern auch in den familiären Strukturen hatte sich eine unüberbrückbare Kluft aufgetan. Die Gräuel des Weltkriegs hatten das unversöhnliche Misstrauen ausgelöst, welches das kollektive Gedächtnis und im speziellen die Familienbande für mindestens zwei Generationen in Aufruhr stürzen sollte. Die Kinder der Nachkriegszeit, deren Spielplatz die Stadtruinen waren, die unter sich nur Trümmer und über sich die Falschheit der Alten sahen, stürzten sich mit aller Kraft in die Ära der Freiheitsideologien. Es lag an ihnen, sich neu zu beheimaten.

3 altgriechisch χάος „klaffender Raum“, „gähnende Leere“

to explore strange new worlds, to seek out new life and new civilizations, to boldly go where no man has gone before.“Der Einleitunsgtext der TV-Serie Star Trek, stark angelehnt an das Pamphlet „Introduction to Outer Space“ des weissen Hauses von 1958

4 Space: the final frontier. These are the voyages of the starship Enterprise. Its five-year mission:

5 Hermann Oberth, der während des zweiten Weltkrieges für Hitler und danach für die NASA Raketen-

1 „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“, Suhrkamp, 2014 2 Die fröhliche Wissenschaft, F. W. Nietzsche, 1882

Für solche, die ihren Wurzeln abschwören wollten und sich weder auf der schuldbeladenen Erde noch im entzauberten Himmel zu Hause fühlen konnten, war der Weltraum ein willkommener Zufluchtsort, offen für eine neue Geschichte, frei von den schrecklichen Vergangenheiten der alten Welt. Was der Schritt in die Schwerelosigkeit mit sich bringen würde, war nicht vorhersehbar. Das Im-WeltraumSein erwies sich zum einen, im ursprünglichsten Sinne des Wortes, als Chaos 3, Geworfenheit in eine sich unendlich ausbreitende Leere, in der das Leben nur die marginalste Singularität darstellt. Doch der Weltraum lockte auch als Kosmos, Raum für wissenschaftliche Neugierde und spirituellen Expansionsdrang. So eröffnete sich das All für die Kinder der entzauberten Welt als das große Unbekannte, die „Final Frontier“ 4 und wandelte sich vom existenziellen Unort zum Schauplatz kosmischer Entgrenzungsszenarien und Begegnungsstätte mit außerirdischen Ersatzgöttern. Das deutsche Weltraumunternehmen ab 1945 war eine lang geplante Mission. Die Loslösung von der Erde, die Nietzsche 1882 in seiner „fröhlichen Wissenschaft“ vorbereitet hatte und Schönberg 1907 in seiner „Entrückung“ musikalisch demonstriert hatte, wurde in der Weimarer Republik zum ersten Mal zur technisch greifbaren Realität. 1923 veröffentlichte der deutsche Physiker Hermann Oberth 5 das wissenschaftliche Pionierwerk „Die Rakete zu den Planetenräumen“ und begründete 1927 den deutschen Verein für Raumschifffahrt. Dabei fungierte er auch als Berater für Fritz Langs Film „Frau im Mond“ 6, der ersten realistischen Darstellung eines Mondflugs. Nichts aber hatte die Entwicklung der weltraumfähigen Rakete mehr vorangebracht als der zweite Weltkrieg mit seinen durch Zwangsarbeit finanzierten Waffenprogrammen. Unter der Leitung von Oberths jüngerem Mitarbeiter Wernher von Braun entwickelte man ab 1939 in Peenemünde an der Ostsee die A4-Rakete, besser bekannt unter dem Namen „Vergeltungswaffe 2“. Von Brauns V2, die vor allem als Terrorinstrument gegen London eingesetzt wurde, war das erste menschengemachte Objekt, das die Erdatmosphäre durchstoßen hatte. Sie gilt bis heute als Mutter der modernen ApolloRaketen. Während an der Westfront gekämpft wurde, sah man in deutschen Kinos den „Kulturfilm“ „Weltraumschiff 17 startet“. Rolf Wernicke, die Stimme von Riefenstahls Olympia und späterer BRD-Sportreporter kommentierte reißerisch den Start des ersten deutschen Weltraumschiffs. Im Stil einer Reportage erzählte der forschung betrieben hatte, blieb sein Leben lang Sympathisant der „Bewegung“ u.a. als Spender der Hilfsorganisation für ehemalige NS-Persönlichkeiten „Stille Hilfe“ 6 UFA, 1929 7 Regie: Anton Kuttner, Bavaria Filmkunst GmbH , 1940 8 u.a. StarSeed, 1973, → Glossar

Film die erste bemannte Mondumkreisung mit fortschrittlichsten visuellen Effekten. Ein Remake dieser Sequenzen sah man später im Walt-Disney-Film „Man and the Moon“ von 1955, in dem der ehemalige Sturmbannführer Von Braun nun als Moderator fungierte. Mit starkem deutschen Akzent und farbenfrohen Illustrationen stimmte er die Disneylandbesucher ein auf die kommende Weltraumdekade. Ungeachtet seiner deutschen Vorgeschichte war von Braun in den zehn Jahren nach dem Krieg zur Gallionsfigur des US-Raumfahrtprogramms geworden. Schon im Herbst 1945 arbeiteten Von Braun und ein großer Teil seiner Belegschaft in den USA weiter an ihren Raketenexperimenten. Der Traum vom Sternenflug war im fließenden Übergang an die nächste Großmacht übergeben worden. 1946, während Deutschland noch in Nachkriegswirren gefangen war, entstand über der nordamerikanischen Wüste mithilfe einer V2-Rakete das erste Foto der Erde aus dem All. Die Wissenschaftler, die eben noch an Hitlers Wunderwaffe gearbeitet hatten, waren nun Botschafter einer friedlichen Fortschrittsutopie. Die Entwicklung der Raumfahrt schien vom Einschnitt, den das Ende des Weltkriegs für viele bedeutet hatte, völlig unbehelligt gewesen zu sein. In der Zeit der großen Brüche in Kultur und Gesellschaft war der Plan der Loslösung von der Erde von Stetigkeit geprägt. Vielleicht weil die Raumfahrt, also die endgültige Abnabelung des Menschen von der Erde, eines der wenigen Vorhaben war, das der alles mit sich reißenden Sogwirkung des neuzeitlichen Abgrunds nicht entgegenzustehen versuchte. Würde man den Spekulationen des Harvard-Psychologen und späteren LSD-Guru Timothy Leary folgen, der Aufstieg zu den Sternen sei etwas in der DNA des Menschen Angelegtes 8, so könnte man meinen, die Kollektivtraumata des 20. Jahrhunderts seien der Plan des Weltgeists gewesen, dem Menschen die Abkopplung von Mutter Erde zu vereinfachen. Immer wieder war der Krieg Initiationsmoment für moderne Weltraumadepten. Der Schock und die Einsicht, dass die irdische Zivilisation mit ihren wissenschaftlichen Höhenflügen gleichzeitig ihren moralischen Tiefpunkt erreicht hatte, führte bei einigen zur grundlegenden Ablehnung der planetaren Gesellschaft. Einer jener Adepten war der Komponist Karlheinz Stockhausen, der als Jugendlicher beide Eltern im Krieg verloren hatte. Die psychisch kranke Mutter war im Euthanasieprogramm ermordet worden und der Vater an

der Front gefallen. Doch der innovative Vollwaise der „Neuen Musik“ wollte sich mit dem Mangel familiärer Wurzeln nicht zufrieden geben. Auf der Suche nach einer alternativen Herkunft verpflanzte er seinen Stammbaum schließlich in den Weltraum. In visionären Träumen hatte er sich als Abkömmling des Sirius gesehen und bekundete später öffentlich auf dem Stern seine musikalische Ausbildung genossen zu haben. Er konvertierte vom Katholizismus seiner Jugend zu einem Glaubenssystem, in dem Maschinenklänge mit Seelenwanderung, Astrologie mit Musiktheorie und Abstraktion mit Kitsch verschmelzen konnten. Wie viele seiner Generation hatten die Erfahrungen des Krieges ihn in Geistessphären katapultiert, in denen die alten Denkmuster von Sinn, Moral und Herkunft keine Verortung in der Welt mehr möglich machten. Ob es Fanfaren übermenschlicher Sphären waren, die aus seinen Kompositionen schallten oder die kollektiven Schreie der entwurzelten Kinder, werden die Menschen nach der Menschheit besser zu deuten wissen. Über siebzig Jahre nach dem Ende des Kriegs und dem Anfang des Weltraumzeitalters sieht man sich heute einer Mannigfaltigkeit von Erzählungen gegenüber. Sie fügen sich zusammen aus Familiengeschichten und Kinofilmen, aus dem Kreischen modernistischer Musik und den Melodien dumpfer Heimatschlager. Sie sprechen aus Texten und Schulbüchern, Fotoalben anonym gewordener Nachlässe und sie warnen als Steintafeln auf Touristenplätzen die Vorbeigehenden vor dem Vergangenen. Es gibt die simpleren Geschichten von kollektiver Schuld und Reinwaschung durch politische Gesten und Rituale, die den Bruch mit dem Alten als Möglichkeit suggerieren. Geschichten, in denen die Ästhetik des „Neuen“,Verfolgungsfreiheit von alten Gespenstern garantiert. Es gibt die komplexeren, wissenschaftlichen Erzählungen, die geschehene Übel in Zahlen gegeneinander aufwerten und das Böse im Menschen in Statistiken zu bannen versuchen. Und es gibt die komplizierteren, die persönlichen und familiären Geschichten schmerzlicher Verluste und fließender Übergänge. Wir befinden uns an einer Schwelle, die durch das Ableben der letzten sog. Zeitzeugen markiert ist, also dem endgültigen Übergang dieser Geschichten vom anekdotischen ins kanonisierte Gedächtnis. Die persönlichen Erinnerungen von Urgroßvätern und Urgroßmüttern, Großvätern und Großmüttern, Großonkel und Großtanten, sofern sie nicht in Form von Zeitkapseln wie Fotografien und Tagebüchern an die Kinder oder Enkel weitergegeben wurden, versinken im großen Fluss der Geschichte. Was bleibt, sind kollektive 1 Siehe Glossar 2 Jan Assmann, Kultur und Gedächtnis, 1988 3 Nicolas Copernicus – De revolutionibus orbium coelestium

„Erinnerungsfiguren“ 2, von Widersprüchen bereinigte Narrationen formatiert für das allgemeine Gedächtnis. Wenn von „Geschichte“ die Rede ist, geht es um diese künstlichen Zeitinseln im Meer der Komplexität, entlang derer man sicher zu reisen scheint. Ab und zu taucht eine Flaschenpost auf. Ihr Inhalt spricht vom persönlichen Glück in unglücklichen Zeiten, von der Ungerechtigkeit der Gerechten, von der Schönheit des Alltäglichen und der Kraft der Verführung. Da stehen die Enkel und Urenkel auf ihrem Atoll mit Briefen voller Widersprüche und merken wie es schwankt. Das lebendige Gedächtnis des Menschen reicht immer nur drei Generationen zurück. Alles andere ist Geschichte, allem voran die Geschichte von Toten. Die Ketten persönlicher Übermittlung sind ein fragiles Gebilde. Alle drei oder vier Glieder muss ausgehandelt werden, ob und wie sich die Welt der Ahnen in zukünftigen Gliedern rekonstruieren wird. Die von der Aufklärung Abgeklärten, für die das Mensch-Sein ohne Gott eine Selbstverständlichkeit und das Mensch-Sein ohne Erde eine Möglichkeit geworden ist, befinden sich im Widerspruch von Vergessen-können und Erinnern-sollen. Als Enkel von „Tätern“ und Nachkommen von „Blumenkindern“ stehen sie vor der Frage, was sie aus der Kluft der Generationen mit in die nächste nehmen sollen und was man besser im Abgrund beließe. Unser kulturelles Langzeitgedächtnis, die Historie, erschließt sich sich in klaren Zäsuren, ob diese nun als Stufen oder als Brüche erzählt werden. In der subjektiven Geschichte sind die Übergänge von einem Zustand in den anderen schwammiger, der Zeitstrom kontinuierlicher. Denn wo die Herrschaft einer Ideologie aufhört und die einer anderen beginnt, waren vorher Menschen und danach sind dort wieder dieselben Menschen. Die Fähigkeit historischen Denkens, fließende Zeit in Epochen zu zerteilen, suggeriert die Möglichkeit der Diskontinuität, verspricht die Aussicht auf Neubeginn. Doch heißt nicht Revolution nur der Umlauf eines Himmelskörpers um den anderen? 3 Holt die Trägheit unserer Sinnsysteme uns nicht immer wieder ein, so dass wir so wie Satelliten um die immer gleichen Dramen kreisen? Hat die Idee der „Stunde Null“, sich nicht ebenso als menschliche Fiktion erwiesen wie die des väterlichen Schöpfers oder die der Nation? Es wird wohl der Entscheidung unserer Nachfahren überlassen sein, sollten sie einmal beschließen diese Erde zu verlassen, welche der Fiktionen sie mit sich auf ihr Raumschiff nehmen. Per aspera, ad astra. Max Lange

Anmerkungen

Karlheinz Stockhausen, 1928 – 2007 In seinen skandalumwitterten Kommentaren zu den Anschlägen des 11.Septembers 2001 8 klang eine Weltanschauung an, die man nicht anders als jenseits von gut und böse bezeichnen kann. Er gilt als einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Stockhausen wuchs auf im ländlichen NordrheinWestfalen in katholisch geprägten Verhältnissen und zeigt schon früh musikalische Begabung. Er erhielt als Kind Orgelunterricht im Altenberger Dom. Als er vier Jahre alt war, wurde seine Mutter Gertrud Stockhausen aufgrund gehäufter Nervenzusammenbrüche in die Psychiatrie eingewiesen und 1941 im Rahmen des Euthanasieprogramms des NS ermordet. Am Ende des 2. Weltkriegs wurde er als jugendlicher Lazaretthelfer unmittelbar mit den Schrecken des Kriegs konfrontiert. Dabei wurde er zum behelfsmäßigen Priester, wenn die sterbenden Soldaten ihm ihre letzten Worte anvertrauten. Nach dem Krieg nahm er an den von der Zwölftontechnik dominierten Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik teil und wurde schnell ein fester Bestandteil der jungen Nachkriegsavantgarde. Er arbeitete u.a. im neugegründeten „WDR-Studio für Elektronische Musik“ mit damals als sehr radikal wahrgenommenen Kompositionstechniken. Vor allem die Hinwendung zum Raum als Kompositionsparameter wird Stockhausen zugeschrieben . Er arbeitete schon früh mit mehrkanaligen Lautsprecheraufbauten und der Bewegung von Mikrofonen durch den Raum. Ab 1968 wandte sich Stockhausen vermehrt spirituellen Themen zu (u.a. „Aus den Sieben Tagen“, „Sternklang“ 4 , „Sirius“, „Licht“) Er war dabei beeinflusst vom allgemein aufkommenden Interesse an Esoterik und östlicher Spiritualität (Sri Aurobindo). U.a. proklamiert er öffentlich, ein reinkarniertes Wesen vom Sirius zu sein und seine Kompositionen beinhalteten zunehmend numerologisch-astrologische Referenzen. In dieser Schaffensphase verarbeitete er auch die traumatischen Erfahrungen seiner Jugend. Die Textinhalte seiner Kompositionen sind Mischungen aus dem in der Jugend stark gelebten Katholizismus und einer gnostischen Weltraummystik, die christlichen Erlösungsideen mit mystischen und wissenschaftlich-technologischen Aspekten verbindet. In seinen auf Video erschienenen London Lectures 6 findet man Einblicke in die anthropologischen Spekulationen, die diesem Weltbild entsprangen. vgl. K.Stockhausen – „Texte zur Musik 1970 – 1977“ auf S.414 ff. Arnold Schönberg, 1874 – 1951 war ein wichtiger Impulsgeber der Wiener Schule der „Neuen Musik“ und Mitbegründer der Zwölftontechnik. 1908 vollzog Schönberg in seinem 2. Streichquartett kompositorisch den Schritt in die freie Atonalität. Der vierte Satz „Entrückung” 7 enthält keinen Notenschlüssel mehr. Die Eröffnung des fremden klanglichen Raums geht einher mit der Vertonung des gleichnamigen Gedichts von Stefan George, das mystisch verklärt das Aufsteigen zu “anderem Planeten” beschreibt. Die Loslösung von der klassischen Harmonielehre passiert analog mit dem Hintersichlassen des Planeten Erde. Ausgehend von der freien Atonalität entwickelt Schönberg später die Zwölftontechnik, eine Kompositionsform, die die abendländische Kontrapunktik auf die Spitze treibt und die

Musik mithilfe serieller Reihen tonal enthierarchisiert und sich so der Leittöne entledigt. So wie der in den Weltraum entrückte Mensch keinen Grund mehr unter sich hat, auf den er zurückfallen kann, so hat auch die Zwölftonmusik keine gravitatives tonales Zentrum mehr. Die „atonale“ Musik birgt in sich die Idee einer Welt ohne harmonikalen Mittelpunkt, in der sich die Einzelelemente nur noch relativ zueinander fassen lassen, aber nicht mehr zu einem großen Ganzen beziehbar sind. Die Musik des beginnenden 20. Jh. nimmt die Abnabelung von der Erde vorweg, der der ins Weltraumzeitalter geborenen Mensch gegenübersteht.

gabe auszuführen, meistens zum Wohle der Menschheit und angesichts einer kommenden Transformation des Bewusstseins. Bekannte Persönlichkeiten, sich sich als reinkarnierte Botschafter anderer Welten sahen sind Karlheinz Stockhausen und der amerikanische Jazzinnovator „Sun Ra“. Wichtigstes Beispiel einer solchen New-Age-Kosmologie ist das in den 1980ern von Carla Rueckert in Trance gechannelte „Ra-Material“ o.a. „Law of One“, in dem die evolutionär höherentwickelte Kollektivintelligenz „Ra“ die kommende Veränderung der menschlichen Spezies erklärt. Die von anderen Sternen auf die Erde kommenden „Geburtshelfer“ der dieser neuen Entwicklungsstufe werden hier als „Wanderer“ bezeichnet.

Neuschwabenland

Wolfgang Borchert, 1921 – 1947

Ist ein bei der „Deutschen Antarktisexpedition 1938/39“ vom deutschen Reich annektiertes Gebiet in Queen Maud Land, benannt nach dem Expeditionsschiff Schwabenland. Zufolge diverser pseudowissenschaftlicher Schriften haben nach dem Krieg geflohenen Nationalsozialisten dort mithilfe geheimer Flugscheibentechnik eine Geheimbasis mit dem Namen „Neuberlin“ errichtet. Die Basis wird mal als Zugang zur sog. hohlen Erde beschrieben, zu einem utopischen innerirdischen Paradies, in dem erleuchtete nordische Urvölker leben, mal als Stützpunkt für die Kolonisierung des Weltraums durch die „Reichsdeutschen“. Dieser Neo-Mythos hat sich als seit den 90er Jahren über das Internet zunehmend verbreitet und dient einer als identitätsstiftende Erzählung der „völkischen“ Esoterikszene.

ist einer der bekanntesten Vertreter der sog. Trümmerliteratur. In seinem berühmten Theaterstück „Draußen vor der Tür“, das 1947 im immer noch verwüsteten Deutschland als Hörspiel ausgestrahlt wurde beschrieb er die Desillusionierung und Verzweiflung der Generation junger Männer, die von der Schulbank direkt an die Front geschickt worden waren und so ihre Sozialisierung als „Erwachsene“ vor allem im Krieg erfahren hatten. Die teils traumatischen Heimkehrer-Erfahrungen, die in dem Stück thematisiert wurden, stießen sowohl auf öffentlichen Protest, als auch auf großen Zuspruch. Borchert starb im Alter von 26 kurz vor der Radioausstrahlung an den Nachwirkungen seiner Kriegsverletzungen.

Starseed, Sternensaat

Ein in in der völkischen Esoterik adaptiertes Symbol 1. um dass sich diverse pseudowissenschaftliche Spekulationen ranken. Angeblich geht das Symbol auf sumerische Ursprünge zurück. Es beruht tatsächlich auf einem Bodenornament in der Wewelsburg, welche Heinrich Himmler zum spirituellen Zentrum seines SS-Staats machen wollte. Angelehnt an die Mythologie der Ritter der Tafelrunde sollte die SS zu einer Art mystisch verklärtem Ritterorden des „tausendjährigen Reichs“ formiert werden Alchemisches Symbol, dazu Wikipedia: „Als Sol niger 2. (schwarze Sonne) wird das Ergebnis der ersten Stufe des alchemistischen Opus Magnum (Großen Werkes), der Schwärzung (nigredo), bezeichnet. Am Ende des gesamten „Werkes“ steht die Gewinnung von Gold. Die drei Stufen des Opus Magnum können auch mystisch gedeutet werden: Nigredo(-putrefactio), Schwärzung(-Fäulnis): Individuation, Reinigung, Ausbrennen von Unreinheit albedo, Weißung: Vergeistigung, Erleuchtung rubedo, Rötung: Vereinigung des Menschen mit Gott, Vereinigung des Begrenzten mit dem Unbegrenzten“

1. Der Begriff Starseed stammt aus der gleichnamigen Buchreihe des amerikanischen Psychologen und LSD-Advokaten Timothy Leary, die er während seines Gefängnisaufenthalts im Folsom Prison schrieb. In teils unterschiedlicher Form entwickelte er weltraumtranszendentale und transhumanistische Ideen. Im Zentrum seines Denkens steht die DNA, und das menschliche Nervensystem. Inspiriert von Meteoritenfunden, die Spurenelemente von DNA enthielten entwickelte er die Idee, der Ursprung des biologischen Lebens auf der Erde sei auf „Befruchtung“ des Planeten durch exo-terrestrische DNA, i.e. „Starseeds“ zurückzuführen. Der Drang zu den Sternen zurückzukehren, also die Kolonisierung des Weltraums sei daher in unserem Nervensystem evolutionär angelegt. Die zu komplexen Nervensystemen gewachsene DNA sei nun vor dem Schritt die nächste evolutionäre Stufe zu erklimmen und sich wieer im Raum auszubreiten. Ursprung und Ziel allen Lebens sei der Weltraum. Die psychedelischen Erfahrungen der „Counterculture“ durch Marijuana und LSD, die oft als Schwerelosigkeit „spaced-outness“ beschrieben wurden seien Leary zufolge eine Vorbereitung auf den Zustand des Nervensystems in der Schwerelosigkeit. Später befasste er sich zunehmend mit futurologischen und transhumanistischen Themen wie Lebensverlängerung durch biochemische Mittel und Intelligenzsteigerung mithilfe von Mensch-Maschinen-Interfaces. So ist er ein Vertreter des US-amerikanischen technologischen Übermenschentums. Er prägte das Kürzel „SMI2LE:
 SM (Space Migration) + I² (intelligence increase) + LE (Life extension)

2. Im New Age Jargon steht der Begriff Star Seed für Menschen, die in ihrem vorangegangen Leben auf einem anderen Planeten oder einer anderen Existenzebene gelebt haben und auf der Erde wiedergeboren werden um eine bestimmte Auf-

Schwarze Sonne

UB II, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, 1874 Ein Essay von Friedrich Nietzsche von 1874, in dem er einige Probleme vorhersieht, denen der Mensch im InformationsZeitalter gegenübersteht. Es ist keine reine Kritik der Geschichtswissenschaft. Viel mehr betont er die Wichtigkeit der Ausgewogenheit von „historischem Sinn“ und „Leben“ für den Fortbestand der Menschheit: „Dass das Leben aber den Dienst der Historie brauche, muss eben so deutlich begriffen werden als der Satz, der später zu beweisen sein wird − dass ein Übermaaß der Historie dem Lebendigen schade.“ Im Hörspiel:

„Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist, und noch schlimmer: er wird nie etwas tun, was andre glücklich macht. Denkt euch das äußerste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besäße, der verurteilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinanderfließen und verliert sich in diesem Strome des Werdens: er wird wie der rechte Schüler Heraklits zuletzt kaum mehr wagen, den Finger zu heben. Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört.“ Auferstanden aus Ruinen

1

Nationalhymne der Deutschen Demokratischen Republik. Der Text von Johannes R. Becher bezieht sich explizit auf das durch den zweiten Weltkrieg zerstörte Deutschland und den sozialistischen Wiederaufbau. Die Melodie stammte vom österreichischen Komponisten Hanns Eisler, der als einer der wichtigsten Schüler Arnold Schönbergs gilt. Theodor W. Adorno, 1903 – 1969 „Es gibt richtiges Leben im Falschen.“ 5 ist der oft zitierte Schlusssatz des Kapitels „Asyl für Obdachlose“ in seiner „Minima Moralia“, das sich mit der Problematik der Geborgenheit in modernen Wohnverhältnissen auseinandersetzt. Der Philosoph, der während des dritten Reichs im amerikanischen Exil gelebt hatte, wurde nach dem Krieg zur wichtigen öffentlichen Figur, als Fernseh- und Radiophilosoph. Zudem war er einer der einflussreichsten Musikkritiker und Kompositionsdozenten der Nachkriegszeit. Mit transatlantischen Finanzspritzen wurden 1946 in Darmstadt die „Internationalen Ferienkurse für neue Musik“ ins Leben gerufen. Unter Bezugnahme auf Arnold Schönberg, lehrte Adorno dort die bis dato relativ unbekannte Zwölftontechnik als neue Ausdrucksform des selbstbestimmten Subjekts: Musik für den freien Menschen, bzw. den der es werden wollte. In seiner polemischen Schrift „Philosophie der Neuen Musik“ sprach er der Zwölftonmusik geradezu messianische Züge zu:
 „Die Stimmigkeit von Zwölftonmusik lässt sich nicht unmittelbar »hören« – das ist der einfachste Name für jenes Moment des Sinnlosen an ihr. [...]Die musikalische Sprache dissoziiert sich in Fragmente. In ihnen aber vermag das Subjekt mittelbar, im Goethe’schen Sinn »bedeutend« hervorzutreten[...] Im Schauer vor der entfremdeten Sprache der Musik, die nicht mehr seine eigene ist, gewinnt es seine Selbstbestimmung zurück. [...]Die Schocks des Unverständlichen [...]erhellen die sinnlose Welt. Dem opfert sich die neue Musik. Alle Dunkelheit und Schuld der Welt hat sie auf sich genommen.“ Wir bauen eine Stadt

2

„Spiel für Kinder“ vom Komponisten Paul Hindemith und dem Autor Robert Seitz für das Festival „Neue Musik Berlin 1930“ mit freiheitlich-pädagogischem Konzept; „Bei uns haben die Erwachsenen nichts zu sagen“. P. Hindemith im Vorwort der Partitur: „Spiel für Kinder: damit ist gemeint, dass dieses Stück mehr zur Belehrung und Übung für Kinder selbst als zur Unterhaltung erwachsener Zuschauer geschrieben ist.“ Die Komposition wurde 1957 in der DDR mit dem Rundfunk-

Kinderchor Leipzig neuaufgenommen und als Schallplatte herausgegeben. Der spielerisch intendierte Text bekommt in der Nachkriegszeit eine realpolitische Dimension. Die Textfassung in „Die Sternensaat“ beruht auf der ironischen Neuinterpretation des Hindemith-Stücks der westdeutschen NDWBand „Palais Schaumburg“. („Wir bauen eine neue Stadt“, Phonogram Records, 1981)

Referenzen  1

Auferstanden aus Ruinen – Johannes R. Becher

 2

Wir bauen eine neue Stadt – Palais Schaumburg

 3

Das ist unser Manifest – Wolfgang Borchert

Vereinsamt – Friedrich Nietzsche, 1884

 4

Programmnotiz – Karlheinz Stockhausen

N. bekanntestes Gedicht, auch bekannt unter dem Namen „Die Krähen schreihn“ oder „Der Freigeist“. Das Aufsteigen des aufgeklärten Geists über die Welt des Menschen und die resultierende Einsamkeit werden von Nietzsche in Naturmetaphern übersetzt. Der Höhenflug des Geists erscheint als fortschreitende Erkaltung.

 5

Theodor W. Adorno

 6

London Lectures – Karlheinz Stockhausen

 7



Jenseits von Gut und Böse – Friedrich Nietzsche, 1886 „71 - Der Weise als Astronom“

Die Krähen schrein Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wird es schnein, – Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat! Nun stehst du starr, Schaust rückwärts, ach! wie lange schon! Was bist du Narr Vor Winters in die Welt entflohn? Die Welt – ein Tor Zu tausend Wüsten stumm und kalt! Wer das verlor, Was du verlorst, macht nirgends Halt. Nun stehst du bleich, Zur Winter-Wanderschaft verflucht, Dem Rauche gleich, Der stets nach kältern Himmeln sucht. Flieg, Vogel, schnarr Dein Lied im Wüstenvogel-Ton! – Versteck, du Narr, Dein blutend Herz in Eis und Hohn! Die Krähen schrein Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wird es schnein, – Weh dem, der keine Heimat hat!

 8

Entrückung – Stefan George

 9

Karlheinz Stockhausen zum 11. September

10

Der tolle Mensch – Freidrich Nietzsche

Fotonachweis Imperial War Museums Ministry of Information Second World War Official Collection UK NASA Collection San Diego Air & Space Museum State Library of Queensland City of Vancouver archives

Wunschkonzert für die Wehrmacht „Die Sendung war eine der populärsten in der Geschichte des deutschen Rundfunks und spielte eine wichtige Rolle in der NS-Propaganda. Insbesondere durch die „Verbindung“ von Front und Heimat sollte der Durchhaltewille gestärkt und vom Musik in der Reihenfolge Krieg abgelenkt werden.“ – Deutsche Wikipedia des Auftretens „Heimat deine Sterne“, hier in der Live-Version gesungen von Karl Schmitt Walter, zählte zu den beliebtesten Liedern 00.11 Fanfare, Wunschkonzert der Wehrmacht, 1942, unter deutschen Frontsoldaten und erfreut sich bis heute in © UraCant-CD Deutschland großer Beliebtheit. 06:40

Karl Schmitt Walter – Heimat deine Sterne, Wunschkonzert der Wehrmacht, 1942, © UraCant-CD

12:28

Arnold Schönberg – Streichquartett No.2, Op.10 - 4.# „Entrückung” –  Arditti Quartett & Dawn Upshaw, © Disques Montaigne

41:45

Marlene Dietrich – Sag mir wo die Blumen sind, live bei den Schlagerfestpielen Baden Baden, 1963, © SWR

Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? 10

DREHBUCH, REGIE UND PRODUKTION

Max Lange

SPRECHER

Ralf Wirtz Matthias Friedrich Martin Umbach Carola Lingelbach Max Lange

GESTALTUNG

Bárbara Acevedo Strange

REDAKTIONELLE LEITUNG

Max Lange

VE-302

EINE PRODUKTION VON VE-302 & Neuberliner Rundfunk in Kollaboration mit der HfG Karlsruhe

Radius Domus Erzähler I Erzähler II Sternensaat Solneg

NEUBERLINER RUNDFUN K

Danke: Elenya Bannert, Gerd Baumann, Max Clausen, Halina Doyen, Philipp Ernst, Frank Halbig, Max Viktor Herbert, Mira Hirtz, Kilian Höfer, Jakob Hohmann, Stephan Krass, Kilian Kretschmer, Kirsten Kuive, Madeleine Merino, Jakob Raab Razvan Radulescu, Lukas Rehm, Christiane Riedel, Tilmann Rödiger, Franziska Vogel, Andrei Ujica, Victor van Wetten, Konrad Wehrmeister, Theresa Zaremba, Jan Zimmermann, ZKM



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