Die pomesanische Kapitelsburg und der Dom in Marienwerder
Die Burg des pomesanischen Domkapitels in Marienwerder, errichtet zwischen 1320 und 1345, ist durch ihre Verschmelzung mit dem Dom ein einzigartiges Denkmal der gotischen Baukunst. Besonders imponierend ist die Ansicht von der Westseite, vom Nogattal her, wo hinter dem gewaltigen Dansker die mächtige Baugruppe der Burg und des Doms emporragt. Oft wird dieser Wehrbau für eine Deutschordensburg gehalten, denn er zeigt alle wesentlichen Merkmale einer klassischen Konventsburg des Deutschen Ordens in fast idealer Perfektion. Tatsächlich waren die Auftraggeber und Bewohner der Burg jedoch die pomesanischen Domherren, die von dort aus zwischen etwa 1330 und 1525 das kleine Territorium des Domkapitels regierten.
Die alte Bischofsburg Marienwerder hatte ursprünglich zwei Burgen: die ältere Bischofsburg (ursprünglich eine Deutschordensburg) und die mit dem Dom verbundene Kapitelsburg. Die Geschichte der Stadt beginnt 1233 mit der Gründung einer Burg durch den Deutschen Orden, die auf einer Insel in der Weichsel lag und den alten Namen Quidin trug1, wovon sich der polnische Ortsname ableitet. Die Ordensritter nannten die Insel zu Ehren ihrer Schutzpatronin, nach der Gottesmutter Maria Insula Sanctae Mariae, auf deutsch Marienwerder. Schon bald verlegte man die Burg auf den höher gelegenen heutigen Standort der Stadt, etwas abseits vom östlichen Weichselufer, an eine Stelle, an der sich vorher eine prußische Burg befunden hatte. Der von der Insel her stammende Name wurde jedoch beibehalten. 1243 wurden die vier preußischen Bistümer gegründet, dabei legte man fest, dass zukünftig zwei Drittel des eroberten Landes dem Deutschen Orden und ein Drittel den Bischöfen gehören sollten. In diesen Stiftsterritorien der Bistümer übten die Bischöfe die weltliche Macht aus und waren befugt, eigene Burgen zu errichten. Zum Zeitpunkt der Bistumseinteilung bestanden in Preußen noch keine Domkapitel. Erst nach deren Gründung kam es innerhalb der Stiftgebiete zu einer weiteren Teilung zwischen den Territorien der Bischöfe, die zwei Drittel erhielten, und denen der Domkapitel, denen ein Drittel zustand2. Im Tauschverfahren erlangte der pomesanische Bischof Ernst 1254 das Gebiet um Marienwerder3. Er übernahm die schon bestehende Deutschordensburg, baute sie aus und machte sie zu seiner ersten Bischofsresidenz. Am Ende des 13. Jahrhunderts errichtete sich der Bischof eine neue
Abb. 1. (oben) Ansicht von Marienwerder im 17. Jahrhundert (aus: Christoph Hartknoch, Altes und Neues Preussen, Frankfurt/Leipzig 1684). Abb. 2. Marienwerder, Grundriss der verschwundenen Bischofsburg nach den Ausgrabungen von Heym (aus: Heym, Altschlößchen [wie Anm. 4], S. 4). Burg und Kirche
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Abb. 3. Grundriss von Kapitelsburg und Dom (aus: Arszyński/ Mroczko [wie Anm. 5], S. 441).
Residenz in Riesenburg, und die Burg in Marienwerder verlor damit an Bedeutung, wurde aber bis zum Ende des Mittelalters weiter benutzt. Im 16. Jahrhundert hat man sie schließlich abgerissen und die dabei gewonnenen Ziegel für verschiedene Bauarbeiten an der Kapitelsburg und in der Stadt verwendet4. Die Geschichte der Kapitelsburg5
Abb. 4. Marienwerder, Kapitelsburg, Rekonstruktion des mittelalterlichen Zustands (aus: Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Westpreußen [wie Anm. 5], Beilage 13a). Abb. 5. Marienwerder, Kapitelsburg mit Dansker. Ansicht von Südwesten (2010).
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Das Domkapitel war erst 1284 gegründet worden6 und verfügte zunächst über keinen eigenen Grundbesitz. Vermutlich wohnten die Domherren damals in der Burg des Bischofs, und es gibt Hinweise darauf, dass sie später ein eigenes Haus in der Stadt besaßen. Um eine große Burg zu bauen, benötigte das Domkapitel eigene Wirtschaftshöfe, Dörfer und Städte, aus deren Erträgen man die Investitionskosten decken konnte. Erst nach 1296 erhielt das Domkapitel den östlichen Bereich des Stiftsgebietes und gründete dort bis um 1330 die Stadt Rosenberg sowie 21 deutsche und einige prußische Dörfer. Damit war die ökonomische Basis gelegt, die die Finanzierung des Baues der Kapitelsburg in Marienwerder ermöglichte. Zur Frage der Datierung der Burg gibt es keine exakten Angaben in den Schriftquellen, doch lässt sich die Bauzeit einigermaßen zuverlässig eingrenzen. Der Baubeginn kann nicht vor 1310 gelegen haben, weil das Domkapitel erst unter Bischof Ludeko (1309 bis 1321) in den Besitz des Grundstücks kam, auf dem die Burg steht. Im Jahr 1334 wird erstmals eine Urkunde in castro Merginwerder domini episcopi ausgestellt, ein Teil der neuen Kapitelsburg muss damals schon benutzbar gewesen sein7. Bei Baubeginn des neuen Doms 1343 war die Burg vermutlich vollendet. Dies erkennt man am südlichen Burgflügel, denn dieser stand ursprünglich frei, und das neue Domlanghaus wurde Burg und Kirche
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Abb. 6. Marienwerder, Kapitelsburg. Dansker von Westen (2010).
Abb. 7. Marienwerder, Kapitelsburg. Nordwestlicher Eckturm und Westfassade (2010).
anschließend dort angefügt und verdeckt seitdem die ehemalige Südfassade der Burg. Als Bauzeit lassen sich daher die Jahre zwischen etwa 1320 und 1343 annehmen. Der Name des Baumeisters ist nicht überliefert, dafür kennen wir die für den Bau verantwortlichen Dienstleute des Domkapitels mit Namen. In einer Urkunde von 1342 werden als Zeugen Ruperto murorum und Johanne carpentariorum magistris castri genannt8. Es handelte sich vermutlich um Ritterbrüder des Deutschen Ordens, die für die Aufsicht über die Maurer- und Zimmermannsarbeiten der Burg zuständig waren.
te seine Besitzungen vermehren. Diese ‚goldene’ Epoche endete 1410/11 mit dem großen Krieg zwischen dem Deutschen Orden und dem Königreich Polen/Litauen. Zwischen 1414 und 1520 wurde die Stadt viermal von polnischen Truppen belagert und dabei mehrmals zerstört. Auch die Burg erlitt vielfach Schäden, und das Domkapitel verarmte im Laufe des 15. Jahrhunderts zusehends.
Nördlich der kastellartigen Hauptburg lag eine ausgedehnte Vorburg. Um eine große Hoffläche mit annährend rechteckigem Grundriss herum waren zahlreiche Wirtschaftsgebäude angeordnet. Die Vorburg diente nicht nur als Lager für die Vorräte des Domkapitels, sondern schützte auch die Anlage der Hauptburg vor Angriffen von Norden her. Von dieser großen Vorburg haben sich heute nur noch wenige Reste erhalten. Hauptburg und Vorburg waren durch einen breiten Graben getrennt und über eine lange Steinbrücke, die direkt zum Hauptportal der Burg führte, miteinander verbunden. Das 14. Jahrhundert war für das Bistum Pomesanien und die Stadt Marienwerder eine Zeit des Friedens und des wirtschaftlichen Aufschwungs. Die Burg wurde in keine Kriegshandlungen verwickelt, und das Domkapitel konnBurg und Kirche
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Eine einschneidende politische Zäsur bildete das Jahr 1525. Der letzte Hochmeister des Deutschen Ordens in Preußen, Albrecht von Brandenburg, wandelte den Ordensstaat in ein weltliches Herzogtum um, das er vom polnischen König zu Lehen nahm. Gleichzeit löste er den Orden in Preußen auf und führte die Reformation ein. Dies bedeutete das Ende des pomesanischen Domkapitels. Die Domherren mussten 1526 die Kapitelsburg verlassen, die somit ihre ursprüngliche Funktion verlor. Die beiden ersten evangelischen Bischöfe, Erhard von Queis und Paul Speratus (1530 bis 1551), nutzten die Burg als ihre Residenz. Nach dem Tod von Speratus wurde die Burg Sitz eines herzoglichen Amtshauptmanns und diente bis ins 18. Jahrhundert Verwaltungszwecken. Nachdem Marienwerder 1773 zur Hauptstadt der neu gebildeten Provinz Westpreußen erhoben worden war, richtete man in der Burg das Oberlandesgericht ein. Die Räumlichkeiten erwiesen sich jedoch als wenig geeignet für diesen Zweck, weshalb die Regierung 1798 bis 1800 ein neues Gerichtsgebäude in der 233
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Stadt bauen ließ. Um hierfür preisgünstiges Baumaterial zu gewinnen, brach man 1798 den Südflügel und einen Teil des Ostflügels der Burg ab. Die Wende hin zur Bewahrung des historischen Baubestandes hing mit der Entwicklung auf der nah gelegenen Marienburg zusammen. König Friedrich Wilhelm III. hatte 1804 den weiteren Abbruch der ehemaligen Hochmeisterresidenz untersagt und stattdessen die Wiederherstellung als historisches Denkmal angeordnet. Dies war ein Paradigmenwechsel hin zur Idee des modernen Denkmalschutzes. Die neue Haltung kam nun der Kapitelsburg in Marienwerder zugute, eines der frühesten Beispiele für die angewandte Denkmalpflege in Preußen9. 1816 begannen erste Sicherungsarbeiten an der Burg, die auch in den folgenden Jahrzehnten, allerdings nur in relativ bescheidenem Umfang, weitergeführt wurden. Während dieser Zeit wurde die Burg für unterschiedliche Zwecke genutzt, so als Stadt- und Bezirksgericht, Gefängnis, Blindenanstalt und Gewerbeschule. Im Inneren der Burg finden sich heute noch einige Hinweise auf diese Nutzungen, etwa Wegweiser zu Gefängniszellen und Gerichtssälen.
Diese Art der rekonstruierenden Restaurierung auf wissenschaftlicher Grundlage war Vorbild für die berühmt gewordenen Restaurierung der Marienburg. Marienwerder diente weiterhin als Sitz verschiedener Behörden, und in der Zwischenkriegszeit wurden einige Räume auch museal genutzt. Die Nationalsozialisten betrieben von 1939 bis zum Kriegsende in der Burg eine Reichsführerschule der Hitlerjugend. Die Kriegshandlungen 1945 überstand der Bau weitgehend unbeschädigt. Am 29. Januar 1945 wurde die Stadt von der Roten Armee besetzt und gelangte an Polen. In der Burg richtete man 1950 ein Museum ein, das heute als Filiale des Marienburger Schlossmuseums genutzt wird. Architektur der Burg
Schließlich gelang es, die Burg zwischen 1854 und 1875 einer grundlegenden Restaurierung zu unterziehen, bei der man auch viele Bereiche rekonstruierte. So wurden die Ecktürmchen des Nordflügels erhöht, die Giebel erneuert und einige der Säle im Hauptgeschoss wieder gewölbt.
Die Kapitelsburg in Marienwerder zeigt alle Merkmale einer klassischen Konventsburg des Deutschen Ordens. Es handelt sich um eine Burg im Kastelltypus über quadratischem Grundriss mit vier voll ausgebauten Flügeln und einem zweigeschossigen Kreuzgang im Innenhof. Die Seitenlänge beträgt 47,60 m, was elf kulmischen Ruten entspricht (1 Rute = 4,32 m). Drei Ecken des Kernbaues waren mit schmalen Türmchen besetzt, und an der Südostecke erhebt sich der 59 m hohe Hauptturm, der eine Doppelfunktion hatte: Er diente sowohl als wehrhafter Verteidigungs- und Ausblickspunkt für die Burg, trug aber auch die Glocken des Doms. Vor der Westseite der Burg
Abb. 8. Marienwerder, Kapitelsburg und Bergfried von Süden (2010).
stehen ein Dansker und im Norden ein Brunnenturm. Der Bau ist aus Backsteinen im gotischen Verband errichtet, die Keller- und Fundamentmauern bestehen aus Feldsteinen. Jeder der Burgflügel ist unterkellert mit vier darüber aufgehenden Geschossen. Im Erdgeschoss waren Wirtschaftsund Versorgungsräume untergebracht (Küche, Bäckerei, Magazine). Die Hauptebene mit den Räumen für das Domkapitel (Kapitelsaal, Refektorium, Sommerremter, Infirmerie, Schlafräume) lag im ersten Obergeschoss und hatte neun unterschiedlich große Säle, die mit Sterngewölben versehen waren. Darüber befanden sich zwei balkengedeckte Geschosse mit kleinen Schlitzfenstern und ein abschließendes Wehrgeschoss mit Luken zur Feld- und Hofseite. Das Hauptgeschoss des Nordflügels war ursprünglich in drei kleinere Räume unterteilt. Rekonstruiert wurde davon der mittlere Saal mit einem Sterngewölbe, das von einer eleganten Mittelstütze getragen wird. Im Westflügel befand sich ein langer fünfjochiger Saal. Der innere Aufbau des 1798 abgebrochenen Südflügels ist nur durch Zeichnungen überliefert. Er hatte im Hauptgeschoss zwei große gewölbte Säle mit zehneckigen Mittelstützen. Der nur teilweise erhaltene Ostflügel wies zwei kleinere Räume im Norden sowie im abgebrochenen südlichen Bereich einen dreijochigen Saal auf, von dem aus im Mittelalter eine Tür in den Dom führte. Bei den heute vorhandenen Gewölben des Hauptgeschosses handelt es sich zum großen Teil um Rekonstruktionen des 19. Jahrhunderts. Weitgehend original sind dagegen die schönen Konsolen aus der Bauzeit (mit Maßwerk, Pflanzendekor und Menschenköpfen). Wie die einzelnen Räume ursprünglich genutzt wurden, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. In den mittelalterlichen Quellen werden folgende Räume genannt, jedoch ohne genaue Lokalisierung10: Kapitelsaal, Refektorium, Sommerremter und Infirmerie (Krankensaal). Weiterhin ist bekannt, dass jeder Domherr über eine eigene Wohnkammer verfügte. Der Sommerremter befand sich nach einer Mitteilung des 18. Jahrhunderts im Ostteil des Südflügels.
Durch seine großen Fenster gelangte viel Sonne und Licht in den Raum. Beim westlich daneben liegenden Saal könnte es sich um das Refektorium gehandelt haben, das vermutlich beheizbar gewesen ist. Der Kapitelsaal lässt sich wohl mit dem eleganten Raum mit Mittelsäule im Nordflügel identifizieren. Die Infirmerie befand sich vielleicht im abgebrochenen Teil des Ostflügels, der an das Langhaus des Doms grenzte. Wo sich die Schlafkammern der Domherren befanden, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Möglicherweise wurde ein großer Saal durch Holzwände in kleine Kammern geteilt, dann käme für diesen Zweck eigentlich nur der lange Saal im Westflügel in Frage. Die Alternative hierzu wäre, dass die Domherren einzelne Räume im zweiten Obergeschoss bewohnt haben. Eine Kapelle wird in den Quellen nirgends erwähnt, vermutlich hat es eine solche auch nicht gegeben, da die Domherren alle Messen und Stundengebete im Dom abhielten. Die Verbindung der Haupträume untereinander erfolgte durch einen zweigeschossigen Kreuzgang, von dem sich noch zwei Flügel erhalten haben (im 19. Jahrhundert stark restauriert). Das Burgtor liegt an der Nordseite und besteht aus zwei Elementen. Im unteren Bereich befindet sich die niedrige und spitzbogige Durchfahrt, die aus großen Granitsteinquadern errichtet ist. Das Tor wird von zwei hohen Spitzbogenblenden flankiert, in denen sich ursprünglich Heiligenbilder befanden. Über dem Tor erhebt sich eine hohe, reich profilierte und geschmückte Fallgatternische. Sie wird im oberen Abschnitt, der aus einer zweiten Bauphase stammt, von einer Putzdekoration gerahmt, deren Motive aus Krabben, Wasserspeiern und Kreuzblumen bestehen. Der Außenbau zeigt in ausgeprägter Weise die typischen Kennzeichen der „klassischen“ Deutschordensburgen aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts (Vergleichsbauten: Rehden/Radzyn Chełmiński, Strasburg/Brodnica, Hochschloss der Marienburg). Ein mächtiger, blockartiger, im Grundriss quadratischer Kubus aus Backstein bildet den Kernbau und wird an den Kanten durch schlanke Türmchen flankiert. Spitzbogige Blenden geben den Außenwänden
Abb. 10. Marienwerder, Kapitelsburg. Hauptportal an der Nordseite (2010).
Abb. 11. Marienwerder, Kapitelsburg. Innenhof mit Kreuzgang von Südosten (2010).
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Abb. 12. Marienwerder, Kapitelsburg. Abgebrochener Ostflügel. Die alte Ostwand ist noch erhalten und von der Westwand des Doms zugesetzt (2010).
Dansker) erreicht eine Länge von fast 200 m. Dabei ergibt sich aus den unterschiedlichen Blickrichtungen ein jeweils ganz anderer Eindruck. Von Westen gesehen sieht man nur die über dem Tal thronende Burg im Ordensstil, während von Osten her lediglich die Kathedralkirche in den Blick gerät. Allein von der im Norden gelegenen Vorburg aus konnte der ganze zweiteilige Burg-Dom-Komplex erfasst werden. eine rhythmische Gliederung. Zur majestätischen Wirkung der Burg trägt auch ihre Lage am Abhang zum Nogattal bei. Der steinerne Kubus wächst förmlich aus der Erde heraus, wobei an der Westseite der hohe Unterbau aus Feldsteinen sichtbar wird, hinter dem sich die ausgedehnten Kelleranlagen befinden. Das markanteste Bauelement der Kapitelsburg stellt der Dansker dar, ein mächtiger Toilettenturm, der sich 55 m westlich der Kernburg erhebt. Er ist mit dem Hauptgeschoss der Burg durch einen überdachten Gang verbunden, der von fünf gewaltigen Pfeilern getragen wird, zwischen denen sich spitzbogige Arkaden spannen. Im Kriegsfall konnten die Dansker auch als vorgeschobene Bastionen genutzt werden. Marienwerder hat sogar zwei danskerartige Türme, denn nördlich der Burg befindet sich der Brunnen ebenfalls in einem nach außen gerückten Turm (kleiner Dansker). Der imposante Komplex aus Dom und Burg (inklusive
Der Dom11 An der Stelle des Doms befand sich ursprünglich die städtische Pfarrkirche, über die das pomesanische Domkapitel 1286 das Patronatsrecht erhielt12. Gleichzeitig wurde die Kirche zum Dom erhoben, erfüllte aber auch weiterhin die Funktion einer Stadtpfarrkirche. Vermutlich ließen die Domherren den bescheidenen ersten Bau vergrößern, doch haben wir über die Gestalt dieser Kirche keinerlei Kenntnisse. Dass schon der alte Dom als wichtiger Begräbnisort genutzt wurde, zeigt die 1330 erfolgte Beisetzung des Hochmeisters Werner von Orseln13. Später sollten noch zwei weitere Hochmeister ihre letzte Ruhestädte im Dom finden: Ludolf König (1348) und Heinrich von Plauen (1429). Bald nach der Vollendung der großen Schlosskirche auf der Marienburg (1344) wurden die übrigen Hochmeister dort beerdigt, und der Dom von Marienwerder diente nur noch als Grablege für die pomesanischen Bischöfe und Domherren.
Abb. 13. Marienwerder, Kapitelsburg. Einstützensaal im Hauptgeschoss des Nordflügels (2010). Abb. 14. Marienwerder, Kapitelsburg. Großer Remter im Hauptgeschoss des Westflügels (2010).
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Das Domkapitel begnügte sich noch längere Zeit mit dem bescheidenen ersten Domgebäude und ließ zunächst die neue Burg errichten. Für den Zeitpunkt des Baubeginns am Dom haben wir einen urkundlichen Hinweis: Am 27. Dezember 1342 verschrieb Bischof Berthold Einkünfte zur Finanzierung des Domneubaues, weil die alte Kirche baufällig und eines Doms nicht mehr würdig gewesen sei14. Im Frühjahr 1343 dürfte man mit den Bauarbeiten für den neuen Chor begonnen haben. In der Forschung gab es einen langen Streit darüber, ob der Chor vor oder erst nach 1342 errichtet wurde. Lange Zeit dominierte die Auffassung, dass der doppelgeschossige Chor schon zum Zeitpunkt der Beisetzung des Hochmeisters Werner von Orseln (1330) vollendet gewesen wäre und sich die Quelle von 1342 nur auf den Neubau des Langhauses bezogen hätte15. Aufgrund von dendrochronologischen Untersuchungen im Dachwerk des Doms konnte Alexander Konieczny jedoch eindeutig nachweisen, dass das Holz der Dachbalken erst im Jahr 1365 geschlagen wurde16. Somit ist erwiesen, dass der Baubeginn 1343 zutreffend sein muss. Vermutlich hat man schon vor der Fertigstellung des Chors damit begonnen, die Außenmauern des Langhauses hochzuziehen, denn die Balken für das gewaltige Dach über dem Kirchenschiff sind gerade neun Jahre jünger (1374). Die Vollendung des Doms erfolgte gegen 1380. In diesem Jahr entstand auch das inschriftlich datierte Mosaik über der südlichen Vorhalle, das der damalige Bischof Johannes Mönch stiftete. Auch die das gesamte Langhaus ausfüllenden Wandmalereien stammen überwiegend aus der Regierungszeit dieses tatkräftigen Bischofs (1376 bis 1409). Für das Jahr 1384 ist eine chronikalische Nachricht überliefert, nach der der Dom noch einen umlaufenden Wehrgang erhielt, der nach außen vorkragte17. Ein denkwürdiges Ereignis fand 1393/94 in den Mauern des Doms statt. Die aus einer bäuerlichen Familie stammende und lange Zeit in Danzig lebende Visionärin Dorothea von Montau ließ sich am 2. Mai 1393 in einer Klause des Doms einmauern18. In dem engen Raum neben der Unterkirche des Chors verbrachte sie den ganzen Tag in innigen Gebeten und empfing täglich die heilige Kommunion. Viele Menschen pilgerten zu der frommen Dorothea, bis diese schließlich am 25. Juli 1394 in ihrer Klause starb. Die Visionen Dorotheas und ihre Vita wurden durch den Domherrn Johannes Marienwerder (1343 bis1419) aufgezeichnet. Er war auch die treibende Kraft beim Heiligsprechungsverfahren für Dorothea, das schon ein halbes Jahr nach ihrem Tod eingeleitet wurde, aber nicht zum Abschluss kam. Von den Bewohnern Preußens wurde sie dennoch wie eine Heilige verehrt. Auch die Kapelle im Untergeschoss des Domchors wurde ihr zu Ehren geweiht, obwohl sie offiziell noch gar nicht heiliggesprochen war. Erst 1976 wurde ihr Kult offiziell durch die katholische Kirche anerkannt.
Abb. 15. Marienwerder, Kapitelsburg. Gewölbekonsole im Großen Remter (2010).
Im Konflikt zwischen dem Deutschen Orden und Polen wurden Stadt und Burg Marienwerder mehrmals belagert (1414, 1460, 1478, 1520). Dabei kam es auch zu Beschädigungen am Dom, der diese Zeit jedoch insgesamt ohne schwere Blessuren überstand. Größeren Schaden nahm lediglich die Unterkirche des Domchors, die vermutlich 1478 zerstört und danach nicht mehr aufgebaut wurde19. Die Einführung der Reformation 1525 hatte für das Innere der Kirche einige Konsequenzen. So wurden die mittelalterlichen Wandmalereien im Langhaus durch eine weiße Tünche überdeckt, und man unterteilte den alten Dom in drei Bereiche für die im 16. Jahrhundert hier lebende deutsche, polnische und böhmische Gemeinde. Der polnische evangelische Gottesdienst wurde im Chor, der deutsche im Langhaus und der böhmische im westlichen Langhausabschnitt gehalten. Diese Bereiche waren durch Trennwände und Gitter voneinander geschieden. Die Existenz einer böhmischen Gemeinde rührt von der Aufnahme der böhmischen Brüder her, die aufgrund ihrer radikalen apostolischen Lebensweise 1549 aus Böhmen vertrieben worden waren und als Glaubensflüchtlinge im Herzogtum Preußen Aufnahme gefunden hatten20. Im 18. Jahrhundert ging die Zahl der evangelischen Polen stark zurück, sodass am Jahrhundertende der Gottesdienst in polnischer Sprache eingestellt wurde21.
Abb. 16. Marienwerder, Dom. Ansicht von Südosten (1999). Burg und Kirche
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Während der Dom den Zweiten Weltkrieg weitgehend unbeschädigt überstand, wurde die südlich davon liegende Altstadt fast völlig zerstört. Der bis dahin von der Stadtseite her immer von Häusern verdeckte Dom stand nun plötzlich frei und konnte in seiner ganzen Pracht bewundert werden. Seitdem in jüngster Zeit neue Bauten auf dem Gebiet der Altstadt entstehen, ist es mit diesem grandiosen Anblick wieder vorbei. Mit der Vertreibung der deutschen Bevölkerung endete auch die Geschichte des Doms als evangelische Kirche. Er wurde nun wieder Sitz einer katholischen Gemeinde. 1993 erfolgte die Erhebung zur Konkathedrale des Bistums Elbing. Architektur des Doms
Abb. 17. Marienwerder, Dom. Blick ins Mittelschiff mit Blick Richtung Osten (2008). Der Zustand der Kirche erforderte um die Mitte des Jahrhunderts eine gründliche Wiederherstellung. Diese erfolgte 1862 bis 1864 mit dem Ziel, dem Dom sein gotisches Erscheinungsbild wiederzugeben. Dabei wurden die nach der Reformation eingezogenen Trennwände und Emporen entfernt, die Unterkirche im Chor rekonstruiert und neugotische Ausstattungselemente aufgestellt. Auf Initiative des preußischen Konservators Ferdinand von Quast restaurierte man die neu aufgedeckten mittelalterlichen Wandmalereien, wobei die evangelische Gemeinde erfolglos gegen die Wiedersichtbarmachung der Gemälde aus katholischer Zeit protestierte. Abb. 18. Marienwerder, Dom. Querschnitt durch das Langhaus mit Blick Richtung Osten (aus: Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Westpreußen [wie Anm. 5], S. 64).
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Der Dom hat eine Gesamtlänge von 86 m (300 Fuß kulmischen Maßes) und gliedert sich in Chor und Langhaus. Von außen wirkt die Architektur kompakt und wie aus einem Guss errichtet. Der polygonal geschlossene einschiffige Chor ist schmaler als das dreischiffige Langhaus, und der Übergang zwischen beiden Bauteilen wird an der Nord- und Südseite durch zwei schlanke Treppentürme akzentuiert, die aus der Mauerflucht heraustreten. Diese Türme sind achteckig, stehen aber auf quadratischen Sockeln. Die Chormauern überragen das Langhaus deutlich an Höhe, haben ansonsten aber eine identische Wandgliederung. Der gesamte Außenbau zeigt eine gleichmäßige Abfolge von dreizonigen Wandfeldern und Strebepfeilern. Bei den Wandfeldern folgt über einer ungegliederten unteren Zone, die durch einen Wasserschlag abgeschlossen wird, ein schlankes spitzbogiges Fenster. Darüber verläuft ein horizontales Band mit aufgeputztem Maßwerkfries, über dem sich ein Wehrgang mit segmentbogig geschlossenen Fenstern erhebt.
Abb. 19. Marienwerder, Dom. Längsschnitt durch einen Teil von Langhaus und Chor (aus: Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Westpreußen [wie Anm. 5], S. 60).
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Abb. 20. Marienwerder, Dom. Frühgotische Südvorhalle aus gotländischem Kalkstein (1999).
Der die ganze Kirche umlaufende Wehrgang ist in das Verteidigungssystem der Burg integriert. Auf der zur Stadt hin gewandten Südseite des Doms befand sich, auf den Strebepfeilern sitzend, sogar noch ein zweiter Wehrgang. Somit war der Dom in Marienwerder einer der wenigen tatsächlich wehrhaften Sakralbauten im Ordensland. Dass diese Wehrhaftigkeit nicht nur symbolischer Natur, sondern auch in der Kriegspraxis von Nutzen war, ist durch chronikalische Nachrichten belegt. Johann von Posilge berichtet, dass im Jahr 1414, als polnische Truppen die Stadt erobert hatten, sich die Bürger in den Dom zurückzogen und von dort aus mit Büchsen und Pfeilen die Feinde in der Stadt beschossen und sie verjagten22. Das gleiche Szenario spielte sich noch einmal 1460, 1478/79 und 1520 ab. Bei den letzten beiden Belagerungen mussten allerdings die Verteidiger im Dom schließlich kapitulieren. Ein architektonisches Schmuckstück besonderer Art bildet die südliche Vorhalle des Doms. Es handelt sich um einen Werksteinbau aus gotländischem Kalkstein in frühgotischen Formen, ein in der Architektur des mittelalterlichen Preußenlandes einzigartiges Bauwerk. Die Vorhalle hat innen und außen jeweils ein Doppelportal, das durch einen achteckigen Mittelpfeiler geteilt wird. In den Zwickeln zwischen den Durchgängen befindet sich am äußeren Portal ein rosenartiges Relief, am Innenportal dagegen eine große Sonne, begleitet von zwei Sternen. Im Inneren sind die Seitenwände der Vorhalle mit Sitzbänken versehen, und es waren Vorkehrungen für die Einziehung eines Gewölbes getroffen, das jedoch nie ausgeführt wurde. Über die Herkunft und Datierung der Vorhalle gehen die Meinungen weit auseinander. Eine erste Nachricht stammt von 1586, als sich der Marienburger Bürger Antonius Trost verpflichtete, die Halle auf eigene Kosten zu bauen23. Es ist kaum wahrscheinlich, dass Steinmetze aus dem späten 16. Jahrhundert die frühgotische Bauweise in so perfekter Weise imitiert haben. Vielmehr handelt es sich um einen stilistisch um 1300 zu datierenden mittelalterlichen Bau, der somit deutlich älter ist als die Backsteinarchitektur des Doms. Vielleicht wurde die gesamte Vorhalle von gotländischen Steinmetzen vorfabriziert und dann in Einzelteilen nach Marienwerder transportiert, oder aber man holte zusammen mit dem rohen Baumaterial einen Meister aus Gotland, um die Arbeiten vor Ort auszuführen. Doch für welchen Platz war die Vorhalle ursprünglich bestimmt? Es gibt eigentlich nur zwei nahe liegende Möglichkeiten: Entweder gehörte sie zum älteren Dom in Marienwerder oder zu dem im 16. Jahrhundert abgerissenen Bischofsschloss vor der Stadt. Wenn sie Teil des Vorgängerdoms gewesen ist, stellt sich allerdings die Frage, wo sich der Bau zwischen 1380 und 1586 befunden haben soll. Wahrscheinlicher ist Burg und Kirche
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daher die Annahme, dass die Vorhalle aus der Bischofsburg stammt und vielleicht zur dortigen Kapelle gehörte. Die Burg wurde im 16. Jahrhundert als Steinbruch genutzt, und deren Backsteine wurden zur Errichtung und Ausbesserung verschiedener Bauwerke in Marienwerder verwendet. Im Zuge der Kirchenvisitation von 1586 machte man sich offenbar Gedanken darüber, was aus der noch einsam auf dem alten Burggelände stehenden kunstvollen Vorhalle werden sollte24. Da erklärte sich Antonius Trost dazu bereit, die Translozierung dieses Meisterstücks mittelalterlicher Steinmetzkunst an den Dom zu finanzieren. Die Vorhalle erhielt damals ein Pultdach, von dem das Mosaik über dem Portal verdeckt wurde und für fast 300 Jahre unsichtbar blieb. Dies war sicherlich ganz im Sinne der evangelischen Visitatoren, denn man hielt die aus katholischer Zeit stammenden Bilder der Heiligenverehrung für eine abergläubische und dem wahren Christentum abträgliche Sache. Das mächtige Kirchenschiff ist eine dreischiffige Pseudobasilika, deren 62 m langes Mittelschiff 5½ Gewölbejoche aufweist. Die stämmig wirkenden, im Grundriss achteckigen Pfeiler stehen in weitem Abstand voneinander. Sie tragen hoch aufsteigende spitzbogige Arkaden, über denen unmittelbar die Obergadenzone aufsitzt. Dort befinden sich je zwei große und profilierte Spitzbogenblenden pro Joch, die fast den gesamten Raum zwischen den zum Gewölbe führenden Diensten einnehmen. Die Gewölbe des 18,2 m hohen Mittelschiffs zeigen die für das mittelalterliche Preußen typischen Sterngewölbe, hier in der reichen Variante mit acht Sternzacken. Die Gewölberippen sind schmal und zart ausgebildet, wodurch in der Gesamtansicht ein merkwürdiger Kontrast entsteht zwischen dem massigen Unterbau und der fast spinnennetzartig wirkenden Struktur des Gewölbes. Dieser optische Gegensatz ist charakteristisch für viele Kirchen im Ordensland und wurde in Marienwerder ins Extreme gesteigert. In den Seitenschiffen treten Springgewölbe auf, bestehend aus Rippendreistrahlen, die in ein dreieckiges Gewölbefeld eingelassen sind. Da sich diese Dreiecksfelder mit ihrer langen Seite abwechselnd auf der nördlichen und südlichen Seite des Seitenschiffs befinden, kommt es zu dem optischen Effekt eines lebendigen Hin- und Herspringens der Gewölbefigur. 239
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An der Ostseite des Mittelschiffs erhebt sich der zweigeschossige Chor. Der untere Chor ist zwar eine Rekonstruktion von 1862/64, gibt jedoch den ursprünglichen mittelalterlichen Zustand wieder. Die Unterkapelle, in der täglich eine Messe für die Verstorbenen gehalten wurde25, diente als Begräbnisort und Gedenkstätte für die pomesanischen Bischöfe und Domherren. Auch die drei in Marienwerder beigesetzten Hochmeister des Deutschen Ordens fanden hier ihre letzte Ruhestätte. Ihre Gräber wurden bei archäologischen Untersuchungen 2007 wieder entdeckt26. Der untere Chor hatte demnach die Funktion einer Krypta, kann wegen seiner fast ebenerdigen Lage architektonisch wohl aber nicht als solche bezeichnet werden. Nachdem Dorothea von Montau 1394 in einer Klause neben dem Unterchor gestorben war, wurde sie zur Patronin der Unterkapelle erhoben. Auf dem Oberchor befand sich ursprünglich das Chorgestühl der Domherren. Die Verbindung zum Langhaus erfolgt durch zwei breite Treppen, die man von den Seitenschiffen aus betreten kann. Der Chor wird im westlichen Abschnitt von einem achtzackigen Sterngewölbe überfangen, dem zwei halbe Sterngewölbe folgen, die dem polygonalen Chorschluss angepasst sind. Das Vorbild für den Domchor bildete die 1344 vollendete Erweiterung der Marienburger Schlosskirche, denn dort findet man sowohl die Unterteilung in Ober- und Unterkirche als auch den Polygonalschluss und die Sterngewölbe. Das pomesanische Domkapitel27 Die Zahl der Angehörigen des Domkapitels schwankte während der 242 Jahre seines Bestehens erheblich und war abhängig von den finanziellen Einkünften des Kapitels. Während der wirtschaftlichen Blütezeit um 1400 erreichte das Kapitel mit 13 Domherren seinen Höchststand, in der durch Kriege und wirtschaftliche Krisen geprägten Epoche des 15. Jahrhunderts ging die Zahl jedoch bis auf fünf oder sechs Domherren zurück. Bischof Albert hatte verfügt, dass das Domkapitel in den Deutschen Orden inkorporiert werden sollte; demnach mussten alle Domherren Priesterbrüder des Deutschen Ordens sein und nach der Ordensregel leben. Daraus ergab sich eine Reihe von Rechten und Pflichten: Die Domherren waren zur Ehelosigkeit, Besitzlosigkeit und zum Gehorsam (gegenüber dem Hochmeister) verpflichtet. Sie hatten gemeinschaftlich zu leben (vita communis) und Residenzpflicht, d. h. sie durften den Sitz des Kapitels nicht ohne Erlaubnis verlassen. Zu den geistlichen Pflichten gehörte vor allem die Durchführung der kanonischen Stundengebete: Zu sieben festgelegten Tageszeiten versammelten sich die Domherren zum gemeinsamen Gebet im Chor. Außerdem hatten sie Messe zu halten und die Sakramente zu spenden. Die wichtigsten Rechte der Domherren waren ein Anteil am Kapitelsvermögen, ein Platz im Chor und das Stimmrecht in der Kapitelsversammlung. Das wichtigste Entscheidungsrecht des Domkapitels war die Wahl eines neuen Bischofs. Bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts wurden die pomesanischen Bischöfe aus dem Kreis der Domherren gewählt. Das Domkapitel übte die geistliche und weltliche Herrschaft aus. Um die dabei anfallenden Aufgaben zu erfüllen, wurden verschiedene Ämter28 geschaffen, die man durch jährlich stattfindende Wahlen besetzte. Das wichtigste Amt 240
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war das des Propstes, der die allgemeine Aufsicht über die Kanoniker sowie alle sonstigen Geistlichen der Domkirche ausübte und das Kapitel nach außen vertrat. Der Propst nahm innerhalb der Gruppe der Domherren eine Sonderstellung ein, da er schon Mitte des 14. Jahrhunderts außerhalb der Burg lebte und im Bereich des Domgeländes über ein eigenes Haus verfügte. Ab etwa 1380 ließ sich der Propst eine eigene große Burg in Schönberg/Szymbark (im Osten des Stiftsgebietes) errichten und war somit räumlich weit vom Domkapitel entfernt. Das zweithöchste Amt nahm der Dekan ein, dem die Leitung der inneren Angelegenheiten des Konvents oblag und der die Disziplinargewalt über die Kanoniker und Domgeistlichen innehatte. Die Bedeutung des Dekanamts in Marienwerder stieg beträchtlich an, seitdem der Probst am Ende des 14. Jahrhunderts in Schönberg residierte. An dritter Stelle in der Ämterreihe stand der Kustos (custos). Dessen Aufgabe war die Verwaltung und Instandhaltung des Kircheninventars sowie aller für den Gottesdienst benötigten Geräte. Vermutlich leitete er auch die Kanzlei des Domkapitels. Ein weiteres Amt versah der Scholaster (scolasticus), der die Aufsicht über die Domschule ausübte. Der Kantor (cantor) war für die Leitung des Chorgesangs und die Orgelmusik zuständig. Das letzte wichtige Amt war das des Dompfarrers für die Betreuung der Stadtgemeinde. Die Domherren waren überwiegend bürgerlicher Herkunft und stammten größtenteils aus den pomesanischen Städten und den angrenzenden Gebieten des Ordensstaats29. Nur ein Teil der Kanoniker hatte studiert, wobei die bevorzugten Studienorte Prag und (nach 1409) Leipzig gewesen sind. Einer der bekanntesten gelehrten Domherren war Johannes von Marienwerder (1343 bis 1417), ein Sohn der Stadt. Er machte zunächst als Professor der Theologie an der Universität in Prag Karriere und kehrte 1386 in seine Heimatstadt zurück, um eine Domherrenstelle anzunehmen. Bekannt wurde Johannes vor allem als Beichtvater Dorotheas von Montau. Die Mehrheit der pomesanischen Domherren verfügte, insbesondere im 15. Jahrhundert, nur über eine einfache geistliche Ausbildung. Die Einkünfte aus den Dompfründen waren nicht hoch genug, um für eine größere Zahl hochgelehrter oder adliger Bewerber attraktiv zu sein. Weitere Bewohner der Burg
In der Kapitelsburg wohnten nicht nur die Domherren, sondern wohnte auch eine größere Zahl geistlicher und weltlicher Personen. Ein Teil des Personals wird in der Vorburg gelebt haben, doch fehlen uns zu dieser Frage zuverlässige Schriftquellen. Neben den Domherren gab es auf der Burg auch eine Reihe von Hilfsgeistlichen, die für Verwaltungs- oder Schreibaufgaben eingesetzt wurden. Hinzu kamen ein Kaplan und verschiedene Vikare, die im Dom ihren Dienst versahen. Die Schüler wurden auf den Priesterberuf vorbereitet und gestalteten den Gottesdienst durch ihren Chorgesang. Jedem Domherrn war ein Schüler als Diener und ‚Lehrling’ zugeteilt, wobei es eine Vorschrift gab, nachdem die Schüler nicht in der Kammer des Domherrn schlafen durften. Die wichtigsten nichtgeistlichen Bewohner der Burg waren Deutschordensritter, die im Dienst des Domkapitels standen30. Die Ritter bildeten in Marienwerder einen eigenen Konvent und übernahmen zahlreiche weltliche VerwalBurg und Kirche
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tungsaufgaben für das Kapitel. Das wichtigste Amt war hierbei das des Kapitelvogts, der die höchste Gerichtsbarkeit ausübte und für die militärischen Angelegenheiten verantwortlich war, denn diese Funktionen durften die Domherren als Geistliche selbst nicht ausüben. Für andere Deutschordensritter sind noch folgende weltliche Ämter überliefert: Karwansherr31, Küchenmeister, Schmiedemeister, Pfleger, Maurer- und Zimmermannsmeister. Der Begriff „Meister“ meint in diesem Zusammenhang nicht einen Handwerker, sondern das Amt einer Aufsichtsperson über den jeweiligen Tätigkeitsbereich. An weiterem weltlichem Dienstpersonal sind in den Quellen genannt: mehrere Diener, ein Maurer und ein Ziegelbrenner. Als einzige weibliche Bedienstete wird 1404 die Verwalterin des Viehhofes erwähnt. Auch wenn über das sonstige Personal keine Quellen existieren, darf man aufgrund vergleichbarer Burgen davon ausgehen, dass eine Reihe weiterer Bediensteter auf der Burg beschäftigt war, etwa ein Koch und Küchenjungen, ein Keller mit Gehilfen, Stall- und Pferdeknechte, Bäcker und Bierbrauer sowie Tor- und Turmwächter. Schlussbetrachtung
Die Kapitelsburg in Marienwerder zählt zu den großartigsten gotischen Bauwerken im mittelalterlichen Preußenland. Sie
verkörpert den zur Vollendung gebrachten Idealtyp der Konventsburg nach dem Vorbild der Deutschordensarchitektur, ist imposant in das Terrain der Landschaft eingefügt und bildet durch den Verbund mit dem Dom eine einmalige bauliche Symbiose. Die Größe und Perfektion des Baues erscheint erstaunlich angesichts des relativ kleinen Besitzund Herrschaftsbereichs des pomesanischen Domkapitels. Als eine von neun Landesherrschaften im mittelalterlichen Preußen wollte sich das Domstift mit den Mitteln der Architektur auf Augenhöhe zu dem ihm eng verbundenen Orden stellen. Dabei gelang es den Domherren sogar, die Bauweise der Konventsburgen des Deutschen Ordens zu übertreffen – nicht an Größe, aber an architektonischem Reichtum. Aus typologischer Sicht war die Residenz des pomesanischen Domkapitels ein Bau der Superlative – Derartiges hatte keine andere Burg zu bieten. Mit der Integration von Burg und Kathedrale zu einem Komplex wurde diese Architektursymbolik in der Mitte des 14. Jahrhunderts konsequent weitergeführt. Die spezifische Situation der preußischen Domkapitel im Macht- und Beziehungsgeflecht des Ordenslandes kam hierdurch klar und anschaulich zum Ausdruck. Im Vergleich der vier preußischen Bistümer hatte Pomesanien damit die perfekteste und am konsequentesten durchdachte architektonische Lösung gefunden.
Anmerkungen
Alle Abbildungen stammen – soweit nicht anders angegeben – vom Verfasser. Peter von Dusburg, Chronik des Preussenlandes, Darmstadt 1984, S. 110–113. 2 Zur Geschichte des Bistums Pomesanien vgl. Erwin Gatz (Hrsg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches, 1198 bis 1448, Berlin 2001, S. 823 f., sowie Mario Glauert, Das Domkapitel von Pomesanien (1284-1527), Thorn 2003. 3 Preußisches Urkundenbuch, Bd. 1, Erste Hälfte, hrsg. von Philippi, Königsberg 1882, Nr. 301. 4 Die Ergebnisse der archäologischen Untersuchung der Burgstelle finden sich bei Waldemar Heym, Das „Altschlößchen“ in Marienwerder. In: Zeitschrift des historischen Vereins für den Regierungsbezirk Marienwerder 69, 1933, S. 3–28. 5 Grundlegende Literatur zur Kapitelsburg: Rudolf Bergau, Schloß und Dom zu Marienwerder. Versuch einer kritisch-historischen Erläuterung. In: Zeitschrift für preußische Geschichte und Landeskunde, Berlin 1865, S. 605–630; Max Toeppen, Geschichte der Stadt Marienwerder und ihrer Kunstbauten, Marienwerder 1875, S. 160–190; H. Hermann/G. Reichert, Schloss und Domkirche zu Marienwerder, Berlin 1878; Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Westpreußen. Pomesanien. Kreis Marienwerder östlich der Weichsel (bearb. von J. Heise), Danzig 1898, S. 41–57; Karl Heinz Clasen, Marienburg und Marienwerder, Berlin 1931; Bernhard Schmid, Die Domburg Marienwerder, Elbing 1938, S. 11–16; ders., Marienwerder, Berlin 1944, S. 3; Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Deutschordensland (bearb. von E. 1
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Gall), München/Berlin 1952, S. 104; A. Lemański, Panorama z 1627 roku zespołu zamkowo-katedralnego w Kwidzynie (Eine Ansicht des Burg- und Domkomplexes von Marienwerder 1627). In: Gdańskie Zeszyty Humanistyczne. Seria Pomorzoznawcza 12, 1969, Nr. 18, S. 113–116; Bohdan Guerquin, Zamki w Polsce (Burgen in Polen), Warszawa 1974, S. 174; Liliana Krantz/Jerzy Domasłowski, Katedra i zamek w Kwidzynie (Dom und Burg in Marienwerder), Warszawa 1982, S. 14–26; Mieczysław Haftka, Zamek w Kwidzynie (Die Burg in Marienwerder), Malbork 1983; Friedrich Borchert, Burgenland Preußen, München/Wien 1987, S. 23–30; Liliana Krantz-Domasłowska, Katedra i zamek w Kwidzynie jako założenie obronne (Dom und Burg in Marienwerder als Verteidigungsanlage). In: Folia Fromborcensia 1, 1992, S. 24–28; Dehio-Handbuch der Kunstdenkmäler West- und Ostpreußen (bearb. von M. Antoni), München 1993, S. 400–402; Marian Arszyński/Teresa Mroczko (Hrsg.), Architektura gotycka w Polsce (Gotische Architektur in Polen), Bd. 2, Warszawa 1995, S. 133 f.; Liliana Krantz-Domasłowska, Katedra w Kwidzynie, Toruń 1999; Leszek Kajzer/S. Kołodziejski/Jan Salm, Leksykon zamków w Polsce (Burgenlexikon in Polen), Warszawa 2002, S. 258–261; Glauert (wie Anm. 2), S. 104–110; Christofer Herrmann, Mittelalterliche Architektur im Preußenland, Petersberg 2007, S. 594–596. 6 Preußisches Urkundenbuch, Bd. 1, Zweite Hälfte, hrsg. von A. Seraphim, Königsberg 1909, Nr. 481.
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Vgl. Glauert, Domkapitel (wie Anm. 2), S. 105. Preußisches Urkundenbuch, 3. Bd., 2. Lfg. (1342-1345), hrsg. von H. Koeppen, Marburg 1958, Nr. 497. 9 Artur Dobry, Die Restaurierungsarbeiten an Dom und Schloß von Marienwerder im 19. Jahrhundert. In: Unsere ermländische Heimat 43, 1997, I–III. 10 Glauert, Domkapitel (wie Anm. 2), S. 107 f. 11 Grundlegende Literatur zum Dom von Marienwerder: Bergau (wie Anm. 5); Rudolf Bergau, Die Dorotheenkapelle im Dom zu Marienwerder. In: Katholisches Kirchenblatt, N.F. 1, 1865, S. 81–85; Toeppen, Geschichte (wie Anm. 5), S. 210–235; Bau- und Kunstdenkmäler (wie Anm. 5), S. 58–78; W. D. Simpson/F. S. A. Scot, The cathedral and capitular castle of Marienwerder in Pomesania. In: Journal of the British Archaeological Association, Part I, Vol. XXXVI, Nottingham 1930, S. 1–32; Part II, Nottingham 1931, S. 189–228; Part III, Nottingham o. J., S. 47–74; Schmid, Domburg 1938 (wie Anm. 5); Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler (wie Anm. 5), S. 104 f.; Krantz-Domasłowska, Katedra 1992 (wie Anm. 5); Dehio-Handbuch der Kunstdenkmäler West- und Ostpreußen, S. 402 f.; Arszyński/Mroczko, Architektura gotycka (wie Anm. 5), S. 134 f.; Krantz-Domasłowska, Katedra w Kwidzynie 1999 (wie Anm. 5); Glauert, Domkapitel (wie Anm. 2), S. 81–88; Herrmann (wie Anm. 5), S. 592 f. 12 Preußisches Urkundenbuch 1/2 (wie Anm. 6), Nr. 481. 13 Codex Diplomaticus Warmiensis oder Regesten und Urkunden zur Geschichte Ermlands, Bd. 1 (1231-1340), Mainz 1860, Nr. 252. 14 Preußisches Urkundenbuch Bd. 3 (wie Anm. 8), Nr. 497. 15 Diese Auffassung wurde etwa vertreten in: Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Westpreußen (wie Anm. 5), S. 76, von Schmid, Domburg 1938 (wie Anm. 5), S. 6, Arszyński/Mroczko, Architektura gotycka 1995 (wie Anm. 5), S. 135. Die ältere Literatur (Bergau und Toeppen) hatte dagegen die Quelle von 1342 richtigerweise mit dem Baubeginn des Chors in Beziehung gesetzt. 16 Mündlicher Hinweis von Alexander Konieczny. Eine eingehende Publikation zu den Ergebnissen der dendrochronologischen Untersuchungen ist in Vorbereitung. 17 Der Wehrgang wurde 1677 abgebrochen (Toeppen, Geschichte [wie Anm. 5], S. 235). 7 8
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Grundlegende Literatur zu Dorothea von Montau: S. Rühle, Dorothea von Montau. In: Altpreußische Forschungen 1925 II, S. 59–101; Richard Stachnik, Die Akten des Kanonisationsprozesses Dorotheas von Montau von 1394 bis 1521, Köln/Wien 1978; Hans Westphal (Hrsg.), Vita Dorotheae Montoviensis magistri Johannis Marienwerder, Köln/Graz 1964. 19 Scriptores Rerum Prussicarum. Die Geschichtsquellen der preußischen Vorzeit bis zum Untergang der Ordensherrschaft, hrsg. von T. Hirsch/M. Toeppen/E. Strehlke, Bd. 4, Leipzig 1870, S. 685. 20 Sie blieben bis 1574 in Marienwerder (Toeppen, Geschichte [wie Anm. 5], S. 257 f.). 21 Ebd., S. 335 f. 22 Ebd., S. 15. 23 Ebd., S. 260. 24 Bei dieser Visitation wurde auch bestimmt, dass die neue Schule aus Ziegeln oder Steinen zu erbauen sei, die man vom alten Schloss holen sollte (ebd., S. 146). 25 Bischof Johannes ließ 1389 einen neuen Altar für diese Messen errichten (Urkundenbuch des Bisthums Culm [1243-1774], hrsg. von E. Woelky, Danzig 1885-1887, Nr. 384). 26 Die Ergebnisse der archäologischen Untersuchungen sind publiziert bei Małgorzata Grupa/Tomasz Kozłowski (Hrsg.), Katedra w Kwidzynie – tajemnica krypt (Dom in Marienwerder – Geheimnis der Krypta), Kwidzyn 2009. 27 Zur Geschichte des Domkapitels vgl. Glauert, Domkapitel (wie Anm. 2), dort auch ein vollständiges Verzeichnis der älteren Literatur. 28 Eine ausführliche Beschreibung der Ämter gibt ders., ebd., S. 238–272. 29 Ebd., S. 273–294. 30 Ebd., S. 314 f. 31 Der Karwansherr hatte den Karwan, d. h. die Gebäude unter sich, in denen in Friedenszeiten Feldgeschütze und Büchsen aufbewahrt wurden – eine Art Zeughaus. Außerdem war er Aufseher des Schirrhauses, des Holzhofs und -vorrats des Hauses (meist auch all dessen, was zur Ackerwirtschaft gehörte). 18
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