Originalarbeiten Forum Psychoanal 2008 · 24:341–349 DOI 10.1007/s00451-008-0364-y © Springer Medizin Verlag GmbH 2008
Rainer Krause · Saarbrücken
Die Nazizeit als „chosen trauma“ Über die Ambivalenz der Erinnerungsarbeit in den Medien * Exzessive Erinnerungsarbeit als vermeintlicher Medienauftrag Die erste Fassung dieser Überlegungen habe ich 2005 auf einer Tagung der evangelischen Akademie, Bad Boll, vorgetragen. Das Rahmenthema war: „Angstmacher Medien? Gewalt als Information“ (Krause 2005). In eben diesem Jahr 2005 jährte sich die Befreiung der Deutschen von ihrer teilweise selbst gewählten hoch kriminellen Führungsgarnitur zum 50. Mal, was ja gleichzeitig die umfassendste Niederlage unseres Volkes bedeutete, nicht nur in Termini der Menschenopfer, des Kultur- und Gebietsverlustes, sondern auch durch eine notwendig gewordene Neudefinition deutscher Identität, eines Volkes, das andere unter Aufbietung von ungeheuren Ressourcen von sich selbst befreien mussten. Unser Trauma ist vor diesem Hintergrund auch unser Verbrechen. Von diesem Zeitpunkt an, also der Befreiung/Niederlage wurde die Geschichte unseres Volkes prismatisch durch diese 12-Jahres-Linse gebrochen. Alles, was vorher war, wird als möglicher Vorbote des Dritten Reiches und alles, was jetzt ist, als möglicher Indikator für die Wiederkehr des Gleichen interpretiert und abgeklopft. Vor diesem Hintergrund hat der Führer doch ein 1000-jäh* Überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten anlässlich der DPG-Jahrestagung „Psychoanalyse in Zeiten der Globalisierung. Struktur und Identität im Wandel“, 22.–25. 05. 2008 in München.
riges Reich erstellt, und man wird, so wie man heute noch von den Hunnen spricht, in 1000 Jahren noch von den deutschen Nazis sprechen (Beland 2008). Die Notwendigkeit zur Neudefinition deutscher Identität wurde von den Verantwortlichen als dringend gesehen, weil „deutsch sein“ als identitätsstiftendes Merkmal sich als ein gefährliches hoch pathologisches Gebilde erwiesen habe. Vor diesem Hintergrund hatten die zahllosen Sendungen und Dokumentationen des Jubiläumsjahres 2005 über den Krieg, die Vernichtung der Juden und anderer Volksgruppen auch einen pädagogischen Impetus. Auf sie hatte ich mich in meinem Bad-Boll-Vortrag bezogen. Mir wollten viele der Fernseh- und Medienberichte als hoch ritualisierte, symbolisch kodierte Schnitte, die immer die gleichen Bilder zeigen, imponieren, die über die Ikonographie des Schreckens hinaus wenig kognitiven und emotionalen Impetus erkennen ließen. Man fand sie auf allen Kanälen. Ich habe sie, wie viele meiner Zeit- und Altersgenossen, alle im Kopf.
Psychologische Rechtfertigung des Exzesses Die fortlaufende Bebilderung verhindert die Verdrängung und dadurch den Zwang zur Wiederholung Die pädagogisch-psychologische Logik, die diese massenhafte Terrorikonographie befeuert und die sich angeblich auf die Forum der Psychoanalyse 4 · 2008
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Originalarbeiten Psychoanalyse stützt, geht so: Alles dies muss stets gezeigt werden, weil, wenn man dies nicht tut, der Komplex verdrängt und eben deshalb wiederholt wird. Im Jahr 1998 hatte Martin Walser den Sinn einer solchen Vorgehensweise bezweifelt, was ihm von vielen, die sich für unsere Handhabung verantwortlich fühlen, sehr übel genommen wurde. Die zentrale, das Unheil auslösende Passage seiner Paulskirchenrede war: „Manchmal, wenn ich nirgends mehr hinschauen kann, ohne von einer Beschuldigung attackiert zu werden, muss ich mir zu meiner Entlastung einreden, in den Medien sei auch eine Routine des Beschuldigens entstanden. Von den schlimmsten Filmsequenzen aus Konzentrationslagern habe ich bestimmt schon zwanzigmal weggeschaut. . . . Wenn ich merke, dass sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhören und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, dass öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung“ (Walser 1998). Im Jahr 2005 wurde das Mahnmal des Architekten Eisenmann für die ermordeten Juden Europas in Form eines Stelenfeldes in Berlin eingeweiht. Diese Art der Denkmalskultur setzte sich nach sehr langen Auseinandersetzungen explizit mit der Begründung durch, dass Ausmaß und Maßstab des Holocaust jeden Versuch, ihn mit traditionellen Mitteln zu repräsentieren, unweigerlich zu einem aussichtslosen Unterfangen machen würden. Man könne die Vergangenheit nur durch eine Manifestation in der Gegenwart verstehen. Das Mahnmal versuche dies, indem die 2711 Stelen an Grabsteine erinnern und neben vielem anderen durch die kaum merkliche Neigung der Pfeiler und den scheinbar schwankenden Boden ein „Gefühl der Verunsicherung“ erzeugen (Quack 2002). Dass diese Manifestation in der Gegenwart ge-
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lungen ist, wird von einigen Autoren angezweifelt (Mittig 2005). Ich will mich nicht direkt zu den Kontroversen äußern, sondern zuerst die Haltbarkeit der vermeintlichen psychoanalytischen Lehrsätze untersuchen.
Das Verhältnis von Verdrängung und Verleugnung oder wie wird ein Trauma unbewusst? Die Behauptung, dass Traumata bzw. Verbrechen, die nicht fortlaufend im kollektiven Gedächtnis reverberiert werden, der Verdrängung verfallen würden, ist zumindest korrekturbedürftig. Sie gilt nur für unbewusste neurotische Konflikte, nicht aber für traumatische Ereignisse, deren zentrales Merkmal die Unmöglichkeit sie zu vergessen ist. Das wird als ein konstitutives Merkmal einer traumatischen Neurose angesehen: „Zusätzlich zu dem Trauma muss eine wiederholte unausweichliche Erinnerung oder Wiederinszenierung des Ereignisses in Gedächtnis, Tagträumen oder Träumen auftreten“ (Weltgesundheitsorganisation 2008, S. 184). Wenn aus ihr eine Psychoneurose mit einem dahinterliegenden unbewussten Konflikt werden soll, muss das Geschehen vorher verleugnet werden. Freud hat drei Phasen der Verdrängung beschrieben, nämlich, erstens eine Urverdrängung, die darin besteht, dass der psychischen (Vorstellungs-)Repräsentanz die Übernahme ins Bewusste versagt wird. In einer zweiten Stufe werden psychische Abkömmlinge der verdrängten Repräsentanz, die in assoziative Beziehung zu ihr geraten sind, verdrängt – diese Stufe nennt er die „eigentliche Verdrängung“. Die dritte Stufe sei die Wiederkehr des Verdrängten in Form unbewusster Vorgänge, die nun zur Wiederholung führen. Die Stufe 2 setzt aber die Stufe 1 voraus. Der zentrale Mechanismus der Urverdrängung ist die Verleugnung (Freud 1915). Die setzt aber im Allgemeinen äußere Machtmittel voraus. Das können die Eltern sein, oder die politischen Machthaber. Der beste Prädiktor für eine vollständige Amnesie bei
Zusammenfassung · Abstract Forum Psychoanal 2008 · 24:341–349 DOI 10.1007/s00451-008-0364-y © Springer Medizin Verlag GmbH 2008
Rainer Krause
Die Nazizeit als „chosen trauma“ – Über die Ambivalenz der Erinnerungsarbeit in den Medien Zusammenfassung
Aufgrund der medialen Aufarbeitung des Kriegsendes 1945 im Jahr 2005 wird die implizite Rechtfertigung der exzessiven Ikonographie der Gewalt, man verhindere so die Verdrängung und die Wiederholung, hinterfragt. Anhand des Verhältnisses von Verleugnung und Verdrängung als Abwehrformationen, die aufeinander angewiesen sind, wird dargestellt, dass die exzessive Gewaltikonographie einen instrumentellen Zugriff
auf die Identitätsdefinition der Großgruppe „Deutsche“ erlaubte. In Anlehnung an Volkans Modell des „gewählten Traumas“ als eines der Identitätsmerkmale von Großgruppen wird aufgezeigt, welche sozialen Gruppierungen von diesem Prozess ferngehalten werden und welche Identitätsmerkmale im Sinne von Tugenden der Großgruppe damit verloren gehen.
The Nazi period as “chosen trauma” – The ambivalence of remembering in the media Abstract
Due to the media presentation in 2005 of the end of the war in 1945, the implicit justification of the excessive iconography of violence, claimed to be necessary to prevent repression and repetition, is questioned. On the basis of the relationship between repression and denial as two defence mechanisms which are dependent on each other, it is shown that the excessive violence
iconography allowed an instrumental access to the identity definition of the large group of “Germans”. Pursuant to Volkan‘s model of the “chosen trauma” as one of the identity characteristics of large groups, it is demonstrated which social groups are kept distant from this process and which identity characteristics in the sense of virtues of the large group are thereby being lost.
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Originalarbeiten sexuellem Missbrauch ist der häufige Vollzug desselben durch nahe Angehörige. Die verleugnen aber immer und zwar nach zwei Seiten: dem Kind gegenüber, indem sie die Taten als Wohltat deklarieren, und der Öffentlichkeit gegenüber, dass sie nicht geschehen seien. Dies geht über die Entdeckung und die Verurteilung hinaus. Diese Verleugnung ist die Voraussetzung für die vollständige Amnesie häufig beider Teile. Solche sind nicht eben selten. In der einzig soliden prospektiven Studie findet man nach 17 Jahren eine 30%ige Amnesierate nach einem dokumentierten Trauma, aber eben immer nur nach einer vorausgehenden Verleugnung durch die Umgebung (Meyer 1994). Hier in unserem Land ist die Verleugnung des verbrecherischen Traumas ein Straftatbestand, und wenn sie angesichts der medialen und der historischen Datenlage tatsächlich vollzogen wird, landen die Personen eben deshalb im Bereich einer Realitätsstörung. Wir fassen zusammen: Grundlage des Wiederholungszwangs ist die Verleugnung. Dass sie unter Strafe steht, ist deshalb dringend nötig. Das fortlaufende Zeigen der Ikonographie des verbrecherischen Traumas ist für solche Verleugner nicht hilfreich, man kann sie dadurch in keiner Weise bewegen bzw. überzeugen, sie aufzugeben. Für die Nichtverleugner, wie der Bundestagsbeschluss für die Einweihung des Denkmals in Berlin gezeigt hat, brauchen wir eine andere Erinnerungskultur, die den Opfern und deren Kindern sowie den Kindern der Täter gerecht wird.
Instrumentalisierte Erinnerungskultur Wenn es denn so wäre, dass ein Übermaß an ikonographischen Zitationen des verbrecherischen Traumas neben den wohlmeinend pädagogischen Gründen auch ganz andere hätte, wie dies Walser in seiner Rede ebenfalls andeutet, wäre die nächste Frage, ob man dafür auch einen psychoanalytischen Zeugen finden könnte. Bei Walser stellte sich angesichts der mas-
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siven Anklagen der „Großdenker“ gegen ihre Landsleute – es ging um den Vorwurf eines Journalisten der FAZ, die Rostocker Bevölkerung hätte vor den brennenden Asylantenheimen Würstchenbuden aufstellen lassen, damit sie beim Schauspiel keinen Hunger leiden müsste – eine unbeweisbare Ahnung ein: „Die, die mit solchen Sätzen auftreten, wollen uns wehtun, weil sie finden, wir haben das verdient. Wahrscheinlich wollen sie auch sich selber verletzen. Aber uns auch. Alle. Eine Einschränkung: alle Deutschen. Denn das ist schon klar: In keiner anderen Sprache könnte im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts so von einem Volk, von einer Bevölkerung, einer Gesellschaft gesprochen werden. Das kann man nur von Deutschen sagen. Allenfalls noch, soweit ich sehe, von Österreichern“. Im Umfeld der durch Walsers „Großdenker“ geschaffenen Identitätsdefinition sollen noch einige außergewöhnliche Merkmale erwähnt werden. In unserer politischen, aber auch gesellschaftlichen Landschaft kann man fast alles machen: bestechen, sich bestechen lassen, Versprechungen abgeben, die man nie hält, Konkurse betrügerischer Art veranstalten, Abzocken und Entlassen etc. All dies hindert wenig an der Wahrnehmung der sonstigen beruflichen Aktivitäten, sei es in der Politik, der Wirtschaft und der akademischen Welt. Aber wenn man in Bezug auf das Trauma, speziell den Holocaust nicht den „richtigen“ Ton trifft, ist man politisch tot. Ich erinnere an Phillip Jenningers Bundestagsrede von 1988 (Jenninger 1988), Öttingers Trauerrede für den ehemaligen Ministerpräsidenten und Marinerichter Filbinger. Die Folgen von Walsers Paulskirchenrede sind bereits erwähnt worden. Beim heutigen Wiederlesen der Texte und der Reaktion darauf gewinnt man den Eindruck, es handele sich tatsächlich um einen Kampf um die Definitionshoheit darüber, was eine zukünftige deutsche Identität ausmachen darf. Um diesen Kampf besser zu verstehen, habe ich mich auf Volkans Werk über den
Aufbau der Identität von Großgruppen (Volkan 2005) gestützt.
Das Modell des gewählten Traumas als Identitätsmerkmal Laut Volkan (2005) wird das unterste entwicklungspsychologische Fundament durch Identifikationen mit den hautnahen religiösen, ethnischen, nationalen Attributen der Gruppe, die sie als wesentlich betrachtet, gelegt. Sie sind der Grundbestand für den Aufbau einer Gruppenidentität. Da geht es um Gerüche, Textilien, Bewegungsund Motorikmuster, Musik und Lieder. Das Kind übernimmt die offenen und die verdeckten Aspekte der gleichen Gruppenmitglieder, ihrer Kultureinstellung und Werte über die Identifikation mit den Personen, die es groß ziehen. Diese identifikatorischen Attribute regeln implizit die Beziehung bis hin zur Länge des Blickkontaktes, wer wen anschauen, anfassen darf. Über die identitätsstiftende Funktion von Kopfbedeckungen haben wir viel gelesen und gehört. Schließlich wird in späteren Zeiten die bewusste, aber auch die unbewusste innere Welt der Führer der eigenen Gruppen absorbiert und damit zu einem wichtigen Identitätsmerkmal. Charismatische Führer wie Gandhi, Nelson Mandela, aber auch Hitler und Osama bin Laden haben wesentliche Teile der Identitätsdefinition von Großgruppen neu gestaltet. Das kann nur erfolgreich geschehen, wenn sie an das ohnehin vorhandene Arsenal an unbewussten Phantasmen der Gruppen andocken und dieselben umgestalten. Dies kann im Allgemeinen nur in Zeiten von Kollektivregressionen geschehen. Transformierend wirkende oder charismatische Führer spiegeln in ihren öffentlichen Ämtern, im Auftreten, in den Reden, die sie halten, in ihren erklärten Vorlieben und Abneigungen und sogar in der Art, wie sie sich kleiden, die Gefühle der Gruppe wider. In Verbindung mit der Externalisierung und Projektion von Aspekten ihrer seelischen Beschaffenheit beeinflussen diese Elemente
die Anhänger, lassen neue politische Ideologien entstehen und schaffen die sie tragenden Gefühlswelten. Solche Neudefinitionen können vorwiegend destruktiv oder reparativ sein. Schließlich – darauf wollte ich in dieser Arbeit abheben – spielen ausgewählte Siege, Triumphe und Ruhmestaten einerseits sowie Traumata andererseits für die Gruppenidentität eine wesentliche Rolle. Die beiden müssen nicht notwendigerweise militärisch definiert sein, es kann sich auch um kulturelle, zivilisatorische Triumphe oder Traumata handeln. Beide spielen eine bis anhin unerkannt sehr wichtige Rolle bei der Festlegung der Identität jeder großen Gruppe und der Verbindung der Gruppe zu ihrer Vergangenheit – ob als wirklichkeitsgetreue Erinnerung oder in einer durch Wünsche, Fantasien und psychische Abwehrmechanismen modifizierten Form. Großgruppen halten oft an psychischen Repräsentationen von Ereignissen fest, die ein Gefühl des Triumphes beinhalten, das allen Gruppenmitgliedern gemeinsam ist. Mit den gewählten Traumata ist es etwas schwieriger. Sie werden mehr oder weniger klandestin weitertradiert nach dem Motto: nie davon sprechen, aber immer daran denken. Das Trauma wird nur unter sehr spezifischen Randbedingungen der Gruppe handlungsrelevant. Volkan (2005) legt folgendes Schema für die Reaktivierung von identitätsrelevanten gewählten Traumata nahe: 1. Es gibt ein gewähltes (heimliches) Trauma. Für die Deutschnationalen nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg ist es die militärische Niederlage, die verleugnet wird. Sie sind im Feld ungeschlagen, sie wurde von Verbrechern in der Heimat verursacht. Es handelt sich um einen Fall von Geschwistermord – die eben erst assimilierten deutschen Juden haben die wirklichen Deutschen verraten. 2. Diese Lesart wird transgenerational affektiv weiter vermittelt. Die überlebenden Frontsoldaten und deren Kinder müssen die Ehre der Toten wiederherstellen. Forum der Psychoanalyse 4 · 2008
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Originalarbeiten 3. In Zeiten hoher sozialer und militärischer Spannung verändert das Narrativ über das Trauma seine Funktion. Die Weltwirtschaftskrise mit dem Kollaps der Arbeitswelt führt zu einer kollektiven Regression. Wer Geld und Besitz hat, ist ein Wiedergänger der jüdischen Brudermörder. Sind sie arm, ist es die Nasenform. 4. Die ethnischen, nationalen oder religiösen Attribute werden als essenziell für die Gruppenidentität definiert. Arisch sein ist das psychologische Gen der Großgruppe. Das ist aber eigentlich nur negativ definierbar – nämlich als nichtjüdisch bis in die Urgroßelterngeneration. Da die Gruppenregression nur dichotome Entscheide zulässt – gut/nicht gut – wird auf die Wahrnehmungsmerkmale der Kinderwelt zurückgegriffen. Sie funktionieren in den Momenten der Gruppenregression ausreichend schnell. 5. Einführung einer Führer geführten Interaktion, die diesem Muster folgt. Der Führer zeigt, wie man die Unterscheidung schnell und effizient treffen kann und was dann zu tun ist. 6. Es gibt einen politisch in Gang gesetzten Zeitkollaps. Die Novemberverbrecher sind kurz davor, die Heilsgeschichte zu unterbrechen. Sie zünden zu diesem Zweck angeblich den Reichstag an. 7. Anspruch auf Rache oder erneute Opferung. Jetzt ist es Zeit für die Wiedergutmachung – die Geschichte des Traumas wird im Hier und Jetzt umgeschrieben, aber nun mit vertauschten Rollen. Die vermeintlichen ehemaligen Opfer sind nun die Engel der erlösenden Gerechtigkeit. 8. Vergrößerung des gegenwärtigen Großgruppenkonfliktes. Er wird galaktisch kosmisch. Es geht um den Untergang bzw. die Rettung der Welt. 9. Irrationale Entscheidungen. Offen verrückte Entscheidungen: Hitler erklärt Russland und Amerika den Krieg. 10. Mobilisierung von Großgruppenaktivitäten (Goebbels: Nun, Volk steh auf und Sturm brich los). Kollektive Morde jenseits jeden Kriegsrechts werden als Heil bringend erklärt.
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Das Analyseschema hat sich in vielen Konflikten bewährt. Mit ihm möchte ich auf den Kampf um die Definitionshoheit für die deutsche Identität zurückkommen.
Das deutsche Identitätsreservoir Das deutsche gemeinsame Reservoir an frühkindlichen identitätsstiftenden Attributen, die mit positiven Emotionen verbunden sind, ist nur noch einigermaßen intakt, wenn es um lokale Essensvorlieben geht, aber gemessen an anderen Großgruppen ist bereits dieses System, das man am ehesten noch mit der „Heimat“, nicht mit der Großgruppe verbinden kann, recht löchrig. Lieder werden gar nicht mehr gesungen, wenn überhaupt im Dialekt und im Allgemeinen mit niedrigem narrativen Niveau. Gedichte und Balladen, die die gemeinsame Geschichte abbilden könnten, sind verschwunden. Der Umgang mit der deutschen Sprache in den Schulen und Medien ist lieblos. Gemeinsame gute Identifikationen sind wenig entwickelt. Die Möglichkeit der Externalisierung von schlechten Qualitäten über die Projektion auf andere ist uns gewissermaßen von Gerichts wegen verwehrt, weil wir damit bereits Exzess betrieben haben. Es ist also niemand erkennbar, kein Jude, kein Franzose, kein Amerikaner, der offiziell bereit wäre, die projizierten schlechten Qualitäten zu übernehmen. Am ehesten kommen da noch die Amerikaner infrage, angesichts deren Größenwahns dieses urdeutsche Identitätsmerkmal zu einer quantité négligable zu schrumpfen scheint. Die revolutionären Ideen unserer charismatischen Führer haben uns ziemlich in die Bredouille gebracht, sodass wir zumindest auf der bewussten Ebene einigermaßen allergisch gegen solche Vorstellungen geworden sind. Die gewählten Triumphe sind durch das gewählte Trauma, nämlich die Nazizeit, samt und sonders kompromittiert. Alle Triumphe und Siege werden zu Vorgängermerkmalen des gewählten Traumas. Bleibt uns also ein einziges gut aufgebautes Definitionsmerkmal, nämlich
das verbrecherische Trauma selbst. Wir bleiben angeblich ewig Hitlers Kinder. Diese Sichtweise gilt allerdings nicht für die anderen, die uns betrachten. Ich sage dies unter Rückgriff auf meine jahrzehntelange Auslandserfahrung und aktuelle internationale Untersuchungen beispielsweise der BBC, der zufolge wir im beliebtesten Staat der Welt wohnen und uns nahezu alle mögen und den deutschen Einfluss als positiv erachten (Reuters 2008).
Der Holocaust als gewähltes Trauma Nach innen, also in unser Volk hinein, ist diese Selbstdefinition als ewige Hitler-Kinder schwieriger zu handhaben. Fragen wir uns, wie es sein konnte, dass sie diese identitätsstiftende Funktion gewinnen konnten. Die deutsche Geschichte ist voller Traumata, vom Dreißigjährigen Krieg über den Ersten Weltkrieg zum Zweiten, um nur die „highlights“ zu nennen. Man könnte sich also mit Fug und Recht auch den Ersten Weltkrieg als das Definitionstrauma unserer Geschichte aussuchen. Tatsächlich haben ja Hitler und die Nationalsozialisten den Ersten Weltkrieg als Trauma ausgelesen, für sie war er ein „chosen“ Trauma. Er hat es mit vielen anderen Traumatisierten zusammen fälschlicherweise reinterpretiert, nämlich als unverlorenen Krieg, der in der Heimat durch Heimtücke verspielt worden sei. Aus dieser Fehldefinition heraus hat er in der Krisenzeit ab 1929 die oben beschriebene kollektive Regression mit dem Zeitkollaps bis ins Germanenreich hinein herbeigeführt, die den Rechtsanspruch auf Rache und Wiedergutmachung implizierte. Also man könnte mit Fug und Recht den Ersten Weltkrieg auch als definitorisches Gruppentrauma verstehen, zumal sich der Zweite Weltkrieg ohne den Ersten nicht konstituiert hätte. Dem ist aber nicht so.
Die Instrumentalisierung des gewählten Traumas Bei uns wurde der Holocaust als definitorisches Trauma etabliert. Das war wohl schon in der Idee der Reedukation angelegt, die ja die bis anhin grassierende Verleugnung tatsächlich durchbrechen musste. Diese Maßnahmen und viele andere bis hin zu den Verfassungsentwürfen waren getragen von dem Verdacht, wesentliche Merkmale aus dem Reservoir der deutschen Identifizierungen seien hoch gefährlich. Diese Haltung haben Teile der „Großdenker“, um in Walsers Terminologie zu bleiben, übernommen und sich deshalb die Hoheit des Diskurses über das identitätsstiftende Trauma und Verbrechen erkämpft. Es dürfen nur speziell geschulte Personen darüber reden. Die folgenden Gruppen dürfen nicht (offiziell) über das Trauma reden: die Rechten, die Antisemiten, die Stammtischbrüder und -schwestern und alle, die verdächtig sind, in der Nähe einer heftigen emotionalen Besetzung zu dieser Gruppe zu sein. Hierbei wird die Definition ganz diffus gehalten. Sind das die Neo- oder Altnazis, die Altfaschisten, Deutschnationalen oder die nationalen Linken, deren Führer mittlerweile von „Fremdarbeitern“ spricht? Eigentlich gibt es nur eine Gruppe, die darüber reden kann, ohne dass es sich wiederholt und ohne dass wir uns im Ausland wieder einmal unsterblich schämen müssen und das ist eine Gruppe von selbst ernannten Experten, die sich als Mediator zwischen den hochgefährlichen Deutschen und der zivilisierten Welt verstehen. Das waren die Antifaschisten in der ehemaligen DDR und sind jetzt die Normalisierungsgegner in der Berliner Republik, die einen habituellen Widerwillen gegen jede Art deutscher Selbstachtung und Liebe entwickeln. Wer wie ich den Diskurs der 68er von Beginn an miterlebte, konnte beobachten, dass die vermeintliche Hoheit den Diskurs über den Faschismus führen zu dürfen, ja zu müssen, gleichzeitig die Legitimation darstellte, rücksichtslos ganz Forum der Psychoanalyse 4 · 2008
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Originalarbeiten verrückte Ideen zu verfolgen. Eine Schlüsselfunktion in diesem Kampf hatte die Benennung der Elterngeneration als Täter, was ja über weite Strecken richtig war. In diesem Umfeld diente der Schachzug zur Selbstreinigung und damit zur Rechtfertigung einer Führungsposition als Lichtgestalt. Die jetzige Implosion der Linken hängt mit dem Offenbar-Werden dieser Selbsttäuschung zusammen. Eine ähnliche Einschätzung beschreibt Sloterdijk für die französischen Linken, deren Absturz in die Bedeutungslosigkeit er mit dem „Zusammenbruch des pseudometanoetischen Systems, mit dem sich die französische Linke falsche Siege und phantasmatische Souveränitäten auf dem Feld der Nachkriegsaffekte und Nachkriegsdiskurse zu schaffen gewusst hatte (Sloterdijk 2008, S. 44). Es ging bei der französischen Lüge im Wesentlichen darum, die Resistance hätte im Verein mit Stalin den Krieg gegen Hitler gewonnen. Jetzt bin ich wieder bei Martin Walsers Verdacht. Mit diesem diskursiven Drehbuch hatten es die Protagonisten ein Stück weit in der Hand zu definieren, was unsere Identität ausmacht. Um es in Kürze zusammenzufassen, ist die unbewusste Logik dieses Vorgehens wie folgt: Deutsch sein als identitätsstiftendes Merkmal ist ein gefährliches hoch pathologisches Gebilde, das man der Menschheit zuliebe und um dem Wiederholungszwang ein Schnippchen zu schlagen am besten auf schleichendem Wege abschafft bzw. in etwas anderes transformiert. Wir wissen noch nicht was, aber auf jeden Fall nicht deutsch. Da sind wir allerdings wieder bei dem Dilemma der regressiven Entdifferenzierung und dem Zeitkollaps, den ich oben beschrieben habe, gelandet. Was ist denn nun deutsch und was daran war so pathogen? Interessanterweise sind ausgerechnet die Gruppen mit den angeblich typisch deutschen Sekundärtugenden wie Disziplin, Pflicht, Bescheidenheit plötzlich sehr gefragt. Die „Soldaten“ und die „Polizisten“ genießen ein ganz hohes Ansehen, die Politiker das denkbar schlechteste. Paradoxerweise hatten auch ausgerechnet diese Gruppen kei-
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ne Schwierigkeiten im Umgang mit der Welt und den jeweils anderen Deutschen. Bei der Wiedervereinigung hatten sie kaum Schwierigkeiten gehabt, weil das eben Dienst ist. Paradoxerweise waren das auch die einzigen Gruppen, die eine echte Entnazifizierung durchgemacht haben. Die Gründungssoldaten von 1956 waren die best durchleuchtete Gruppe der ehemaligen Republik hinsichtlich der Nazivergangenheit. Ich habe einige von ihnen während meiner eigenen Militärzeit kennen gelernt und kann sagen, dass das ganz außergewöhnlich integere Personen waren. Von den Juristen, Ärzten, Intellektuellen, Akademikern konnte man das in dieser Generation wirklich nicht sagen. Von den Lehrern will ich gar nicht reden. Plötzlich sind wir also wieder auf die Sekundärtugenden verwiesen, die uns angeblich in dieses Trauma hineingezogen hatten. Dieses Postulat war natürlich immer eine Irreführung gewesen. Nicht Disziplin und Pflichterfüllung haben das Trauma herbeigeführt, sondern dass auch die Personen, die diese Tugenden vertreten und gerade deshalb dem Sog narzisstischer Größenfantasien hätten widerstehen müssen, sich nicht ausreichend gegen die Vereinnahmung durch die Verbrecher gewehrt haben. Es ist immerhin mehrfach versucht worden. Man darf gespannt sein, wie die Welt und die Deutschen auf den Grafen Schenk von Staufenberg alias Tom Cruise reagieren werden.
Exkurs Um nicht missverstanden zu werden, möchte ich hier noch einmal eindeutig klarstellen, dass ich die Verleugnung der Verbrechen für einen schweren Straftatbestand halte und mir ein zielstrebiges, klares und gerechtes Urteil unserer Gerichte wünsche. Ich beanspruche auch nicht zu wissen, wie man einen Diskurs über das gewählte Trauma führen muss. Wahrscheinlich muss sich jede Generation eine neue optimale Lösung erarbeiten, die die
Lücken der vorhergehenden zu schließen versucht. Im Moment bahnt sich immerhin die Möglichkeit eines trauernd liebevollen Zugriffs auf die eigenen Opfer, sei es der Vertreibung, des Bombenkrieges der Kulturschätze an (Kuwert et al. 2007; Radebold 2004). Das war offensichtlich bis vor Kurzem nicht möglich. Noch 2004 hatten deutsche Demonstranten in München anlässlich des Jahrestages der Bombardierung Dresdens Harris aufgefordert „to do it again“ (Sloterdijk 2008).
schen Praxis gilt es als Kunstfehler, einen unbewussten Suizid einfach hinzunehmen.
Anschrift Prof. Dr. phil. Rainer Krause
Klinische Psychologie und Psychotherapie Universität des Saarlandes Campus, Geb. A1.3 66123 Saarbrücken E-Mail:
[email protected]
Literatur Schlussbemerkung Sehr bewährt hat sich meines Erachtens das Unter-Strafe-Stellen der Verleugnung von historischen Tatsachen. Nur auf dieser Grundlage macht das Verbot der Verwendung von Symbolen der verbrecherischen Organisationen Sinn. Die „Erinnerungsarbeit“durch die Medien hat neben der aufklärenden informierenden eine dunkle unbewusste Kehrseite. Die vom offiziellen Diskurs ausgeschlossenen Gruppen benutzen die Bilder nicht zur Verhinderung der Wiederkehr des Verbrechens, sondern zur Erzeugung eines lustvollen „Flashbacks“. Die Darstellung des historischen Geschehens dient als Decktrauma für eigene Verletzungen. Diese Gruppe von Personen funktioniert von ihren seelischen Funktionen her wie „Selbstmordattentäter“ und zelebriert die Befreiung der Welt von den anderen und von sich. Wer sich mit ihrer Ikonographie einlässt, muss wissen, dass sie von einer Verherrlichung des Todes und der Zerstörung geprägt ist. Der Schlachtruf der spanischen Falangisten „Viva la muerte“ zelebriert den eigenen Tod ebenso wie den des anderen. Ich würde eine solche unbewusste Haltung nicht nur den Rechten vorbehalten. Sie ist, mehr oder weniger ausgeprägt, in den meisten von uns zu finden. Ich meine die Vernachlässigung unserer Kinder bzw. der gänzliche Verzicht auf sie, die organisierte Verluderung unserer Sprache und all der anderen oben erwähnten Identitätsmerkmale stellen eine blande Form eines solchen Gruppensuizids dar. In der klini-
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