Fedor Pellmann (München) DIE NATURAUFFASSUNG DES NOVALIS IN >DIE LEHRLINGE ZU SAISDie Lehrlinge zu Sais< einen Text vor, der einen nicht nur für damalige Verhältnisse ungewohnten Weg zum Wesen der Natur, sondern auch zu dem des Menschen aufzeigt. Dabei kann es nicht verwundern, dass er in der Forschung eine ebenso grundlegend gewandelte Einschätzung erfahren hat, die von geistesgeschichtlichen bis hin zu strukturalistisch geprägten Analysen geht. Jenseits der germanistischen Interpretation hat er wenig Aufmerksamkeit erhalten, wenngleich die Frühromantik als Ganzes sich prinzipiell eines großen Interesses erfreut. Dies hängt nicht zuletzt mit einer Neubewertung der Romantik zusammen, welche als Vorläufer einer ganzheitlich bzw. postmodernen orientierten Kritik an der Moderne gesehen wird. Im Allgemeinen ist dabei die Forschung von der prämodernen zur postmodernen Betrachtung der Romantik vorgedrungen, wobei aber die Aspekte Dichtung und Leben, d. h. Natur, nicht zusammen betrachtet werden. Gerade aber mit Novalis liegt ein Ansatz vor, der auf Grund bestimmter Bedingungen Dichtung und Leben als eine urtümliche Einheit setzt und damit dem modernen biologischen Verständnis nahekommt und dieses somit vorwegnimmt. Seit den 1970er Jahren haben Francisco Varela und Humberto Maturana beschrieben, wie sich Leben als selbst gestaltender autopoietischer Prozess entwickelt. 2 Die Genetik hat dieser Sichtweise seit den 1990er Jahren viel Wichtiges hinzugefügt. Von der Betrachtung der Phänotypen, also Objekte, losgelöst, gehen die Biologie und Physik zur Innensicht der Welt über. Der Entschlüsselung des genetischen Codes ist zuletzt die Entdeckung subatomarer Strukturen und die Kybernetik gefolgt. Novalis' Naturauffassung lässt sich vor diesem Hintergrund mittlerweile anders verstehen als noch Jahre zuvor im historischen und strukturalistischen Diskurs: Der Text und seine Protagonisten, >Die Lehrlinge zu Sais Konstruktionslehre des schaffenden Geistes< und ihre Tradition. Tübingen 1970. (= Gaier, Krumme Regel) 6 Molnar, Geza von: The Composition of the Novalis' »Die Lehrlinge zu Sais«. A Reevaluation. PMLA 85 (1971), S. 1002 - 1014. (= Molnar, Composition) 7 García Canelles, Ángela: Der Dialog in Novalis' Die Lehrlinge zu Sais, S. 148. Revista de Filología Alemana Bd. 8 (2000), S. 143 - 166. 8 Daiber, Jürgen: Experimentalphysik des Geistes. Novalis und das romantische Experiment. Göttingen 2011, S. 193f. (= Daiber, Experiment) 9 Bergengruen, Maximilian: Signatur, Hieroglyphe, Wechselrepräsentation. Zur Metaphysik der Schrift in Novalis' Lehrlingen, S. 52. Athenäum Bd. 14 (2004), S. 43 - 67. (= Bergengruen, Signatur) Anm.: Letzteres ist es laut
durchgehende Spiegelung der inhaltlichen Struktur mit dem Prinzip der romantischen progressiven Kombination schuldig. Viel zu wenige Interpreten wagen einen allgemeinen geistesgeschichtlichen Blick auf die unbewussten Verbindungen und Erkenntnisse des literarischen Textes, wie z. B. John Neubauer mit dem Gedanken der unendlichen Potenzreihe oder Franziska Bomski, indem sie philosophisch -ontologische Erkenntnisse einbeziehen. 10Insofern versteht sich nun diese Arbeit im Wesentlichen als der Versuch, dem nachzukommen. Es muss dem Text letztlich zugestanden werden, - in Anlehnung an den Topos der progressiven Universalpoesie - eine eigene, ihm innewohnende, Variation der inhaltlich-formalen Struktur zu entfalten, indem er sich selbst progressiv konstituiert. Im Grunde verschmelzen dabei die klassischen Literaturbegriffe von Struktur, Erzählinstanz und Inhalt und bilden ein stofflich-logisches zeitenloses Absolutes. Im Einzelnen kann also bei einer Neulektüre von >Die Lehrlinge zu Sais < nicht ausreichend sein, lediglich zuzuordnen, welchem Absatz welche Philosophie angehört, genauso wenig auch einmal gefasste Textstrukturen unnachgiebig zu verfolgen. 11 Vielmehr wird es notwendig, zwar Strukturen, soweit sie vorhanden sind, zu suchen und aufzugreifen, aber im Grunde den Text als seinen eigenen Interpreten sprechen zu lassen. Es ist der Text, der sich intratextuell deutet, nicht der Erzähler und nicht der Interpret, ganz im Sinne einer Dichtung, die sich als universeller Kode und als reale Erscheinung versteht und selbst generiert. Da aber der Text die Welt repräsentiert, deutet Daiber auch, welches sich selbst gestaltend die Lehrlinge im Kern erzählt und interpretiert. 10 Vgl. Neubauer, John: Der Potenzbegriff in der Frühromantik. In: Romantik in Deutschland: Ein interdisziplinäres Symposion. Hrsg. von Richard Brinkmann, Stuttgart 1978, S. 175 – 186 (= Neubauer, Potenzbegriff); Bomski, Franziska: Zwischen Mathematik und Märchen. Die Darstellung des Zufalls und ihre erkenntnistheoretische Funktion bei Novalis, In: Kunst und Wissen, Beziehungen zwischen Ästhetik und Erkenntnistheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Hrsg. Von Braueisen, Astrid, Stephan Pabst und Achim Vesper. Würzburg 2009, S. 163 - 192. (= Bomski, Mathematik) Anm.: Bomski arbeitet auf historisch -philologischer und naturwissenschaftlicher Basis Novalis' Wechselrepräsentation heraus. Ihr zufolge sind bei Novalis die Dinge sowohl für die Wissenschaften als auch für den Menschen das Ergebnis eines sprachlichen Deutungsprozesses. Der hermeneutische Grund dieses Vorgangs liegt ihr zufolge im Absoluten. Bereits Neubauer hat 1978 gezeigt, welch klaren Strukturen Novalis Gedankengebäude hinsichtlich Sprache und Naturphilosophie folgt. Neubauer weist maßgeblich Novalis' progressive Dichtung und progressive Naturbetrachtung als ein Ergebnis eines kombinatorischen mathematischen Prozesses nach, der durch unendliche Potenzreihen erfolgt. Er weist auch historisch nach, wie Novalis den Gedanken des »Complettirens« mit Schlegel teilt und durch mathematische Studien der Kombinationslehre des damaligen Mathematikers Karl Friedrich Hindenburg aus Leipzig ergänzt. Uerlings (ders., Novalis und die Wissenschaften. Forschungsstand und Perspektiven, S. 1, 7. In: Ders., (Hg.), Novalis und die Wissenschaft, Tübingen 1997, S. 1 - 22. (= Uerlings, Forschung) zeigt zudem, wie sich Novalis ausgehend von Schellings Einheitsgedanken über unendliche Potenzreihenkombinationen aus Zahl, Wert und Potenz zur Kosmologie bewegt. Bomski (dies., Mathematik, S. 163, 176f.) erläutert zuletzt mit den >Fichtestudien< Novalis' Gedanken zur >Arythmetika Universalis< aus dem >Allgemeinen Bouillon< . Natur ist laut Bomskis Analyse ein imaginatorisch spielerischer Kombinationsprozess mathematisch-semiotischer Art in unendlichen Reihen eines sich damit selbst konstruierenden präreflexiven Ichs. 11 Eine verdienstvolle und klare Arbeit hierzu: Takahashi, Yu: Die »geistige Gegenwart« bei Novalis. Diss. Trier 2008.
der Text die Welt.
II. Die Naturauffassung in >Die Lehrlinge zu SaisDer Lehrling< und >Die Natur< aufgezeigt. >Der Lehrling< besteht seinerseits aus acht Teilen, die sich einerseits um eine Figur scharen, die als »Lehrer« auftritt. Andererseits gruppieren sich diese acht Teile dann jedoch wieder auch um die »Lehrlinge«. Inhaltlich geht dieses Kapitel allerdings noch in das folgende, >Die Natur Gespräch der ReisendenGeheimnis von SaisDie Lehrlinge< ist die Rede von einem »alte[n] einfache[n] Urzustand«, der dadurch sein Ende gefunden hat, dass die Menschen begonnen haben, sich die Dinge mit Namen bezeichnend »entgegen zu setzen«. Die Naturerkenntnis wird zu einer Erkenntnis des verfremdeten Selbst, ein Umstand, den der Lehrling im Te xt zuvor nur geahnt hat, der nun aber verdeutlicht wird. Das Wesen der Natur liegt, so der Text, demzufolge am ehesten im Schweben oder dem »Flüssigen«. Unschwer fällt darin eine erkenntnistheoretische Dialektik auf. Weder in den »wirklichen Dingen« noch in dem zu imaginierenden »Gegenstand eines unbekannten Sinns « - Positionen, die vorher durch Lehrer und Lehrling vertreten worden sind – liegt laut Novalis die volle Erkenntnis. Aus diesem Grund wird auch die Naturgeschichte zur Menschengeschichte und die Menschengeschichte von der Natur durchdrungen. 34 Novalis schreibt, dass Märchen und Poesie in Zukunft zu wahrhaftigen Ausdrucksformen des verloren gegangenen Urzustandes werden. Dieser Zustand ist den Menschen wohl nach wie vor noch inhärent, er muss laut Text nur wieder neu erreicht werden. 35 Das angesprochene Motiv der Poesie hingegen ist neu. Ihm wird nun das bereits eingeführte Motiv des Forschens gegenübergestellt. Im Text heißt es, Naturforscher und Dichter haben bisher dieselbe
33 HKA I, S. 82 - 84. 34 HKA I, S. 83f. 35 Molnar, Composition, S. 1009. Anm.: Molnar bezeichnet dies an dieser Stelle als »the unity that is the source and the end of all understanding.«
Sprache gesprochen. 36 Somit entschlüsselt sich die Natur für ihren Leser als Übersetzer der natürlichen Symbolsprache, wobei die Forscher und Poet angeblich nur unterschiedlich verfahren. Der Forscher geht, heißt es weiter, analytisch und mit dem Verstand vor; doch er sammelt, ordnet und zerstört dabei die Natur. Der Dichter dagegen zersplittert mit Hilfe der Einbildungskraft die Natur und bildet sie neu. Aber er bewahrt poetisch die Natur und erhöht sie in die Sphäre eines unbestimmten Schwebens. In diesem Schweben wird die Natur angeblich versöhnt und der neue identische Zustand wieder herbeiführt, doch bleiben die Gegensätze letztlich unüberbrückt. Es geht in diesem Abschnitt also um die erkenntnistheoretische Begründung des polaren Zeitalters der Entgegensetzung, das durch die Antagonisten von empirischer Wissenschaft und dichterisch sympathetischem Verständnis gekennzeichnet ist. Dabei findet sich hier thematisch ebenso die Problematisierung des Ich wie die Erklärung der im Teil >Die Lehrlinge< festgestellten Trennung zwischen Natur und Ich wieder, indem beide Positionen (Weg nach innen ins Ich, enzyklopädistische Empirie) mit dem triadischen Modell zusammenkommen. Am Ende dieser Ineinandersetzung führt Novalis schließlich das neue Motiv der dichterischen Vermittlung ein. Daraufhin wird ein weiterer Exkurs eingeschoben. 37 Er thematisiert die verschiedenen Verhältnisse des zuvor neu gefassten, aber im Prinzip gestörten Verhältnisses zur Natur. Zuerst kommt eine sehr romantische Naturauffassung zur Sprache, die der grundsätzlichen »Sympathie«38 mit Natur. Darin besitzt das Ich angeblich eine natürliche Tendenz, sich »nach allen Seiten« aus diesem sogenannten sympathetischen »Mittelpunkt« zu verbreiten, indem es »reihenweise die Glieder knüpft«. Das bedeutet, dass die Wahrheit durch den Menschen schon in einer geheimen Verbindung mit der Natur besessen wird, sie liegt in einer natürlichen sympathetischen Anlage. Notwendigerweise führt deshalb »alles Bestreben« nach Wahrheit nur mehr davon weiter weg. Diese Position wird nun von »kindlichen Völkern« ergänzt. Ihnen ist Natur eine universale Religion gewesen. Diesen folgen im Text einfache »fröhliche Herzen«, die Natur als reines Genuss- und Konsumprodukt betrachten. Abschließend werden »sinnigere Seelen«39 genannt. Sie setzen an, die verwilderten Anlagen der Natur zu restituieren: »Allmählich fing ihr Herz (gemeint ist Natur; Anm. d. Verf.) an wieder menschlich sich zu regen.« Natur soll ihren latenten, natürlichen Anlagen gemäß 36 Balmes, Kommentar, S. 111. 37 HKA I, S. 85 - 87. 38 HKA I, S. 85. (auch folgende Zitate) 39 HKA I, S. 86. (auch folgende Zitate)
vermenschlicht und gebildet werden, wovon man sich die Rückkehr d es goldenen Zeitalters und die ewige Gegenwart verspricht. Nur Künstler, Dichter und kindliche Menschen, aber auch echte Naturforscher, geschult in langem Umgang, freier künstlicher Betrachtung, kurzum geübten Sinnes, sind fähig, diese Restituierung der Na tur zu leisten. Diese Darstellung entfremdeter Natursucher erstreckt sich in den nächsten Abschnitt 40, wo sich Natur für >Einige< als ein furchterregendes Chaos darstellt. Zwar wird im Text der Natur Geist zugesprochen, dieser ist dem Menschen scheinbar jedoch feindlich gesonnen.41 Diesen Ansatz bauen nun »Muthigere« im Anschluss in ihr klassisch und zugleich aufklärerisch anmutendes Streben ein. 42 In der Unterwerfung und Nutzbarmachung der feindlichen Natur sehen sie den Triumph der menschlichen »Freyheit«. 43 Nicht zuletzt wird mit >Freiheit< ein entscheidendes neues Motiv angesprochen und mit den vorherigen kombiniert. Als nächstes plädieren »Mehrere« für Wiederherstellung des Urzustandes von Mensch und Natur, indem sie einen Weg nach innen vorschlagen. 44 Erst die Einführung des Gedankens einer umfassenden innerlichen Beziehung aller natürlichen Dinge und erkennenden Wesen, also die Sympathie, ermöglicht es an dieser Stelle, mehrerer Aspekte ineinander zu setzen. So wird auch das vorangegangene Motiv der Freihei t aufgegriffen und und nun vertieft. 45 Freiheit herrscht, den Sprechern zufolge, wo die Möglichkeit zu intellektualer Erkenntnis existiert. 46 Diesem philosophischen und abstrakten Weg der Entgrenzung gesellen sich allerdings das bereits eingeführte Sprachmot iv (»große Schrift«) und der Weg nach innen bei. So entsteht schließlich ein wechselseitig sich repräsentierendes Zeichen- und Interpretationsschema von Innen und Außen, das die existenziellen Grenzen hinter sich lässt. Auf diese Weise wird auch der Umgang mit Natur nun zu einem sorglos »genießenden«, da Natur das sympathetische Du-Ich und keine unverständliche, gesichtslose Vielfältigkeit diverser, geschiedener Objekte und Gesetzmäßigkeiten bildet. Endgültig hat sich nun im menschlichen Inneren der wahre S inn erschlossen, Natur gerät zum sprachlichen Abbild der inneren Welt und nicht umgekehrt. Durch die dem Menschen gegebene Freiheit ordnen sich die verschiedenen
40 HKA I, S. 87. 41 Vgl. Molnar, Composition, S. 1008: Molnar ordnet dieser Position ein urtümlich christlich-jüdisches Denken zu, das in den mittelalterlichen Wandel der Naturauffassung fällt. 42 HKA I, S. 89. 43 Gaier, Krumme Regel, S. 56. 44 HKA I, S. 89f. 45 Gaier, Krumme Regel, S. 57. 46 Balmes, Kommentar, S. 112.
Grundverhältnisse zur Natur auch formal nicht mehr in zeitlicher Darlegung, sondern werden simultan in eins gesetzt und integriert. Dies spiegelt demzufolge der Text wider: »Mehrere« sprechen Mehreres gleichzeitig als einen einzelnen Text aus. Insofern haben nun alle scheinbar objektiven Ansätze, also diejenigen welche nicht primär die Ich Problematik reflektieren, im Ich ihre Aufhebung gefunden, indem sie zusammengesetzt worden sind. Angesichts des Aspekts der Identität (Sympathie) der Gegensätze kann nichts ausschließlich als Außen oder Innen bezeichnet werden. Die angestrebte Erkenntnis der Natur ist damit bemerkenswerterweise nicht auf naturwissenschaftliche, sondern auf psychologische und semiotische Weise gelöst. 47 Konsequenterweise bringt nun ein »ernster Mann« auch die ich-bezogenen, subjektiven Ansätze zu einer Verbindung, indem er Natur nur noch als »Abdruck« des Ich begreift.48 Er entwickelt damit eine quasi Fichtesche transzendentale Theorie des Bewusstseins 49, in der die Natur als Produkt der Einbildungskraft des Ich verstanden wird. Diese »Figur der Rückwendung« auf das Ich bedeutet, wie Striedter es formuliert50, dass mit der strukturellen Identität von Mensch und Natur die menschlich sittliche Ordnung auch zugleich die der Natur ist.51 Galt bisher die Suche der Natur, in der das Ich erkannt wurde, so kehrt sich diese Analyse nun um. Das Ich steht im Mittelpunkt, es wird wechseldeutig in der Natur wiedererkannt. Dabei nimmt der Abschnitt den Fokus auf das Ich zum Anlass, den Aspekt der imaginativen Phantasie und moralisch-sittliche Komponenten zu integrieren und zu akzentuieren. Dieser Verbindung stellt er neu das Motiv der anzustrebenden Vernunft bei. Angesichts der bleibenden Widersprüche zwischen Subjekt und Objekt sind in der thematischen Hin-und-Her-Debatte noch ungelöst, und nicht zuletzt auf Grund des dialogischen Vorgehens der Disputanten wird darum der analytische Verstand des, respektive der »Lehrlinge« im Anschluss verwirrt.52 Welt, Natur und Identität erscheinen an dieser Stelle weder empirisch noch rational lösbar. Doch ein »muntrer .Gespiele«53 bringt eine Lösung: er eröffnet den vorläufigen Schlüssel zur 47 Vgl. Englert, Reflexionsmedium, S. 190f.: Englert zeigt klar, wie wenig es Novalis um echte Natur geht, sondern um Modalitäten einer willentlichen Identität. 48 HKA I, S. 90. 49 Vgl. Gaier, Krumme Regel, 5, 60f.: Gaier hält diese Position durch Franz von Baaders (ders.: Beyträge zur Elementar-Physiologie. Hamburg 1797) beeinflusst. 50 Striedter, Komposition, S. 277. 51 Vgl. Englert, Reflexionsmedium, S. 188ff.: Auch Englert zeigt die Dichotomie von Ich und Welt bei Novalis als Entwicklung einer »Moralität«. Sowohl Gaier als auch Englert überakzentuieren den damals durch Kant geläufigen Begriff der Moral. Moral wird vielmehr bei Novalis wie viele andere Begriffe neu kodiert. 52 HKA I, S. 95. 53 HKA I, S. 91. Vgl. Pfaff, Peter; Natur-Poesie. Zu den >Lehrlingen zu Sais< des Novalis. In: Was aber bleibet, stiften die Dichter? Zur Dichter-Theologie de Goethezeit. Hrsg. v. vom Hote, Gerhard, Peter Pfaff und Hermann
Natur und zu sich selbst, indem er das Märchen von >Hyazinth und Rosenblütchen< vorträgt.54 Durch die wissenschaftliche Neugier aus dem urtümlichen Harmoniezustand herausgerissen, sucht Hyazinth im Grunde die ganze Zeit eigentlich genau das, was er seit Anfang schon besitzt: Rosenblütchen und die Liebesverbindung mit ihr. Erst Traum und Phantasie eröffnen ihm den Zugang zum Tempel zu Sais, wo er den Schleier lüftet, dabei hinter die empirische Oberfläche der Dinge schaut und Rosenblütchen wiederfindet.55 Damit wird deutlich, dass die emotionale Erkenntnis hinter die Aporie von Objekt und Subjekt zurückreicht. Hyazinth hat sowohl die Einheit mit der Natur als auch mit sich selbst wiederhergestellt. Das Märchen stellt insofern, mit seiner Aussage und mit seiner Form, einen Mittelpunkt und eine Achse des Textes dar. Die »Lehrlinge« gehen daraufhin auseinander. Im Anschluss daran 56, nachdem also alle »Lehrlinge« zufrieden gegangen sind, sprechen sich die verschiedenen Naturdinge selbst aus. H iermit ist die Bildung der »Lehrlinge« abgeschlossen. Es hat sich ihnen, ausgehend von der Frage nach objektiver Erkenntnis, eröffnet, dass Natur auf diese Weise nicht erforschbar ist, und so bestätigen es die Naturdinge nun selbst. Damit fällt das Denken als Traum des Gefühls in dieses zurück. Es endet der erste Versuch, Naturerkenntnis bewusster zu fassen. 57 Nochmals bestätigt sich, dass sich erst mit dem Gefühl das Liebes - und Naturmysterium erschließt und der entfremdete Zustand des Menschen erst durch s ein absolutes Bestreben, nämlich »Gott zu werden«, entstanden ist. Ist die Freiheit im Zustand der Einheit mit Natur also eine a priori »gemeinschaftliche«, die in der Bindung der Gegensätze von menschlichem Subjekt und der vielgestaltigen Natur wurzelt, so zeigt der Gedanke der Freiheit zugleich auch immer eine gewisse Grenze und Trennung. Eine absolute Freiheit ist vorerst undenkbar, da alle Thesen in ihr dialektisches Gegenteil umschlagen würden. Solange das Subjekt sich denkt und sein Widerpart nicht geklärt ist, droht die subjektive Erkenntnis zu einem substanzlosen Absoluten zu werden, weshalb sich das Ich vorerst damit
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Timm, München 1987, S. 89 – 103. (= Pfaff, Natur-Poesie) Anm.: Pfaff arbeitet insbesondere den Schellingschen Einfluss, u. a. in der Rede des »munteren Gespielen« heraus, der indirekt mit seiner Anspielung auf den »Geist« deutlich wird. Vgl. Neubauer, John, Biofocal Vision. Novalis Philosophy of Nature and Disease, Chapel Hill, 1971, S. 120 (= Neubauer, Biofocal Vision). Anm.: Das Märchen sieht Neubauer eher als die Balance zwischen Empirismus und Gefühl, zwischen Natur und Bewusstsein, die durch die Sprache hergestellt wird. Unwillkürlich nimmt Novalis damit Arthur Schopenhauers negative, existenzkritische Vorstellung der Welt als Wille und Vorstellung vorweg. Im Gegensatz zu Schopenhauer bejaht aber Novalis das Gefühl hinter dem Schleier der sog. Maja. HKA I, S. 95. Neubauer (Biofocal Vision, S. 125) meint darum zurecht, dass man es hier noch nicht mit der endgültigen, eigentlichen Aussage zu tun hat.
begnügt, die Natur zu durchdringen und in gewisser Weise zu beherrschen. 58 Man hat es hier also mit der umfassendsten und knappsten Ineinandersetzung aller vorangegangenen Thesen zu tun. Einmal ist die Grundopposition Denken und Forschen versus Gefühl gesetzt, zweitens wird diese in das triadische Geschichtsdenken integriert, wobei drittens in diesem die Erkenntnisproblematik in Form des Erkenntnisstrebens erscheint, viertens stellt sich letzteres immer noch teilweise als Sprachproblem dar ( »Natur verstände«) und fünftens läuft alles auf ein Verhältnis freier menschlicher Herrschaft der Natur hinaus, allerdings im Sinne einer Rückkehr zum bewusstseinsfernen Zustand vor aller Individuation. Bis hierher hat man deutlich sehen können, wie sich das Kapitel >Der Lehrling< bis hierher in das Kapitel >Die Natur< hinein erstreckt hat. Die Problematik eines scheinbar objektiven und angedacht subjektiven Naturverständnisses, die im ersten Teil dieses Kapitels eröffnet wurde, ist im >zweiten Teil< nun zwar vertieft, nicht aber gelöst worden. Die verschiedenen Positionen sind nämlich nur ineinander gesetzt. Die Möglichkeit des objektiven bewussten Verständnisses ist sozusagen zurückgenommen. Objektiv heißt noch nach wie vor entfremdet und geschieden, trotz aller Versuche empirisch-wissenschaftlicher Bewusstmachung. Gerade aus diesem Aufklärungsprozess aber hat sich die Erkenntnis des entfremdeten und tri adischen Geschichtszustandes herausgestellt. Subjektiv zu handeln, ist hingegen noch unbenommen - d. h. trotz aller transzendentalen Reflexion und der erkannten sympathetischen Wechselrepräsentation von Ich und Natur – der einzige Ausweg geblieben. Die Objekte und Teile der Natur sind vorerst Teile dieser Erkenntnis. Der zweite Grundgedanke der >LehrlingeDie LehrlingeGespräch der Reisenden < 59 die Standpunkte vertieft, neu kombiniert, und zu einem Resümee geführt. Das Motiv der mit Gefühl kombinierten Erkenntnis erweitert sich, indem die bereits vorhandenen Ergebnisse wieder aufgenommen werden. So entsteht durch die inhaltliche Überlappung und Kontinuität der Eindruck, dass es sich vordergründig gar nicht um den Dialog von Natur suchenden Individuen handelt. Obwohl verschiedene >Protagonisten< den Text polyphon erscheinen lassen, wird eher die durchgehende dialogische Gesamtentwicklung einer integrativen »Synthese« deutlich. Dieses chorhafte »Fluidum« gleichsam überall vorhandener Worte und Aspekte gilt den Sprechenden wie die Ursprache der Poesie und sie wird von ihnen selbst auch universell aufgegriffen. Die Gesprächsteilnehmer scheinen alle Gedanken im gemeinsamen Gespräch schon zu besitzen. Nicht zuletzt daran zeigt sich ein allgegenwärtiges Reservoir des Wissens, was die hinzukommenden »Reisenden« demonstrieren. Im Grunde können sie an dieser Stelle inhaltlich den Stand des Gesprächs gar nicht kennen und dennoch setzen sie genau dort ein, wo die »Lehrlinge« geendet haben. Auf diese Weise manifestiert sich also formal im Textdiskurs, was mit dem Motiv der Sympathie zwischen Natur und Mensch gemeint ist. Novalis schreibt die menschlichen Rollen der Natur gegenüber zusammenfassend: Oft erfahren diese liebenden Kinder in seligen Stunden herrliche Dinge aus den Geheimnissen der Natur […]. Ihren Tritten folgt der Forscher, […] ihrer Liebe huldigt der mitfühlende Dichter und sucht durch seine Gesänge diese Liebe, diesen Keim des goldenen Alters, in andere Zeiten und Länder zu verpflanzen. 60 Betrachtet man die Makrostruktur dieses Textteils, so zeigt sich, dass die Aussagen hier in der ersten Runde eher in Thesenform vorliegen, in der zweiten dagegen integriert und verändert und am Schluss des Teils der »Reisenden« durch des vierten Reisenden zweite Rede zu jenem besagten Resümee der drei Wege zusammengefasst werden. Die im Text angesprochene Kritik der Erkenntnis wird mit dem Abschnitt des >ersten Reisenden< zu einer neuen Erforschung und Bewertung der Epistemologie fortentwickelt. 61 Nochmals thematisiert der Diskurs eingehend die subjektive Erkenntnisfrage im Fichteschem Sinne 62, nunmehr aber unter dem Aspekt des Verhältnisses von Ich und »Wahrnehmungen«. Damit zeigt sich wiederum die psychische 59 HK A I, S. 9 6. 60 HKA I, S. 103. 61 HKA I, S. 96f. 62 Vgl. Balmes, Kommentar, S. 115.; Anm.: Balmes geht hierbei eher von einer Referenz zum Organon Gedanken des Novalis von 1798 aus, der den eigenen Körper dabei als Werkzeug der Welterkenntnis fasst.
und physische Bedingtheit des Prozesses. Bei dieser Untersuchung des Denkprozesses mündet die Rede schließlich in die Annahme einer letz tlich spielerischen Freiheit, die sich gerade in einem Sowohl-als-auch ausdrückt. Der Text spricht davon, dass man durch fortgesetzte Selbstreflexion des Denkens zum Ergebnis gelangt und Erkenntnis ein Schwebezustand »zwischen zwei Welten« ist. In diesem entgrenzten Zustand wird die Welt transparent und erkennbar. Nun klärt sich, dass objektive und subjektive Erkenntnis nicht mehr entfremdet sind, sie durchdringen und bedingen sich im Hin und Her. Die spielerische Erkenntnis vereint aber auch gleichzeitig »Empfinden und Denken«. Dem Diskurs gelingt es, Empirie mit Epistemologie zu vereinen, indem er der Frage nachgeht, was die individuelle Wahrnehmung ausmacht. In der bereits erwähnten Ineinandersetzung dieser Positionen hebt er die beiden Perspektiven auf, da die Debatte den fühlenden menschlichen Körper favorisiert und derart den Dialog bzw. Diskurs im Gefühl aufhebt. Weitere Teile dieser Integration sind die neue Verbindung von objektivem, bewusstem Denken mit subjektivem Gefühl und das einheitsstiftende Prinzip des die Welt schöpferischen Ich, das dabei zugleich das Spiel - und Freiheitsmotiv integriert. Nicht zuletzt kommt hier wieder das Sprachmotiv zur Geltung, das im »Dechiffriren« der Natur angedeutet wird. Der zweite, >andere Reisende< 63 erklärt daraufhin Natur lediglich als einen Schnittpunkt und als Einverständnis vieler Wesen, wodurch er das Motiv der Mannigfaltigkeits aufgreift. Damit hinterfragt er allerdings zugleich indirekt die Idee des ersten Reisenden, in der dichterischen Dechiffrierung die L ösung zu suchen. 64 Der >dritte Reisendeschöne Jünglingvierte[n] Reisende[n]< erkennen kann. 68 Der Dichter wird zum Vermittler der entfremdeten Gegenwart. Ihm ist nichts »fremd«, seine Phantasie lässt die Natur zu neuem Leben gedeihen. Es herrscht auch hier eine »wunderbare Sympathie« zwischen ihm und der Natur. Zudem taucht in diesem Abschnitt auch das Motiv der Liebe auf, diesmal aber in einer Einheit mit des Dichters Natur ->AnredeSympathie< betrachtet und versprachlicht, werden diese wieder in die Einheit der Welt zurückgeführt. Der Dichter erlöst sozusagen vorläufig mit seinem Wort die »zu Stein« gewordene, d. h. die dem Menschen zur Leblosigkeit erstarrte Natur. Es bleibt aber der dichterischen Sprache noch die allgemeine Entfremdung. In diesem Abschnitt ergibt sich also eine neue Ineinandersetzung von Sprache, Triadik, Sympathie einerseits und Identitätsproblematik mit dem Poesie- und Phantasiegedanken andererseits. Der erste Teil des Gesprächs der >Reisenden< hat erkennen lassen, wie vor allem die erkenntnistheoretischen Positionen aus der Konklusion der Lehrlinge zunehmend hinterfragt und in den Mittelpunkt gerückt wurden. Die ersten drei Aussagen der Reisenden sind dabei geschickt mit der des vierten, der den Dichter als Vermittler einführt, zu einem Ergebnis gelangt. Dieses Resultat nimmt auf seine Weise zwar erneut die bewusstmachenden Ansätze zurück, belässt es diesmal aber nicht im reinen Gefühl, wie es die >Lehrlinge< mit dem Gedanken der Liebe angesprochen haben. Vielmehr gehen die Positionen und Sätze in den subtileren sympathetischen Zustan d der Poesie und des
68 HKA I, S. 99f.
Dichters ein. Man entsinne sich der >LehrlingeVernunftgedanken< auf. 70 Er setzt die >schöpferische Weltbetrachtung< sowohl im Fichteschen als auch im poetischen Sinne fort. »Der denkende Mensch kehrt zur ursprünglichen Function seines Daseyns, zur schaffenden Betrachtung « zurück, heißt es dort. 71 In dieser Betrachtung sind Kreation und Wissen, Poesie und Empirie eins. Aufgrund dieser Identität 72, in der sich der schaffende Mensch begreift, wird die »Beschreibung dieser inneren Weltgeschichte « auch zur »wahren Theorie der Natur«. Nicht zuletzt, weil sich also Innen- und Außenwelt wechselseitig repräsentieren, wird der sprachschöpferische Mensch und Dichter zum Erretter der Natur. Man findet in dieser Ineinandersetzung folglich sowohl die Fichteschen Gedanken als auch die poetische Weltanschauung in schöpferischer Eintracht wieder. Die Wechselidentität Natur-Mensch umfasst auf diese Weise Vernunft (Intellektualität) und das Motiv der Liebe, das »ein neues Band des Du und Ich « geschaffen hat. Der nächste Sprecher betont lediglich wieder das »große Zugleich« in der Natur. 73 Dabei wird hervorgehoben, dass Natur ständig in Verwandlung und Tätigkeit begriffen ist. Der »Geist« aber wird diesbezüglich als das maßgebliche Medium des Naturverständnisses betrachtet, was soviel heißt, dass Natur erst im Menschen vermitt elt werden kann. 69 HKA I, S. 101f. 70 Vgl. Mahoney, Poetisierung, S. 44.; Anm.: Mahoney erklärt diesen Schub an Intellektualität durch den Einfluss Schellings. 71 HKA I, S. 101. 72 Besonders aber die Aspekte einer >inneren Selbstempfängnis< und einer >Urerscheinung< können einigen Anlass geben, bei diesem Abschnitt spezifisch Plotinsche Einflüsse in Betracht zu ziehen. 73 HKA I, S. 102; Vgl. Mahoney, Poetisierung, S. 46.; Anm.: Mahoney hält diesen Standpunkt vielmehr für eine Wiederaufnahme des Schnittpunktmodells, das in der Nähe zu Leibniz Monadenlehre angesiedelt war.
Mit der zweiten Rede des >dritten Reisenden < 74 erhalten schließlich alle Positionen des Textes ihre höchste abschließende Integration. Der darauffolgende Abschnitt bestätigt dies nur noch einmal und unterstreicht, was der dritte Reisende nu n resümiert. Seiner Rede lässt sich entnehmen, dass es > drei Wege der Naturerkenntnis< gibt, die hierarchisch geordnet sind, wobei das niedrigste Naturverständnis dem Forscher zukommt. Ihm folgt an zweiter Stelle der Dichter-Philosoph und an höchster Stelle rangiert der Liebende. Der Forscher unter ihnen schließt zwar angeblich auf die Allgegenwart und dabei überkommt ihn auch ein »höherer Geist«, jedoch bleibt er im besten Falle immer noch bei der Entgegensetzung der Natur stehen. 75 Der »Künstler« aber bildet dem Text zufolge die Natur nach und erlangt einen neuen Weg zur Natur, indem er »wunderlich die Worte mischt «. Die solchermaßen umgedeutete, abstrakte Natur erfährt mit der . Restitution der Zeichen und Worte durch di e Poesie gleichzeitig ihre eigene Wiederherstellung. Die Natur wird dabei als ein durch Sprache vermitteltes Objekt oder als Du verstanden. Sie erscheint in ihrer poetischen Gestalt laut Text herrlicher als zuvor, obwohl sie ihr eigenes Wesen beibehält. Novalis spricht hier von eigenem »Thun und Hervorbringen« der Natur. Unverkennbar rückt dabei die Natur dem Menschen ein Stück näher, indem sie durch die Sprache des Dichters erschlossen wird. Er hat also in seiner Dichtkunst ein taugliches Instrument, das ihn in die Natur »zurückführen« kann. Die Liebenden hingegen sind getragen von dem >Bewusstsein ihrer Unzertrennlichkeit< und erfahren angeblich mehr »Geheimnisse der Natur« als sonst einer. Selbst die Dichter müssen dieser urtümlichen und unzerstörten Spur folgen. Am Ende des Gesprächs der Reisenden zeigen sich damit eigentlich nur zwei hierarchisch angeordnete Wege, denn der dritte, die Poesie- und Sprachproblematik, hat sich soeben, spätestens seit dem Märchen, aus der Handlung in die Form des Textes autopoetisch einverwandelt: die Poesie. Nichtsdestoweniger ist dieser Weg maßgeblich. Sowohl durch das Märchen als auch durch das anschließende Gespräch der Naturdinge wird die Dichtung, nämlich das Medium zwischen Natur und Mensch, erfolgreich im Text in den Text umgesetzt, aus dem Gespräch entsteht eine neue Sprache, die Lehrlinge gehen zufrieden fort. Selbst noch in ihrer neuen symbolischen (poetischen) oder ehemaligen ikonischen (mimetischen) Restituierung stellt sie den Weg und den Übergang dar. Dies hat der Drei -Wege-Abschnitt gezeigt. Poesie führt zum goldenen Zeitalter, endet aber darin in der Liebe. Der Dichter ist 74 HKA I, S. 102f. 75 Gaier, Krumme Regel, S. 99.
scheinbar ein »Messias«, doch befindet auch er sich nur potenziell in einem ganzheitlichen Zustand, der nur noch vereinzelt im Liebenden und Kind vorkommt, nämlich als Gefühl u nd Liebe. Letzten Endes geht es um Sprache und Erkenntnis. Romantisieren heißt also zu erkennen und aktiv mit der neu kodifizierten Sprache den Endzustand des Lebens mit dem Anfangszustand der Natur zu verbinden. Die Poesie wird dadurch zur Naturwissenscha ft, sie ist ein sprachlicher und wissenschaftlich fundierter Erkenntnisprozess der Welt. Leben und Natur entwickeln sich zu einem zyklisch integrativen Kode, d. h. einem Prozess, der seinen Ursprung in der Natur hat, aber durch die mediale Erkenntnisarbeit des Menschen entsteht. In dieser neuen Form wird die Natur eigentümlich erst zum Leben. So wie aber auch der Textdiskurs erst nach und nach offensichtlich wird, eröffnet sich das allgemeine Sein, das in die Zukunft verlagert wird. Hier treffen sich in einem kollektiven Zustand alle Stimmen der Menschen, sie kehren gleichermaßen in der Zukunft aus einem summierten, potenzierten Zustand zu dem der ursprünglichen Natur zurück. Dieses noch mysteriöse Sein bezeichnet der Diskurs an dieser Stelle als Gefühl. Die letzte Rede des >Jünglings< unter den Reisenden 76 wiederum hebt darum anschließend hervor, dass >Natur nicht gelehrt werden kann Synthese< der zweiten Gesprächsrunde genauso wie mit der vierten der ersten die progressiveren Gedanken wieder integrativ zugunsten der emotionalen Erkenntnis zurückgenommen, u. z. mit Hilfe der Textkomposition. Nochmals heißt es an dieser Stelle, dass die objektive Natur dem Analytiker ( »Scheidekünstler«) sozusagen unverständlich bleibt und dass neben dem Liebenden gerade noch der Dichter dem Mysterium folgen kann.78 Die Erstarrung (des nach wie vor bestehenden Widerspruchs von progressivintellektualer und regressiv-emotionaler Natur- und Selbsterkenntnis) wird, wie Gaier sagt, in der »wollüstigen Auflösung«79 vorläufig gelöst.80 Mittlerweile ist auch der >Lehrer< mit den >Lehrlingen< zurückgekehrt.81 Aber die >Reisenden< eröffnen, dass sie eigentlich auf der Suche nach einer »heiligen Sprache« sind, 76 77 78 79 80
HKA I, S. 104f. Gaier, Krumme Regel, S. 109f. HKA I, S. 105. Gaier, Krumme Regel, S. 99. Mahoney, Poetisierung, S. 51. Anm.: Mahoney hat an dieser Stelle auch bezüglich der dabei angeschnittenen Hieroglyphen- und Sprachproblematik folgerichtig gezeigt, dass nunmehr das neue Sprachverständnis zum ersten Mal den >ReisendenLehrlingen zu Sais< selbst erinnert. Dass dies die abschließende Synthese des Textes ist, erscheint aber unwahrscheinlich. Die »Reisenden« sprechen an dieser Stelle nämlich von nur noch einzeln erhaltenen Bruchstücken und Worten dieser heiligen Sprache, die zwar losungshaft die Natur entschlüsseln, im Grunde ist aber diese Sprache, und damit die poetische und imaginäre Weltschöpfung und -vereinigung, nicht mehr auffindbar. Die Poesie wird in Frage gestellt, der Abschnitt verweist auf seine Art auf die widersprüchliche Utopie des goldenen Zeitalters in der Vergangenheit. Dadurch nimmt der Gang dieser >Dialogik< der verschiedenen Positionen unendliche Ausmaße an. Auf alle Fälle besteht aber ein Unterschied zwischen der resümierenden Poesiekonzeption des dritten >ReisendenLehrers< die beiden Wege zu vereinen, welche die Natur als objektive Realität und subjektive Einheit mit dem Ich verstehen 82: intellektuale und emotionale Natur- und Selbsterkenntnis. Weder steht die zufällige Erkenntnis des Liebenden im Vordergrund, noch macht die Einbildungskraft den echten »Naturkündiger« aus. Der »Lehrer« hingegen bemüht sich um die Integration von »Gemüth«, »kindlichem Wesen« und »Geduld«. Nur die systematische und rationale Ausbildung und Schulung der im Menschen vorhandenen Anlagen macht das »wahre Naturverständnis« aus. Gaffer sagt hierzu treffend vom Lehrer: Nur diese im System organisierte und wieder zur Natur gewordene Lehrart, die Ursprache in höherer, bewußter [Hervorhebung durch den Verfasser] und differenzierter Form, macht den rechten Lehrer zu dem Naturkündiger.83 Damit hat es den Anschein, als ob es sich gar nicht um ein Fragmen t handeln würde. Die anfänglich gesuchte reale, objektive Natur wird im Verlauf des >Lehrlingsteils< 82 Uerlings (ders., Forschung, S. 2) hält den Gedanken der Einheit von Geist und Natur bei Novalis für maßgeblich, ihm zufolge ist es der letzte Versuch, Kunst, Natur und Wissenschaft vor dem großen Einsetzen der Moderne zu beginnen. 83 Gaier, Krumme Regel, S. 104.
durch die Einführung der emotionalen Erkenntnis relativiert, indem die darin aufgezeigte Aporie von Ich und Natur regressiv überwunden wird. Es bleibt aber nicht bei einmal getroffenen Schlüssen, sondern in der diesem Text eigentümlichen Art und Weise der Veränderung des Inhalts durch die dialogische Form und die Konzentrierung der kombinatorischen Ineinandersetzung der Positionen werden diese im zweiten Zyk lus des >Gesprächs der Reisenden< vertieft und zu ihrem Schluss der drei Wege geführt. Zwei von ihnen, wie deutlich geworden ist, werden dann durch den »Lehrer« in eine Verbindung gebracht. An dieser Stelle führt die inhaltliche Progression der Positionen die Textkomposition in eine unendliche, erweiterte Kombination fort. In diesem Sinne ist der Text auch buchstäblich ein romantisches Gespräch, in dem viele Stimmen konzertieren, wobei aber außer der dialogischen Integration keine Endlichkeiten vorhanden si nd. Die anfänglich anschaulichen Versuche der Reihenbildung der Lehrlinge ergeben die Werkzeuge, mit denen die Textstruktur zyklisch integrativ entschlüsselt und zugleich die vielfältigen inhaltlichen Positionen vermittelt werden können. Eindeutig liegt da bei eine grobe Strukturbewegung von der objektiv angenommenen Natur des Lehrers über die Hinwendung zum Subjektiven durch den Lehrling hin zu einer sowohl Ich als auch Natur inbegriffenen verborgenen Identität vor. Jedoch ist diese Bewegung eher in Form der >mannigfachen Wege< in den Zustand des entfremdeten Zeitalters eingebettet. Dieses entfremdete Zeitalter bringt es aber unwillkürlich mit sich, progressiv auf seine eigene Versöhnung, bzw. die dargelegten Versöhnungswege, hinzuweisen. Das Entscheidende des Textes scheint also weniger die typisch romantische erkenntnistriadische Struktur als vielmehr die sprachlich dialogisch progressive Konstruktion unendlicher Ineinandersetzungen oder Reihen hin zur Natur-Utopie zu sein. Sie taucht immer wieder im Text auf. Innerhalb dieses Prinzips erhalten die Erkenntniswege, die sich auf Liebe, Geist und Poesie gründen, auch nur einen vorläufigen Übergangscharakter. Erst der sinnlich bildhafte Text sollte für Novalis alle diese Gesprächselemente zu einer abschließenden Form auflösen. Doch das ist nicht mehr geschehen. Das, was durch den dritten Weg der Poetisierung angerissen worden ist, hat anfangs als Sprachproblem begonnen. Nachdem sich die Sprache von ihrer Fixierung befreit hat, hat sie eine umfassendere Bedeutung im Textdiskurs und im Gedankengang der Lehrlinge erlangt. Die jüngere Forschung hat allgemein gezeigt, dass Novalis dabei dem modernen
autoreferentiellen oder semiotischen Sprachgebrauch sehr nahe ist. 84 Das erstarrte sprachliche Zeichen ist scheinbar ikonographisch geworden, indem es in der analogen Konstruktionsmethode eine konkrete Denotation gewonnen hat. Seine ganze Form ist mit seiner Bedeutung identisch, und zwar als Ding. Jedoch ist diesem ikonischen Zeichen dennoch eine variable Bedeutung zu eigen, der Referent des Zeichens, die Natur, löst sich zunehmend auf, die natürlichen Bezüge enden letztlich im Ich und Gefühl. Sie werden so in »geheimer Analogie« umgedeutet und können beliebig verwendet werden, ganz so wie die Positionen der »Protagonisten« sich wechselseitig schwebend ergeben und ergänzen. Die Referenz der Zeichen liegt dabei in der zentralen Identität begründet, aus der sie ihre Analogiefähigkeit schöpfen. Das ist der Unterschied zum rein ikonischen Zeichen. Durch die Einbeziehung der subjektiv inneren Komponente tendiert ein solches romantisches Ikon zum offenen Konnotieren eines Symbols. Und dadurch ist auch ein Schritt hin zur transzendental symbolischen Sprache getan. Diese, so wie sie im Märchen dann auftritt, nimmt als sich abzeichnende Universalpoesie den Platz eines möglichen, sich aber noch in vager Zukunft befindlichen Vermittlers ein. Auf diese Art und Weise erreicht Novalis nicht nur, die Sprache auf ihre »Autofunktion« zu reduzieren und sie vom Gegenständlichen zu befreien, sondern er gibt ihr auch autopoetisch einen neuen Inhalt. Dieser ist absoluter Natur, umfasst eben universal alle möglichen und kombinierbaren Denotationen und Konnotationen. Darin besteht der Unterschied zur strukturalistischen Sprachauffassung. Einerseits löst sich Novalis' Sprache zwar vom Objekt, andererseits spricht sie aber ihrem neuen Inhalt mehr als nur alle möglichen formalen Wortkombinationen 85 zu, nämlich auch alle realen Kombinationen (»Accord aus des Weltalls Symphonie«). 86 So abstrakt und unendlich diese Bedeutung letztendlich auch sein mag, so erkennt Novalis doch die Problematik, die später zur Kritik einer solch leeren philosophisch idealistischen oder lingu istisch strukturalistischen, d.h. autoreferentiellen Sprache geführt hat. 87 Novalis versucht, das Problem der Referenz zu umgehen, indem er die Sprache noch als Ausdruck des Lebens und als reales Medium zwischen Natur und Mensch annimmt. In seinem zyklischen Entwicklungsprozess werden darum die verschiedenen Konzeptionen der Sprache, wie sie 84 Vgl. Uerlings, Moderne, S. 7ff.; Anm.: >Die Lehrlinge zu Sais< ergänzen Novalis' skizzenhafte sprachtheoretische Gedanken, wie er sie v. a. in der Auseinandersetzung mit Gnosis, Mystik und Fichte entwickelt hat. 85 Mukarovsky, Jan, Kapitel aus der Poetik, Frankfurt 1967, S. 13f. 86 HKA I, S. 79. 87 Der philosophische Idealismus wurde v. a. durch Marx und Engels im 19. Jahrhundert kritisiert, der Strukturalismus seit den 1970er Jahren. Die Kritik an ihm formulieren Derrida und Lévi-Strauss u. a.
auch im Text auftauchen, zu einer erweiterten Universalpoesie geführt. Diesbezüglich ist darum auf die Fortsetzung des Romans oder der Geschichte verwiesen worden. Am Ende des Textes aber haben Geist und Liebe, Reflexivität und die Transreflexivität inhaltlich im Lehrer und formal durch die Ineinandersetzung im Text zu einem neuen Medium der Naturerkenntnis beigetragen. Die Spirale der Konstruktion endet, wo sie begonnen hat, beim reifen Menschen, dem Lehrer. Dazwischen lagen ausgebreitet und wieder vereinigt »mannigfache Wege« zur Natur.
IV. Am Ende ist alles Progression
Alle Synthesen dazwischen, in der entfremdeten Zeit also, würden keinen endgültigen Sinn ergeben, weil es sich schlechterdings nicht um eine Entwicklung, sondern um eine Ineinandersetzung von innen und außen, Mensch und Natur, Realität und Dichtung in Universalpoesie handeln sollte. Diese kommt im Sinne Novalis' aus der inneren Identität mit dem Universum und harrt ihrer Wiederherstellung. Damit hat eine Dialektik also nur in ihrer Beziehung zum Subjekt Sinn. Diese bleibt ebenso vorläufig, wie auch der Gedanke der Poetisierung noch nicht vollendet ist. Hingegen wird Natur unmittelbar mit der subjektiven Erkenntnis und Identität verschränkt. Wege, Perspektiven und nicht endgültige Antworten stehen am Schluss. Sowohl die dialogische Textstruktur als auch die gesprächsartige Form geben indirekt weitere Aspekte dazu, wie die im Inhalt behandelte Vermittlung des goldenen Zeitalters sich teilweise durch Liebe und Poesie vollzieht. Das Gespräch selbst aber nimmt die Poetisierung der Welt und Natur vorweg, die im nicht mehr geschriebenen Teil hätte stattfinden sollen. Sprache, Gespräch und Poesie entstehen sozusagen in und aus der Handlung und verwandeln sich buchstäblich der Form ein. Anders als Aufklärung und Naturwissenschaft unternimmt es jedoch Novalis, den Individualismus durch das eigene Selbst, also auf dem Weg nach innen, zum absoluten Subjektivismus umzudeuten, ohne aber in die Fichtesche absolute Freiheit und Leere des totalen Ich abzugleiten. Vielmehr gelangt Novalis mit der Idee des transreflexiven Gefühls über die Grenzen des Ich und Nicht-Ich hinaus: Er legt den Fokus auf eine erweiterte Konzeption der Natur und setzt die Pole von Subjekt und Objekt wieder innerlich zusammen. Beide bewahren aber letztlich ihre Eigenheit, so wie es die Allegorie des Bildes von Sais gezeigt hat. Darum verliert sich eigentlich bei Novalis äußerlich auch nicht die zur Progression und Aktion notwendige Spannung. Vielmehr ist
gerade alles Progression, so wie der gesamte Text selbst. Darin ist eine Echtheit begründet, die den vorläufigen Prozess des Lebens erkennt und die Gegenwart des Lebens als großen Plan liest.
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