International Flusser Lectures
Die Kunst der Migration. Von Sesshaften, Nomaden, Luftmenschen und Gesamtkunstwerken
Anke Finger
Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln _Vilém_Flusser_Archiv Universität der Künste Berlin
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International Flusser Lectures
Die Kunst der Migration. Von Sesshaften, Nomaden, Luftmenschen und Gesamtkunstwerken Anke Finger
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Die International Flusser Lectures sind ein Projekt des _Vilém_Flusser_Archivs, das seit 2007 an der Universität der Künste Berlin angesiedelt ist und bis 2006 an der Kunsthochschule für Medien Köln beheimatet war. Die Vorträge umkreisen oder durchschreiten großzügig die Ideenwelt des Prager Kulturphilosophen und wollen sie in ihrem anregenden Potenzial lebendig halten. Von 2001 bis 2007 waren die Lectures und ihre Veröffentlichung Bestandteil des von der DFG geförderten intermedialen Editionsprojektes. Der Druck dieser Publikation wurde durch die Universität der Künste Berlin gefördert.
International Flusser Lectures
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Siegfried Zielinski Die Kunst der Migration. Von Sesshaften, Nomaden, Luftmenschen und Gesamtkunstwerken
© 2011 Siegfried Zielinski und Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln Gestaltung: Andreas Henrich Herausgeber: Claudia Becker, Marcel René Marburger, Siegfried Zielinski für das _Vilém_Flusser_Archiv an der Universität der Künste Berlin Homepage: http://www.flusser-archive.org Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titelsatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich. ISBN xxx
International Flusser Lectures
Die Kunst der Migration. Von Sesshaften, Nomaden, Luftmenschen und Gesamtkunstwerken
Anke Finger
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In einem Interview, das Flusser 1990 in Robion mit zwei Arch+ Redakteuren führte, stellte er seine Definition einer von ihm stets als essayistisch gedachten Existenz vor: „[D]ie Lebenswelt ist ein Gesamtkunstwerk. In der Genesis wird gesagt, wir sind Kunstwerke, wir haben einen Schöpfer, einen Autor und sind Teil eines Gesamtkunstwerks, das heißt Schöpfung. Der Schöpfer hat dieses Gesamtkunstwerk mit einem eigenartigen Rückspiegel ausgestattet, der es uns erlaubt, darauf zu kommen, wie das Ganze hergestellt ist. Sie können damit nach innen schauen, dann kommen wir auf den Autor in uns, oder nach außen, dann kommen wir auf den Autor um uns herum. Kurz und gut, wir sind darauf gekommen, dass ‚der Schöpfer’ nur eine unter vielen Virtualitäten des Raums geschaffen hat, und jetzt machen wir es ihm nach und schaffen andere. Dadurch haben wir uns abgesetzt und sind zu unserem eigenen Autor geworden“.1 Flusser bringt hier Grundsätzliches in seiner Philosophie und Biographie zur Sprache, Elemente, denen er immer wieder und in Verbindung mit verschiedenen Gedankenexperimenten Aufmerksamkeit gezollt hat: Schöpfung, sprich Kreativität; der/die Urheber derselben, also der Autor oder die Autorin; und das, was entsteht, in diesem Zitat die Lebenswelt als Gesamtkunstwerk, das heißt zunächst, die Zusammenführung von Kunst (oder Werk) und Leben mit Hilfe von Husserls teils kontroversem Begriff, eine Zusammenführung, die bei Flusser oft bevorzugt in der Essayform Ausdruck fand – biographisch wie philosophisch und konnotativ fest gehalten, ja, paradox verankert, im Begriff „Bodenlosigkeit“. Im folgenden soll diese Lebenswelt als Gesamtkunstwerk näher fokussiert werden, denn Flusser war selbst kreativ und ohne Unterlass zum Autor seines Innen und Außen geworden – dafür lohnt ein Blick in den Rückspiegel und eine nähere Befragung verschiedener Konzepte, die
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er besonders für die Kunst, oder das Werk, der Migration verwendete. Wir werden feststellen: Flussers Bodenlosigkeit hat Wurzeln. Und diese Wurzeln konfrontieren uns mit den Formationen, Gewächsen oder Auswüchsen einer globalen Migration und Mobilität im 21. Jahrhundert, in welchem, teils unübersichtlich, variable „Virtualitäten des Raums“ ko-existieren. In diesen haben sich Migranten wie Sesshafte (zu Definitionen kommen wir etwas später) eingerichtet, ohne notwendig eine bewusste oder reflektierte Autorschaft zur Schaffung ihrer gesamtkunstwerklich orientierten Lebenswelten wahrzunehmen. Der Prager Flüchtling und von außen als Jude designierte Flusser betrachtete eine bewusste und reflektierte Autorschaft jedoch – nach anfänglich selbstmordgefährdeten Jahren in Brasilien – als Voraussetzung für ein Leben als Migrant, und man sah seine Version der Bodenlosigkeit 6
bestückt mit Attributen wie etwa nomadisch, nostalgisch, engagiert, erfahrend, durchlöchert, multilingual, projektorientiert und vernetzt. Flusser nahm bei dieser Arbeit eine Haltung ein, die etwa Niklas Luhmann in Kapitel 2 seines Bandes Gesellschaftsstruktur und Semantik wie folgt beschrieb: es geht bei der Beobachtung zweiter Ordnung (also nach der „Einteilung der Gegenstandswelt“ oder Materialität der Kultur) um „das Beobachten von Beobachtern und um eine bestimmte Form für die Frage, wie Beobachter Beobachter beobachten“.2 Für uns sieht das so aus: Flusser schreibt eine „philosophische Autobiographie“, Bodenlos (1992), und beobachtet eine untergegangene europäische Kultur aus brasilianischer Perspektive. Dann schreibt er einen „Versuch über den Brasilianer“, Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen (1994), und beobachtet eine sich im Wandel befindende Kultur (wenn man vom Singular reden möchte) aus der Perspektive eines Immigranten, der sich auch nach mehr als 30 Jahren in Südamerika des Attributes „europäisch“ bedient. Die „Stimmung“ dieses Versuchs,
so Flusser, ergibt sich aus dem „Bewußtsein der Desorientierung“, ein Bewusstsein, das wach zu halten ist, und aus dem „Versuch ... sich zurechtzufinden, auch auf die Gefahr des Scheiterns hin“ (10). Wie beobachten wir dann den Beobachter Flusser? Wie beobachtet er sich selbst? Angesichts der Rückspiegel, mit denen Flusser „das Ganze“ von Prag und von Brasilien erarbeitet um seine gesamtkunstwerklichen Lebenswelten mit Hilfe der Bodenlosigkeit in beiden Kontexten zu projizieren, sind wir aufgefordert uns mit zwei autobiographischen Projekten, mit zwei Autobiographien auseinanderzusetzen: denn die Fremdbilder, die Flusser als Flüchtling und Exilant von Prag und „vom Standpunkt eines nach Brasilien immigrierten Intellektuellen“ (16) zeichnet, sind beides Zeugenschaften von Kulturen und Geschichten und darüber, wie Flusser sie autobiographisch erfahren und vehement reflektiert hat – aus geographisch distanzierter Position, aber vielleicht weniger mit emotionalem Abstand. Er verfolgt hiermit zweierlei: er verrückt die Spiegel um – wie auch in seiner Schreibpraxis – nomadisch zu zirkulieren, also ein nomadisches Schreiben zu praktizieren, von einem Text zum nächsten und im Zirkel über weitere zurück; er verankert oder verwurzelt sich selbst mit dieser Art der Beobachtung und Schreibweise in der jüdisch geprägten Identität des „Luftmenschen“, erstellt ein „cultural branding“ von Prag und Brasilien, die andere „Zeugen“ als z.T. äußerst kritikwürdig empfinden; und seine Existenz und sein Denken erlangen Bodenhaftung durch eine von ihm geschaffene Lebenswelt, ein Ich der Bodenlosigkeit. In diesem Identität stiftenden Prozess schwört er einer geschichtlich aufoktroyierten Opferrolle radikal ab: er schreibt sich selbst als Täter. Im Aufsatz zu „Exil und Kreativität“ wird dies explizit: „Im Deutschen gibt es das gehässige Wort ‚Luftmensch’. Der Vertriebene kann entdecken, dass ‚Luft’ und ‚Geist’ nah verwandte
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Begriffe sind und dass daher ‚Luftmensch’ Mensch schlechthin bedeutet. So eine Entdeckung ist ein dialektischer Umschlag im Verhältnis zwischen Vertriebenem und Vertreiber. Vor der Entdeckung ist darin der Vertreiber der aktive Pol, der Vertriebene der passive. Nach der Entdeckung wird der Vertreiber der Leidtragende, der Vertriebene der Täter. Es ist die Entdeckung, dass die Geschichte nicht von Vertreibern, sondern von Vertriebenen gemacht wird. Nicht die Juden sind ein Teil der Geschichte der Nazis, sondern die Nazis sind ein Teil der Geschichte der Juden“.3
Von Sesshaften, Migranten und „cultural branding“
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Fahren wir fort mit Daten: Im März 2009 veröffentlichte die Bundeszentrale für politische Bildung im Rahmen ihres „focus Migration“ Online-Angebots das Länderprofil Nummer 17: die Europäische Union. In dieser – nennen wir sie Supra-Nation, gerne wird auch „Staatenverbund“ gebraucht – wohnen ca. 497 Millionen Menschen (zum Vergleich: die USA haben ca. 300 Millionen Einwohner), wovon 5,8% als ausländische Bevölkerung gezählt werden (Stand von 2007). Laut Bericht ist seit 1992 die Zuwanderung „die wichtigste Quelle des Bevölkerungswachstums in der Europäischen Union“ (2), und die so genannte Arbeitsmigration und Familienzusammenführung stehen an der Spitze dieses Wachstums.4 Seit ca. 15 Jahren gibt es daher eine mehr oder weniger funktionierende EU Einwanderungspolitik, die sich unter anderem darum bemüht, weniger qualifizierte MigrantInnen etwa mit der Blue-Card-Initiative aufzuwiegen, und sich einer Integration von Migranten als zweiseitigem Prozess verschrieben hat („Common Basic Principles on Integration“, initiiert vom EU Ministerrat 2004). Umfragen
innerhalb der EU Bevölkerung, die 2006 in einer qualitativen Studie zur Zukunft der EU festgehalten wurden, bezeugen, dass sich ein „wachsendes Gefühl der Unsicherheit“ abzeichnet, die „Immigration und die Integration der Immigranten“ betreffend, egal, ob das jeweilige Land über eine lange oder kurze Migrationstradition verfügt. Allgemein wird in diesen Umfragen beanstandet, dass sich illegale MigrantInnen am Rande der Gesellschaft bewegen oder bewegen müssen und dass legale ebenso wie illegale MigrantInnen nicht nur einen zusätzlichen Wettbewerb auf dem Stellenmarkt bedeuten, sondern zudem die Gehälter drücken. Außerdem seien Leute von sehr verschiedenen Kulturen schwer zu assimilieren.5 Fakt ist, dass sich die EU mit über 50 Millionen MigrantInnen als Region etabliert hat, die im 21. Jahrhundert voraussichtlich mehr Immigranten aufnehmen wird als etwa das traditionelle Einwanderungsland USA oder das mit 186 Millionen Einwohnern ehemalige „Einwanderungsland“ Brasilien. Viele an diesem Prozess Beteiligten sehen sich zunehmend in Situationen, die sozio-historisch verfestigte Rahmen durchbrechen oder sprengen, besonders im Zuge sich post-kolonial und global arrangierender Lebenswelten, Lebensentwürfen und Un/Möglichkeiten. Im Dialog mit Fragen und Diskussionspunkten, die Vilém Flusser zu den konzeptuellen Entwicklungen von Heimat, Nation, Migranten, Nomaden, Exil und Bodenlosigkeit beigetragen hat, möchte ich hier etablierte Begriffe Konzepten und Ideen gegenüberstellen, bzw. miteinander vernetzen, die uns die Kunst der Migration und Flussers Positionierungen diesbezüglich näher bringen sollen. Denn „Kunst“ geht bekanntlich zurück auf das Wort „können“ oder auch „kennen“, und es stellt sich somit akut die Frage: wer kann Migration? Und wie? Und wer beobachtet oder interagiert hierbei wen oder mit wem?
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Zentral für diese Fragen sind nicht Daten, Statistiken und Studien, wie sie vermehrt in den Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften erstellt werden. Dort erfreut sich die Migrationswissenschaft einer fast fiebrigen Lebendigkeit, teils und notwendigerweise im Schwange der scheinbar unaufhaltsamen Globalisierung, teils aber auch im Fokus der internationalen Menschenrechte und der veränderten, geopolitisch bedingten, Regionalisierungen seit 1989/90 und dem Ende des Kalten Krieges. Dieses stark interdisziplinär geprägte Forschungsgebiet untersucht historische und aktuelle Migrantengruppen, und die Fragen, die sich im 21. Jahrhundert stellen, reflektieren selbstverständlich die soziokulturellen sowie geopolitischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Caroline Bretell und James Hollifield haben daher folgende Liste zusammengefasst: Anthropologen etwa möchten herausfinden 10
„auf welche Weise Migration Veränderungen innerhalb einer Kultur und bezüglich ethnischer Identität beeinflusst“; Historiker sind daran interessiert, „wie wir Erfahrungen von Migranten verstehen können“; und Soziologen konzentrieren sich zum Beispiel auf Erklärungsmöglichkeiten für Eingliederung oder Ausschluß von Migranten in etablierten Sozial- oder Kulturgruppen.6 Das Verhalten, die Erfahrungen und die Entscheidungsprozesse von Migranten stehen oft im Zentrum dieser sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekte – welche Fragen und Themen jedoch verfolgen die Geisteswissenschaften und Künste in diesem Bereich? Aus der Perspektive einer interkulturell orientierten Komparatistik sehe ich mich weiteren Fragen gegenüber, die sich zunächst im Bereich von Definitionen bewegen. Selbstverständlich existieren, sagen wir, in der Literaturwissenschaft, ganze Regalwände zur so genannten Migrantenliteratur, zum „Fremden” oder „Anderen”, zur postkolonialen
Theorie, zum „Subalternen“, zu Reiseberichten oder -romanen und zur Eroberungs- und Kolonialgeschichte. Viele Fragen zur Migration sind in den Künsten und Geisteswissenschaften beantwortet worden, zumeist in Bezug auf individuelle Erfahrungen, persönliche Wahrnehmungen, Emotionen, Hoffnungen, Enttäuschungen, Kreativität, um nur ein paar Elemente zu nennen, die den meisten menschlichen Existenzen zu Grunde liegen und literarisch/künstlerisch „verarbeitet“ werden. In ihrer Einleitung zum Katalog vom Jahre 2003, der die Ausstellung zum Thema „Migration” begleitete, betonen etwa Friedemann Malsch und Christiane Meyer-Stoll, dass es ihnen beim „Phänomen der Migration“ um die „organische Ausformung“ geht, „die zu Migration führt und durch sie wiederum bewegt wird. Was macht die Migration mit dem Menschen?“7 11
Vilém Flusser, aus der Perspektive eines von den Nationalsozialisten verfolgten Juden im brasilianischen Exil, würde antworten: die Migration macht den Menschen bodenlos. Die Bodenlosigkeit, von ihm definiert als „Stimmung“ oder „Erfahrung der Einsamkeit, ... ist grundsätzlich anti-kulturell und kann daher nicht zu Kulturformen erstarren.“ Flusser führt aus: „Es gibt Menschen, für die Bodenlosigkeit die Stimmung ist, in der sie sich sozusagen objektiv befinden. Menschen, die jeden Boden unter den Füßen verloren haben, entweder weil sie durch äußere Faktoren aus dem Schoß der sie bergenden Wirklichkeit verstoßen wurden oder weil sie bewusst diese als Trug erkannte Wirklichkeit verließen“.8 Flussers Stimmung der Bodenlosigkeit, als Ausdruck einer gewissen existentiellen Haltung, oder Zwischenrealität, steht folgende Beschreibung von John Urry entgegen, der sich dem aktuellen Begriff „Mobilität“ gewidmet hat: „It sometimes seems as if all the world is on the move. The early retired, international students, terrorists,
members of diasporas, holidaymakers, business people, slaves, sports stars, asylum seekers, refugees, backpackers, commuters, young mobile professionals, prostitutes – these and many others – seem to find the contemporary globe are the routeways of these many groups intermittently encountering one another in transportation and communication hubs, searching out in real and electronic databases the next coach, message, plane, back of lorry, text, bus, lift, ferry, train, car, web site, wifi spot and so on“.9 Urry weist auf die täglich 4 Millionen Flugreisenden hin, auf die 31 Millionen Flüchtlinge in der ganzen Welt und beschwört einen „post-disciplinary mobility turn“ – nach den linguistic, visual, cultural und spatial turns – den er definiert als „a different way of thinking through the character of economic, social and political relationships“.10 In diesem Kontrast von Bodenlosigkeit und Mobilität, 12
von „Luftmenschen“ und von Menschen in der Luft, von Sesshaften, Migranten und Nomaden, lokalisiere ich die Gegenüberstellung der hier zur Diskussion gebrachten Begriffe, ausgehend von Flussers „Täterschaft“ im Exil und seinem Entwurf einer gesamtkunstwerklichen Lebenswelt. Denn es begegnen sich Emotionen, Motivationen und ökonomische, historische, soziale und politische Voraussetzungen und Grundlagen für Menschen und die Systeme, in denen sie leben: wieso und wann etwa wird Bodenlosigkeit gepaart mit Einsamkeit und wie lassen sich im Jahre 2007 oder heute Sklaven, Flüchtlinge und Asylanten, laut Urry, in einem Satz arrangieren mit Sportgrößen, internationalen Geschäftsleuten und Rucksackreisenden? Wie entsteigen wir den klammen Binaritäten von Migranten und Sesshaften, von Touristen und Menschenhandel, von Nationalkulturtraditionen und hybriden Räumen oder Identitäten?
In Bodenlos und in Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen, um auf Flussers autobiographische Schriften zurück zu kommen, ergibt sich eine Art „cultural branding“, eine Art Marken- oder Warenpolitik, der besprochenen Kulturen, die Flusser zum Gegensatz der eigenen, zerstörten und hinter sich gelassenen, Sesshaftigkeit macht. Wie aus seinem Essay „Nomadische Überlegungen“ bekannt sein mag, betrachtet er die Sesshaften als „um eine Daseinsdimension [Zeit] amputierte Krüppel“ und assoziiert Nomaden mit Fahren, Erfahrung, und Gefahr (Kontrast Sesshafte: Sitzen, Besitz und Gewohnheit). In beiden Texten macht er sich zum Migranten als Täter, der tatkräftig ein Prag und ein Brasilien projiziert, das ein ganz bestimmtes Kulturbild liefert, ohne sich dialogisch mit anderen Zeugenschaften auseinanderzusetzen.11 Ich bezeichne Flussers Vorgehen in diesem Kontext deshalb als „cultural branding“, als es ein aktives Eingreifen in die Kreation und Identitätsbildung von gesamtkunstwerklichen Lebenswelten ist, die über allgemeine Stereotypisierung oder Imagologie, ein Nebenzweig der Komparatistik, und Nostalgie hinausgeht. Prag ersteht in Flussers Bild oder Projektion als privilegierter Ort einer hoch zivilisierten, harmonisch und modern organisierten und metonymisch auf den neuen Staat hinweisenden Stadt. Prag war „die Wirklichkeit“ einer alle nationalen (und ethnischen) Unterschiede ameliorierenden Identität, „ein existentielles Klima“, und „Prager sein bedeutete ... ein religiöses Dasein“.12 Diese Mythisierung Prags formt Flusser zu einem „cultural branding“, ein Produkt, in welchem er ein aktives intellektuelles Leben verortet und das er als „Stimmung“, wie oben dargelegt, nicht als Wirklichkeit wiederzubeleben sucht. Die andere Zeugenschaft, der Text zu Brasilien, ergibt sich in Verbindung zu diesem zwar erlebten, aber utopisch gewordenen, weil unter-
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gegangenen Prag. Im Text erkennt man einen Autor, der sich mehr als Ethnograph denn als Teilnehmer der brasilianischen Kultur schreibt, einen Standpunkt mit einem gewissen Abstand einnehmend, in der Hoffnung und im Versuch, „unvoreingenommen zu sehen und zu schildern“. Auch hier wird das „Bild eines Landes“ oder einer Kultur geliefert, und zwar die eines „nach Brasilien immigrierten Intellektuellen“.13 Von manchen Brasilianern selbst, etwa Márcio Seligmann-Silva, erfährt dieser Text daher vehemente Kritik: „[D]ie eigentliche Brasilien-Lektüre Flussers besteht aus einem Bündel lokaler oder von ihm recycelter Stereotypen“ und wiederholt unbefragt diverse Mythen der Kultur. „Flusser entwirft“, so Seligmann-Silva weiter, „eine Ontologie des brasilianischen Wesens und des Brasilianers, die mit seinem Vorschlag eines posthistorischen Denkens nicht kompatibel ist. Er essentialisiert das 14
Momentane“, was sich prägnant schon im Singular ‚des Brasilianers’ niederschlägt.14 Den beobachtenden Flusser scharf beobachtend sieht Seligmann-Silva hierbei eine ‚Wiederverzauberung der Welt’ durch Flussers Engagement in einer brasilianischen Kultur und Geschichte, in der er eben nicht als „kühler“ Ethnograph beteiligt ist, sondern die er mit Hilfe einer europäischen Werte-Matrix aktiv mitzubilden sucht: die Möglichkeiten für das „Neue“ oder den „neuen Menschen“ liegen in Brasilien in einer Art Dornröschenschlaf und sollten fast märchenhaft erweckt werden wollen – ein weiteres „cultural branding“ und die Mythisierung oder Stilisierung eines von außen kommenden, der sich als „Täter“ selbst nach langer Selbst-Arbeit regeneriert hatte. Dieser Versuch scheitert, denn, so Seligmann-Silva, Flussers Interpretation nach gab Brasilien ab dem Militärputsch von 1964 „sein Potenzial als nachgeschichtliches revolutionäres Modell auf“. Wie Rüdiger Zill in diesem Kontext hervorgehoben hat, tritt Flusser nun in die Position des „Immigrationstheoretikers“, der im Migranten prinzipiell ein Modell, den „Vorposten der Zukunft“ sieht15 – aber in welcher Form?
Migration in der Kunst Zum Vergleich möchte ich zwei Ausstellungsprojekte neben Flussers Positionierung als Täter, bzw. den Migranten als Täter, stellen. Es ergibt sich diesbezüglich die Frage, ob wir es mit einer Binarität des Drinnen und Draußen, wie Flusser es in seinem gesamtkunstwerklichen Lebensweltentwurf beschrieben und wie es etwa die Ausstellung „double movement“ gezeigt hat, zu tun haben, also einer Kontrastierung von Sesshaften und Nomaden oder Migranten (und einer vielleicht dialogisch angelegten Außen- und Innenwelt) – Modell 1 – ; oder mit einer Art Marktplatz oder Bahnhof, wie es das Kollektiv um „Utopia Station“ konzipierte – Modell 2. Im ersteren entwickelt sich Migration zweigleisig: „The aesthetic dimension of 2move develops in two different directions: the influence of immigrants in the culture of host countries, especially in the public space; and the influence of these countries on the subjective relationships of immigrants with their homelands, whether they have personal memories of that homeland or not; whether this homeland is imaginary or the product of ‘postmemory.’ These relationships, in turn, also impact on the countries of residence, where they circulate among migrants and their interlocutors, like ghosts”.16 Es ergibt sich aus diesem Hin und Her der diversen Erfahrungs- und Projektionswelten ein mehr oder weniger dialogisches Allerlei der durch gegenseitige Einflüsse geprägten virtuellen Räume des Selbst und der Migrationspositionierungen. Im zweiten Projekt präsentiert sich die Migration als kommunales Produkt, in welchem alle Beteiligten impliziert sind, mit jeweils ganz unterschiedlichen Beiträgen. „Utopia Station“ ist eine andauernde Ausstellung, ein Event und Buchprojekt, das 2002 seinen Anfang nahm und
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von Molly Nesbit, Hans Ulrich Obrist und Rirkrit Tiravanija konzipiert wurde. Seit einem ersten Zusammentreffen von Künstlern und AutorInnen im Jahre 2003 hat dieses Projekt multiple Formen angenommen und wird sich immer wieder neu manifestieren. Die Inhalte von „Utopia Station“ verändern sich stets, das Projekt selbst ist variabel, seine Identität fließend, und jede angenommene Form ist zunächst immer erst ein Zusammentreffen („gathering“ oder „assemblage“). Die Organisatoren, die Utopia Station u.a. 2003 auf der Venedig Biennale präsentierten, beschreiben es wie folgt: „The Station itself will be filled with objects, part-objects, paintings, images, screens. Around them a variety of benches, tables, and small structures take their place. It will be possible to bathe in the Station and powder one’s nose. The Station, in other words, becomes a place to stop, to contemplate, to listen and 16
see, to rest and refresh, to talk and exchange. For it will be completed by the presence of people and a program of events. Performances, concerts, lectures, readings, film programs, parties, the events will multiply. They define the Station as much as its solid objects do. But all kinds of things will continue to be added to the Station over the course of the summer and fall. People will leave things behind, take some things with them, come back or never return again. There will always be people who want to leave too much and others who don’t know what to leave behind or what to say.”17 Bezeichnenderweise lässt sich das „Utopia Station“ Projekt mit einem kurzen Statement zusammenfassen, das sein Potential, aber auch seine Flüchtigkeit wiedergibt: „For now we meet.“
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Fig. 1: Wong Hoy Cheong: „When My Gaze = Yours“, Utopia Station 2003, #142
Der Täterschaft Flussers und die Modelle eines „zweigleisig“ dialogisierenden Migranten und einer Station, auf der man sich zufällig auf eine Begegnung einlassen kann, entspricht rein visuell das Bild Wong Hoy Cheongs. Dieses gesamtkunstwerkliche Mengendiagramm, in welchem der eine Blick den anderen komplett umfängt und umgekehrt, den im Gesamtkunstwerk eingebauten Rückspiegel mit integrierend, weist wiederum auf eine Identitätskonzeption Flussers hin, in welcher er nicht die eigene Täterschaft, sondern sein Judentum dialogisch formuliert: „Wenn mich die anderen als Juden ansehen (und die anderen sind nicht nur Antisemiten, sondern insbesondere meine eigene Familie), dann erkenne ich mich in diesem Blick und sehe sie meinerseits
mit einem jüdischen Blick an. Es ist also wahr, dass ich nur bin, was ich bin, in Funktion des Blicks eines anderen, das bedeutet aber nicht, dass ich nicht das bin, was ich ‚wirklich‘ bin. ... Ich bin nur, was ich bin, Jude eingeschlossen, innerhalb der Kategorien, die mir die anderen auferlegen (Intersubjektivität), und außerhalb dieser Kategorien, in der Einsamkeit, bin ich strenggenommen nichts. Ohne den Blick der anderen existiere ich nicht“.18 Welchem Modell folgt Flusser als Beobachter und Migrationstheoretiker? Welchem folgt er in der Erkennung der Blicke der Anderen? Ist sein „cultural branding“, seine Identität stiftende Zeugenschaft bezüglich Prag und Brasilien, zweigleisig, oder projiziert er ein „for now we meet“ auch im Sinne seiner Informations- und Medientheorien, die vernetzt sind mit seiner Konzeption der Bodenlosigkeit? Oder passt keines von beiden Modellen? 18
Von Luftmenschen, Mobilen Identitäten und Nomaden Werfen wir, bevor wir die Modelle weiter verfolgen und sie mit dem Gesamtkunstwerk verbinden, einen weiteren Blick in Flussers Rückspiegel und untersuchen die Verwurzelung der Bodenlosigkeit ein wenig genauer. Es wird niemanden sonderlich verwundern, wenn ich hier die Sprache auf das ausschließlich christliche Bild des stereotypischen Wanderjuden („wandering jew“) bringe und auf die vergleichbaren, häufig antisemitisch belegten Begriffe des Luftmenschen – ein verarmter Spielertyp oder auch Intellektueller –; der Bodenlosigkeit, wie sie etwa der Linkshegelianer Bruno Bauer 1843 beschrieb; oder auch des Kosmopoliten, der des Öfteren die urbane Version des Luftmenschen lieferte, bis dieses Bild positiv umgedeutet wurde. Wir haben es hier mit ideologisch kontaminierten Konzepten zu tun – auch das
Nomadentum trägt stereotypische Orientalismen in sich – deren affirmative Betrachtung wir nicht kritiklos übernehmen sollten, sicher auch nicht von Flusser, so attraktiv dies für eine dialogisch ausgerichtete, globale Migrationsdebatte zunächst scheinen mag. Die blitzschnelle Verbreitung des wohl ältesten dieser Bilder – Ahasver, der Wanderjude – fußt auf einem kleinen deutschen Pamphlet aus dem Jahre 1602 mit dem Titel Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden mit Namen Ahauserus, etc., das allein im Erscheinungsjahr zwanzig Mal aufgelegt wurde. Wie R. Edelmann in einer Sammlung zum Thema betont, „[i]t is the German pamphlet which makes the legend about the Wandering Jew common property for the broad masses all over Europe and a source of further development within European folklore. And like the Faustus legend and others, it also soon became one of the most oft-treated motives of European art and literature“.19 Das vom Christentum konstruierte Bild des anker- und bodenlosen Juden verfestigt sich im Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Zu einer Vorstellung vom desorientierenden, weil nicht lokalisierbaren, fremden Juden, kommt die nationalistisch-republikanische Bestrebung etwa eines Fichte, der sich 1807 in seinen „Reden an die Deutsche Nation“ um die Kontaminierung der deutschen Sprache sorgt. Grund dafür liefern u.a. die gleichmacherischen Tendenzen der Aufklärung, und die Beobachtung, wie Aamir Mufti sie beschrieben hat, dass die etablierten Juden in den Jahren der französischen Besatzung gesehen wurden als „internal presence of the outside threat“.20 Hannah Arendt bezeichnete dies als patriotischen Anti-Semitismus (sich auf Rahel Varnhagen berufend). Die Anfänge der jüdischen Emanzipation im 18. Jahrhundert, basierend auf einer Elite, die sich etwa in den Berliner Salons wohnhaft gemacht hatte, wurden jedoch zunächst von der Angst vereitelt, eine Aushöhlung der beginnenden nationalen oder kulturgeographischen Identität
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durch eine sich sesshaft fühlende, aber als fremd projizierte Minorität, zu provozieren. Das Bild des Luftmenschen erweist sich hierbei als (z.T. osteuropäische) Alternative im 19. Jahrhundert, ca. 1860-1930. Wie Nicolas Berg in seinem akribisch recherchierten Buchessay zum Thema darlegt, „zielt [die Metapher] ‚Luftmensch’ vor allem, wenn auch keineswegs ausschließlich, auf einen als jüdisch markierten semantischen Zusammenhang von Armut, wechselnden Tätigkeiten und für Juden typisch wahrgenommenen Berufen. Der Begriff begegnet uns in den Quellen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zunächst als jüdische Selbstbeschreibung, später dann zunehmend als von außen kommende Fremdwahrnehmung“.21 Berg identifiziert einen, wie er es 20
nennt, „Umschlag von Ironie in Ideologie, von Literatur in Politik und von einem jüdischen in einen judenfeindlichen Diskurs“ innerhalb dieses Zeitraums.22 So begann Max Nordau ab 1901 den Luftmenschen „spezifisch jüdisch“ zu nennen, und die Vernetzung des Begriffs „Bodenlosigkeit“ mit der jüdischen Diaspora, kurz, die Infragestellung von Staatsbürgerschaften und Nationalzugehörigkeiten, die Bruno Bauer in seinen Schriften vorgenommen hatte, „wurde“, so Berg, „zu einem Meilenstein der Tendenz, die Bewertung der Juden als Kollektiv metaphorisch innerhalb der dichotomen Logik von Boden und Luft, Erde und Geist, Wurzel und ‚Entwurzelung’ vorzunehmen“.23 Gleichzeitig beginnt eine positive Besetzung des trans- oder postnationalen und kulturellen Schwebens und Fliegens und von Begriffen wie Kosmopolit (oder auch Flaneur, der Kosmopolit des Urbanen). Nicht von ungefähr ermöglichen die nagelneuen Produkte einer rasanten Technik – der Zug, das Auto, das Luftschiff, das Flugzeug, die Photographie, das
Telefon, das Radio, der Film – Bezüge und Verbindungen zu Erfahrungswelten und -räumen, die jenseits des bekannten Bodens und dann darüber lagen. Die Mobilität einer diasporisch verstreuten jüdischen Bevölkerung verkörperte in seiner projizierten weltgewandten Losgelöstheit vom lokalen Einerlei den Trend des neuen Jahrhunderts, der sich selbstverständlich auch in einer positiven Besetzung von bisher negativen Stereotypen in Literatur, Kunst und Philosophie niederließ und an Kants ‚ius cosmopoliticum’ anklingt – die Vorstellung, dass sich Individuen und Nationen einlassen können auf einen universalen Staat (die Interaktion von ius civitatis und ius gentium).24 Flusser steht hier in der Tradition einer von vielen Beteiligten, oder Möchte-gern-Beteiligten, fast religiös gefeierten, technisierten Mobilität, um nicht auch von einem Wiederbeleben des „neuen Menschen“ zu sprechen, den etwa der Expressionismus und die Avantgarden mit der Verheißung der Moderne auferstanden sahen. Flusser deutet diese Tradition an – immerhin ist er in ihr groß geworden – aber er lässt sie nicht dezidiert als Ursprung gelten. Er dachte sich nach seiner Vertreibung als Flüchtling und Exilant im Kontext einer Geschichte, die unbewohnbar geworden war, auch als ideeller Weltbürger im Kleinstkontext Prag, da die Welt, wie sie war, nicht mehr existierte. Wenn Flusser sich daher als ‚Täter’ um-schreibt, so beschreibt er sich autobiographisch zwar mit Etiketten wie Exilant oder Migrant (Emigrant aus Prag, Immigrant in Brasilien), aber eigentlich lebt er als Nomade in einer Nachgeschichte, die keinen Boden mehr hat. Denn die Frage, die ihn im ersten Abschnitt seines Textes zur Nachgeschichte beschäftigt, stellt sich andauernd wie folgt: „Wie kann man nach [Auschwitz] leben?“25 Und sie liegt zum großen Teil begründet im Schwindel erregenden Wandel einer weltbürgerlichen Fortschrittstechnik, die zum mons-
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trösen Apparat des Nationalsozialismus verkommen war. Insofern haben sich in Flussers Verständnis der Luftmensch und der Kosmopolit tatsächlich in Luft aufgelöst, nämlich indem sie zu Asche verdammt wurden und sich, wie Celan es formulierte, das Grab in der Luft schaufelten – es sind verlorene „neue“ Menschen und Welten. Verloren worden ist bei Flusser daraufhin der „Glaube an den Fortschritt“ und der „Glauben an den uns tragenden Boden, an uns selbst“.26 Bevor ich zum letzten Teil übergehe, ein kurzer Exkurs zum „Muskeljudentum“. Was Flusser mit seiner radikalen Umkehrung vom Opfer in den Täter verursacht, ist eine mögliche Rückführung seiner virilen „Täterschaft“ auf die Idee des „Muskeljudentums“ – eine historische Assoziation oder Verbindung, die er sicher sehr weit von sich gewiesen 22
hätte. Der „Muskeljude“ geht, wie auch die negativ jüdisch besetzte Identität des Luftmenschen, zurück auf Max Nordau, der 1898 einen starken, „sittlich“ gut ausgerüsteten Judentypus einforderte, um den Zionismus aktiv zu fördern – im Gegensatz zum Stereotyp des intellektualisierten, verweichlichten oder verweiblichten, dem Mythos der aufklärerischen Menschenrechte verfallenen, (ost)europäischen Juden und Talmudgelehrten. Nordau und andere Zionisten dachten hierbei zwar durchaus selbst aufklärerisch (im Sinne von Rationalität, Wissenschaftlichkeit, Politik), arbeiteten aber pragmatisch in Richtung Nationalstaat: Pro Menschenrechte durch Staatenbildung und gegen Antisemitismus. Todd Samuel Presner beschreibt dies als Nordaus Aufruf zum Aufstand gegen eine (selbst)auferlegte Machtlosigkeit oder Passivität: „The ‚Luftvolk’ of the Diaspora must become grounded [AF] as a ‚Nationalvolk’“.27 Auch hier wird ein Bild des ‚neuen – jüdischen – Menschen’ gezeichnet, ein Ideal, das sich zeitgenössisch gibt zum Beispiel in Verbindungen mit Körperkultur- oder Turnbewegungen
und -vereinen. Dieses Ideal vernetzt sich aber ebenso mit Diskursen zu einer militaristisch aufgeladenen Männlichkeit (als Anti-Diskurs zur Dekadenz) im Interesse eines energischen National- oder Gruppengefühls, im Sinne des Zionismus und als Kampf gegen den Anti-Semitismus, etwa in der Kunst eines Ephraim Moses Lilien – „regeneration“ als „an eminently political and aesthetic project“. 28 Flusser wird diesen Regenerations- und Volksbewusstseinsbestrebungen anhand eines projizierten „Muskeljuden“ womöglich auf die eine oder andere Weise begegnet sein, zumal er sich als junger Mann Mitte der 30er Jahre kurzzeitig für den Zionismus interessierte.
Von Gesamtkunstwerken, Gesprengten Rahmen und Räumen 23
Kehren wir zurück zu der Lebenswelt als Gesamtkunstwerk und den beiden anhand von Kunstprojekten dargestellten Migrationsmodellen; und klären wir nun den Begriff Gesamtkunstwerk.29 Das Gesamtkunstwerk, auch im Hinblick auf die traditionellen Verwurzelungen in frühen Theorien Wagners, verkörpert ein in der Moderne gerne verfolgtes Ideal einer Kunst im Leben, eines Lebens in der Kunst, also ein ästhetisches Projekt par excellence, indem es bestrebt ist, sich alle Medien einzuverleiben und somit die Differenz zwischen künstlerischen/ästhetischen und sozialen Bereichen aufzuheben. Eine vorläufige Definition des Terminus wäre somit die ästhetische Ambition zur Grenzenlosigkeit – ein Projekt des Zusammenspiels und der Vermischung in vielerlei heterogenen Formen. Es ist nicht synonym mit Synästhesie oder „mixed media“, aber auch nicht notwendig mit allem ästhetischen oder politischen Utopismus, und schon gar nicht zu verwenden als Reduktion zum Wagnerismus. Eher sollten wir unterscheiden zwischen drei
Formen des Mischens und des Zusammenspiels oder der Verwebung: auf einer ersten, materiellen Ebene diejenige der mangelnden Grenzen zwischen den einzelnen Künsten und Gattungen (Multimedia, Opern, synästhetische Werke), sowie auch einer Poesie von Philosophie und Kritik. Diese erste, ästhetische Ebene ist notwendig verbunden mit der nächsten, politischen Ebene: Sie markiert die Überschreitung der Grenzen zwischen Kunst und Leben oder zwischen Kunst und Gesellschaft, in kreativen Gesten oft konzipiert als kollektiv oder interaktiv, die Mitwirkung eines Publikums einschließend, mit dem Ziel einer gesellschaftlichen Transformation, auch auf utopischer oder revolutionärer Basis. Auf einer dritten Ebene kann das Gesamtkunstwerk auch die Tendenz zu einer eher metaphysischen Grenzenlosigkeit beinhalten, etwa zwischen Gegenwart, empirischer Wirklichkeit, einer Nicht24
Gegenwart oder Noch-Nicht-Gegenwart, einer imaginierten Totalität, Einheit, Unendlichkeit oder Absolutheit – eine Tendenz, die sich auch in der oft ritualistischen Eigenschaft einiger Gesamtkunstwerk-Projekte innerhalb der letzten ca. 150 Jahre manifestiert. Dieses Ensemble der Elemente oder Ebenen beschreibt ein dynamisches, komplexes, vielfältiges und vielstimmiges, ein Gesamtkunstwerk der ent-einheitlichten Singularität. Diese drei Ebenen des Gesamtkunstwerks, ästhetisch (mixed media), politisch (die Vermischung von Kunst und Leben) und metaphysisch (geistig und potentiell erlösend) erklären nicht das Totale im Gesamtkunstwerk – wie ist das „Gesamt” zu verstehen in der Formation einer Lebenswelt? Das Gesamtkunstwerk basiert auf einer ästhetischen Haltung, die sich nicht auf eine unumschränkte auktoriale Subjektivität beruft oder die Autonomie des Kunstwerks, da es seit seinem romantischen Ursprung durch ein Streben nach kollektiver Autorschaft und
der Auflösung der Grenzen zwischen Kunst und Leben charakterisiert wird. Wie es im Endeffekt schwierig bleibt, Ästhetik oder den Bereich der Kreativität und die Erfahrung von Sinnesobjekten als in irgendeiner Form widersprüchlich oder autonom abgewandt vom Leben, der Ethik oder Politik zu konzipieren, so ist dies noch weniger möglich mit dem essentiell sozialen Kunstwerk, das als Gesamtkunstwerk bezeichnet wird. „Gesamt” kann in diesem Zusammenhang also als Versammlung, als Sammlung von verschiedenen Teilen und daher als Überschreiten von Grenzen verstanden werden: Gesamt ist ein Partizip, das als Adjektiv gebraucht wird, abstammend vom Verb ‚samenen’ oder jetzt sammeln, was zusammentragen, sammeln oder versammeln bedeutet. Dies erfordert eine nuanciertere und historisierte Betrachtung der ästhetischen Idee vom Sammeln, um im Besonderen die Kontinuität des „gesammelten” Kunstwerks zu erfassen. Wie beziehen sich Sammlung und Einheit aufeinander? Welche Rolle spielen Disjunktion/Trennung und Fragmentierung in dieser Sammlung? Tatsache ist, dass die Vorstellung eines gesammelten Werks, mit diversen Kohäsionsgraden, vom abstrakten Absoluten bis zur äußersten materiellen Gestreutheit, in der menschlichen Kreativität mitschwingt (Leben und Kunst) und sich in weiteren neuen Formen manifestieren wird. Uns interessieren in diesem Kontext die im Gesamtkunstwerk implizierte Dialogizität, das Sammeln und die Gestreutheit der Kreativität im Austausch miteinander. Das dialogische Prinzip evoziert zunächst Mikhail Bachtins heteroglossischen Ansatz an Literatur und Philosophie, besonders seine Romantheorie. Sie wird auch assoziiert mit Martin Bubers „Ich und Du“ von 1923, ein Text, der Flusser stark prägte. In den bildenden Künsten bezieht sich Dialogizität auf Konnektivität und Zusammenhänge, laut Eduardo Kac:
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The dialogic principle changes our conception of art; it offers a new way of thinking that requires the use of bidirectional or multidirectional media and the creation of situations that can actually promote intersubjective experiences that engage two or more individuals in real dialogic exchanges […] that I call ‘multilogic interactions’.30 Die Verbreitung des Begriffs und seiner ungefähren Entsprechungen – Polyphonie, Intersubjektivität, Konnektivität, auch Interkulturalität – korrespondiert mit einem wachsenden Interesse an der Beobachtung vernetzter Lebenswelten durch Migration. Wie Jeffrey T. Nealon betonte, „[d]ialogic intersubjectivity, understood in terms of an impassioned play of voices, has displaced the dominant modernist 26
and existentialist metaphor of the monadic subject and its plaintive demand for social recognition and submission from the other.”31 Dieses leidenschaftliche Spiel der Stimmen drückt sich auch in der Idee des Gesamtkunstwerks aus, das durch soziale und ästhetische Kollektivität und diverse Ansammlungen des Ichs geprägt ist und Dialog und Austausch zum Thema macht, in ähnlichen Möglichkeitsfeldern, wie diejenigen, die von Flusser beschrieben wurden. Die Wirklichkeit, einst an Prag gebunden und in Brasilien gesucht, verdichtet sich nach einer Reflektion über die eigene Rolle – egal wo – im Selbst (als Täter und als Existierender in der Nachgeschichte): „Wo ich bin, dort vergegenwärtigen sich alle Möglichkeiten, denn ich bin immer gegenwärtig. Die Struktur der Möglichkeitsfelder, der blinde Zufall, erlaubt die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Man kann sich ausrechnen, was wahrscheinlich ist und was weniger wahrscheinlich, und man kann das Weltspiel bewusst mitmachen, mit den Möglichkeiten
würfeln. ... Die Stimmung [im Gegensatz zur Stimmung der Einsamkeit in Bodenlos und der im Brasilienbuch, AF] des nachgeschichtlichen Daseins ist die des kalkulierten Hasardspiels...“.32 Flusser entwirft sich somit selbst als mobile Identität und sieht sich konsequent weder geschichtlich noch geographisch gebunden. Diese Form des Nomadentums, ein Ich, das sich den Möglichkeiten dort widmet, je nachdem, in welchem Möglichkeitsfeld es sich gerade befindet, verkörpert sich sowohl in Flussers Denkansätzen (inter- und transdisziplinär), als auch in seinem Sprachgebrauch (multi-lingual). Flusser denkt und schreibt nomadisch und transfinit und innerhalb eines metaphorisch als Spiel angelegten Dialogs mit dem Innen und Außen seiner gesamtkunstwerklichen Lebenswelt. Insofern sind die Modelle der beiden Kunstausstellungen – „for now we meet” und die zweigleisige Migration (Aussen- und Innenwelt) – direkt verbunden mit einer ästhetischen, politischen und metaphysischen Verortung des Gesamtkunstwerks in seiner inhärenten Dialogizität. Flussers Konzept der Lebenswelt als Gesamtkunstwerk, ganz gleich, ob er den Begriff tatsächlich jemals theoretisiert hat, ergibt sich demnach als Reziprozität: Das Gesamtkunstwerk als Lebenswelt der Migration und die Lebenswelt der Migration als Gesamtkunstwerk. So gesehen gestaltet er aktiv, als Täter, die reflektierte Autorschaft einer mobilen Identität, die sich den gegebenen Möglichkeitsfeldern dort widmet, wo ästhetisch, politisch und metaphysisch ein Dialog entstehen kann – denn ein mehr oder weniger kalkuliertes Hazardspiel bleibt das Gesamtkunstwerk in seiner Vielstimmigkeit allemal. Zentral und in Verbindung mit dem angeführten Zitat zu Beginn dieser Diskussion, bleibt hierfür Flussers Konzept des Autors: „Was macht eigentlich ein Autor? Er sammelt Informationen, die er in bereits pro-
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duzierten Werken findet, nach Kriterien seiner Zeit und seiner Kultur. Dieser Informationsmenge fügt er Informationen hinzu, die er selbst in seinem konkreten Leben erworben hat. Unter den selbsterworbenen Informationen mögen sich auch Geräusche finden lassen, also bisher nicht vorhandene Informationen... Wenn man Geräusche in einem Kunstwerk feststellen zu können glaubt, so spricht man gern in Abhebung von einer variierenden von einer transzendenten Kreativität. Im Konzept eines unübersehbaren, aber begrenzten Möglichkeitsfeldes sind dagegen Geräusche einfach unwahrscheinliche Möglichkeiten, die im Kunstwerk wahrscheinlicher wurden und näher an die Wirklichkeit heranrückten. Der transzendent produzierende Autor wird also als Informator verstanden, als ein der entropischen Tendenz der Welt entgegengesetzter Faktor“.33 Die Täterschaft des bodenlos nomadisch 28
denkenden und schreibenden Migranten Flussers liegt demnach in der Kunst, Unwahrscheinlichkeiten wahrscheinlicher zu machen, mit als solche identifizierten Möglichkeitsfeldern, selbst erschaffenen virtuellen Räumen oder einem schlichten „for now we meet“ – im Text oder in der Wirklichkeit.
Anmerkungen
1
V. Flusser, Zwiegespräche: Interviews 1967-1991, Göttingen 1996, S. 122.
2
N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Frankfurt am Main 1995, S. 32.
3
V. Flusser, Von der Freiheit des Migranten: Einsprüche gegen den Nationalismus, Bensheim/Düsseldorf 1994, S. 107.
4
Siehe dazu: http://www.focus-migration.de/uploads/tx_wilpubdb/ LP_17_EU.pdf.
5
„The European Citizens and the Future of Europe: Qualitative Study in the 25 Member States”, Mai 2006, S. 17 [http://ec.europa.eu/public_opinion/quali/ql_futur_en.pdf].
6
Caroline Brettell and James Hollifield (Hrsg.), Migration Theory: Talking Across Disciplines, New York 2008, S. 4 [Übersetzung von Anke Finger].
7
Friedemann Malsch und Christiane Meyer-Stoll (Hrsg.), Migration, Köln 2003, S. 11.
8
V. Flusser, Bodenlos: Eine philosophische Autobiographie, Düsseldorf 1992, S. 11.
9
John Urry, Mobilities, Cambridge 2007, S. 3.
10
Ebd., S. 6.
11
Siehe dazu etwa: Peter Demetz, Böhmische Sonne, mährischer Mond. Essays und Erinnerungen, München 1996.
12
Bodenlos, S. 14 und 21.
13
V. Flusser, Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen. Für eine Phänomenologie der Unterentwicklung, Mannheim 1994, S. 15-16.
14
Márcio Seligmann-Silva, „Brücken bauen aus der Heimat heraus. Vilém Flusser und die Spuren seines Exils“, in: Susanne Klengel und Holger Siever (Hrsg.), Das Dritte Ufer: Vilém Flusser und Brasilien. Kontexte-Migration-Übersetzungen, Würzburg 2009, S. 33ff.
29
30
15
Rüdiger Zill, „Nomadentum als konkrete Utopie. Unterwegs zu einer Philosophie der Migration”, in: Das Dritte Ufer, S. 240.
16
S. http://www.doublemovement.org/index.htm
17
Molly Nesbit, Hans Ulrich Obrist, Rirkrit Tiravanija, „What is a Station?”/ Venice Biennale 2003; „And a loose community assembles”/ An interview with Molly Nesbit, Co-curator of Utopia Station, Interview, December 10, 2007; sowie: Introduction by Danielle Follett, in: Anke Finger und Danielle Follett (Hrsg.), The Aesthetics of the Total Artwork: On Borders and Fragments, Baltimore 2010 [Im Druck. http://www.e-flux.com/projects/utopia/index.html.
18
V. Flusser, Jude Sein. Essays, Briefe, Fiktionen, Mannheim 1995, S. 62.
19
Galit Hasan-Rokem und Alan Dundes (Hrsg.), The Wandering Jew: Essays in the Interpretation of a Christian Legend, Bloomington 1986, S. 8.
20
Aamir R. Mufti, Enlightenment in the Colony: The Jewish Question and the Crisis of Postcolonial Culture, Princeton 2007, S. 73.
21
Nicolas Berg, Luftmenschen: Zur Geschichte einer Metapher, Göttingen 2008, S. 11.
22
Ebd., S. 11-12.
23
Ebd., S. 23.
24
Siehe dazu auch: Andrea Albrecht, Kosmopolitismus: Weltbürgerdiskurse in Literatur, Philosophie und Publizistik um 1800, Berlin 2005; sowie zur Verbindung von Mobilität und Kosmopolitismus: Weert Canzler, Vincent Kaufmann und Sven Kesselring (Hrsg.), Tracing Mobilities: Towards a Cosmopolitan Perspective, Hampshire 2008.
25
V. Flusser, Nachgeschichte. Eine korrigierte Geschichtsschreibung, Bensheim/Düsseldorf 1993, S. 12.
26
Ebd., S. 15.
27
Todd Samuel Presner, Muscular Judaism: The Jewish Body and the Politics of Regeneration, New York 2007, S. 2. Ich danke Sebastian Wogenstein für diesen Hinweis. Siehe dazu auch: Michael Brenner, Geschichte des Zionismus, München 2002.
28
Ebd., S. 13.
29
Eine Auseinandersetzung mit dem Husserlschen Begriff „Lebenswelt” würde hier zu weit führen, aber ich verweise auf den Aufsatz von Christoph Ernst, „Verwurzelung vs. Bodenlosigkeit: Zur Frage nach ‚Struktureller Fremdheit’ bei Vilém Flusser”, in Flusser Studies 02, Mai 2006 [http://www.flusserstudies.net/pag/02/strukturellefremdheit02.pdf].
30
Eduardo Kac, „Negotiating Meaning: The Dialogic Imagination in Electronic Art,” in: Bakhtinian Perspectives on Language and Culture: Meaning in Languages Art and New Media, hg. von Finn Bostad and Craig Brandist, New York 2004, S. 199-216. Siehe dazu auch: Signs of Life. Bio Art and Beyond, hg. von Eduardo Kac, Cambridge 2007.
31
Jeffrey T. Nealon, Alterity Politics. Ethics and the Performance of Subjectivity, Durham/London 1998, S. 33.
32
Nachgeschichte, S. 196.
33
V. Flusser „Vom Autor oder vom Wachsen”, in: Florian Rötzer und Sara Rogenhofer (Hrsg.), Kunst Machen? Gespräche und Essays, München 1991, S. 68.
31
Anke Finger Professorin für Germanistik und Komparatistik an der University of Connecticut/USA. Studium der Amerikanistik, Germanistik, Geschichte und Komparatistik an der Universität Konstanz und Brandeis University (USA). Co-Editor des E-Journals Flusser Studies http://www.flusserstudies.net.
Veröffentlichungen (Auswahl) Vilém Flusser: An Introduction (mit Rainer Guldin und Gustavo Bernardo), Minneapolis 2011 The Aesthetics of the Total Artwork: On Borders and Fragments (mit Danielle Follett), Baltimore 2010 Vilém Flusser - UTB Profile (mit Rainer Guldin und Gustavo Bernardo), Paderborn 2009 32
Das Gesamtkunstwerk der Moderne, Göttingen 2006
International Flusser Lectures Bislang erschienen: Dietmar Kamper. Körperabstraktionen. Timothy Druckrey. Medien, Gedächtnis, Moderne. Harun Farocki. Bilderschatz. Manfred Faßler. Tiefe Oberflächen – Virtualität, Visualisierung, Bildlichkeit. Claudia Giannetti. Vilém Flusser und Brasilien. Susanne Hauser. Spielsituationen. Detlef B. Linke. Medientheorie, Hirnforschung und die Aufnahme der Türkei. Klaus Bartels. Cyborgs, Servonen, Avatare. Elisabeth von Samsonow. Was ist anorganischer Sex wirklich? Sigrid Weigel. Die „innere Spannung im alpha-numerischen Code”. Hinderk M. Emrich. „Was Avatare und Engel uns sagen können …“ Peter Weibel. Time Slot. Christoph Asendorf. „Knoten des zwischenmenschlichen Netzes“. Norval Baitello. Flussers Völlerei. Klaus Theweleit. Übertragung. Gegenübertragung. Dritter Körper. Paola Bozzi. „Durch fabelhaftes Denken”: Evolution, Gedankenexperiment, Science und Fiction. Rainer Guldin. „Wolkenformationen […] aus dem Dunst der Möglichkeiten.“ Zur nubigenen Einbildungskraft. Alexander R. Galloway. Außer Betrieb: Das müßige Interface Siegfried Zielinski. Entwerfen und Entbergen.
Verlag der Buchhandlung Walther König Ehrenstraße 4 D – 50672 Köln T: +49 (0)221 205 96 53
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Burgstraße 27 D – 10672 Berlin T: +49 (0)30 257 60 98 10
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Flussers Bodenlosigkeit hat Wurzeln – nicht nur tatsächliche, historische, sondern ebenso Wurzeln, die in Flussers Autobiographik, seiner Auktorialität und seinem Selbstbild verankert sind. Der Prager Flüchtling und von außen als Jude designierte Flusser betrachtete eine bewusste und reflektierte Autorschaft als Voraussetzung für ein Leben als Migrant, und man sah seine Version der Bodenlosigkeit bestückt mit Attributen wie nomadisch, nostalgisch, engagiert, erfahrend, durchlöchert, multilingual, projektorientiert und vernetzt. Die Fremdbilder, die Flusser als Flüchtling und Exilant von Prag und „vom Standpunkt eines nach Brasilien immigrierten Intellektuellen“ zeichnet, sind beides Zeugenschaften von Kulturen und Geschichten und darüber, wie Flusser sie autobiographisch erfahren und vehement reflektiert hat. Er verfolgt hiermit zweierlei: er praktiziert ein nomadisches Schreiben, von einem Text zum nächsten und zurück; er verankert oder verwurzelt sich selbst mit dieser Art der Beobachtung und Schreibweise in der jüdisch geprägten Identität des „Luftmenschen“; erstellt ein „cultural branding“ von Prag und Brasilien, die andere „Zeugen“ als z.T. äußerst kritikwürdig empfinden; und seine Existenz und sein Denken erlangen Bodenhaftung durch eine von ihm geschaffene Lebenswelt, ein Ich, der Bodenlosigkeit. In diesem Identität stiftenden Prozess schwört er einer geschichtlich aufoktroyierten Opferrolle radikal ab: er schreibt sich selbst als Täter.