DIE JÜDISCHE INTEGRATION IN DIE OBERSCHICHT ALEXANDRIENS UND DIE ANGEBLICHE APOSTASIE DES TIBERIUS JULIUS ALEXANDER
Gottfried Schimanowski I. Einleitung1 Es gehört zu den unbestrittenen Merkmalen des antiken Judentums in hellenistisch-römischer Zeit, die eigene Identität wie kein anderes Volk zu bewahren und mit allen Mitteln bewahren zu wollen. Vor einer ethnischen Vermischung und kulturellen Anpassung scheinen sich darum solche Werke wie das Weisheitsbuch, das Dritte Makkabäerbuch oder auch der Roman von Joseph und Aseneth mit Macht wehren zu wollen; trotzdem sind sie dabei aber in kultureller Hinsicht für alle, die sich für die jüdischen Tradition interessierten, höchst aktiv gewesen. Das antike Alexandrien mit seiner jüdischen Gemeinde, der größten der damaligen Zeit überhaupt,2 ist ein geeignetes Untersuchungsfeld für die Frage nach den Dimensionen jüdischer Identität in griechischrömischer Umgebung. Die öffentliche Darstellung der eigenen Größe könnte sich symbolisch in einem kulturellen Zentrum ausgedrückt haben.3 Wenn wir den literarischen Zeugnissen glauben, bestand die Hauptsynagoge Alexandriens aus einer riesigen fünfschiffigen Basilika, wohl eines der imposantesten religiösen Gebäude der Antike.4 Die rab1
Der Vortragsstil ist weitgehend beibehalten worden. Über Antiochien besitzen wir z. B. sehr wenig Informationen; vgl. J. Hahn, Die jüdische Gemeinde im spätantiken Antiochia: Leben im Spannungsfeld von sozialer Einbindung, religiösem Wettbewerb und gewaltsamen Konflikt, in: R. Jütte u. a. (Hg.), Jüdische Gemeinden und Organisationsformen von der Antike bis zur Gegenwart, Ashkenas Beiheft 2, Wien u. a. 1996, 57–89; A.M. Schwemer, Paulus in Antiochien, BZ 42 (1998), 161–180; M. Hengel, A.M. Schwemer (Hg.), Paulus zwischen Damaskus und Antiochien (WUNT 108) Tübingen 1998. 3 In Rom dagegen wird es sich um sozial schwächere Schichten gehandelt haben; in seiner Satire über die Frauen Roms erwähnt Juvenal auch eine Jüdin: magna sacerdos arboris (Sat. 6,544 f.). Möglicherweise bezieht sich dies auf Versammlungsplätze unter dem freien Himmel. 4 Zu den rabbinischen Nachrichten vgl. pSuk 4,6 und tSuk 4,6 (V,1); Philo legat. 132 gibt einen Hinweis auf die πολλα (προσευχα) δ εEσι κα’ 1καστον τµAµα τAς π2
binische Haggada erzählt von Fähnchen, die geschwenkt werden mussten, um sich auf die Entfernungen in rechter Weise bei der Liturgie zu verständigen; die rabbinische Legende erwähnt den Einsatz von antiken Megaphonen und manch andere Kuriositäten.5 Die griechische Sprache war in Alexandrien schon seit frühester Zeit völlig adaptiert worden. Hebräische oder aramäische Dokumente gab es kaum; auch zweisprachige Texte sind ausgesprochen spärlich. Die griechische Sprache war also für die Juden der Stadt zur Selbstverständlichkeit geworden.6 Die jüdischen Namen wurden mehr und mehr gräzisiert.7 Bekanntlich war in Alexandrien das ‚regionale und nationale Gesetz‘, der Pentateuch, zum ersten Mal in die lingua franca der Antike übersetzt worden und wurde auf diese verschriftlichte Weise für die Juden zu ihrer ältesten ‚Verfassung‘ überhaupt.8 Doch die bewundernswerte Architektur eines Gebäudes oder die ausschließliche Verwendung der griechischen Sprache genügten nicht, um in einer hellenistisch-römischen Gesellschaft kulturell anerkannt oder gar integriert zu sein; ganz abgesehen davon, ob es überhaupt möglich ist, eine eigene Kultur in der Architektur von Gebäuden zum Ausdruck zu bringen. Soziale Beziehungen, die Einbettung in wirtschaftliche, intellektuelle und kulturelle Bezüge, gehörten substantiell zur ‚Akkulturation‘ dazu; vor allem, wenn durch Speisegesetzgebung, Reinheitsgesetze, Kalenderbestimmungen wie dem Einhalten des Sabλεως und legat. 134 auf die Hauptsynagoge µεγστη κα περισηµοτ&τη. Vgl. M. Hengel, Proseuche und Synagoge. Jüdische Gemeinde, Gotteshaus und Gottesdienst in der Diaspora und Palästina (1971), in: ders., Judaica et Hellenistica: Kleine Schriften I (WUNT 90), Tübingen 1996, 171–195, bes. 179 f.; G. Hüttenmeister, Συναγωγ9, προσευχ9 und τπος bei Josephus und der rabbinische Hintergrund, in: J.U. Kalms (Hg.), Internationales Josephus-Kolloquium Aarhus 1999, Münster 2000, 79–96, hier: 93. Die alexandrinische Doppelstoa diente als Vorbild der Synagoge von Tiberias; Josephus erwähnt sie in Vita 277 und die Haggadah MTeh 93 (Ende) bezeichnet sie mit demselben Ausdruck. 5 Vgl. u. a. C. Haas, Alexandria in Late Antiquity. Topography and Social Conflict, London 1997, 96 f. 6 M. Hengel, Das Problem der ‚Hellenisierung‘ Judäas im 1. Jahrhundert nach Christus (unter Mitarbeit von Christoph Makschies), in: ders., Judaica et Hellenistica. Kleine Schriften I (WUNT 90), Tübingen 1996, 12–34; F. Siegert, Zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament: Eine Einführung in die Septuaginta (Münsteraner Judaistische Studien 9), Münster 2001, 25 f. 7 Zu dieser Tendenz vgl. J.M. Modrzejewski, Les Juifs d’Égypte de Ramsès II à Hadrien, Paris 1997, 115 f. 8 Zur Entstehungslegende vgl. F. Siegert, Zwischen Hebräischer Bibel (s. Anm. 6), 26–30.
die jüdische integration in die oberschicht alexandriens 113 bats, die restriktive Behandlung der Mischehenfrage usw. Verweigerungsmomente eine so große Rolle spielten wie bei den Juden, ist es von großer Bedeutung, wie diejenigen Kreise außerhalb der eigenen Gruppe geschildert und beurteilt werden. Erziehungsfragen bzw. ein gewisses Wertesystem mussten ja auf jeden Fall dazu gezählt werden.9 Politische Dimensionen vom Bürgerrecht im Gegenüber zu einer ethnischen Eigenständigkeit gehörten ebenso dazu und sind zu Recht in der Forschung Gegenstand intensiver Untersuchungen geworden. Wie kaum an einer anderen Stelle bricht am Problembereich der Apostasie die Frage nach der Wertigkeit und Funktion von Religion auf: Wer gehört (noch) zur eigenen Gruppe? Wie kommt man in sie hinein? Kann man auch aus ihr herausfallen? Wie kann man das beschreiben, was zur eigenen Identität gehört? Wie steht es also um Kernund Randbereiche der religiösen Gemeinschaft? Oder, wie es in einem neueren jüdischen Aufsatz zur Erfassung von Juden in Papyri und Inschriften heißt—wie sind zu unterscheiden und zu werten: „Good Jews, Bad Jews, and Non-Jews“?10 Der Vorwurf der ‚Apostasie‘ hat in klassischer Zeit natürlich den Glaubensabfall, d. h. eine wie auch immer geartete klare, normierende Vorstellung von Orthodoxie, vor Augen.11 Diese Deutung kann in der hier angesprochen Zeit nicht vorausgesetzt werden; wie aber müsste in hellenistisch-römischer Zeit eine solche Beurteilung gefüllt werden und wie könnte gar ein positiver Begriff als Gegenüber zur ‚Apostasie‘ 9 Vgl. den wichtigen Begriff der παιδεα, die in allen literarischen Texten Alexandriens eine herausragende Rolle spielt. Vgl. den Überblick bei M. Hengel, Judentum und Hellenismus: Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jhd. v. Chr. (WUNT 10); Tübingen 31988, 120–142 (vor allem für Palästina). Besser vielleicht als von ‚Apostasie‘ zu reden wäre der Begriff der Akkomodation, im Sinne einer Überfremdung der eigenen religiösen und kulturellen Wurzel (aber auch hierbei gibt es beide Tendenzen der Integration und der abgrenzenden Opposition). 10 G. Bohak, Good Jews, Bad Jews, and Non-Jews in Greek Papyri and Inscriptions, in: Bärbel Kramer u. a. (Hg.), Akten des 21. Internationalen Papyrologenkongresses, Berlin, 13.-19.8.1995, Stuttgart / Leipzig 1997, Bd. 1, 105–112; vgl. G.G. Porton, Who was a Jew?, in: J. Neusner u. a. (Hg.), Judaism in Late Antiquity, Bd. 3: Where we stand: Issues and Debates in Ancient Judaism, Bd. 2, Leiden 1999, 197–218. 11 Zum Begriff ποστασα als Neologismus der Septuaginta im religiösen Sinn s. F. Siegert, Zwischen Hebräischer Bibel (s. Anm. 6), 279 mit Verweis auf Num 14,9 und Jos 22,16.19; vgl. J.M.G. Barclay, Deviance and Apostasy: Some Applications of Deviance Theory to First-Century Judaism and Christianity, in: Ph.F. Esler (Hg.), Modelling Early Christianity: Social-scientific Studies of the New Testament in Its Context, London u. a. 1995, 114–127.
aussehen? Wo liegen hierbei innerhalb einer ethnischen Gruppierung wie den Juden die eigenen Maßstäbe, ganz zu schweigen von dem schier unlösbaren Problem, solch eine ausgesprochene Abgrenzung von der Außensicht anzugehen? Innerhalb einer modernen methodischen Fragestellung einer ,sociology of deviance‘ ist hierbei darum zu Recht immer wieder die Perspektive der Interaktion zwischen allen beteiligten Seiten und Gruppen betont und auf das Problem einer Stigmatisierung aufmerksam gemacht worden.12 Dieser Problembereich soll hier im Mittelpunkt stehen und an einem exemplarischen Fall der Gestalt des jüdischen Alexandriners13 Tiberius Julius Alexander dargestellt werden. II. Die Juden Alexandriens in einer multikulturellen Gesellschaft des 1. Jh. n.Chr. Weithin wird stillschweigend vorausgesetzt, dass die jüdische Gemeinde Alexandriens seit ptolemäischer Zeit aus einer relativ einheitlichen Bevölkerungsgruppe bestand, auch wenn das keineswegs sicher ist.14 Beim Aufstand gegen Ptolemaeos Physkon hielten sich die Juden zur alexandrinischen Oberschicht.15 Auf jeden Fall waren sie zu dieser Zeit eine ethnische Gruppe mit großem Einfluss und einer Reihe eigener Rechtsverhältnisse, weniger in sozialer, eher aber in kultureller Hinsicht. Muss man im Rom schon von den ersten—noch recht im Dunkeln liegenden—Zeiten im Plural von ‚den Gemeinden‘ reden, kann man für Alexandrien durchaus erwägen, sich für diese Zeit mit dem Singular begnügen. Das bedeutet natürlich nicht, dass die literarische Erwähnung einer großen Anzahl von Synagogengebäuden dadurch
12 Zur Thematik s. weiter J.M.G. Barclay, Jews in the Mediterranean Diaspora from Alexander to Trajan (323 BCE – 117n CE), Edinburgh 1996, 92–102; S. Pearce, Belonging and Not Belonging: Local Perspectives in Philo of Alexandria, in: S. Jones, S. Pearce (Hg.), Jewish Local Patriotism and Self-Identification in the Graeco-Roman Period, Sheffield 1998, 79–105. 13 Zur—wohl despektierlichen—Bezeichnung bei Tacitus, Hist. 1,11:1 f. als „Ägypter“ s. u. In dem von ihm überlieferten Edikt OGIS 669, Z. 3 f. als Präfekt von Ägypten ist schon zu Anfang die persönliche Verbundenheit mit seiner Heimatstadt—sicher nicht nur als captatio benevolentiae—mit Händen zu greifen. 14 Erst für die römische Zeit hat z. B. V. Tcherikover unterschiedliche politische Präferenzen unter den Juden z.Zt. des Claudius postuliert, ohne das näher zu spezifizieren in CPJ 1, 72–74. 15 Jos.Apion. 2,13 ff.
die jüdische integration in die oberschicht alexandriens 115 keine historische Plausibilität mehr hätte; die (wenigen) epigraphischen Zeugnisse sind über die ganze Stadt verstreut; das alles unterstreicht die ungehinderte Verbreitung der jüdischen Bevölkerung,16 die es schwierig macht, in dieser Zeit von einer wie immer gearteten Gettoisierung auszugehen, was auch später nach den ersten Pogromen immer noch nicht ganz zutreffend sein wird. So begegnen uns in Alexandrien keinerlei Nachrichten über selbständige Synagogengemeinden.17 Josephus behauptet schon für die frühe ptolemäische Zeit eine jüdische Einwohnerschaft. Seinen pauschalen Angaben muss aber mit Skepsis begegnet werden.18 Aber es könnte durchaus sein, dass in Alexandrien zu Beginn der römischen Zeit 20–30 % dieser größten Stadt des östlichen Mittelmeerraumes der jüdischen Bevölkerung zugerechnet werden könnten.19 Das macht die Gemeinde so außerordentlich interessant für die Erforschung der Fragen zur gesellschaftlichen Integration und religiösen Abgrenzung. Auf jeden Fall ist noch für die 16 Auch Philon spricht von allen Bezirken, in denen Juden sich niedergelassen haben (Philo Flacc. 55; Philo legat. 132). Es ist nur natürlich, wenn ethnische Gruppen sich dann auf einige Teile der Stadt besonders konzentrierten; so gab es auch in Edfu (Apollinopolis Magna) einen (vierten) Bezirk mit der Bezeichnung „Delta“, in dem viele Juden konzentriert lebten; CPJ. II, 108 f. Über 20 der rund 240 Ostraka aus der Zeit nach 70 n.Chr. beginnen dort mit der (Orts-)Angabe δ’ µφδου CPJ 213.216.221.346. 349.351.356.372 usw. 17 Die Vielfalt jüdischer Einstellungen wird für Alexandrien damit grundsätzlich nicht bestritten. Das gilt vor allem nicht für die anderen Stimmen aus Ägypten, wo der Kult am Tempel von Leontopolis nach der Meinung mancher Historiker heute eine besondere Rolle mit einer größeren Tendenz zur Abgrenzung gespielt haben muss. Dabei ist aber auch das Stadt-Land-Gefälle mit zu berücksichtigen. Über Sympathisanten oder Gottesfürchtige aus Alexandrien besitzen wir keinerlei Nachrichten; allerdings spielt der Begriff εοσεβ9ς bei Philon durchaus eine wichtige Rolle. Bei ihm wird dabei aber eine Anspielung auf den ethnischen Begriff „Israel“ vorauszusetzen sein, der in den Auslegungen selbst weiter allegorisiert wird. 18 Jos.Apion. 2,35.42; vgl. Jos.Bell. 2,287. Für die Zeit unter den beiden ersten Ptolemäern spricht der Aristeasbrief allgemein von 100 000 Kriegsgefangenen (Arist. 37: Iπρ δκα µυρι&δες αEχµαλ
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