Die hebräische Prophetie bei Max Weber, Ernst Troeltsch und Hermann Cohen, in: W. Schluchter (ed.), Asketischer Protestantismus und der \"Geist\" des modernen Kapitalismus, 2005 (Mohr Siebeck)

May 26, 2017 | Author: Eckart Otto | Category: Sociology, Old Testament Prophecy, Jewish - Christian Relations, Jewish Philosophy, Deuteronomy, Torah/Pentateuch, Philosopy, Theology, Social Studies, Judaic Studies, Philosopy, Judaica, Biblical Hermeneutics, Torah/Pentateuch, Philosopy, Theology, Social Studies, Judaic Studies, Philosopy, Judaica, Biblical Hermeneutics
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Die hebräische Prophetie bei Max Weber, Ernst Troeltsch und Hermann Cohen Ein Diskurs im Weltkrieg zur christlich-jüdischen Kultursynthese

„Platon und die Propheten sind die beiden wichtigsten Quellen der modernen Kultur überhaupt.“ Hermann Cohen

„Die Redlichkeit eines heutigen Gelehrten, und vor allem eines heutigen Philosophen, kann man daran messen, wie er sich zu Nietzsche und Marx stellt. Wer nicht zugibt, daß er gewichtigste Teile seiner eigenen Arbeit nicht leisten könnte, ohne die Arbeit, die diese beiden getan haben, beschwindelt sich selbst und andere. Die Welt, in der wir selber geistig existieren, ist weitgehend eine von Marx und Nietzsche geprägte Welt.“ So soll es Max Weber kurz vor seinem Tod einem Studenten gegenüber geäußert haben1. In dieser Spannung zwischen Friedrich Nietzsche2 und Karl Marx3 bewegten sich auch die Interpretationen der hebräischen Propheten von Max Weber, Ernst Troeltsch und Hermann Cohen4 1 2

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Vgl. Eduard Baumgarten, Max Weber. Werk und Person, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1964, S. 554f. Zu Max Webers durch Georg Simmel vermittelte Nietzsche-Rezeption vgl. Wolfgang Schluchter, „Zeitgemäße Unzeitgemäße. Von Friedrich Nietzsche über Georg Simmel zu Max Weber“, Revue International de Philosophie, Jg. 49, 1995, S. 414–432; Klaus Lichtblau, Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996, S. 126–177. Zur Nietzsche-Rezeption in der Soziologie siehe auch Roger Häußling, Nietzsche und die Soziologie. Zum Konstrukt des Übermenschen, zu dessen anti-soziologischen Implikationen und zur soziologischen Reaktion auf Nietzsches Denken, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 165ff.; Klaus Lichtblau, „Nietzsche und die Soziologie“, Nietzsche-Studien, Jg. 31, 2002, S. 404–407. Zum Kontext der Nietzsche- Rezeption in Deutschland vgl. Steven E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, Stuttgart: J.B. Metzler 1996 (zu Max Weber, a.a.O., S. 332f.). Max Weber hat sich am 13. Juni 1918 in einem Vortrag vor Offizieren der k.u.k. Armee in Wien mit dem Problem des Sozialismus auseinandergesetzt; vgl. Max Weber, Der Sozialismus, Wien: „Phöbus“ Kommissionsverlag Dr. Viktor Pimmer o. J. (1918) = ders., Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914-1918, hg. von Wolfgang J. Mommsen/Gangolf Hübinger, MWG I/15, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1984, S. 599–633, und noch im Sommersemester 1920 eine Vorlesung zu diesem Thema gehalten; siehe dazu Max Rehm, „Erinnerungen an Max Weber (1919/20)“, in: König, René/Winckelmann, Johannes (Hg.), Max Weber zum Gedächtnis, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 7 (Sonderheft), 1963, S. 24–28. Zu Max Webers Diskussion des Sozialismus siehe Werner Gephart, Handeln und Kultur. Vielfalt und Einheit der Kulturwissenschaften im Werk Max Webers, stw 1374, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 147ff. Noch immer lesenswert ist Karl Löwith, „Max Weber und Karl Marx“ (1932), in: ders., Gesammelte Abhandlungen, Stuttgart: Kohlhammer 1960, S. 1–67, sowie Wolfgang Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. I: Studien zu Max Webers Kultur- und Werttheorie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, 64–79. Auch wenn Hermann Cohen sich stets abfällig über Nietzsche geäußert hat, ist doch dessen Einfluß auf Cohens Werk noch in der Abwehr unverkennbar.

I. Max Webers Interpretation der hebräischen Prophetie Nachdem Max Weber in dem noch 1908 ausgelieferten Beitrag zu den „Agrarverhältnissen im Altertum“ für die dritte Auflage des „Handwörterbuchs der Staatswissenschaften“, in den er erstmals einen Abschnitt zu „Altisrael“ einfügt5, sich nur knapp zur hebräischen Prophetie äußert 6, kommt er erstmals 1911/12 im Rahmen des Deponatsmanuskripts „Ethik und Mythik/rituelle Absonderung“ (BSB München, Ana 446/1, Bl. 51-60)7 ausführlicher auf die Prophetie im Alten Testament als „erste Komponente“ der jüdischen Religion neben dem Priestertum als ihrer „zweiten Komponente“, die im Gegensatz zur Prophetie im Vordergrund des Deponatsmanuskripts steht, zu sprechen. Max Weber interpretiert in diesem Manuskript mit Julius Wellhausen die Formierung des nachexilischen Judentums zu einem Konfessionsverband unter Leitung des Priestertums als Folgewirkung der Prophetie8. In diesem Zusammenhang rezipiert Max Weber aus der Habilitationsschrift des Berliner Kirchenhistorikers Karl Holl 9 das semantische Spektrum des Charisma-Begriffs, der dort die Begabung zur Wahrnehmung des 5

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Vgl. Max Weber, „Agrarverhältnisse im Altertum“, in: Conrad, J., u.a. (Hg.), Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. I, Jena: Gustav Fischer, 3. Auflage 1909, S. 52–188 = Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (GASW), Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 2. Auflage 1988, S. 1–288. Vgl. dazu Eckart Otto, Max Webers Studien des Antiken Judentums. Historische Grundlegung einer Theorie der Moderne, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 2002, S. 182–191. Der Text ist erstmals ediert und kommentiert in Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum. Schriften und Reden 1911–1920, hg. von Eckart Otto, MWG I/21.1–2, Bd. I, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 2005 (hinfort MWG I/21.1–2), S. 176–207. Max Weber rezipiert im Deponatsmanuskript „Ethik und Mythik/rituelle Absonderung“ neben Julius Wellhausen (Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin: Georg Reimer, 6. Auflage 1907) vor allem Studien aus der Religionsgeschichtlichen Schule von Hermann Gunkel (Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung über Gen. 1 und Ap. Joh. 12, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1895) und Hugo Greßmann (Der Ursprung der israelitisch-jüdischen Eschatologie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1905). Hugo Greßmanns Monographie hat, wie die Ausführungen zu den Mythen des Weltuntergangs und des Goldenen Zeitalters zeigen, auch Hermann Cohen rezipiert; dazu ist Hermann Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Nach dem Manuskript des Verfassers neu durchgearbeitet mit einem Nachwort versehen von Bruno Strauß, Frankfurt/Main, 2. Auflage 1929 (Nachdruck Darmstadt: J.B. Melzer 1966), S. 285ff., mit ders., Ethik des reinen Willens, Berlin: Bruno Cassirer 1904, S. 379f., zu vergleichen. Allerdings machen Max Weber und Hermann Cohen einen unterschiedlichen Gebrauch von dem Material der altorientalischen Religionsgeschichte. Ist Max Weber mit den Vertretern der Religionsgeschichtlichen Schule und Eduard Meyer überzeugt, daß sich die Geschichte und Religionsgeschichte des Antiken Judentums nur in ihren Verzahnungen mit denen des Alten Orients darstellen lassen (vgl. dazu Eckart Otto, Max Weber, S. 66ff.), dient für Hermann Cohen die altorientalische Religionsgeschichte auf einer Stufe mit der griechischen stehend nur der Charakterisierung mythischer Religion, an der sich unterschiedlich konsequent die griechische Philosophie in Gestalt Platons und vor allem die hebräischen Propheten abgearbeitet haben sollen. Zu Max Wieners davon abweichender Rezeption der Religionsgeschichtlichen Schule vgl. u. Anm. 109. Vgl. Karl Holl, Enthusiasmus und Bussgewalt beim griechischen Mönchtum. Eine Studie zu Symeon dem Neuen Theologen, Leipzig: J.C. Hinrichs 1898.

mönchischen Amtes und dessen Legitimation durch Wundertaten bezeichnet, und überträgt ihn auf die hebräische Prophetie10. In der vor dem Weltkrieg verfaßten Studie „Religiöse Gemeinschaften“11 ergänzt Max Weber diesen Charisma-Begriff durch Aspekte, die er inzwischen von Rudolph Sohm übernommen hat 12, und entwickelt den Typus des „Propheten“, der von denen des „Priesters“, „Zauberers“, „Lehrers“ oder „Philosophen“ geschieden als charismatisch qualifiziert durch politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit gekennzeichnet sei. Max Weber differenziert zwischen einer „exemplarischen Prophetie“, die das Leben des Propheten als Heilsweg propagiere, und einer ethischen „Sendungsprophetie“, die im Auftrag eines Gottes Gehorsam gegen konkreten Befehl oder abstrakte Norm fordere13. Die Gemeindebildung sei ein Ergebnis der Veralltäglichung des prophetischen Charismas. Damit ist in der Studie der „Religiösen Gemeinschaften“ das Fundament für die Darstellung der hebräischen Prophetie im Rahmen der Aufsätze zur Wirtschaftsethik der Kulturreligionen im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ gelegt. Zwischen Ende Juli und Anfang August 1916 beginnt Max Weber mit der Ausarbeitung des Manuskripts zur Wirtschaftsethik des antiken Judentums 14, mit

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Max Weber rezipiert im Deponatsmanuskript, Bl. 51/52(Max Weber, MWG I/21.1–2, Bd. I, S. 177–190) auch die von Eduard Meyer („Die Mosesagen und die Lewiten“, SPAW, Jg. 1905, S. 640–652, hier S. 651) vertretene These eines aus Ägypten stammenden eschatologischen Schemas der hebräischen Prophetie, die er 1916/17 aber ablehnt; vgl. Eckart Otto, Max Weber, S. 44f. Auch Hermann Cohen („Das soziale Ideal bei Platon und den Propheten“ [1916], in: ders., Jüdische Schriften, Bd. I: Ethische und religiöse Grundfragen, Berlin: C.A. Schwetschke & Sohn 1924, S. 306–330, hier S. 327f.) lehnt diese These ab, da sie übersehe, daß die Propheten Israels im Gegensatz zu denen Ägyptens die Vernichtung des eigenen Staates für eine Voraussetzung der Durchsetzung der Sittlichkeit in der Zukunft hielten. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß – Teilband 2: Religiöse Gemeinschaften, hg. von Hans G. Kippenberg, MWG I/22-2, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 2001, S. 177–194. Vgl. Rudolph Sohm, Kirchenrecht, Bd. I: Die geschichtlichen Grundlagen, Leipzig: Duncker & Humblot 1892, S. 25ff.; siehe dazu Eckart Otto, Max Weber, S. 196f. Das Deponatsmanuskript insgesamt wirft ein neues Licht auf die Entwicklung von Max Webers Charisma-Konzeption, was auch zu einer Revision in bezug auf die Genese der „Herrschaftssoziologie“ zwingt; siehe zur Herrschaftssoziologie zuletzt Thomas Kroll, „Max Webers Idealtypus der charismatischen Herrschaft und die zeitgenössische Charisma-Debatte“, in: Hanke, Edith/Mommsen, Wolfgang J. (Hg.), Max Webers Herrschaftssoziologie. Studien zu Entstehung und Wirkung, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 2001, S. 47–72; Rongfeng Wang, Cäsarismus und Machtpolitik. Eine historisch-biobibliographische Analyse von Max Webers Charismakonzept, Soziologische Schriften 63, Berlin: Duncker & Humblot 1997; siehe dazu unten Anm. 23 Zu Max Webers Entwicklung des Typus des Propheten in der Studie der „Religiösen Gemeinschaften“ vgl. auch Bernhard Lang, „Prophet, Priester, Virtuose“, in: Kippenberg, Hans G./Riesebrodt, Martin (Hg.), Max Webers „Religionssystematik“, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 2001, S. 167–191; Martin Riesebrodt, „Ethische und exemplarische Prophetie“, a.a.O., S. 193–208; Eckart Otto, Max Weber, S. 191–204. Siehe dort (a.a.O., S. 30–33. 128–130. 203) auch zur literarischen Fortschreibung des Manuskripts der „Religiösen Gemeinschaften“. Siehe dazu auch meinen Editorischen Bericht in Max Weber, MWG I/21.1–2, Bd. I, S. 211–234. Max Webers Beginn mit der Ausarbeitung des Antiken Judentums für das Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik fällt mit dem Erscheinen von Ernst Troeltschs Aufsatz zum Ethos der hebräischen Propheten im Juli 1916 zusammen; s.u. II.

dem er seine erste geschlossene Darstellung der biblischen Prophetie vorlegt 15. Im Oktober 1917 erscheint in Band 44/1 des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ die erste Lieferung dieser Studien zum antiken Israel unter dem Titel „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum“, im Januar 1920 im Band 46/3 des „Archivs“ die letzte Lieferung. 16 Max Weber verortet in einem ersten Abschnitt dieser Studie mit der Überschrift „Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe“ den Ursprung des Charismas der hebräischen Prophetie wie bereits im Deponatsmanuskript in der Kriegerekstase der frühen Kriegsprophetie als Organ der JHWH-Berit17, die von ihren Anfängen an mit der Monolatrie verbunden gewesen sei, so daß die Abwehr fremder Götter ein Grundzug der hebräischen Prophetie geworden sei. Mit Entwaffnung und damit verbundener Plebejisierung der israelitischen Bauernschaft in der Königszeit sei auch die Kriegerekstase der Nebiim zur Nabi-Ekstase der Königspropheten einerseits und einer freien Prophetie andererseits, die der ekstatischen Weissagung gegen Bezahlung für Privatpersonen nachgegangen sei, fortentwickelt worden. Daneben habe sich ein Typus von Propheten etabliert, denen jede Verwertung des ekstatischen Charismas ein Greuel gewesen sei18. Dieser Typus habe mit Elia einen Höhepunkt erreicht und als einen neuen Typus den der „Schriftpropheten“ aus sich herausgesetzt, die sich nicht mehr nur an Einzelpersonen, sondern die große Öffentlichkeit gewendet haben. Diese Propheten des Unheils seien die „großen Einsamen“ gewesen, denen als Maßstab der Kritik das „gute alte Recht“ des Bundes gedient habe und die damit Gehör bei den sozialen Verlierern des Staatsbildungs- und Urbanisierungsprozesses und der daraus resultierenden Plebejisierung der freien Bauernschaft, die einem utopischen 15 16

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Siehe dazu Eckart Otto, Max Weber, S. 205–245. Im Folgenden werden diese Studien nach der kritischen Textausgabe in MWG I/21.1–2 zitiert. Bereits der Buchfassung des dritten Bandes der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie hat Marianne Weber auch das Manuskriptfragment „Die Pharisäer“ beigegeben, das im Kernbestand unter Verwendung eines um 1905/6 gefertigten Exzerptes aus der Monographie von Emil Schürer (Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christ, Bd. I: Einleitung und politische Geschichte, Leipzig: J.C. Hinrichs, 4. Auflage 1901) während des Krieges geschrieben, zwischen Herbst 1919 und Frühjahr 1920 aber noch einmal intensiv überarbeitet und u. a. durch Abschnitte zur hebräischen Prophetie erweitert wurde; vgl. dazu meinen Editorischen Bericht in Max Weber, MWG I/21.1–2, Bd. I, S. 755–773, sowie zur Interpretation und Werkgeschichte Eckart Otto, „Die Pharisäer. Eine werkbiographische Interpretation der gleichnamigen Studie Max Webers einschließlich des unveröffentlichten Schürer-Exzerptes BSB München, Ana 446/1“, Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte, Jg. 8, 2002, S. 1–87; s. dazu u. III. Zur forschungsgeschichtlichen Einordnung von Max Webers Bundeskonzeption in ihrer Abhängigkeit von der Diskussion innerhalb der Alttestamentlichen Wissenschaft vgl. Eckart Otto, „Die Ursprünge der Bundestheologie im Alten Testament und im Alten Orient“, Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte, Jg. 4, 1998, S. 1–84, hier S. 2–17. Zur werkgeschichtlichen Verortung ihrer Entwicklung in Max Webers Beschäftigung mit dem Antiken Judentum siehe Eckart Otto, Max Weber, S. 37f. 101–108. 135–151. 177–180. 252– 258. Vgl. Max Weber, MWG I/21.1–2, Bd. 1, S. 382f. Zur Geschichte der protestantischen Prophetenforschung siehe Konrad Schmid, „Klassische und nachklassische Deutungen der alttestamentlichen Prophetie“, ZNThG 3, 1996, S. 225–249. Zu ihrem gegenwärtigen Stand vgl. Jörg Jeremias, Art. Prophet/Prophetin/Prophetie II. Altes Testament, Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Bd. VI, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 2003, Sp. 1694–1699.

„nomadischen Ideal“ anhingen19, gefunden hätten. Diese Schriftpropheten seien aber nicht als Exponenten und Interessensvertreter dieser Schichten, also nicht als Sozialdemagogen, sondern als „rein religiös“ motiviert zu verstehen20. Entfaltet Max Weber die Geschichte der hebräischen Prophetie im ersten Abschnitt „Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe“ des Antiken Judentums unter einer sozialhistorischen Perspektive, so steht die Prophetie im zweiten Abschnitt mit der Überschrift „Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes“ unter der Fragestellung im Zentrum, wie weit die Prophetie die nachexilische Gemeindebildung ermöglicht habe. Max Weber will aber auch hier die innerweltlichen Folgen auf außerweltliche Ziele gerichteter Religion in Gestalt der hebräischen Prophetie aufzeigen. Ein erster Unterabschnitt „Die vorexilische Prophetie. Politische Orientierung der vorexilischen Prophetie“ 21 will zeigen, daß mit zunehmender Verdüsterung der politischen Horizonte in der Assyrerzeit die Schriftprophetie den für sie typischen Charakter angenommen habe. Sie habe in den politischen Raum hinein agitiert, um der Majestät des israelitischen Bundesgottes gegen politische Machtgebaren Geltung zu verschaffen, indem für sie die Großmächte zu Werkzeugen in der Hand Gottes geworden seien. In einem zweiten Unterabschnitt „Psychologische und soziologische Eigenart der Schriftpropheten“ 22, der der Kernabschnitt in Max Webers Propheteninterpretation im Antiken Judentum ist, will er die rein religiöse Motivation der Schriftpropheten dadurch erweisen, daß er die prophetische Verkündigung auf außeralltägliche psychische Befindlichkeiten zurückführt, die in einem zweiten Schritt des Umschlagens des Charismas in den Prozeß veralltäglichender Rationalisierung vom Propheten der Deutung unterzogen worden seien23. Diese Interpretation, die Thesen, die prophetische Kritik bündele Interessen von Gesellschaftsgruppen, durchkreuzen will, stützt Max Weber durch 19

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Max Weber greift hier auf Karl Buddes amerikanische Vortragsreihe von 1898 zurück; vgl. Karl Budde, Die altisraelitische Religion, Gießen: Alfred Töpelmann, 3. Auflage 1912. Zum Einfluß des Amerikaners Louis Wallis vermittelt durch Ernst Troeltsch auf diese sozialhistorische Rekonstruktion der Geschichte der hebräischen Prophetie s.u. II. Die Analogien zu Max Webers Ideal des intellektuell redlichen Wissenschaftlers in der Moderne, der einsam ohne Gefolgschaft und ohne gesellschaftliche Interessen als Sprachrohr zu dienen und das Unabwendbare aufzuzeigen habe, sind unübersehbar; vgl. auch Friedemann Voigt, „Das protestantische Erbe in Max Webers Vorträgen über ‚Wissenschaft als Beruf‘ und ‚Politik als Beruf‘“, ZNThG, Jg. 9, 2002, S. 245–267, hier S. 255. Max Weber weist entsprechend gleichermaßen marxistisch gelenkte Interpretationen der biblischen Schriften (vgl. u.a. Max Beer, „Ein Beitrag zur Geschichte des Klassenkampfes im hebräischen Alterthum“, Die Neue Zeit, Jg.11, 1893, S. 444–448) wie solche eines Mittelstandsideals der katholischen Soziallehre (vgl. Franz Walter, Die Propheten in ihrem sozialen Beruf und das Wirtschaftsleben ihrer Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte der Sozialethik, Freiburg/Br.: Herder 1900; ders., „Über Agrar- und Mittelstandspolitik im hebräischen Altertum“, Die Wahrheit, Jg. 5, 1900, S. 58–67) zurück. Wie nahe Max Webers Propheteninterpretation auch seinem Selbstverständnis als unabhängiger Persönlichkeit während des Weltkrieges kam, notiert nicht nur Marianne Weber (Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen: J.C.B. Mohr [Paul Siebeck], 3. Auflage 1984, S. 604– 605), sondern zeigen auch seine öffentlichen Auftritte in den Jahren 1916–1918, in denen er für „letzte Standpunkte“ verantworteter Entscheidung auch in der Politik eintritt; siehe dazu Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 2. Auflage 1974, S. 472. Max Weber, MWG I/21.1–2, Bd. II., S. 604–619. Max Weber, MWG I/21.1–2, Bd. II, S. 619–664.

eine soziologische Erörterung, die die Unabhängigkeit der Propheten vom Klasseninteresse, ja wie bei Jeremia sogar von ihren Familien, erweisen soll. Die prophetischen Weissagungen sollen also in dunkler werdender politischer Situation ihren Ursprung nicht im rationalen Kalkül prophetischer Theodizee, sondern in der rationalen Deutung ekstatischen Erlebens haben24. In den folgenden drei Unterabschnitten „Ethik und Theodizee der Propheten“, „Eschatologie und Propheten“25 und „Die Entwicklung der rituellen Absonderung und der Dualismus der Innen- und Außenmoral“26 beschreibt Max Weber die Wirkungen der Prophetie auf die Ethik und vermittelt über die Ethik auf die Konstituierung der nachexilischen Gemeinde als Konfessionsverband. Obwohl die Propheten in einer Haltung utopischer Weltindifferenz lebten, hätten sie dadurch auf die Ethik gewirkt, daß sich die Menschen fragten, was sie zur Abwendung des angekündigten Unheils und zur Erlangung des Heils in ihrem Alltagsethos tun könnten. Die Propheten hätten abgesehen von Ezechiel27 selbst keine Programmtexte idealer Ethik oder Gesellschaft entworfen, sondern durch ihre rein religiös motivierten Weissagungen auf die Menschen als ihren Resonanzboden gewirkt und so Recht und Ethos beeinflußt. Nachexilisch habe sich in die Rezeption der prophetischen Weissagungen gegen die Fremdvölker durch die Gemeinde die 23

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Nirgendwo sonst kann Max Weber das Umschlagen des Charisma in einen Prozeß seiner Veralltäglichung so genau beschreiben wie in der alttestamentlichen Prophetie. Er knüpft an Friedrich Giesebrecht (Die Berufsbegabung der Alttestamentlichen Propheten, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1897) an, der den Rationalismus Abraham Kuenens mit dem Supranaturalismus Eduard Königs verband. Mit Hermann Gunkel („Die geheimen Erfahrungen der Propheten Israels. Eine religionspsychologische Studie“, in: Daab, Friedrich/Wegener, Hans [Hg.], Das Suchen der Zeit. Blätter deutscher Zukunft, Bd. I, Düsseldorf/Leipzig: Karl Robert Langewiesche 1903, S. 112–153) und vor allem dem von der Leipziger Schule beeinflußten Gustav Hölscher (Die Profeten. Untersuchungen zur Religionsgeschichte Israels, Leipzig: J.C. Hinrichs 1914) deutet Max Weber die ekstatisch-außeralltäglichen Erscheinungen in der Prophetie strikt psychologisch. So sehr Max Weber das außeralltägliche Erleben der Propheten mit psychologischen Kategorien zu beschreiben sucht, so fern liegt ihm der Typus des historischen Verstehens durch individualpsychologisch geleitetes „Nachempfinden“; vgl. dazu Ho-Keun Choi, Max Weber und der Historismus. Max Webers Verhältnis zur Historischen Schule der Nationalökonomie und zu den zeitgenössischen deutschen Historikern, Waltrup: H. Spenner 2000, S. 226ff. Dem psychologisierenden Nachempfinden als Modus des historischen Verstehens der Propheten wehrt schon die These der prophetischen Rationalisierung außeralltäglichen Erlebens, die eine rationale Methode des Verstehens erfordere;vgl. dazu Max Weber, „Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 5. Auflage 1982, S. 266ff. Keinen Zugang hat Max Weber zu Bernhard Duhms parapsychologischer Interpretation. Einfluß auf Max Webers Propheteninterpretation hat dagegen Ernst Troeltschs Vortrag in St. Louis im Rahmen der gemeinsamen Amerikareise von 1904; siehe dazu Ernst Troeltsch, Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft. Eine Untersuchung über die Bedeutung der Kantischen Religionslehre für die Religionswissenschaft. Vortrag gehalten auf dem International Congress of Arts and Sciences, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1905; vgl. dazu Eckart Otto, Max Weber, S. 217f. Alle diese Zusammenhänge werden in der Studie von Rongfeng Wang, Cäsarismus, übersehen. Max Weber, MWG I/21.1–2, Bd. II, S. 671. Max Weber, MWG I/21. 1–2, Bd. II, S. 646–689. Max Weber, MWG I/21.1–2, Bd. II, S. 689–725. Gemeint ist Ezechiel 40-48; siehe dazu i.f.

Hoffnung auf die Erfüllung eines Rachebedürfnisses angesichts des Verlustes der politischen Eigenstaatlichkeit gemischt28. Daß die Propheten keine Gemeinde hätten bilden wollen, habe gerade dazu geführt, daß ihre Weissagungen den Zusammenhalt der Gemeinde hätten fördern können, nachdem sie sich als „konfessioneller Verband“ eingekapselt habe. Aus dem Zusammenwirken von Prophetie und Tora resultiere schließlich der Dualismus von Binnen- und Außenmoral29. Sehen die Vertreter der zeitgenössischen Prophetenforschung in der protestantischen Alttestamentlichen Wissenschaft in Deuterojesaja und den Gottesknechtsliedern mit der Idee des stellvertretenden Leidens den Höhepunkt der hebräischen Prophetie, so isoliert Max Weber Deuterojesaja in der Wirkung der Prophetie auf die nachexilische Gemeinde, da kein Weg von Jesaja 40-55 zur Befriedigung eines Rachebedürfnisses und der Differenzierung zwischen Binnen- und Außenmoral führe. Unter der Überschrift „Das Exil. Hesekiel und Deuterojesaja“ wendet Max Weber sich, darin charakteristisch geschieden von Hermann Cohen, für den Ezechiel im Zentrum steht, nur sehr knapp diesem Propheten zu, den er als ersten schriftstellernden Propheten priesterlicher Herkunft und Seelsorger charakterisiert, der nach dem Abklingen ekstatischer Schübe priesterlichem Formalismus gehuldigt und sich als einziger Prophet programmatisch in Ezechiel 40-48 mit der Zukunftsverfassung Israels beschäftigt habe. Deuterojesaja dagegen habe mit den Gottesknechtsliedern die „einzig wirklich ernsthafte Theodizee geschaffen, welche das antike Judentum überhaupt hervorgebracht hat“.30 Doch sei sie nur in kleinen esoterischen Kreisen rezipiert worden und damit ohne Einfluß auf die nachexilische Gemeinde geblieben, da die Theodizee eines theologischen Denkers wie Deuterojesaja nicht Gemeingut eines Gemeindeglaubens 28

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Max Weber ist hier beeinflußt durch Friedrich Nietzsches Ressentiment-These; siehe u.a Der Antichrist §§ 24-27; siehe dazu Andrea Orsucci, Orient – Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild, MTNF 32, Berlin/New York: de Gruyter 1996, S. 330ff.; Andreas Urs Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“. Ein philosophisch-historischer Kommentar, Beiträge zu Friedrich Nietzsche 2, Basel: Schwabe Verlag 2000, S. 223ff. Max Weber folgt also auch nicht der 1917/1918 virulenten Interpretation der hebräischen Propheten, insbesondere des Propheten Jeremia, als Vertreter eines konsequenten Pazifismus, für das u.a. das zu Ostern 1917 erschienene Drama von Stefan Zweig „Jeremias“ steht, das am 27. Februar 1918 mit Billigung und Unterstützung der Österreichischen Regierung in Zürich uraufgeführt wurde; vgl. Stefan Zweig, Jeremias. Eine dramatische Dichtung in neun Bildern, Leipzig: Insel Verlag 1917. Auch die in diesem Drama popularisierte These, die auch Hermann Cohen gegen den Zionismus nachdrücklich vertrat, mit der Zerstörung des jüdischen Staates sei der Nationalismus im Judentum zugunsten einer universalen Humanität überwunden, nimmt Max Weber nicht auf und hält am Gedanken der Absonderung des Judentums fest; siehe dazu auch unten Anm. 111. Max Weber, MWG I/21.1–2, Bd. II, S. 733. Wenn Max Weber die streng jahwistischen Kreise von Rekabitern, Nebiim und Propheten in Israel und Juda als „puritanisch“ bezeichnet, so sieht er das tertium comparationis darin, daß auch der Glaube des Puritanismus keine rationale Lösung des praktischen Theodizeeproblems enthält, birgt er doch die größten Spannungen zwischen Welt und Gott, Sollen und Sein, so Max Weber in: Religiöse Gemeinschaften, S. 298; vgl. dazu Bjarne Jacobsen, Max Weber und Friedrich Albert Lange. Rezeption und Innovation, Wiesbaden: Deutscher Universitäts Verlag 1999, S. 76. Die jahwistischen „Puritaner“ der Antike verzichten, so Max Weber, um der Welttranszendenz des fernen „Wahlgottes“ willen auf eine theoretische Lösung des Theodizeeproblems unschuldigen Leidens oder führen wie das Hiobbuch an den Prädestinationsgedanken heran.

habe werden können, wie es auch „den Erlösungskonzeptionen indischer Intellektueller widerfuhr“31. Die Idee der Erlösung in Jesaja 53 sei, und darin ist Max Weber durch die russischen „Propheten der Unmoderne“ 32 beeinflußt, aus dem intellektuellen Bedürfnis geboren, die Welt aller Erfahrung des Leidens, des Irrationalen zum Trotz als sinnvollen Kosmos zu begreifen und damit aus dem Wunsch nach einer Lösung der Theodizeefrage. Allenfalls in der Stärkung eines jüdischen „Wurmgefühls“ als Pathos der Parialage, und darin ist Max Weber durch Friedrich Nietzsche beeinflußt33, habe Deuterojesaja Einfluß auf die Religiosität der nachexilischen Gemeinde gehabt. In einem abschließenden Unterabschnitt „Die Priester und die konfessionelle Restauration nach dem Exil“ faßt Max Weber die Gründe zusammen, die dafür verantwortlich sein sollen, daß es trotz des prophetischen Universalismus zur rituellen Absonderung innerhalb des Judentums sowie des rituell reinen Judentums von seiner Umwelt gekommen sei. Im „Polizeigriff der Priester“ sei das prophetische Charisma abgestorben, während im sozialen Differenzierungsprozeß der Demos von Ackerbürgern, Handwerkern und Händlern mit der peinlich korrekten Beachtung der rituellen Vorschriften einen gegenüber der sozialen Oberschicht höheren Status der religiösen Qualifikation begründen wollte. Die hebräischen Propheten hätten ihren Resonanzboden in der Bevölkerung aufgrund der Plebejisierung im Inneren sowie der außenpolitischen Entmachtung durch die Großmächte in vor- und nachexilischer Zeit gefunden. Max Webers argumentativer Aufwand, die rein religiöse Motivation der Propheten zu erweisen, steht im Dienst der Aufgabe, Wirkungen der religiösen Ideen der Propheten auf die politische und soziale Entwicklung des antiken Judentums als Konfessionsverband in der Parialage aufzuweisen. Die systemische Funktion der Prophetie entspricht also im zweiten Teil der Studie zum antiken Judentum der der Idee der Berit im ersten Teil34. Diese Interpretation der hebräischen Prophetie hat Anteil an der Entfaltung der „wechselseitigen Kausalbeziehung“35 zwischen Ideen, die sich zu „Weltbildern“ verdichten und den daraus resultierenden ideellen Interessen einerseits sowie ihren politischen und ökonomischen Kontexten und den daraus resultierenden materiellen Interessen andererseits36. Im ersten Teil der Studie des Antiken Judentums stehen die politischen und ökonomischen Kontexte, die der Prophetie den Resonanzboden in 31 32

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Max Weber, MWG I/21.1–2, Bd. II, S. 745. Vgl. dazu Edith Hanke, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende, Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 38, Tübingen: Niemeyer 1993, S. 168–208; Hartmann Tyrell, „Intellektuellenreligiosität, ‚Sinn‘ – Semantik, Brüderlichkeitsethik – Max Weber im Verhältnis von Tolstoi und Dostojewski“, in: Sterbling, Anton/Zipprian, Heinz (Hg.), Max Weber und Osteuropa, Hamburg: Krämer 1997, S. 25–58. Vgl. Eckart Otto, Max Weber, S. 238ff. Zur Nietzsche-Rezeption im Weltkrieg vgl. Steven E. Aschheim, Nietzsche, S. 130–167. Zur jüdischen Nietzsche-Rezeption in dieser Zeit vgl. Ulrich Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin: Akademie-Verlag 1999, S. 132–136. 214f. Vgl. dazu Eckart Otto, Max Weber, S. 135ff. Vgl. dazu Max Weber, „Vorbemerkung“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I (im folgenden RS I), Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1920, S. 1-16, hier S. 12.

der Bevölkerung sicherten, im Vordergrund. Einer Ableitung der Prophetie als Funktion dieser Kontexte wird schon hier dadurch gewehrt, daß das prophetische Charisma der Kriegerekstase als Organ der JHWH-Berit eingeführt wird 37. Liegt im ersten Teil der Studie des Antiken Judentums das Hauptgewicht der Darstellung auf den frühisraelitischen Ursprüngen der Prophetie, so zielt der zweite Teil auf die Folgewirkungen der Prophetie im nachexilischen Judentum. In diesem zweiten Teil wird die Unabhängigkeit der „rein religiös“ motivierten Prophetie von ihrem Resonanzboden in der Bevölkerung durch das unableitbare ekstatische Erleben der Propheten gewahrt, das nachträglich durch die Deutung rationalisiert worden sei38. Die hebräischen Propheten arbeiten sich komplex an den ihnen vorgegebenen Rechtsüberlieferungen ab, die sie in der Rationalisierung ihres ekstatischen inneren Erlebens voraussetzen und auf die sie durch die Sublimierung des Ethos parallel zu und in Interaktion mit der priesterlich-levitischen Systematisierung Einfluß haben. Die Rationalisierung des israelitischen und jüdischen Rechts aber finde ihre Grenzen an der Differenzierung von Binnen- und Außenmoral, die in der priesterlichen Formierung des Judentums als Konfessionsverband einer Gemeinde begründet sei. Die damit verbundenen Einschränkungen in der Ablösung des Rechts von der Religion führe zur Irrationalität des jüdischen Rechts, das sich nicht von außerrechtlichen religiös-ethischen Einschlägen habe befreien können39, was den jüdischen „Paria-Kapitalismus“ inkompatibel im Sinne eines Mangels an „Wahlverwandtschaften“ mit okzidentaler Rationalität des Wirtschaftsverhaltens sein lasse. In der Bearbeitung der Protestantischen Ethik für die Buchfassung des Jahres 1920 ergänzte Max Weber in der Auseinandersetzung mit Werner Sombart folgenden Passus40: „Der Gedanke, daß der Erfolg Gottes Segen offenbare, ist dem Judentum natürlich nicht etwa fremd. Die grundstürzend abweichende religiös-ethische Bedeutung aber, die er zufolge der doppelten (Innenund Außen-) Ethik im Judentum gewann, schloß jede Verwandtschaft der Wirkung gerade in diesem entscheidenden Punkt aus. Dem ‚Fremden‘ gegenüber war erlaubt, was dem ‚Bruder‘ gegenüber verboten war. Unmöglich konnte (schon deshalb) der Erfolg auf dem Gebiet dieses nicht ‚Gebotenen‘ 36

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Zur werkbiographischen Genese der Korrelierung wechselseitiger Kausalbeziehungen vgl. Eckart Otto, Max Weber, S. 64f. 136-140. 177- 182. 211-220, sowie Wolfgang Schluchter, „Vergleich und Entwicklungsgeschichte: Exemplarisches in der Studie über das antike Judentum“, in: Luchesi, Brigitte/von Stuckrad, Kocku (Hg.), Religion im kulturellen Diskurs. FS Hans G. Kippenberg, Berlin/New York: de Gruyter 2004, S. 71–101 Vgl. Max Weber, MWG I/21.1–2, Bd. I, S. 366–401. Es ist auffällig, daß Max Weber die Prophetie nicht nur von den materiellen Interessen abkoppelt, sondern auch ideelle Interessen in den Hintergrund treten. Die ideellen Interessen kommen für Max Weber vielmehr auf seiten der Rezipienten der Prophetie im Wunsch nach Erklärung des Leidensschicksals und Verheißung der Erfüllung von Rachewünschen ins Spiel. Vgl. Max Weber, MWG I/21.1–2, Bd. II, S. 827; siehe dazu Eckart Otto, Die Pharisäer, S. 55. Das Pharisäer-Manuskript berührt sich hier eng mit den §§ 4 und 5 der „Rechtssoziologie“ in der von Max Weber noch vor dem Weltkrieg fortgeschriebenen Fassung. Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, RS I, S. 181f. Anm. 2; vgl. dazu Thomas Düe, Fortschritt und Werturteilsfreiheit. Entwicklungstheorien in der historischen Nationalökonomie des Kaiserreichs, Diss. phil. Bielefeld 2002, S. 399ff. Max Webers Hinweise auf das Judentum in der Protestantischen Ethik und die sich in den Ergänzungen des Jahres 1920 niederschlagenden Studien zum antiken Judentum der Jahre 1916– 1920 werden an anderer Stelle ausführlich behandelt werden.

sondern ‚Erlaubten‘ Merkmal religiöser Bewährung und Antrieb methodischer Lebensgestaltung in jenem Sinn sein, wie beim Puritaner. Über dies ganze, von Sombart in seinem Buch ‚Die Juden und das Wirtschaftsleben‘ vielfach nicht richtig behandelte Problem s. die oben zitierten Aufsätze. Das einzelne gehört nicht hierher. Die jüdische Ethik, so befremdlich es zunächst klingt, blieb sehr stark traditionalistisch... Den englischen Puritanern waren die Juden ihrer Zeit Vertreter jenes an Krieg, Staatslieferungen, Staatsmonopolen, Gründungsspekulationen und fürstlichen Bau- und Finanzprojekten orientierten Kapitalismus, den sie selbst perhorreszierten. In der Tat läßt sich der Gegensatz im ganzen, mit den stets unvermeidlichen Vorbehalten wohl so formulieren: daß der jüdische Kapitalismus spekulativer Paria-Kapitalismus war, der puritanische: bürgerliche Arbeitsorganisation.“

Max Weber bezieht den Traditionalismus des Paria-Kapitalismus in dieser Ergänzung auf das talmudische Judentum, dessen ethischer Traditionalismus aber schon in der nachexilischen Gemeindestruktur angelegt sei. Die in einer Binnenperspektive des Judentums hochgradige ethische Sublimierung der Tora, die ihre Grenze an denen des jüdischen Konfessionsverbandes gefunden habe, sei durch die christliche Rezeption des Alten Testaments entschränkt worden. In diesem Sinne reiche der „Schatten der Riesengestalten der Propheten“ durch die Jahrtausende bis in die Moderne41. Die Prophetie hat für Max Weber nur als Teil des christlichen Kanons Anteil an der Vorgeschichte des okzidentalen Rationalismus. Diese rezeptionshistorische Engführung, die Max Weber mit Ernst Troeltsch 42 teilt, wird von Hermann Cohen im Namen einer christlich-jüdischen Kultursynthese in der Moderne mit dem Anspruch zurückgewiesen, den Anteil der Religion und mit ihr der hebräischen Prophetie an transzendentaler Vernunft aufzuweisen43. Sieht Max Weber 41

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Vgl. Max Weber, MWG I/21.1–2, Bd. II, S. 688f.; siehe dazu Eckart Otto, Max Weber, S. 175f. Max Webers Propheteninterpretation unterscheidet sich damit charakteristisch von der Eduard Meyers. Für Eduard Meyer ist die Prophetie im Gegensatz zur realpolitischen Geschichte des frühen Israels aufgrund des utopischen Charakters der prophetischen Botschaft negativ konnotiert. Zwar seien die Propheten „große Geister“ und aufgrund ihres Individualismus hoch zu schätzen – hierin folgt Eduard Meyer Thomas Carlyle (vgl. Eckart Otto, Max Weber, S. 180f.) –, doch habe die prophetische Verachtung der Realpolitik zugunsten der „Traumgebilde“ einer einst durch übernatürliche Kräfte herbeigeführten Zukunft das Ideal der freien Tätigkeit des Menschen zugunsten der Utopie ersetzt (vgl. dazu Eduard Meyer, Geschichte des Altertums, Bd. III: Der Ausgang der altorientalischen Geschichte und der Aufstieg des Abendlandes bis zu den Perserkriegen, Stuttgart: Cotta’sche Buchhandlung, 3. Auflage 1954, S. 15ff. 50ff.) und damit den Politikverlust des nachexilischen Judentums verschuldet; siehe dazu auch Hans Liebeschütz, Das Judentum im deutschen Geschichtsbild von Hegel bis Max Weber, SWALBI 17, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1967, S. 269ff. Zur Diskussion um Eduard Meyers Thesen zur Entstehung des Judentums vgl. Fausto Parente, „Die Entstehung des Judenthums: Persien, die Achämeniden und das Judentum in der Interpretation von Eduard Meyer“, in: Calder III, William/Demandt, Alexander (Hg.), Eduard Meyer. Leben und Leistung eines Universalhistorikers, Mn.S. 112, Leiden/New York: E.J. Brill 1990, S. 329–343; Eckart Otto, Max Weber, 98ff. Vgl. u. II. Vgl. u. III. Hermann Cohen konnte nicht mehr auf Max Webers Propheteninterpretation reagieren, da bis zu seinem Tod am 4. April 1918 erst zwei Lieferungen der Studie des Antiken Judentums, die im Oktober 1917 und März 1918 ausgeliefert worden waren, vorlagen. Umgekehrt hat Max Weber für seine Propheteninterpretation Hermann Cohens „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“, das posthum in erster Auflage 1919 erschien, nicht mehr zur Kenntnis nehmen können. Auch hat die polemische Auseinandersetzung zwischen Ernst Troeltsch, Hermann Cohen und Benzion Kellermann in den Jahren 1916/17 um das rechte Verständnis der hebräischen Prophetie in Max Webers Studien des Antiken Judentums

dagegen im „Polytheismus“ der miteinander im Kampf liegenden Werte ein Kennzeichen der nicht im Namen einer transzendentalen Vernunft zu versöhnenden Moderne, so verbleibt er im Horizont Friedrich Nietzsches, für den gerade „Gerechtigkeit“ bedeutet, an der Fremdheit der Moral des anderen zu leiden und nicht wie die „Priester“ die eigene partikulare Wahrheit als allgemein verbindliche durchsetzen zu wollen44. Fällt für Max Weber das levitisch-priesterliche Brüderlichkeitsethos als irrational der formalen Rechtsrationalisierung in der Moderne zum Opfer45, so bleibe dennoch im harten Kampf der Werte der Heroismus der Propheten als der „großen Einsamen“ noch in dieser Moderne okzidentalen Rationalismus ein Vorbild auch für den Wissenschaftler, der sich rücksichtslos und rückhaltlos seiner Sache hingeben solle, einsam und ohne Gefolgschaft, wenn er kompromißlos und fern allem Miserabilismus das Unabwendbare aufweise46.

II. Ernst Troeltschs Interpretation der hebräischen Prophetie Die „wechselseitige Kausalbeziehung“ von „Religion“ und „Wirtschaftsleben“ ist auch für Ernst Troeltsch Schlüssel seiner religionssoziologischen Studien: „Was zeigt das wirkliche Leben der Religionen uns von einer innern und wesentlichen Beeinflussung des religiösen Elementes durch das wirtschaftliche Leben und die von diesem großenteils bedingte Klassenbildung und Gesellschaftsschichtung? und umgekehrt: Was zeigt dieses letztere Leben uns von wesentlichen und inneren Einwirkungen des religiösen Elementes auf die wirtschaftliche Arbeit?“47

Ernst Troeltschs Interpretation der hebräischen Prophetie weicht dennoch nicht unwesentlich von der etwa zeitgleichen Max Webers ab. Zwischen Oktober und Dezember 1915 verfaßt Ernst Troeltsch ein Manuskript, das unter dem Titel „Das Ethos der hebräischen Propheten“48 in dem im Juli 1916 ausgelieferten Heft 1 des Jahrgangs 1916/17 der Zeitschrift „Logos“ erscheint49 und das Ernst Troeltsch einem

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einschließlich der Überarbeitung des Pharisäer-Manuskripts in den Jahren 1919/20 keinen erkennbaren Niederschlag gefunden. Als Debatte um religiöse Werturteile lag sie außerhalb von Max Webers Projekt einer Wirtschaftsethik der Weltreligionen, vgl. dazu Max Weber, MWG I/21.1–2, Bd. I, S. 232f: „Eine wirkliche Schädigung hat bisher die rein historische Betrachtung hier, wie überall, wo das gleiche der Fall ist, nur durch das Hineintragen von Werturteilen in die rein objektive Analyse erlitten“; siehe dazu auch u. IV. Vgl. dazu Daniel Havemann, „Evangelische Polemik. Nietzsches Paulusdeutung“, NietzscheStudien, Jg. 30, 2001, S. 175–185. S. dagegen u. II. Vgl. dazu Friedemann Voigt, Wissenschaft, S. 245-267. Ernst Troeltsch, „Religion, Wirtschaft und Gesellschaft“ (1913), in: ders., Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hg. von Baron, Hans, Gesammelte Schriften, Bd. IV, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1925, S. 21–33, hier S. 24. Das Manuskript wurde vor Auslieferung des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Jg. 41/2, im Dezember 1915, also schon vor Ernst Troeltschs Vortrag vor der „Religionswissenschaftlichen Vereinigung zu Berlin“ abgeschlossen. Zum werkgeschichtlichen Nachweis vgl. Eckart Otto, Max Weber, S. 265-269. Vgl. Ernst Troeltsch, „Das Ethos der hebräischen Prophetie“, Logos, Jg. 6, 1916/17, S. 1–28. Eine überarbeitete Fassung dieses Aufsatzes ist unter dem Titel „Glaube und Ethos der hebräischen Propheten“ in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV, S. 34-65, erschienen. Zur

Vortrag über „Israelitische Prophetie“ am 17. Dezember 1915 vor der „Religionswissenschaftlichen Vereinigung zu Berlin“ zugrunde legt50. In einem Brief an Heinrich Rickert vom 19. Dezember 1915 stellt Ernst Troeltsch fest, daß er seine Abhandlung zur hebräischen Prophetie „prinzipiell kulturphilosophisch für wichtig halte“51, da, wie er in einem weiteren Brief an Heinrich Rickert vom 9. Januar 1917 schreibt, der Aufsatz „eine Voraussetzung für Studien über den Begriff der Askese ist, der für jede Kulturphilosophie ein überaus wichtiges Problem ist“ 52. Die hebräische Prophetie ist für Ernst Troeltsch also im Kontext der „Neuformung der christlich-prophetischen Gedankenwelt“ unter den Bedingungen der Moderne zum Thema geworden, und damit Teil der noch heute wirksamen „religiösen Kräfte“, die es zu sammeln, zu erhalten und auf dem Boden eines kritischen Transzendentalismus zu systematisieren gelte53. Es sind zwei Quellen, aus denen Ernst Troeltsch seine Interpretationen der hebräischen Prophetie vornehmlich schöpft. Bernhard Duhms Prophetenauslegung54 hat auf Ernst Troeltsch schon als jungen Studenten eine große Faszination ausgeübt 55, und das bleibt auch so, als er längst einen Lehrstuhl innehat. 56 Bernhard Duhms Erwartung, seine Propheteninterpretation bilde „die beste Schutzmauer für die alten Schriftsteller gegen die Razzien der Dogmatiker aller Farben“57, ist für Ernst Troeltsch unvermindert attraktiv. Vor allem findet er bei Bernhard Duhm seine Überzeugung wieder, daß die Religion aus einer inneren Berührung mit der

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Textgeschichte dieses Aufsatzes vgl. auch Graf, Friedrich Wilhelm/Ruddies, Hartmut (Hg.), Ernst Troeltsch Bibliographie, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1982, S. 143f. Zur Zeitschrift „Logos“ vgl. Rüdiger Kramme, „‚Kulturphilosophie‘ und ‚Internationalität‘ des ‚Logos‘ im Spiegel seiner Selbstbeschreibungen“, in: Graf, Friedrich Wilhelm/Hübinger, Gangolf/vom Bruch, Rüdiger (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900 Bd. II: Idealismus und Positivismus, Stuttgart: Franz Steiner 1997, S. 122-134. Vgl. dazu das knappe Referat im „Heidelberger Tageblatt“ 33. Jg. Nr. 298 vom 21. 12. 1915 sowie im „Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung“ 44. Jg., Nr. 645 1915. Vgl. „Ernst Troeltschs Briefe an Heinrich Rickert. Eingeleitet und hg. von Friedrich Wilhelm Graf“, Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft, Jg. 6, 1991, S. 108–128, hier S. 114. Vgl. Ernst Troeltsch, a.a.O., S. 119. Zu Ernst Troeltschs Anknüpfung an Max Webers Theorem der „innerweltlichen Askese“ s.i.f. Vgl. Ernst Troeltsch, „Vorwort“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1913, S. VII–VIII, hier VII. Vgl. Bernhard Duhm, Die Theologie der Propheten als Grundlage für die innere Entwicklungsgeschichte der israelitischen Religion, Bonn: Verlag von Adolph Marcus 1875. Vgl. Horst Renz, „Troeltschs Theologiestudium“, in: ders./Graf, Friedrich Wilhelm (Hg.), Troeltsch-Studien, Bd. I: Untersuchungen zur Biographie und Werkgeschichte, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1982, S. 48-59, hier S. 51f. 56 (mit Anm. 30). S. 58; Hans-Georg Drescher, Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991, S. 48. Vgl. Ernst Troeltschs Lobpreis der Propheteninterpretation Bernhard Duhms im Rahmen seiner Abrechnung mit der Ritschl-Schule, in: Ernst Troeltsch, „Zur theologischen Lage“, ChW, Jg. 12, 1898, S. 627–631. 650–657. Vgl. Bernhard Duhm, Das Buch Jesaja, HK I.3.1., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 3. Auflage 1914, S. 1. Zu Bernhard Duhm vgl. auch Walter Baumgarten, „Bernhard Duhm“, in: Bernhard Duhm, Das Buch Jesaja, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 5. Auflage 1968, S. VXIII; Henning Graf Reventlow, „Die Prophetie im Urteil Bernhard Duhms“, ZThK, Jg. 85, 1988, S. 159–174; Rudolph Smend jr., Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1989, S. 114–128.

übersinnlichen Welt hervorgehe, also nicht „Erzeugnis des Menschen, sondern ein Werk Gottes“ sei.58 Religion sei also auch nicht am religiösen Durchschnittsbewußtsein zu studieren, sondern wie für Bernhard Duhm anhand des Geheimnisvollen und schwer Ergründlichen, „das bei allen Propheten und Sehern in allererster Linie mit dem Anspruch auftritt, daß die Gottheit sich offenbart habe und habe schauen lassen, und das auch bei der durchschnittlichen Frömmigkeit sich nicht als ein Produkt menschlicher Gedanken und Gefühlsbewegungen begreifen läßt“ 59. Der hebräischen Prophetie komme also in der Religionsgeschichte der Menschheit eine herausgehobene Stellung zu, da nur hier wie dann vor allem auch im Christentum die Richtung auf das wirkliche Geheimnis der Religion, auf die Hingabe an eine niemals abgeschlossene Erschließung des göttlichen Willens festgehalten werde60. Ernst Troeltschs Rezeption der Monographie „Sociological Study of the Bible“ des amerikanischen Nationalökonomen Louis Wallis61 aus der liberalen Chicago-School der amerikanischen Nationalökonomie62 bildet als zweite Quelle den Kontrapunkt zur Rezeption von Bernhard Duhms Propheteninterpretation. Ernst Troeltsch hat diese Monographie in einer ausführlichen Rezension in der Theologischen Literaturzeitung zustimmend referiert63. Die Propheten seien für Louis Wallis Exponenten des Ethos eines freien, familiengebundenen, einfachen Bauerntums und Widersacher einer Einbindung der JHWH-Religion in die das Landeigentum verschuldende und verpfändende Stadtkultur, das mit ihr verbundene Königtum und seine militärischen Einrichtungen64. Ernst Troeltsch faszinierte an dem Buch von Louis Wallis die Problemkonvergenz zwischen dem antiken Israel und dem modernen Deutschland: In einer ökonomischen Umbruchszeit könne die Religion aufgrund der

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Vgl. Ernst Troeltsch, Lage, S. 630. Ernst Troeltsch, a.a.O., S. 654f. Ernst Troeltsch, a.a.O., S. 655. Louis Wallis, Sociological Study of the Bible, of Chicago: The University of Chicago Press 1912. Vgl. dazu Bernd Brauer, Das Bild der Unheilsprophetie Israels in der frühen soziologisch orientierten Forschung, Altes Testament und Moderne 3, Münster: LIT Verlag 1999, S. 255ff. Vgl. Ernst Troeltsch, „Rezension von Louis Wallis, Sociological Study of the Bible”, ThLZ, Jg. 38, 1913, S. 454–458. Die Rezension ist wieder abgedruckt in: Eckart Otto, Max Weber, S. 251– 255. Ernst Troeltschs Zustimmung zu den Thesen von Louis Wallis geht soweit, daß er, ohne es zu kennzeichnen, Karl Buddes Bundeskonzeption des „Wahlgottes“, die auch Max Weber rezipiert, Louis Wallis (a.a.O., S. 82 Anm. 1) aber ausdrücklich abgelehnt hat, als dessen Meinung in das Referat einbaut, da Ernst Troeltsch dem Buch in der von ihm modifizierten Gestalt Gehör in Deutschland verschaffen will; vgl. dazu Eckart Otto, a.a.O., S. 255ff. Max Weber, MWG I/21.1–2, Bd. II, S. 366–401, hat vermittelt durch Ernst Troeltsch 1916/17 diese Aspekte aus der Monographie von Louis Wallis rezipiert; vgl. Eckart Otto, Max Weber, S. 206ff. 257. Das Deponatsmanuskript „Ethik und Mythik/rituelle Absonderung“ (BSB München, Ana 446/1) des Jahres 1911/12 zeigt dagegen, daß Max Weber schon vor dem Erscheinen der Rezension von Ernst Troeltsch Karl Buddes Monographie und mit ihr die Bundeskonzeption des „Wahlgottes“ rezipiert hat. Das vor 1913 verfaßte Deponatsmanuskript zeigt noch keinen Einfluß der Monographie von Louis Wallis. Ernst Troeltschs Rezension geht wohl ein Austausch zwischen ihm und Max Weber zu Karl Buddes Bundeskonzeption voraus, dessen Aufhänger die Amerika-Reise von 1904 sein konnte.

„Ungleichzeitigkeit“ der Entwicklungen in Religion und Ökonomie eine produktive Funktion in der Überwindung der ökonomischen Krisen haben65. In dem 1916 in der Zeitschrift „Logos“ erschienenen Aufsatz steht für Ernst Troeltsch nicht die Bedeutung der Prophetie für die Entwicklung einer sittlichen Universalreligion im Vordergrund – dies wird als die „heute herrschende Anschauung“ der Prophetie abgetan66 –, sondern ihre Bedeutung für die Entwicklung der Gemeinschaft von Stammesgott und Volk, die sich „zu einer Innerlichkeit und persönlichen Gegenseitigkeit des Glaubens und Vertrauens gewandelt [hat], die ganz neue seelische Gehalte religiösen Fühlens und Denkens bedeutet“ 67. In dem ganz innerlichen Verhältnis zu einem personenhaft-lebendigen, auf das engste mit dem Gläubigen verbundenen und ihm doch absolut gegenüberstehenden Gott bestehe die allgemein-menschliche Bedeutung der hebräischen Prophetie nicht also in rationalistischen Gedankenkonstruktionen68. Die Idee eines universalen Monotheismus, für den der Gott Israels über alle Völker herrsche, sei dagegen anders als für Hermann Cohen „kein unmittelbares Anliegen der Propheten“, sondern ergebe sich eher beiläufig aus den Unheilsankündigungen, in denen JHWH sich der Völker als Strafwerkzeug bediene. Das prophetische, mit der Ethik verbundene Wissen um die Unzerstörbarkeit des Volkes Israel, wenn es nur JHWH treu bleibe, lasse JHWH unter den Bedingungen der Bedrohung durch Großmächte vom Stammesgott zum Herrn der Völker aufsteigen. JHWHs Weltgeltung beruhe also auf einem Wächterund Regentenamt über ein Ethos, das nicht überzeitlich vernünftig sei – damit wendet Ernst Troeltsch sich gegen Hermann Cohen –, sondern historisch das des antiken Israel in der ganzen Ungeschiedenheit von Sitte, Recht und Moral, die nur dem Volksgenossen gelten sollen. Diesen sozial-historischen Kontextbezug des Ethos der hebräischen Propheten beschreibt Ernst Troeltsch unter Rückgriff auf die Monographie von Louis Wallis. Das Ethos zeige „Züge einer alten einfachen bäuerlichen und kleingewerblichen Sitte mit manchen Resten aus der alten 65

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Zu Ernst Troeltschs Krisenbegriff vgl. Hartmut Ruddies, „Gelehrtenpolitik und Historismusverständnis. Über die Formierung der Geschichtsphilosophie Ernst Troeltschs im Ersten Weltkrieg“, in: Graf, Friedrich Wilhelm (Hg.), Ernst Troeltschs „Historismus“, Troeltsch-Studien 11, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2000, S. 135–163, hier S. 138ff. Ernst Troeltsch bezieht sich dabei neben Bernhard Duhm vor allem auf Julius Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin: de Gruyter, 7. Auflage 1914, S. 122ff. und Wilhelm Bousset, Das Wesen der Religion, Halle: Verlag von Gebauer und Schwetschke 1903, S. 99ff. Wilhelm Boussets Monographie hat auch Max Weber bei der Darstellung der Prophetie in dem Manuskript der „Religiösen Gemeinschaften“ benutzt (vgl. Bernhard Lang, Prophet, 172ff.; Eckart Otto, Max Weber, S. 195ff.), die dort zugrundeliegende Sicht aber in der Studie zur Wirtschaftsethik des antiken Judentums im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ modifiziert; s.o. I. Ernst Troeltsch, Ethos, S. 11. Damit setzt sich Ernst Troeltsch wie Max Weber auch von der rationalistischen Interpretation der prophetischen Weissagungen, wie sie Abraham Kuenen, Volksreligion und Weltreligion, Berlin: Georg Reimer 1883, S. 111ff. vertreten hat, ab. Siehe dazu M.J. Mulder, „Kuenen und der ‚ethische Monotheismus‘ der Propheten des 8. Jahrhunderts v. Chr.“, in: Dirksen, P.B./Van der Kooij, A. (Hg.), Abraham Kuenen (1828–1891). His Major Contributions to the Study of the Old Testament. A Collection of Old Testament Studies Published on the Occasion of the Centenary of Abraham Kuenen’s Death (10 December 1991), OTS XXIX, Leiden/New York: E.J. Brill 1993, S. 65–90.

Nomadenzeit, den Gegensatz gegen Sitte und Recht der kanaanäischen Städte, gegen Luxus und Machtwesen der großen Weltmächte, gegen das Gepränge und die Politik des Hofes und der Großen, gegen das Aufkommen eines Beamtenstaates und gegen den Druck des Beamtentums, gegen Recht und Gebräuche der städtischen Geldwirtschaft“69. Ernst Troeltsch sieht in dieser ethisch-sozialen Kritik der Propheten eine Konsequenz ihrer religiösen Polemik gegen die fremden Götter. Auch fördere der Verzicht auf eigene Macht die Demut und die Sympathie für die sozial Deklassierten. Die Prophetie finde so zu einem utopischen Sozialideal des innigen Zusammengehörigkeitsgefühls und der sozialen Egalität in Israel. So sei die Ethik der Propheten aus dem alten Ideal der Nachbarschaftsethik unter Überspringen aller komplizierten Kulturverhältnisse zu einer Ethik der innerlich-persönlichen Brüderlichkeit emporgestiegen, die der Prophetie in der christlichen Rezeption ihre welthistorische Bedeutung verliehen habe70. Durch die Jesuspredigt werde der Prophetismus „verjüngt“, da „nun alles noch viel innerlicher, persönlicher, allgemeiner“ werde. Das Ideal der Brüderlichkeit hafte jetzt an keinem historischen und sozialen Gegensatz mehr. Die gläubige Demut bis zur Selbstverleugnung werde zum „Opfer willigen Dienens des einen für den anderen“ unabhängig von jeder Volkszugehörigkeit71. Ernst Troeltsch läßt die hebräische Prophetie zu einer eigenständigen ethischen Programmatik finden, während es Max Weber um die „rein religiöse“ Motivation der Propheten im Dienst des „fernen Wahlgottes“ geht, dem die Völker als Werkzeuge zu dienen haben. Die Rationalisierung und Verinnerlichung der Ethik in Richtung auf eine Prinzipienethik sowie die Systematisierung des Rechts sei dagegen Ergebnis des 69

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Ernst Troeltsch, Ethos, 16. S. Max Weber, MWG I/21.1–2, Bd. II, S. 649 Anm. 232, setzt sich mit der Bemerkung, die Karitätsgebote der Tora seien „nicht mehr aus der bäuerlichen Nachbarschaftsethik als solcher, welche von solcher Sentimentalität wie alle Bauernethik weit entfernt war, sublimiert“, da sie vielmehr „der Ideologie des vorderasiatisch-ägyptischen Königtums und seiner Literaten: Priester und Schreiber“ angehörten, mit Ernst Troeltsch auseinander, der (a.a.O.) die prophetische Ethik aus einer Nachbarschaftsethik ohne den Zwischenschritt der Intellektuellenrezeption deduziert. Während kein geringerer als Albrecht Alt („Der Anteil des Königtums an der sozialen Entwicklung in den Reichen Israel und Juda“, in: ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel, Bd. III, München: C.H. Beck 1959, S. 348–372, hier S. 348f.; ders., „Micha 2,1–5. GES ANADAS MOS in Juda“, a.a.O., S. 373–381) sich Ernst Troeltsch angeschlossen hat, ist aus heutiger exegetischer Perspektive das Recht eher bei Max Weber; siehe Eckart Otto, Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium, Beihefte zur Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 2, Wiesbaden: Harrassowitz 2002, S. 57–75. Ernst Troeltsch entwickelt ein Verständnis von „Utopie“, das an der Ungleichzeitigkeit von Idee und Kontext orientiert ist. Die Utopie sei im Verhältnis zur ökonomisch-politischen Situation unangepaßt und könne gerade dadurch produktiv auf Zukunft hin die ökonomisch-politischen Verhältnisse der Kritik unterziehen und verändern. Der utopische Charakter prophetischer Predigt fördere ebenso wie die prophetische Kulturindifferenz, die Ernst Troeltsch wie auch Max Weber herausstellen, die Ablösung der prophetischen Predigt von ihren gesellschaftlichen Kontexten in einer „Metamorphose der Zwecke“. Ernst Troeltschs Propheteninterpretation unterscheidet sich damit von der Eduard Meyers, der prophetische Utopie negativ als Realitätsverlust, der unfähig mache, politisch zu handeln, interpretiert. Für Max Weber dagegen ist sie Ausdruck der „rein religiösen“ Motivation der Propheten. Ernst Troeltsch, a.a.O., S. 27.

Zusammenspiels von Prophetie und levitisch-priesterlichen Intellektuellen 72. Der Schlüssel zum Verständnis der Differenz zwischen Max Webers und Ernst Troeltschs Interpretation der hebräischen Prophetie ist der unterschiedliche Gebrauch, den beide von der u.a. mit Karl Budde und gegen Julius Wellhausen früh datierten Bundesidee machen. Für Max Weber steht der den politischen und ökonomischen Kontext transzendierende Charakter der religiösen Idee der Berit im Vordergrund, die auf den sozialhistorisch zu analysierenden ökonomischen und politischen Kontext materieller Interessen einwirkt, aber nicht dessen Funktion ist. Diesem Ausgangspunkt in der Rekonstruktion der religionsgeschichtlichen Entwicklung im substantiellen Gottesbegriff des „fernen Wahlgottes“73, der die Prozesse der Rationalisierung, Universalisierung, Systematisierung und Verinnerlichung von Gottesverständnis, Weltverständnis, Recht und Ethik umgreife74, ist im zweiten Teil der Studie des antiken Judentums das politisch-ökonomisch unableitbare innere Erleben der Propheten zugeordnet, in dem sich der „ferne Wahlgott“ Ausdruck verschaffe. Um der Kontingenz des innerlich-sittlichen Erlebens der Begegnung mit Gott willen gesteht Ernst Troeltsch dagegen der Idee des Bundes keinen eigenen Erklärungswert zu, wenn es um das Verständnis des „altererbten Glaubens“ Israels geht: „Auch wenn man auf den Bund des Mose zwischen Jahve und seinem Volk zurückgehen will, so ist doch das keine Erklärung. Die Einzigartigkeit dieses Verhältnisses von Stammesgott und Stamm [ist] eben eine der unmittelbaren spontanen Empfindungswelten, die man verstehen, aber nicht ableiten kann von etwas anderem her“75.

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Diese Differenz zwischen Max Weber und Ernst Troeltsch, der im Gegensatz zu Max Weber (vgl. dazu Eckart Otto, Max Weber, S. 135ff.) dem jüdischen Gesetz keine tiefergehende Beachtung schenkt, ist auch auf unterschiedliche Gewährsleute in der Alttestamentlichen Wissenschaft zurückzuführen. Wie Ernst Troeltsch isoliert Bernhard Duhm die Prophetie, was Julius Wellhausen in der Rezension von Bernhard Duhms Monographie „Die Theologie der Propheten“ (vgl. Anm. 54) in den Jahrbüchern für Deutsche Theologie, Jg. 21, 1876, S. 152– 157, hier S. 157, kritisch angemerkt hat: „Duhm hat die Bedeutung der Propheten gewaltig übertrieben. Neben ihnen und vor ihnen bestanden die Priester“. Max Weber hat sich an Julius Wellhausen und nicht an Bernhard Duhm gehalten. Vgl. dazu Eckart Otto, Max Weber, S. 135ff. Darauf, daß nach heutigem Kenntnisstand der Alttestamentlichen Wissenschaft aber die Bedeutung der Rechtsüberlieferungen der Priester als Vorraussetzung der Prophetie und nicht nur deren Folgewirkung, wie Julius Wellhausen meinte, zu betonen ist, sei hingewiesen. Siehe dazu Eckart Otto, Max Weber, S. 276–313. Vgl. dazu Eckart Otto, „Hat Max Webers Religionssoziologie des antiken Judentums Bedeutung für eine Theologie des Alten Testaments?“, ZAW, Jg. 94, 1982, S. 187–203. Die Dynamik der israelitischen Religionsgeschichte beschreibt jetzt ähnlich Eilert Herms, „Was haben wir an der Bibel? Versuch einer Theologie des christlichen Kanons“, JBTh, Jg. 12, 1997, S. 99–152, hier S. 137ff. mit Rekurs auf die Selbstvorstellung Gottes in Ex 3,9-15, die auch für Hermann Cohen ein Schlüsselbeleg für das Sein Gottes als des einzigen ist; vgl. dazu u. III. Eilert Herms verknüpft damit aber ontologische Spekulationen eines „Durchgriffs“ durch den Text auf den „geschichtstranszendenten schöpferischen Grund der Identität des gesamten Weltgeschehens“, die sich aber keiner erkenntnistheoretischen Reflexion stellen und damit in der Moderne schwerlich außerhalb fachtheologischer Diskurse kommunikabel sind. Wenn es eine transzendentale Voraussetzung auch in der Theologie als Kulturwissenschaft gibt, dann ist es zunächst, wie bei Max Weber zu lernen, die, daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn abzutrotzen. Vgl., Ernst Troeltsch, Ethos, S. 11.

Die „rätselhafte Gewißheit von der Unzerstörbarkeit Israels“ übernimmt bei Ernst Troeltsch die Funktion der Idee des einen Bund mit Israel schließenden „fernen Wahlgottes“ bei Max Weber. Ernst Troeltsch bucht den bei Max Weber mit der Idee des Bundes verbundenen substantiellen Gottesbegriff erfahrungstheologisch um zu „Glaube“ und „Gewißheit von der Unzerstörbarkeit“ Israels. Der Bund sei nur Ausdruck dieses Glaubens, der „Grundsubstanz“ auch der prophetischen Eschatologie sei76, wobei eine empfindliche Lücke im Argument dadurch gerissen wird, daß die „Gewißheit von der Unzerstörbarkeit Israels“ um des Anschlusses der Ethik willen konditional an das Verhalten Israels in rebus politicis gebunden wird: „Das eigentlich entscheidende in ihrer (sc. der Propheten) Predigt ist die unerschütterliche, beinahe rätselhafte Gewißheit von der Unzerstörbarkeit Israels, wenn es Jahve treu bleibt und jeder Versuchung zu Bündnissen oder Verschmelzungen widerstrebt“77.

Ernst Troeltsch will die ethischen Konsequenzen der „Glaubensgewißheit“ aufzeigen, während es Max Weber um die Wirkung religiöser Ideen in der Dialektik wechselseitiger Kausalität geht. In der Konsequenz verstehen Max Weber und Ernst Troeltsch unter der „Metamorphose der Zwecke“ Unterschiedliches. Max Weber geht es um die Transformierung materieller und ideeller Interessen durch die Wirkung von zu Weltbildern verdichteten Ideen, Ernst Troeltsch um die Loslösung eines „ideellen Gehaltes von seinen ursprünglichen soziologischen Lebensformen“. In einer posthum von Hans Baron veröffentlichten Ergänzung zum Logos-Aufsatz unter dem Stichwort 76

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Vgl. Ernst Troeltsch, a.a.O., S. 13. Ernst Troeltsch formuliert hier in Anlehnung an den Heidelberger Alttestamentler Adalbert Merx, (Die Bücher Moses und Josuas, RV II/3, Tübingen: J.C.B. Mohr [Paul Siebeck] 1907, S. 21), der auch Max Webers Strukturierung des Abschnittes zu „Altisrael“ in der dritten Auflage des „Handwörterbuchs der Staatswissenschaften“ (siehe Anm. 5) durch die Gesetze des Pentateuch, weiterhin die Bundeskonzeption im Deponatsmanuskript „Ethik und Mythik/rituelle Absonderung“ (BSB München, Ana 446/1) und an diese beiden Studien anknüpfend den Aufbau der Aufsätze zum antiken Judentum im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ beeinflußt hat. Ernst Troeltsch, Ethos, S. 10 (Kursive des Verf.). Ernst Troeltsch zieht die Dynamik, die bei Julius Wellhausen die Religionsgeschichte Israels ausmacht, auf einen Punkt zusammen. Sollen bei Julius Wellhausen zu Beginn der Religionsgeschichte JHWH und Volk sich als unlösbare Einheit verstanden haben und der Schlachtruf „Jahve der Gott Israels und Israel das Volk Jahves“ Ausdruck dieses naturwüchsigen Gemeinschaftsbewußtseins sein, so sollen die Propheten dieses Verhältnis sittlich konditioniert haben, insofern ihnen in Umkehrung der „Glaubensartikel“ JHWH zuerst ein Gott der Gerechtigkeit und erst in zweiter Linie der Gott Israels gewesen sei, das nur Volk Gottes sein dürfe, sofern es dem ethischen Anspruch genüge. Max Wiener („Nationalismus und Universalismus bei den Propheten“, Der jüdische Wille, Jg. 2/1, 1919, S. 190–200) übernimmt, obwohl Schüler Hermann Cohens, nach dem Weltkrieg Ernst Troeltschs Position: „Als das Fundament der prophetischen Religiosität (ist) die wesenhafte Verknüpfung zwischen Gott und Volk zu erkennen... Und nicht der Gehalt einer Lehre hat sie (sc. die Propheten) zu solchen geprägt, sondern die Glut des Erlebens, die alles wegschmolz, was jenseits des einen zu erfüllenden Gedankens lag: Jahve – Israels Gott, Israel – Jahves Volk“ (s. a.a.O., 195f.). Max Wiener überträgt Julius Wellhausens Formel vom natürlichen Band des israelitischen Gottesverständnisses mit Ernst Troeltsch und gegen Julius Wellhausen auf die Propheten und wendet sich entsprechend mit Ernst Troeltsch gegen die Propheteninterpretation seines Lehrers Hermann Cohen mit der Feststellung, das Ethos der Propheten sei keine rationale Sittlichkeit, sondern „die nationale Moral eines Bauernvolkes“; s. dazu auch u. Anm. 109.

„Fortwirkung des Hebraismus auf das Abendland“ 78 führt Ernst Troeltsch in dieser Weise die „Gottesidee des Hebraismus“ in das Programm einer „europäischen Kultursynthese“79 ein: „Der Glaube der jüdischen Propheten bietet eines der anschaulichsten Beispiele für die Loslösung eines ideellen Gehaltes von seinen ursprünglichen soziologischen Lebensformen. Die Gottesidee des Hebraismus ist nicht bloß vom jüdischen Nationalismus, sondern, was wichtiger ist, von den soziologischen Verhältnissen des alten Israel gelöst, zu einem religiös-ethischen Prinzip an sich geworden“80.

Im Rahmen seines Programms, „Geschichte durch Geschichte (zu) überwinden“81, beschreibt Ernst Troeltsch die Loslösung religiöser Ideen von ihren politischen und ökonomischen Kontexten als Emanzipation des „inneren Erlebens“ von diesen Kontexten. Max Weber und Ernst Troeltsch thematisieren also aus unterschiedlichen Gründen die Einbindung der hebräischen Prophetie in ihren „Sitz im Leben“ der politisch-ökonomischen Kontexte. Beschreibt Max Weber ein Wechselspiel ideeller und materieller Interessen im antiken Israel, das im Grundsatz auch die frühe Neuzeit mit der Wirkung des Protestantismus auf den „Geist des Kapitalismus“ kennzeichne, zielt Ernst Troeltsch auf die Emanzipation des Ethos der hebräischen Prophetie in der „Metamorphose der Zwecke“ von den politisch-ökonomischen Kontexten, um das prophetische Ethos als „religiös-ethisches Prinzip“ ins Christentum zu überführen und in der „Kultursynthese an sich“ verinnerlicht in der Moderne neu zu kontextualisieren. In eben diesem Sinne begreift Ernst Troeltsch seinen Beitrag zur hebräischen Prophetie als „Voraussetzung für Studien über den Begriff der Askese, der für jede Kulturphilosophie ein überaus wichtiges Problem ist“82. Max Weber konnte theologisch ungeschützt einen substantiellen Gottesbegriff des „fernen Wahlgottes“ einführen, da er in der Rekontextualisierung von biblischen Ideen der Antike in einer Kultursynthese in der Moderne kein Thema für die 78

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Vgl. Ernst Troeltsch, „Zusätze und handschriftliche Anmerkungen“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV, S. 820f.; vgl. dazu Graf, Friedrich Wilhelm/Ruddies, Hartmut (Hg.), Bibliographie, S. 143. Zur Interpretation vgl. Eckart Otto, Max Weber, S. 272ff. Vgl. dazu Jörg Dierken, „Individuelle Totalität. Ernst Troeltschs Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht“, in: Graf, Friedrich Wilhelm (Hg.), Historismus, S. 243–260, hier S. 253ff. Vgl. Ernst Troeltsch, Zusätze, S. 820 (Kursive des Verf.). Vgl. Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Gesammelte Schriften Bd. III, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1922, S. 772; vgl. dazu Trutz Rendtorff, „In Richtung auf das Unbedingte. Religionsphilosophie der Postmoderne“, in: ders., Theologie in der Moderne. Über Religion im Prozeß der Aufklärung, Troeltsch-Studien 5, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1991, S. 291–308, hier S. 298ff. Ernst Troeltsch (Ethos, S. 25) hebt das Ethos der Propheten ausdrücklich von Max Webers Konzeption der „innerweltlichen Askese“ (vgl. dazu aber Eckart Otto, Max Weber, S. 224f.) ab mit der Feststellung, das prophetische Ethos sei „freilich auch nicht etwa Askese in irgendeiner der vielen Bedeutungen des Wortes. Denn Arbeit und Schaffen versteht sich hier ebenso von selbst, wie die Güte Gottes“. Vgl. dazu auch Annette Disselkamp, „Das Wesen der Prophetie. Ernst Troeltschs Aufsatz ‚Glaube und Ethos der hebräischen Propheten‘“, in: Nowak, Kurt/Raulet, Gérard (Hg.), Protestantismus und Antisemitismus in der Weimarer Republik, Frankfurt/Main: Campus Verlag/Paris: Editions de la Fondation Maison des Sciences de l’Homme 1994, S. 85–94, hier S. 90.

Wissenschaft sah und dem Programm einer derartigen Synthese skeptisch gegenüberstand: „Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte. Heute ist ihr Geist — ob endgültig, wer weiß es? — aus diesem Gehäuse entwichen. Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage ruht, dieser Stütze nicht mehr“83.

Die Kontextualisierung der hebräischen Prophetie steht bei Ernst Troeltsch im Dienste der Rekontextualisierung in der Moderne84 vermittelt durch die christliche Rezeption des prophetischen Ethos, während das Judentum „vollends dem Wesen der Pariavölker“ verfallen sei. Das nachexilische Judentum habe nicht die von den Propheten erreichte Höhe des Ethos bewahren können, sondern sich auf den „reinen levitischen Tempeldienst“ konzentriert und einen „Zaun des Gesetzes“ um sich gezogen. Um der Geschichtsgebundenheit der Rekontextualisierung in einer christlichprotestantisch geprägten Moderne willen wendet sich Ernst Troeltsch auch gegen die transzendental-rationalistische Interpretation des Ethos der Propheten durch Hermann Cohen, die die universale Vernünftigkeit dieses Ethos jenseits aller rassisch83

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Max Weber, Die protestantische Ethik, S. 203f. Siehe dazu Wolfgang Schluchter, „Polytheismus der Werte. Überlegungen im Anschluß an Max Weber“, in: ders., Unversöhnte Moderne, stw 1228, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996, S. 223–255; Thomas Düe, Werturteilsfreiheit, S. 406ff. Friedemann Voigt (Wissenschaft als Beruf, S. 255) hat zu Recht auf die Analogie der Differenzierung zwischen Form und Inhalt prophetischen Ethos im Verhältnis zu seiner Einschalung in der nachexilischen Gemeindereligiosität, aus der die Seele entwichen und nur die Schale geblieben sei, und Max Webers Kulturdiagnose des „stahlharten Gehäuses“ in der Moderne hingewiesen. Max Weber sah in der Dialektik von Charisma und seiner Veralltäglichung (vgl. dazu Dirk Kaesler, Revolution und Veralltäglichung. Eine Theorie postrevolutionärer Prozesse, München: Nymphenburger Verlagsbuchhandlung 1977, S. 150ff.), allenfalls in einer neuen Prophetie, die nichts mit einer „Kathederprophetie“ im Hörsaal zu tun hat, die Möglichkeit der Durchbrechung des stahlharten Gehäuses; vgl. dazu Detlef J.K. Peukert, Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1989, S. 36. Wie eine derartige Rekontextualisierung hätte aussehen sollen, hätte der zweite nicht mehr geschriebene Band zum Historismus gezeigt. Ernst Troeltsch gibt nicht zu erkennen, daß er bereits eine Vorstellung davon hatte, wie er sich die Realisierung der „Kultursynthese“ unter diesem Aspekt als europäisches Ideenkonglomerat vorgestellt hat. Heute wird man auf jeden Fall eigene Wege gehen. Zur Rekontextualisierung biblischen Ethos in der Moderne in kritischer Anknüpfung an die Diskurshermeneutik vgl. Eckart Otto, „Die Applikation als Problem der politischen Hermeneutik“, ZThK, Jg. 71, 1974, S. 145–181. Daß aber eine kontrafaktisch unter Rückgriff u.a. auf die Entwicklungspsychologie eines Jean Piaget und Laurence Kohlberg rekonstruierte Aufklärungsgeschichte (siehe Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1981, S. 259ff.; ders., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2. Auflage 1992, S. 95f.; vgl. dazu Wolfgang Schluchter, Die Entstehung des modernen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Entwicklungsgeschichte des Okzidents, stw 1347, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 112ff.) bei unkritischer Anwendung auf biblische Texte zu einem Geschichtsverlust führt, zeigt die Monographie von Bernard S. Jackson (Studies in the Semiotics of Biblical Law, JSOT., S 314, Sheffield: Sheffield Academic Press 2000) mit wünschenswerter Deutlichkeit; vgl. dazu Eckart Otto, „Semiotik des biblischen Rechts“, Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte, Jg. 9, 2003, S. 220–237.

ethnischen oder nationalen Grenzen in der Moderne aufweisen will 85. Dagegen setzt Ernst Troeltsch die Feststellung: „Die Sittlichkeit der Propheten ist nicht die Sittlichkeit der Menschheit, sondern die Israels in der ganzen Ungeschiedenheit von Sitte, Recht und Moral, die allen antiken Völkern eigen ist“86.

So habe das Ethos der Propheten, und darin knüpft Ernst Troeltsch gegen Hermann Cohen gewendet an seine Rezension der Monographie von Louis Wallis 87 an, „mit Humanität und Freiheit oder gar Demokratie und Sozialismus im modernen Sinne ... keinen Faden gemeinsam“88. War es die „gereizte Atmosphäre des Jahres 1916, die von nachlassender Siegeszuversicht, beträchtlichen innenpolitischen Verwerfungen und der Suche nach einem ‚Sündenbock‘ geprägt war“89, die Ernst Troeltsch bewog, durch diesen Aufsatz zur hebräischen Prophetie nicht nur den „Burgfrieden“ mit dem Judentum zu gefährden, sondern dem liberal-jüdischen Programm einer Kultursynthese von Judentum und Christentum eine Absage zu erteilen und sich dazu auch Max Webers Paria-These90 zu bedienen?91 Wurde damit die Chance eines Programms der gleichberechtigten Einbeziehung des Judentums in eine Kultursynthese der Moderne mit möglicherweise fatalen historischen Folgewirkungen vertan? Um diesen Fragen nachgehen zu können, ist Hermann Cohens Interpretation der hebräischen Prophetie in den Blick zu nehmen.

III. Hermann Cohens Interpretation der hebräischen Prophetie Hermann Cohen hat in einer scharfen Replik auf Ernst Troeltschs Aufsatz zum Ethos der hebräischen Propheten reagiert92, nachdem eine kritische Stellungnahme des 85

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Siehe dazu u. III; vgl. dazu Andrea Poma, „Einleitung“, in: Cohen, Hermann, Der Begriff der Religion im System der Philosophie, Werke Bd. X, Hildesheim: Georg Olms 2002, S. 7*–48*, hier S. 45*f., sowie Ernst Troeltschs kritische Rezension von Hermann Cohens Monographie Der Begriff der Religion im System der Philosophie, Philosophische Arbeiten Bd. X/1, Gießen: Töpelmann 1915, in der ThLZ, Jg. 43, 1918, S. 57–62. Ernst Troeltsch, Ethos, S. 15. Ernst Troeltsch, Rezension, S. 455; vgl. dazu Eckart Otto, Max Weber, S. 263 Anm. 66. Ernst Troeltsch, Ethos, S. 18. Vgl. Ulrich Sieg, Jüdische Intellektuelle, S. 230. Das Kapitel „Der Streit um das ‚Ethos der hebräischen Propheten‘“ in dieser Monographie wurde geringfügig überarbeitet in den „Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft“ (Jg. 15, 2002, S. 1–20) wieder abgedruckt. Zur komplexen Geschichte von Ernst Troeltschs Rezeption der Paria-These Max Webers vgl. Eckart Otto, Max Weber, S. 265ff. Bei Max Weber ist die Anwendung des in zeitgenössischen Diskursen fest verankerten Paria-Begriffs (vgl. Eckart Otto, a.a.O., S. 46–53) auf das Judentum mit der Differenz zwischen Judentum und modernem Kapitalismus in der Rationalisierung von Recht und Wirtschaftsethos verbunden; vgl. auch Thomas Düe, Werturteilsfreiheit, S. 400ff. Ulrich Sieg (Jüdische Intellektuelle, S. 230) bezeichnet Ernst Troeltschs Studie zur hebräischen Prophetie zu kurz greifend als „Streitschrift“. Zur Kritik an Ulrich Siegs Troeltsch-Interpretation vgl. die Rezension von Friedemann Voigt in: Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft, Jg. 15, 2002, S. 128–134. Vgl. Hermann Cohen, „Der Prophetismus und die Soziologie“, Neue Jüdische Monatshefte, 1917, Heft 22, S. 652–655 (wieder abgedruckt in Hermann Cohen, Jüdische Schriften, Bd. II.

Cohen-Schülers Benzion Kellermann zu Ernst Troeltschs Aufsatz von der Redaktion des „Logos“ nach interner Diskussion abgelehnt worden war und separat erscheinen mußte93. Über die Vorgeschichte dieser Veröffentlichung seines Schülers schreibt Hermann Cohen in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ vom 25. August 191794: „Prof. E. Troeltsch [...] hatte in der Religionswissenschaftlichen Gesellschaft über den Prophetismus einen Vortrag gehalten, bei dessen Diskussion dort Dr. Kellermann ihm opponierte. Als nun dieser Vortrag in der philosophischen Zeitschrift ‚Logos‘ erschien, lag es nahe, daß die apologetische Kommission des Verbandes der deutschen Juden, der die Anregung gegeben hatte, zu dieser Abhandlung Stellung zu nehmen, den damaligen Opponenten mit der Gegenschrift betraute. Ich selbst erbot mich zur Vermittlung beim ‚Logos‘, und als ich den Aufsatz einsandte, wurde mir unter schmeichelhaften Ausdrücken die Aufnahme bestätigt, nichtsdestoweniger aber nach etwa 8 Wochen unter Entschuldigungsfloskeln der Aufsatz zurückgeschickt.“

Die hier von Hermann Cohen angesprochenen Vorgänge sind durch die Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Ernst Troeltsch und Heinrich Rickert deutlicher nachzuzeichnen. In einem Brief vom 9. Januar 1917 an Heinrich Rickert bezeichnet Ernst Troeltsch die Kritik Benzion Kellermanns an seinem Vortrag als „ein furchtbares rationalistisches Gewäsch“ und will ihrer Veröffentlichung im „Logos“ nur unter der Bedingung zustimmen, daß auf Hermann Cohens Empfehlung hingewiesen werde und sich ein derartiger Vorgang nicht wiederholen dürfe 95. In diesem Zusammenhang klagt Ernst Troeltsch, Hermann Cohen, der „einen spezifisch jüdischen Kampf für seine Philosophie organisiert“ 96 habe, bedauere, „daß ich (sc. Ernst Troeltsch) mich von der Unterlage aller Philosophie, Fichte u[nd] Hegel, hätte umgarnen lassen. Das sei alles romantisches Gift. Von da aus können Sie (sc. Heinrich Rickert) schließen, in welche Richtung seine ‚Schule‘ geht. Er ist jetzt hier

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Zur jüdischen Zeitgeschichte, hg. von Bruno Strauß, Berlin: C.A. Schwetschke & Sohn 1924, S. 398–401). Dieser Beitrag erschien am 25. August 1917. Eine knappere Fassung hat Hermann Cohen in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ Nr. 32 vom 10. August 1917, S. 373f., unter dem Titel „Der jüdische Monotheismus der Propheten und seine soziologische Würdigung“ abdrucken lassen. Vgl. Benzion Kellermann, Der ethische Monotheismus der Propheten und seine soziologische Würdigung, Berlin: C.A. Schwetschke & Sohn 1917. Benzion Kellermann (geb. 1869) war seit 1917 Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Berlin. Zu seinem wissenschaftlichen Werdegang vgl. den Nachruf von Arthur Liebert, „Benzion Kellermann † (1869-1923)“, Kant-Studien, Jg. 28, 1923, S. 486–490. Zur jüdischen Auseinandersetzung mit Ernst Troeltschs Beitrag zum Ethos der hebräischen Propheten siehe auch Wendell S. Dietrich, Cohen and Troeltsch. Ethical Monotheistic Religion and Theory of Culture, Brown Judaic Studies 120, Atlanta: Scholars Press 1986, S. 29ff.; Hartmut Ruddies, “Hermann Cohen und Ernst Troeltsch. Bemerkungen aus Anlaß der Studie von Wendell S. Dietrich“, Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft, Jg. 5, 1990, S. 38–47, hier S. 43f. Zu Hermann Cohens Stellung in dem kritischen Diskurs zwischen liberalem Judentum und Protestantismus vgl. Uriel Tal, Christians and Jews in Germany. Religion, Politics, and Ideology in the Second Reich, 1870–1914, Ithaca: Cornell University Press 1975, S. 184ff.; Hans Liebeschütz, Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig. Studien zum Jüdischen Denken im deutschen Kulturbereich, SWALBI 23, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1970, S. 7ff. Wieder abgedruckt in Hermann Cohen, Jüdische Schriften, Bd. II, S. 481. Ernst Troeltsch, Briefe (Anm. 51), S. 117–119. Ernst Troeltsch, a.a.O., S. 118.

(sc. in Berlin) Professor u[nd] Lektor an der jüdischen wissenschaftlichen Lehranstalt, aber will nicht, was ja ganz in der Ordnung wäre, als Jude gelten, sondern als Ausdruck der allein möglichen Vernunft“97. Die Auseinandersetzung um das Ethos der hebräischen Propheten wurde zu einem Streit im „Zweiten Reich“ um die Einbindung von Judentum und Christentum in eine „Kultursynthese“ und die Bedeutung des Marburger Neukantianismus für eine derartige Synthese. So griff schließlich Hermann Cohen selbst öffentlich in die Diskussion ein und unterzog Ernst Troeltschs Propheteninterpretation in zwei parallel in jüdischen Zeitschriften erscheinenden Beiträgen der Kritik. Ein Schlüssel für Hermann Cohens Vorwurf, Ernst Troeltschs „vernichtender Angriff“ auf das Judentum habe aufgrund eines „verkehrten Materialismus“ dem Judentum bestritten, Religion zu sein, ist Hermann Cohens Vortrag „Der Stil der Propheten“, den er bereits am 31. März 1901 in Wien gehalten hat 98 und der 1924 posthum veröffentlicht wurde99. Diesem Vortrag kommt für die Entwicklung von Hermann Cohens Interpretation des Anteils der Religion an der Vernunft Bedeutung zu, da er zeigt, daß wesentliche Züge seines Spätwerks bereits 1901 vorgezeichnet sind. Nicht erst die Abhandlung von 1915 „Der Begriff der Religion im System der Philosophie“ begreift im Gegensatz zu den Systemschriften, die Gott auf die Gesamtheit der Menschen beziehen, die Beziehung der Menschen zu Gott als die des sich der Sünde bewußt gewordenen Individuums, sondern bereits der Vortrag von 1901 zur hebräischen Prophetie100. Hermann Cohen will in diesem Vortrag die 97

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Ernst Troeltsch, a.a.O., S. 118f. (Kursive des Verf.). Ernst Troeltsch verkennt hier Hermann Cohens Rückwendung zum Judentum seit Heinrich von Treitschkes Angriffen; vgl. dazu Franz Rosenzweig, „Einleitung“, in: Hermann Cohen, Jüdische Schriften, Bd. I, S. XIII-LXVI, hier S. XXVIff.; Hans Liebeschütz, Georg Simmel, S. 29ff. Was Ernst Troeltsch in einen Gegensatz von „Judentum“ und „die allein mögliche Vernunft“ bringt, will Hermann Cohen zur Deckung bringen und den Anteil jüdischer Religion an transzendentaler Vernunft aufzeigen. In der Rezension der 1915 erschienenen Monographie Hermann Cohens „Der Begriff der Religion im System der Philosophie“, die Ernst Troeltsch in der Theologischen Literaturzeitung, Jg. 43, 1918 veröffentlichte (vgl. Anm. 85), hat er dagegen Hermann Cohen als „Philo modernus“ (a.a.O., S. 57) und damit als einen Philosophen bezeichnet, der philosophische Mode und jüdische Tradition verbinden wollte. Dieser Bezeichnung kommt insofern eine besonders bissige Ironie zu, als Philos Logoslehre für Hermann Cohen eine pantheistische Abweichung von einem reinen Monotheismus der Propheten ist; siehe. Hermann Cohen, Der Begriff der Religion, S. 7f. Siehe „Neue Presse“ vom 2. April 1901, S. 4. Siehe Hermann Cohen, „Der Stil der Propheten“, in: ders., Jüdische Schriften, Bd. I, S. 262–283, mit Ergänzungen durch das Schreibmaschinen-Original a.a.O., S. 340f. Zu den biographischen und werkbiographischen Kontexten vgl. Franz Rosenzweig, Einleitung, S. XIII-LXIV. In diesem Sinne ist die Aufstellung u.a. von Mechthild Dreyer (Die Idee Gottes im Werk Hermann Cohens, MPF 230, Königsstein/Ts.: Anton Hain 1985, bes. S. 217ff.) zu korrigieren. Sie bemerkt zwar richtig (a.a.O., S. 226), Hermann Cohen habe in der posthumen Abhandlung zur „Religion der Vernunft“ die Gedanken zahlreicher Aufsätze, die Fragen aus dem Bereich des Judentums behandeln, aufgenommen und zu einem kohärenten Ganzen gefügt, doch zieht sie daraus keine Schlüsse für die Rekonstruktion der Entwicklung seiner Interpretation des Anteils der Religion an der Vernunft. Auch handelt es sich nicht nur, wie die Autorin meint, um Aufsätze des „letzten Lebensjahrzehnts“, auf die Hermann Cohen sich in diesem Spätwerk stützt. Die Bedeutung des Vortrags von 1901 zur hebräischen Prophetie, der bereits die wesentlichen Züge der späteren Religionsschriften von 1915 und 1919 (2. Auflage 1929) enthält, kann für die Konstitution dieser Schriften nicht hoch genug veranschlagt werden. Umgekehrt muß es zu ontologisierenden Fehlinterpretationen führen, wenn die Spätschriften Hermann Cohens nicht

zeitübergreifende Gültigkeit der hebräischen Prophetie aufgrund der Vernunftsgemäßheit ihrer Botschaft erweisen. Unter dem „Stil“ der Propheten versteht Hermann Cohen das Gesetz des Genius, der die allen Nationen und Stämmen eigenen Stile transzendierte und der Stil der einen Menschheit sei: „Homer und Jesaias Stil vertreten eine einheitliche und ewige Menschheit“.

Dem Stil der Propheten korrespondiere die Idee der Einzigkeit Gottes, die von den Propheten entdeckt worden sei, und mit der Idee der Einzigkeit Gottes die des Urhebers der Sittlichkeit. Die Einzigkeit Gottes sei Symbol der Wesensverschiedenheit zwischen Gott und allem, was nicht Gott ist, während im Mythos an einer Einheit von Gott und Mensch festgehalten werde, aus der ein falscher Absolutheitsanspruch der Religion der Sittlichkeit gegenüber folge. 101 In der

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mit den Systemschriften als hermeneutischem Schlüssel gelesen werden. Auch das zeigt der Prophetenvortrag von 1901 deutlich. Die Gottesidee bleibt stets für Hermann Cohen ein „Erzeugnis“ der Vernunft. Da Mechthild Dreyer (a.a.O., S. 235) den Zusammenhang mit den Systemschriften auflöst, kommt sie zu dem Ergebnis, daß in den Spätschriften „die Einfügung der Idee (sc. Gottes) in das Systemganze aufgrund des Übergewichts an außerphilosophischer (sc. jüdischer) Prägung mißlingt“. Hermann Cohen hat sich von einem Verehrer Spinozas zu einem scharfen Kritiker des spinozistischen Pantheismus entwickelt; vgl. dazu Ernst Simon, „Zu Hermann Cohens SpinozaAuffassung“, in: Wilhelm, Kurt (Hg.), Wissenschaft des Judentums im deutschen Sprachbereich, Bd. II, SWALBI 16/II, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1967, S. 539–550. Hermann Cohens Betonung der Differenz von Gott und Welt hat eine Analogie in Max Webers Beschreibung JHWHs als des „fernen Wahlgottes“, der aber von Max Weber nicht auf die geeinte Menschheit, sondern auf Israel als Eidgenossenschaft bezogen wird. Von Max Webers substantiellem Gottesbegriff des „fernen Wahlgottes“ ist Hermann Cohen auch insofern geschieden, als die Idee der Einzigkeit Gottes für Hermann Cohen eine Denknotwendigkeit und als solches Erzeugnis der Vernunft ist: „Es sind die Verhältnisse zwischen dem Menschen als Naturwesen und dem Menschen als sittlichem Wesen, um die es sich handelt. Damit diese sich bilden können, wird Gott erdacht, als Voraussetzung dafür erdacht. So legen die Propheten in dem Einzigen Gott den einheitlichen Grund zur Sittlichkeit“; Hermann Cohen, Stil der Propheten, S. 268.; vgl. auch ders., Ethik, S 440f. (2. Auflage 1907, S. 465f.); ders., Religion der Vernunft, S. 475ff. Aus Ex 3,14 leitet Hermann Cohen (Der Begriff der Religion, S. 20ff.) ab, daß Gott und Sein zu identifizieren seien, so daß allem, was nicht Gott ist, also auch der Natur, kein Sein zukomme, eine doppelte Identitätssetzung des Seins mit Gott und der Natur „deus sive natura“ also ein „logischer Grundfehler“ sei. Die Gottesidee ist für Hermann Cohen im Gegensatz zu Immanuel Kant kein Postulat, das erst die Systematik der transzendentalen Ethik schließt, sondern geht der Ethik wie auch der Logik und Ästhetik voraus und ermöglicht in der systematischen Verbindung von Sein und Sollen deren Einheit; vgl. dazu Peter A. Schmid, Ethik als Hermeneutik. Systematische Untersuchungen zu Hermann Cohens Rechts- und Tugendlehre, Studien und Materialien zum Neukantianismus 5, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 209ff. Die Gottesidee aber bleibt wie die Religion für Hermann Cohen stets eine Funktion des Bewußtseins. Es ist wohl ein von Hermann Cohens These der Korrelation des göttlichen Geistes mit dem menschlichen „als eine Art von Identität der logischen Vernunft“ (Hermann Cohen, Religion der Vernunft, S. 94; Kursive des Verf.) befördertes Mißverständnis, wenn Franz Rosenzweig (Einleitung, S. XLIVff.) und Siegfried Ucko (Der Gottesbegriff in der Philosophie Hermann Cohens, Berlin: Siegfried Scholem 1927, S. 50ff.) meinen, Hermann Cohen habe in seinem Spätwerk zunehmend ontologisch gedacht; zu Franz Rosenzweig und Siegfried Ucko vgl. Hans Ludwig Ollig, Religion und Freiheitsglaube. Zur Problematik von Hermann Cohens später Religionsphilosophie, MPF 179, Königstein/Ts.: Athenäum 1979, S. 230ff.; Peter A. Schmid, „Einleitung“, in: Hermann Cohen, Ethik, S. 7*–38*, hier S. 22*ff.; Andrea Poma, The

prophetischen Predigt sei dagegen in der Einzigkeit Gottes die Idee der Einheit der Menschheit als einer sittlichen begründet. Allein durch diesen Bezug auf die Menschheit könne das Handeln des Menschen mit dem Menschen als sittliches Bestand haben: Wenn auch die Politik der Mutterboden für die Religion der Propheten sei, so vertrete doch nicht das jüdische Volk allein den Begriff der Menschheit, sondern die Völker und Staaten, mit denen ihr Volk in Berührung komme und die Werkzeuge in der Hand des einen Gottes seien: „Die Menschheit ist die erste, die fundamentale Gestalt des Menschen der Sittlichkeit. Aber wie fern sind die Völker von diesem Ideal der Menschheit. Sollte man nicht an ihrer sittlichen Idealisierung verzweifeln müssen?“102

Die drastische Kriegsdarstellung der Propheten zeige den Gott der Gerechtigkeit, der die Kriege führe, um den „titanischen Übermut der Völker zu Grunde zu richten“ und die Völker in die Menschheit zu verwandeln, indem er eine neue Sittlichkeit schaffe: „Der neue Himmel ist die neue Sittlichkeit; und die neue Erde die neue Menschheit.“103

Israel komme in dieser sittlichen Vereinigung der Menschheit die Rolle der religiösen Führung zu, um derer willen es sein Volkstum zu opfern und „Gemeinde“ zu werden habe104. Auch Julius Wellhausen und ihm folgend Max Weber, Ernst Troeltsch und Eduard Meyer verbinden mit der Prophetie eine Aufweitung des religiösen Partikularismus des frühen Israel zur Idee der universalen Herrschaft des einen Gottes über die Völker. Das Ethos der Propheten habe sich aber nachexilisch in der Tora eingekapselt und die Gemeinde aus sich herausgesetzt. Während Julius Wellhausen und die ihm Folgenden diesen Prozeß negativ als Repartikularisierung des prophetischen Ethos interpretieren und die nachexilische Gemeinde als „Sekte“ bezeichnen können, sieht Hermann Cohen die nachexilische Gemeindebildung gerade als Überwindung der nationalstaatlichen Bindung der Religion im Dienst ihrer Universalisierung. Hermann Cohens Lobpreis des nachstaatlichen Judentums als Überwindung des Nationalismus hat dann auf die protestantische Alttestamentliche Wissenschaft nach dem Weltkrieg Einfluß gehabt, die zwar weiterhin das nachexilische Judentum negativ wertete, aber mit Albrecht Alt, Martin Noth und

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Critical Philosophy of Hermann Cohen, Albany: State University of New York Press 1997, S. 302ff. Ernst Troeltsch (Historismus, S. 544ff.) hat bereits den Unterschied zwischen Hermann Cohens Neukantianismus und Hegels Identitätsphilosophie, die für Hermann Cohen eine Spielart des Pantheismus ist, herausarbeitet. Für weitere Literatur zum Thema „Hegel und Cohen“ vgl. Eggert Winter, Ethik und Rechtswissenschaft. Eine historisch-systematische Untersuchung zur Ethik-Konzeption des Marburger Neukantianismus im Werke Hermann Cohens, Schriften zur Rechtstheorie 92, Berlin: Duncker & Humblot 1980, S. 204ff. Anm. 122. Die Dialektische Theologie knüpft unter Übergehung der neukantianischen Erkenntnistheorie an die Theologummena der Einzigkeit Gottes und seiner Differenz zu allem, was nicht Gott ist, an. Zu Karl Barth als Hörer Hermann Cohens vgl. Dietrich Korsch, Dialektische Theologie nach Karl Barth, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1996, S. 66ff. Hermann Cohen, Stil der Propheten, S. 269. Hermann Cohen, a.a.O., S. 273. Daß Hermann Cohen damit auch der Bewegung des Zionismus als einer Renationalisierung des Judentums eine Absage erteilt, sei angemerkt.

Gerhard von Rad das vorstaatliche Israel als das eigentliche auf den Schild hob, dies aber nicht mehr im Dienst der Idee einer Kultursynthese, sondern einer lutherischen Zwei-Reiche-Lehre. An die durch die Idee der Einzigkeit Gottes begründete Einheit der Menschheit schließt Hermann Cohen das Ethos der Propheten an. Die Einheit der Menschheit vertrage keine Differenzierung in Arme und Reiche, so daß die Prophetie einen „sozialistischen Standpunkt“ eingenommen habe, „weil alle zur Sittlichkeit berufen sind“105. Wie für Max Weber sind auch für Hermann Cohen die Propheten rein religiös motiviert, deren Motivation er in seinem Spätwerk aus der im Monotheismus begründeten „Korrelation“ von Gott und Mensch als Gegensatz zu pantheistischer Identifizierung ableitet106: „Der Monotheismus vollzieht seine Entwicklung im Prophetismus; man kann aus dem sozial ethischen Gesichtspunkte vielleicht sogar sagen: zum Prophetismus. Denn das Eigentümliche des Prophetismus besteht in der Verbindung der vermeintlichen Selbständigkeit des Bösen mit der vermeintlichen Selbständigkeit des Sittlichen. Der Prophet kennt diese Isolierung nicht. Er kennt nur die Korrelation von Gott und Mensch, von Mensch und Gott. Ihn interessiert daher ebenso sehr die Politik, wie das göttliche Weltregiment. Und die Politik ist für ihn wahrlich auch die auswärtige, internationale, in erster Linie aber Sozialpolitik.“

Die rein religiöse Motivation der Propheten wird bei Hermann Cohen also nicht wie bei Max Weber in Anknüpfung an Gustav Hölscher und Hermann Gunkel mit den unableitbaren charismatisch-ekstatischen Erlebnissen der Propheten, die nachträglich rationalisiert werden, begründet, sondern mit dem Anteil ihrer Religion an der Vernunft. Ausgehend von der Differenzierung aber zwischen dem sinnlich-faktischen und dem sittlich-idealen Menschen angesichts bestehender sozialer Ungleichheit habe die Prophetie — allen voran Ezechiel — das Individuum und mit ihm die Sünde zum Thema gemacht. Die Erkenntnis der Sünde entbinde das Selbstbewußtsein der Sittlichkeit. Reflektiere die Ethik auf das sittliche Allgemeine der Menschheit, so finde sie ihre Grenzen am Individuum, dessen Entdeckung Leistung der Religion sei. Schlägt sich darin Julius Wellhausens Einfluß nieder, so ist die Füllung dieses Gedankens Proprium Hermann Cohens. Ezechiel als Entdecker des Individuums sei der Prophet der Buße „und damit der eigentliche Urheber des Gebets geworden. Die Buße könnte die Gefahr nüchterner Prosa mit sich bringen. Aber die sittliche Wahrhaftigkeit hat die Urkraft des Gebets geweckt. Und so ist in dieser sakralen Schwärmerei die andere Poesie zu neuer Blüte gekommen: die Poesie der Psalmen.“107 Wenn Hermann Cohen hier Julius Wellhausens Charakterisierung des 105 106 107

Vgl. Hermann Cohen, a.a.O., S. 276; ders., Das soziale Ideal, S. 313f. Hermann Cohen, Religion der Vernunft, S. 153. Zu Hermann Cohens Entwicklung der Idee der Korrelation vgl. Andrea Poma, Einleitung, S. 20*ff.; dies., Philosophy, S. 171ff. Hermann Cohen, Der Stil der Propheten, S. 280f.; vgl. auch ders., Religion der Vernunft, S. 222ff.; Benzion Kellermann, Monotheismus, S. 44–51. Hermann Cohen knüpft hier an eine Aussage Julius Wellhausens zum Propheten Jeremia an und überträgt sie auf Ezechiel: „Was ihn (sc. Jeremia) bewegte und was ihn hielt, hat auch die edelsten Geister des Judentums bewegt und gehalten: das Leiden des Gerechten, das Wirken der Kraft Gottes in den Gebeugten und Verachteten. Er ist der Vater des wahren Gebets, in dem die arme Seele zugleich

Propheten Jeremia auf den Propheten Ezechiel überträgt, den die protestantische Alttestamentliche Wissenschaft nicht wie Jeremia mit der Verinnerlichung der Religion sondern dem Umschlag der israelitischen Religionsgeschichte in die Nomokratie verbindet, so will Hermann Cohen dem Gegensatz von Gesinnung und Handlung108 als einem falschen entgegentreten und über den Propheten Ezechiel die Tora in die Prophetie einholen109. Hermann Cohen will so einer sich auf Immanuel Kant berufende Engführung der Ethik auf eine reine Individual- und Gesinnungsethik widersprechen. Der Hebräischen Bibel kommt dabei als „Kulturobjektivation“ in Hermann Cohens Grundlegung der Ethik ein dem positiven Recht analoger Status zu,

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ihr untermenschliches Elend und ihre übermenschliche Zuversicht ausdrückt, ihr Zagen und Zweifeln und ihr unerschütterliches Vertrauen. Die Psalmen wären ohne Jeremias nicht gedichtet“; Julius Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte, S. 140f. Zu Julius Wellhausens Jeremia-Interpretation in diesem Zusammenhang vgl. auch Hans Liebeschütz, Das Judentum im deutschen Geschichtsbild, S. 255. Der Hochschätzung des Propheten Jeremia in der protestantischen Alttestamentlichen Wissenschaft, die sich auch bei Max Weber (vgl. MWG I/21.1–2, Bd. II, S. 604ff.) niedergeschlagen hat, setzt Hermann Cohen die des Propheten Ezechiel entgegen, der für die protestantische Exegese den Beginn des Judentums im negativen Sinne verkörperte; vgl. auch Eduard Meyer, Geschichte des Altertums, Bd. I/1: Einleitung. Elemente der Anthropologie, Stuttgart: J.G. Cotta, 1907, S. 147 Anm. 1, der Ezechiel als „Priester im Prophetenmantel“ bezeichnet, „der das theologische System des Judentums begründet hat“. Stattet Hermann Cohen Ezechiel mit den Zügen einer innerlichen Frömmigkeitskultur aus, so übt er Kritik an der protestantischen Abwertung der nachexilischen Religionsgeschichte. Hermann Cohens davon nicht getrübte Hochschätzung des Marburger Kollegen zeigt sein Nekrolog auf Julius Wellhausen; siehe Hermann Cohen, „Julius Wellhausen. Ein Abschiedsgruß“, Neue Jüdische Monatshefte, 1918, Heft 8, S. 178–181 = ders., Jüdische Schriften, Bd. II, S. 463–468. Wie den Propheten Ezechiel wertet Hermann Cohen auch das Buch Deuteronomium im Verhältnis zur protestantischen Exegese der Zeit auf; vgl. nur Hermann Cohen, Religion der Vernunft, S. 28f., und Benzion Kellermann, a.a.O., S. 36–44. Zwar ist das Deuteronomium auch für Julius Wellhausen (a.a.O., S. 135) die Krönung der Prophetie, doch ähnlich wie in der Beurteilung der Prophet Ezechiel negativ als Beginn der Vergesetzlichung des Ethos der Propheten konnotiert. Der „modernen Bibelforschung“ wirft Hermann Cohen (Religion der Vernunft, S. 205) vor, in der Beurteilung des Deuteronomiums nicht zu bedenken, daß „die neue Lehre (sc. der Propheten) der sittlichen Religiosität überhaupt auch nur zur geistigen, geschweige zu einer geschichtlichen Verwirklichung hätte gebracht werden können, ohne die Anknüpfung an das Gesetz unter der Voraussetzung seiner inneren Verwandlung der neuen Lehre gemäß“. Das hat Max Weber ebenso gesehen. Ezechiel und Deuteronomium führt Hermann Cohen (a.a.O., S. 296) so zusammen, daß „Jecheskel der nationale Politiker im tiefsten, wenngleich versteckten Geiste des Deuteronomiums“ sei. Zu Hermann Cohens juristisch geprägtem Handlungsbegriff, der eine Nähe zu dem Max Webers hat, vgl. Eggert Winter, Ethik, S. 286ff., einerseits und Bernhard K. Quensel/Hubert Treiber, „Das ‚Ideal‘ konstruktiver Jurisprudenz als Methode. Zur ‚logischen Struktur‘ von Max Webers Idealtypik“, Rechtstheorie, Jg. 33, 2002, S. 91–124, bes. S. 100f., andererseits. Darin folgt Max Wiener (Die Anschauungen der Propheten von der Sittlichkeit, Schriften der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judenthums, Bd. I, Heft 3-4, Berlin: Mayer & Müller 1909, S. 106f.) seinem Lehrer Hermann Cohen; vgl. dazu auch die Rezensionen dieser Monographie von Paul Volz in der ThLZ, Jg. 35, 1910, S. 2–4, und Hugo Greßmann in der Deutschen Literaturzeitung, Jg. 31, 1910, S. 1102f. Hugo Greßmann notiert ausdrücklich, der Verf. erkenne die ursprünglich mythologischen Vorstellungen im Alten Testament „unbefangen an, besonders in der Eschatologie, wenngleich ihre Umbiegung ins Ethische als die wichtigste Eigenart der Prophetie betont wird“; siehe Hugo Greßmann, a.a.O., S. 1103. Hier deutet sich Max Wieners größere Offenheit für die Anliegen der Religionsgeschichtlichen Schule an, als sie sein Lehrer Hermann Cohen an den Tag legte; vgl. auch o. Anm. 8. Bereits hier kündigt sich in der

da sie wie das Recht als ratio cognoscendi der Ethik dienen soll, als solche aber der Prüfung durch die transzendentale Vernunft unterliege. Das Ende unserer Tage, das der Prophet schaue, das den neuen Tag, den Tag der Menschheit und Sittlichkeit heraufführe, gebe die Richtung aller menschlichen Kultur an. Hermann Cohen schließt – wie Max Weber seinen Vortrag „Wissenschaft als Beruf“110 – mit dem Hüter-/Wächterspruch aus dem Jesajabuch: „Hüter ist auch einer der Ausdrücke, mit denen der Prophet sich benennt. Das Wort klingt an das Wort vom Hüter Israels an. Auch Jesaja fragt: ‚Hüter, was wird aus der Nacht?‘ Er gibt selbst die Antwort, indem er des Propheten Gesicht als ein Nachtgesicht bezeichnet. Die Nacht ist das Bild für das Dunkel der bisherigen Geschichte. Der Prophet schaut das Ende der Tage, das den wahren Tag heraufbringen wird, den Tag der Menschheit, den Tag der Sittlichkeit, den Tag des sittlichen Individuums. Diesen Tag bereiten alle Richtungen der menschlichen Kultur vor“111.

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unterschiedlichen Gewichtung der altorientalischen Religionsgeschichte auch Max Wieners „Frontwechsel“ von Hermann Cohen zu Ernst Troeltsch an (vgl. Max Wiener, Nationalismus, S. 190–200, sowie o. Anm. 77), der aber nicht durch die Intention konsequenter Historisierung der prophetischen Überlieferung, sondern durch nach dem Weltkrieg zunehmende Homogenitätswünsche (siehe dazu Kurt Nowak, „Protestantismus und Judentum in der Weimarer Republik. Überlegungen zu einer Forschungsaufgabe“, ThLZ, Jg. 113, 1988, S. 561-578, hier S. 564f.) gelenkt war, die ähnlich wie in der Dialektischen Theologie auf Hermann Cohens erkenntnistheoretisches Fundament verzichteten. Entsprechend vage bleibt, was Max Wiener (Nationalismus, S. 192) mit „‚Verstehen‘ im primitiven urwüchsigen Sinn“, das Hermann Cohens Erkenntniskritik ersetzen soll, meint. Zu Max Wiener, über den an anderer Stelle ausführlich gehandelt werden soll, vgl. Hans Liebeschütz, Georg Simmel, S. 176ff.; Christian Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. Ein Schrei ins Leere? SWALBI 61, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1999, S. 200f. Vgl. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, hg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter, MWG I/17, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1992, S. 111. Vgl. Hermann Cohen, Der Stil der Propheten, S. 283. Der hier zugrundeliegende Spruch Jes 21,11f. lautet: „Man ruft zu mir aus Seir: Hüter, ist die Nacht endlich hin? Der Hüter aber spricht: Wenn der Morgen schon kommt, so wird es doch Nacht sein. Wenn ihr fragen wollt, fragt, kehrt wieder, kommt!“ Max Weber (Wissenschaft, S. 110f.) zitiert den Hüter-/Wächterspruch Jes 21,11f. mit Hermann Cohen diametral entgegengesetzter Intention: Die intellektuelle Redlichkeit „gebietet uns, festzustellen, daß heute für alle jene vielen, die auf neue Propheten und Heilande harren, die Lage die gleiche ist, wie sie aus jenem schönen, unter die Jesaja-Orakel aufgenommenen edomitischen Wächterlied in der Exilszeit klingt: ‚Es kommt ein Ruf aus Seir in Edom: Wächter, wie lang noch die Nacht? Der Wächter spricht: Es kommt der Morgen, aber noch ist es Nacht. Wenn ihr fragen wollt, kommt ein ander Mal wieder‘. Das Volk, dem das gesagt wurde, hat gefragt und geharrt durch weit mehr als zwei Jahrtausende, und wir kennen sein erschütterndes Schicksal. Daraus wollen wir die Lehre ziehen: daß es mit dem Sehnen und Harren allein nicht getan ist, und es anders machen: an unsere Arbeit gehen und der ‚Forderung des Tages‘ gerecht werden — menschlich sowohl wie beruflich. Die aber ist schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält.“ Max Webers Anspielung an den Monolog des Wächters, der die Orestie des Aischylos eröffnet, ist ebenso unübersehbar wie die an Wolfgang von Goethes „Betrachtungen im Sinne der Wanderer“ aus „Wilhelm Meisters Wanderjahren“. Vor allem aber wehrt Max Weber die von Hermann Cohen vertretene These ab, die politische Katastrophe Judas als Überwindung des Nationalstaates könne Modell für Deutschland nach der Niederlage im Weltkrieg sein.

Der prophetische „Stil“ ist für Herrmann Cohen in seiner universalen Gültigkeit als Zielangabe der Kulturgeschichte in keiner Weise durch das Christentum überholt. Im Gegenteil gefährde die Christologie die Idee der Einzigkeit Gottes, d.h. der prinzipiellen Differenz zwischen Gott und allem, was nicht Gott ist, und damit zwischen Religion und Mythologie: „Immer und überall beschreibt und bestimmt Gott sein Verhältnis zum Menschen; das heißt die Grundlage und Voraussetzung für die Verhältnisse der Menschen; aber niemals darf er selbst Mensch werden. Würde er dies, so hörte die Grundlage zu den Verhältnissen auf; es trete Gleichheit, WesensGleichheit ein. Das ist gegen den Stil der Propheten. ‚Denn nicht ein Mensch ist Gott. Ein Gott bin ich, nicht ein Mensch‘“112.

Die Einzigkeit Gottes unterscheide die Religion von der Mythologie, so daß das Christentum der Vorwurf trifft, diesen Unterschied verwischt zu haben. Den Grundsatz der historischen Unüberholbarkeit des Anteils der hebräischen Propheten an der Vernunft sieht Hermann Cohen durch Ernst Troeltschs Aufsatz verletzt und nimmt entsprechend kritisch Stellung. Hermann Cohen definiert in seiner Replik auf Ernst Troeltsch zunächst die Aufgabe der Soziologie durchaus im Sinne Max Webers, die Triebkräfte der Kultur zu mustern und zu ordnen, so daß keine derselben die anderen dominiere. Es gelte „ihre Wechselwirkung und gegenseitige Durchdringung zu erforschen und durchsichtig zu machen“ 113. In scharfer Wendung spricht Hermann Cohen Ernst Troeltsch diese methodische Zugehensweise ab und beklagt den „gesteigerten Materialismus“, der die sittlichen Ideen der Religion als Schößlinge der wirtschaftlichen Interessen entlarven wolle. Habe die protestantische Kathedertheologie „den gewaltigen Eigenwert sittlicher Urgedanken“ der hebräischen Prophetie enthüllt, so stelle Ernst Troeltsch sich der gesamten protestantischen Bibelforschung entgegen, „indem er in der philosophischen Zeitschrift ‚Logos‘ die ethische Bedeutung des Monotheismus bestreitet, die Ethik der Propheten zu einer Bauernmoral herabwürdigt und demgemäß auch den Universalismus der Gotteslehre auf den Partikularismus eines Stammesgottes zurückpreßt“114. Damit werde das Judentum als Religion vernichtet, 112

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Hermann Cohen, Der Stil der Propheten, S. 266. Er rekurriert hier auf Hos 11,9. Hos 11,1–9 läßt das Motiv des „Mitleidens“, das Hermann Cohen (Religion der Vernunft, S. 160f.) in der Korrelation des Menschen mit dem Menschen, der zum Mitmenschen wird, verankert, noch sehr viel direkter in Beziehung zum Gottesbegriff treten, entwirft der Prophet Hosea doch hier das Bild des mitleidenden Gottes, der Schmerz tragend die Sünde des Menschen überwindet (siehe dazu Eckart Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, ThW 3/2, Stuttgart: Kohlhammer 1994, S. 109f.; ders., „Die Geburt des moralischen Bewußtseins. Die Ethik der Hebräischen Bibel“, in: ders./Uhlig, Siegbert, Bibel und Christentum im Orient, Orientalia Biblica et Christiana 1, Wiesbaden: Harrassowitz 1991, S. 63–87, hier S. 69ff.) und damit die Unmöglichkeit, fremdes Leid in eigenes zu verwandeln; vgl. dazu Käte Hamburger, Das Mitleid, Stuttgart: Klett-Cotta 1985, S. 65ff. Der Aspekt der Schuld muß also keineswegs wie bei Hermann Cohen (a.a.O., S. 165) vom Mitleid getrennt und die Idee der Stellvertretung von der Schuld getrennt nur auf das Leid bezogen werden. Zu Hermann Cohens Sündenverständnis s. auch i.f. Hermann Cohen, Soziologie, S. 398 (Kursive des Verf.). Hermann Cohen, a.a.O., S. 399. An anderer Stelle macht Hermann Cohen (Religion der Vernunft, S. 112) der protestantischen „Bibelforschung“, die von dogmatischen Tendenzen

„denn unter Religion versteht man hoffentlich das Verhältnis zwischen Gott und Mensch, und nicht ausschließlich zwischen Gott und einem einzelnen Volke“115. Hermann Cohen verkennt aber wohl die Intention des Beitrags von Ernst Troeltsch, wenn er die von Louis Wallis übernommenen Aspekte der sozialhistorischen Kontextualisierung zu den alleinig bestimmenden in Ernst Troeltschs Aufsatz erklärt, ihre Funktion im Rahmen der „Metamorphose der Zwecke“ als einer Ablösung prophetischer Religion von ihren gesellschaftlich-politischen Kontexten im antiken Israel aber übergeht. Für Hermann Cohen verwehrt die Archaisierung des prophetischen Ethos den in der Prophetie von den frühen Schriftpropheten bis zu Deuteronomium und Ezechiel gültigen Anteil an transzendentaler Vernunft zu finden116, deren Werte der universalen Kulturgeschichte ihr Ziel geben sollen. Hermann Cohen sieht also seinen Zugriff auf die Hebräische Bibel als vernünftige Kulturobjektivation durch Ernst Troeltsch in Frage gestellt. Ernst Troeltsch leistet allerdings der Vermutung Vorschub, er sehe das Ethos der hebräischen Propheten nur vermittelt durch die Verkündigung Jesu vom kommenden Gottesreich kulturhistorisch in der Moderne wirksam117, während er wie Max Weber das

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beeinflußt sei, den Vorwurf, sich immer mit Vorliebe an die materiellen Mitbedingungen der Zeitlage und der politischen Umstände zu hängen und es darüber zu versäumen, „die innere unaufhaltsame Verkettung der gedanklichen Motive zu erforschen und ins Licht zu stellen“. Hier wird ein grundsätzlicher Dissens über die Bedeutung der Historisierung der biblischen Quellen durch die liberale protestantische Forschung erkennbar, die ihr Dilemma erzeugt hat, daß die Historisierung der Theologie das Bedürfnis hervorhebt, sich gleichzeitig der historischen Relativierung zu entziehen. „Der Adressat der Lehre, um dessentwillen die Historisierung der Theologie in Gang gesetzt worden ist, rückt in die Rolle des Produzenten von Religion ein. Als individuelles Subjekt kann seine religiöse Produktivität aber nicht als historisch unbedingt gelten. Hier bietet es die offene Flanke für die Religionskritik“; vgl. Trutz Rendtorff, „Theologie in der Moderne – Wege und Auswege“, in: ders., Moderne, S. 9–25, hier S. 22. Hermann Cohens rationalistische Bibelinterpretation versucht durch eine transzendentale Interpretation des Subjekts verbunden mit einem Ausstieg aus der Historisierung der Quellen dieses Dilemma zu lösen; siehe dazu auch i.f. Hermann Cohen, Soziologie, S. 399. Hermann Cohen unterstellt Ernst Troeltsch ein Verständnis des Alten Testaments, das zwanzig Jahre später Emanuel Hirsch (Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums, Tübingen: J.C.B. Mohr [Paul Siebeck] 1936) in Anknüpfung an Julius Wellhausen vertreten hat. Vgl. dazu Wendell S. Dietrich, Cohen, S. 32f. Die Heftigkeit der Reaktion Hermann Cohens auf Ernst Troeltschs Beitrag ist auch durch eine innerjüdische Diskussion mitverantwortet. Vertreter des Kulturzionismus verfolgten nicht das Projekt einer christlich-jüdischen Kultursynthese in Europa, das ihnen als Ausverkauf jüdischer Authentizität galt, sondern suchten das Eigene in dem Westeuropa Fremden eines archaisierten und dabei romantisierten Palästina zu entdecken. Ernst Troeltschs Kontextualisierung der hebräischen Prophetie kam dem entgegen; vgl. dazu Michael Zank, „Inauthentizitätsverdacht und Anspruch auf Authentizität. Reflexionen über Hermann Cohens Auseinandersetzung mit dem Christentum“, in: Holzhey, Helmuth/Motzkin, Gabriel/Wiedebach, Hartwig (Hg.), „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“. Tradition und Ursprungsdenken in Hermann Cohens Spätwerk, Philosophische Texte und Studien 55, Hildesheim: Georg Olms 2000, S. 303–329. In den handschriftlichen Ergänzungen des Logos-Aufsatzes hat Ernst Troeltsch dies unterstrichen, wenn er die Gottesidee des Hebraismus zwar übereinstimmend mit Hermann Cohen vom jüdischen Nationalismus gelöst als zu einem „religiös- ethischen Prinzip an sich geworden“ interpretiert, das aber – und darin liegt der Streitpunkt – seinen „allgemeinmenschlichen Gehalt in der Jesuspredigt und in der Lehre Mohammeds – freilich nur in der ersteren vollkommen harmonisierten – Gestalt“ gewonnen habe. In diesem Sinne spricht Ernst

nachbiblisch-rabbinische Judentum auf die „Moral eines auf Handel und Zinsgeschäfte abgedrängten Pariavolkes“ zurückfallen sehe, „das in antiker Weise eine hohe Moral gegenüber seinen eigenen Gliedern behauptet, den Fremden gegenüber sie einschränkt und im Ressentiment sich entschädigt, sein Händlerwesen mit seinem erhabenen Jahveglauben durch den Glauben an göttlichen Lohn für fleißige Arbeit verbindet“118. Hermann Cohen bestreitet also Ernst Troeltschs Auffassung von der Präsenz des Absoluten in historisch vermittelter Gestalt in moderner, vom Protestantismus geprägter Kultur. Hermann Cohen konnte dagegen eine kulturhistorische Bedeutung des Judentums als kultureller Minderheit in der Moderne nur über den Nachweis des Anteils jüdischer Religion an transzendentaler Vernunft verteidigen, um so das Programm einer christlich-jüdischen Kultursynthese zu begründen. Die Geschichte der Religionen ist für Hermann Cohen ein unangemessener Maßstab zu ihrer Beurteilung, der einzig in transzendentaler Vernunft aufgehoben sei. Entsprechend der historischen Konkretion entkleidet faßt Hermann Cohen den Begriff der Kultur, die kein empirisch Gegebenes und schon gar nicht durch empirische Faktizität gerechtfertigt sei, sondern ein Denkprodukt 119. Ein solches könne also auch nur eine Kultursynthese sein. Über den Anteil der Religion an der Kultur entscheide also nicht das faktisch Gegebene der Religionsgeschichte, sondern der Anteil der Religion an der transzendentalen Vernunft. Arbeitet Hermann Cohen aber aus der „abstrakten Vernunft“ heraus, so tritt er „aus dem historischen Realismus heraus“, so daß „historische Leistungen begreiflicherweise von einem solchen Standpunkte aus überhaupt nicht vor(liegen)“120. Hermann Cohen identifiziert das Judentum als eine historische Konkretion von Religion in der Konsequenz auch keineswegs mit der „Religion der Vernunft“, sondern bemüht sich um den Nachweis, daß das Judentum vor allen Religionen „einen unverkennbaren geistigen und ethischen Vorzug“ habe121, das

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Troeltsch vom Christentum als „Umformung und Weiterentwicklung des Hebraismus“; siehe Ernst Troeltsch, Zusätze,S. 820f. Ernst Troeltsch, Ethos, S. 26. Max Weber hat dagegen gerade die mangelnde religiöse Prämierung des Arbeitsethos im Judentum als Kennzeichen seines traditionalen Charakters betont; siehe o. I. Wenn Ernst Troeltsch in den Zusätzen (a.a.O., S. 820f.) davon spricht, daß das Alte Testament nicht nur eine Vorstufe des Christentums repräsentiere, sondern einen fortdauernden direkten Einfluß auf die Kulturgeschichte des Abendlandes genommen habe, die auf einen „christlich modifizierten Hebraismus“ zustrebe, so trennt er das posttrajanische bzw. postvespasianische Judentum in der Zerstreuung vom Hebraismus des Alten Testaments, dessen Abdrängung auf Handel und Geldgeschäfte als Folge der Pariastellung dem Geist des Prophetismus und seiner Ethik widerspreche. „Daß dann natürlich für diese Beschäftigung Anknüpfungspunkte und Regeln in der älteren Religionsweise gesucht und gefunden werden konnten, ist bei der Anpassungsfähigkeit aller Religionen an soziologische Wandlungen begreiflich“; Ernst Troeltsch, Zusätze, S. 819. Gegen diese Form der ökonomischen Ableitung des Geistes des Diasporajudentums hat Hermann Cohens Vorwurf, Ernst Troeltsch falle hinter sein von Max Weber übernommenes Konzept der soziologischen Beschreibung von Wechselwirkungen zugunsten eines „gesteigerten Materialismus“ zurück, seine Berechtigung. Vgl. dazu Hermann Cohen, Der Begriff der Religion, S. 9ff., sowie die Einleitung von Andrea Poma, a.a.O., S. 11*. Ernst Troeltsch, Historismus, S. 546. Hermann Cohen, Religion der Vernunft, S. 10.

Judentum also den „ursprünglichsten Anteil“ an der Vernunftsreligion habe 122. Jede der monotheistischen Religionen solle in der ihnen aufgegebenen „Kulturarbeit der Idealisierung“ die Elemente zunehmend überwinden, die der messianischen Idee vollkommener Sittlichkeit als regulativer Idee entgegenstehen. Die im 19. Jahrhundert eingeführte, von Wilhelm Martin Leberecht De Wette zur Geltung gebrachte, von Heinrich Ewald und Julius Wellhausen übernommene Differenzierung zwischen Hebraismus und Judentum123, die die vorexilische Religionsgeschichte von der nachexilischen als deren Niedergang abgrenzt, wird von Ernst Troeltsch so modifiziert, daß das Alte Testament der literarische Niederschlag des Hebraismus, nicht aber des Judentums sei, und dem Judentum damit die Hebräische Bibel entzogen und auf diese Weise Hermann Cohens Erhebung des Geistes des Judentums als in seinen Anteilen an der Vernunft universal gültig aus der hebräischen Prophetie widersprochen wird. Hermann Cohen, der unter dem Einfluß der protestantischen liberalen Exegese des Alten Testaments die literaturhistorische Diachronie biblischer Quellen zwar anerkennt124, vermeidet die in protestantischer Exegese mit der Entwicklungstheorie israelitischer Religionsgeschichte verbundene negative Wertung des Judentums, indem er sich midraschischer Auslegungsmethode bedient125, die ihm die Einheit der Schrift als Quelle vorphilosophischer Geistestätigkeit, die aber der philosophischen Reflexion zugänglich sei, sichert126. 122

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Entsprechend ist der Titel der Erstauflage der Intention Hermann Cohens folgend in der zweiten Auflage in „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ korrigiert worden; vgl. dazu Bruno Strauß, „Nachwort des Herausgebers“, in: Hermann Cohen, Religion der Vernunft, S. 625. Vgl. dazu Lothar Perlitt, „Hebraismus – Deuteronomismus – Judaismus“, in: Braulik, Georg/Groß, Walter/McEvenue, Sean (Hg.), Biblische Theologie und gesellschaftlicher Wandel. Festschrift für Norbert Lohfink, Freiburg/Br.: Herder 1993, S. 279-295; Ulrich Kusche, Die unterlegene Religion. Das Judentum im Urteil deutscher Alttestamentler. Zur Kritik theologischer Geschichtsschreibung, Studien zu Kirche und Israel 12, Berlin: Selbstverlag Institut Kirche und Judentum, 1991. Zu den Strömungen jüdischer Bibelwissenschaft im 19. Jahrhundert vgl. Hans Joachim Bechtold, Die jüdische Bibelkritik im 19. Jahrhundert, Stuttgart: Kohlhammer 1995. Zur Interaktion zwischen protestantischer und jüdischer Bibelwissenschaft vgl. Eckart Otto, Art. Bibelwissenschaft I. Altes Testament, Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Bd. I, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1998, S. 1517-1528, hier S. 1525f. (Lit.). Vgl. dazu Eliezer Schweid, „Hermann Cohen’s Biblical Exegesis“, in: Holzhey, Helmuth/Motzkin, Gabriel/Wiedebach, Hartwig (Hg.), „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“. Tradition und Ursprungsdenken in Hermann Cohens Spätwerk, Philosophische Texte und Studien 55, Hildesheim: Georg Olms 2000, S., S. 353–379, hier 360ff. Dieses Verfahren ist dem Selbstverständnis biblischer Autoren der Tora nicht unangemessen (vgl. Eckart Otto, „Rechtshermeneutik in der Hebräischen Bibel. Die innerbiblischen Ursprünge halachischer Bibelauslegung“, Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschicht, Jg. 5, 1999, S. 75–98), doch reflektiert es nicht auf die historischen Kontexte eines derartigen Selbstverständnisses biblischer Autoren. Nur durch die wissenschaftliche Exegese der Bibel, und das ist für Hermann Cohen die jüdische, die sich durch die protestantische Exegese aufklären lasse, könne die Bibel zur Quelle für die Philosophie der Religion werden, so wie nicht das positive Recht, sondern nur das wissenschaftlich reflektierte zur Quelle der Ethik werden könne. Man kann aber bestreiten, daß diese Form der Exegese, die Israel auch nicht als das geschichtliche thematisiert, sondern als „Rest“, d.h. als ein ideales (siehe Hermann Cohen, Religion der Vernunft, S. 330; vgl. dazu Andrea Poma, Philosophy, S. 238), die also aus der Sicht der zeitgenössischen protestantischen Exegese nicht ausreichend historisch aufgeklärt ist,

IV. Das Problem von Werturteil und Wertrealisation Max Weber hat einer wertenden Differenzierung zwischen Judentum und Hebraismus schon dadurch widersprochen, daß er die gesamte Religionsgeschichte, die sich in der Hebräischen Bibel niedergeschlagen hat, als die des „antiken Judentums“ beschrieben hat. Er hat darüber hinaus den dreifachen Ausgang des Alten Testaments in Judentum, Christentum und Islam als Begründung genommen, das Judentum unter Einschluß des Alten Testaments als Kulturreligion unter die Weltreligionen zu zählen127: „Unter ‚Weltreligionen‘ werden hier, in ganz wertfreier Art, jene fünf religiösen oder religiös bedingten Systeme der Lebensreglementierung verstanden, welche besonders große Mengen von Bekennern um sich zu scharen gewußt haben: die konfuzianische, hinduistische, buddhistische, christliche, islamitische religiöse Ethik. Ihr tritt als sechste mitzubehandelnde Religion das Judentum hinzu128, sowohl weil es für jedes Verständnis der beiden zuletzt genannten Weltreligionen

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als wissenschaftlich zu bezeichnen ist. Max Weber, „Einleitung“, in: ders., Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus. Schriften 1915-1920, hg. von Herwig Schmidt-Glintzer, MWG I/19, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1989, S. 83f. (Kursive des Verf.). Zeitgenössische jüdische Kritiker Max Webers haben die Übertragung des Begriffs „Judentum“ auch auf das vorexilisch-staatliche Israel als Versuch interpretiert, auch dieses als Paria-Volk zu kennzeichnen und damit abzuwerten, so „daß die Auffassung der Juden als Parias von Urbeginn sehr wohl geeignet ist, den Ablauf der jüdischen Geschichte als ungebrochene Linie anschauen zu lehren“; so Erwin Kohn in seiner Rezension von Max Webers, Studie des antiken Judentums Erwin Kohns in: Der Jude. Eine Monatsschrift, Jg. 6/Heft 8, 1922, S. 515–520, hier S. 516. Benzion Kellermann (Monotheismus, S. 64f.) bemängelt, Max Weber habe übersehen, daß die Schranken von Konnubium und Tischgemeinschaft von den Juden als Gastvolk und nicht von den Wirtsvölkern ausgegangen sei, es sich also verbiete, „die Juden soziologisch auf die Stufe der Zigeuner zu stellen“. Schwierigkeiten zwischen Gast- und Wirtsvolk resultieren vielmehr daraus, daß die Wirtsvölker „einer dauernden Revision ihrer Kultur durch die übervölkische Menschheitskultur (d.i. die jüdische) aus dem Wege gehen.“ Der Verdacht jüdischer Rezensenten, Max Weber habe mit der Subsummierung des biblischen Hebräertums unter den Begriff des Judentums eine generelle Abwertung nach dem Muster der protestantischen Exegese im Sinn gehabt, erhielt Nahrung durch Max Webers Anwendung des Paria-Begriffs auf das Judentum. Dazu, daß dieser Begriff weit verbreitet war in der Diskussion der „jüdischen Frage“ im 19. und frühen 20. Jahrhundert, siehe Eckart Otto, Max Weber, S. 46–53; ders., „Einleitung“, in: Max Weber, MWG I/21.1–2, Bd. I, S. 1–143, hier S. 65–70 mit weiterer Literatur. Der These, Max Weber habe einem negativen Werturteil in bezug auf das Judentum mit seiner Studie des antiken Judentums Vorschub geleistet, widerspricht von jüdischer Seite Julius Guttmann, „Max Webers Soziologie des antiken Judentums“, Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, Jg. 69, 1925, S. 195–223 (wieder abgedruckt in: Schluchter, Wolfgang [Hg.], Max Webers Studie über das antike Judentum. Interpretation und Kritik, stw 340, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981, S. 289–326). In der vor dem Weltkrieg verfaßten „Einleitung“ der Aufsätze zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen hatte Max Weber noch geschrieben, daß das Judentum nur teilweise mitzubehandeln sei; vgl. Max Weber, „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Religionssoziologische Skizzen. Einleitung“, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik Jg. 41/Heft 1, 1915, S. 2 (Kursive des Verf.). Nach der Neufassung der Konzeption der Wirtschaftsethik der Weltreligionen im Jahr 1919 (vgl. Max Weber, „Selbstanzeige der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“, in: Neuigkeiten aus dem Verlag von J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) und der H. Laupp’schen Buchhandlung, Nr. 3, 25. Oktober 1919, S. 11)

entscheidende geschichtliche Voraussetzungen enthält, als wegen seiner teils wirklichen, teils angeblichen historischen Eigenbedeutung für die Entfaltung der modernen Wirtschaftsethik des Okzidentes, die in neuester Zeit mehrfach erörtert wurde“129.

Max Weber rechnet das antike Judentum vermittelt durch das okzidentale Christentum unter die Vorgeschichte des okzidentalen Rationalismus. In die „Protestantische Ethik“ fügt er in die 1920 veröffentlichte Fassung einen entsprechenden Passus ein: „Dies: der absolute (im Luthertum noch keineswegs in allen Konsequenzen vollzogene) Fortfall kirchlich-sakramentalen Heils war gegenüber dem Katholizismus das absolut Entscheidende. Jener große religionsgeschichtliche Prozeß der Entzauberung der Welt, welcher mit der altjüdischen Prophetie einsetzte und, im Verein mit dem hellenischen wissenschaftlichen Denken, alle magischen Mittel der Heilssuche als Aberglauben und Frevel verwarf, fand hier seinen Abschluß“130.

Wird Max Weber in seiner Beschäftigung mit dem „Antiken Judentum“ in den Jahren 1916 bis 1919 die Bedeutung des durch das okzidentale Christentum vermittelten Alten Testaments für die Entwicklungsgeschichte des okzidentalen Rationalismus in Abgrenzung von traditionalem Talmudjudentum bewußt, so verbindet er damit keine Werturteile. Die Charakterisierung seiner Methode in der „Einleitung“ als Vorgehen „in ganz wertfreier Art“ bleibt gültig. An Heinrich Rickert anknüpfend unterscheidet Max Weber zwischen Bedeutung und Geltung derart, daß universal-historische Bedeutung einer Entwicklung nicht auch universale Geltung heiße131, so daß im Gegensatz zu Ernst Troeltsch 132 aus dem Entwicklungsbegriff der

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hat Max Weber diese Einschränkung in der „Einleitung“ gestrichen. Vgl. dazu Eckart Otto, Max Weber, S. 66ff. Max Weber wendet sich damit auch gegen Eduard Meyer (Geschichte Bd. I/1, S. 155): In seinem Handexemplar hat Max Weber Eduard Meyers Bemerkung, die populäre Anschauung, die das Judentum für eine Weltreligion halte, verkenne die nationalen Grundlagen des Judentums, mit einem doppelten Strich am Rand markiert. Max Weber spielt hier auf seine Auseinandersetzung mit Werner Sombarts Monographie Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig: Duncker & Humblot, 1911 an. Zu Max Webers Diskussion dieser Monographie, seinem Briefwechsel mit Werner Sombart darüber und den Anmerkungen Max Webers in seinem Handexemplar dieser Monographie vgl. Eckart Otto, Max Weber, S. 10ff. Werner Sombart hatte einseitig den Geist des Kapitalismus auf das Judentum zurückgeführt, diese Perspektive aber wenig später durch die thomistische Ethik ergänzt, vgl. Werner Sombart, Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, Leipzig: Duncker & Humblot 1913; vgl. dazu Eckart Otto, Max Weber, S. 25ff., sowie Friedrich Lenger, Werner Sombart 1863–1941. Eine Biographie, München: C.H. Beck, 2. Auflage 1995, S. 187ff.; Thomas Düe, Werturteilsfreiheit, S. 274ff. Vgl. Max Weber, „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus. Textausgabe auf der Grundlage der ersten Fassung von 1904/05 mit einem Verzeichnis der wichtigsten Zusätze und Veränderungen aus der zweiten Fassung von 1920“, hg. von Klaus Lichtblau/ Johannes Weiß, Weinheim: Beltz Athenäum, 3. Auflage 2000, S. 178; vgl. dazu Eckart Otto, Max Weber, 174f. Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1902, S. 472f; siehe dazu Sven Wöhler, Das heterologische Denkprinzip Heinrich Rickerts und seine Bedeutung für das Werk Max Webers. Die Einheit der modernen Kultur als Einheit der Mannigfaltigkeit, Diss. phil. Erfurt 2001, S. 72–74. Vgl. dazu u.a. Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 2. Auflage 1912. Siehe dazu Wilfried Gerhard, Ernst

Normbegriff ausgeschieden ist133. Daß mit der Schlußposition des okzidentalen Rationalismus in Max Webers Konzeption der Wirtschaftsethik der Weltreligionen von 1919 kein positives Werturteil verbunden ist, sondern der okzidentale Rationalismus den Charakter eines „theoretisch-heuristischen Zentrums“, von dem aus Entwicklungen aus der Perspektive der Moderne konstruiert werden, hat 134, wird an Max Webers Kritik der entwicklungslogischen Stufentheorien, die in der Historischen Schule der Nationalökonomie insbesonders von Karl Bücher 135 vertreten wurden136, an seiner Position im „Werturteilsstreit“137 und nicht zuletzt an seiner kritischen Position gegenüber modernen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen als stahlhartem Gehäuse der Hörigkeit deutlich138. Die Auswirkung der Position Max 133

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Troeltsch als Soziologe, Diss. phil. Köln 1975, S. 21–29. 263–266. Vgl. dazu Wolfgang Schluchter, Rationalismus, S. 27ff.; Thomas Düe, Werturteilsfreiheit, S. 341ff. In diesem Sinn trifft Max Webers Kritik an Gustav von Schmoller bzw. daran, was Max Weber abwertend „Schmollerei“ genannt hat, d.h. an einer ethischen Geschichtsaufassung (vgl. dazu zuletzt Ho-Keun Choi, Historismus, S. 85ff.; Thomas Düe, a.a.O., S. 427ff.), auch Ernst Troeltsch; vgl. Eckart Otto, Max Weber, S.73. Bereits Otto Hinze hat in seiner Rezension der drei Bände von Max Webers Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Jg. 46, 1922, S. 251–258, hier S. 256 unterstrichen: „Jeder Versuch zur Konstruktion einer sinndeutenden Entwicklung liegt den universalgeschichtlichen Forschungen Max Webers gänzlich fern; darüber und über seinen eigenartigen neukantisch-positivistischen Standpunkt überhaupt hat kürzlich E. Tröltsch in der Hist. Zeitschr. 121,3 S. 415ff. ganz ausgezeichnete Bemerkungen veröffentlicht, auf die ich den Leser verweisen möchte. Webers Absicht, soweit sie über die Erforschung der erwähnten konkreten Zusammenhänge selbst hinausgeht, ist vielmehr auf allgemeine systematische Erkenntnisse gerichtet, die zugleich auch zum tieferen Verständnis unserer eigenen abendländischen Kulturwelt dienen können.“ Vgl. dazu Eckart Otto, Max Weber, S. 76f. Das Interesse der Weltgeschichte am Judentum beruhe darauf, daß neben der rituellen Korrektheit und der dadurch bedingten Abgesondertheit von der sozialen Umwelt, „eine in hohem Grade rationale, das heißt von Magie sowohl wie von allen Formen irrationaler Heilssuche freie religiöse Ethik des innerweltlichen Handelns“ stehe, die „in weitgehendem Maße noch der heutigen europäischen und vorderasiatischen religiösen Ethik“ zugrunde liege; so Max Weber, MWG I/21.1–2, Bd. I, S.6. Vgl. Karl Bücher, „Volkswirtschaftliche Entwicklungsstufen“, in: ders. u.a. (Hg.), Grundriss der Sozialökonomie, Bd. I. Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1914, S. 1–18; siehe dazu Thomas Düe, Werturteilsfreiheit, S. 155ff. Hermann Cohen, der die Anwendung von Evolutionsmodellen in der Soziologie zum Anlaß nimmt, ihr den Status einer Kulturwissenschaft abzusprechen, da sie damit auf die Biologie zurückgreife (vgl. Hermann Cohen, Ethik des reinen Willens, S. 40ff.; ders., Religion der Vernunft, S. 307), hat im Gegensatz dazu dem Entwicklungsgedanken nur bezogen auf eine ideale Wertsetzung Raum gegeben; vgl. dazu Andrea Poma, Philosophy, S. 247f. Distanz und Nähe Hermann Cohens zu Max Weber sind unübersehbar. Vgl. dazu Thomas Düe, a.a.O., S. 414ff. Vgl. Max Weber, „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“, in: ders., Wissenschaftslehre, S. 146–214; ders., „Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“, a.a.O., S. 489-540. Vgl. dazu Thomas Düe, Werturteilsfreiheit, S. 450ff. Andreas Walther („Max Weber als Soziologe“, in: Salomo, Gottfried [Hg.], Jahrbuch für Soziologie, Bd. 2, Karlsruhe: G. Braun, 1926, S. 1–65, hier S. 26) hat darauf hingewiesen, daß Max Webers „Zentralbegriff der Rationalisierung“ nicht „eine notwendig als Schicksal der Menschheit sich durchsetzende Entwicklung“ bezeichnen wolle, sondern Max Weber den „Einzelursachen“ nachgegangen sei, „welche die Durchsetzung der Rationalisierung hier förderten und dort hemmten“. Förderung oder Hemmnis durch „Einzelursachen“ setzen aber die

Webers in der Werturteilsdebatte auf die Geschichtsschreibung des Antiken Israel wird auch im Vergleich mit Eduard Meyers Geschichtsschreibung der Antike deutlich. Sieht Eduard Meyer den Geschichtsverlauf eingespannt in die Dialektik von ausgleichenden, Homogenität erzeugenden Tendenzen im Widerstreit mit individualisierenden Tendenzen, so bildet für ihn die griechische Geschichte einen Höhepunkt der Universalgeschichte, da die Menschheit im antiken Griechenland den höchsten Grad der Entfaltung von schöpferischer Individualität erreicht habe. Diese Dialektik in Eduard Meyers Geschichtstheorie ist auch im „Antiken Judentum“ nicht ohne Einfluß auf Max Weber geblieben, insofern im ersten Teil mit dem Bund die ausgleichende Tendenz zu Wort kommt, im zweiten Teil mit der Prophetie aber die individualisierende. Ihre Folge aber, und so betitelt Max Weber diesen zweiten Teil, sei die Gemeindebildung als Sieg der auf Homogenität zielenden Tendenz des Ausgleichs. Jede Glorifizierung prophetischer Individualität liegt Max Weber ebenso fern wie eine Glorifizierung der individuellen Heilssuche im Puritanismus, die den Homogenität erzeugenden „Geist des Kapitalismus“ aus sich herausgesetzt habe. Was der Prophetie ihre historische Bedeutung gebe, sei ihre universalhistorische Wirkung bis auf die Moderne, die die Propheten zu „Riesengestalten“ werden lasse. Eduard Meyer hat, so sehr er die historische Wirkung als Kriterium der Geschichtsschreibung in dem Sinne einsetzen wollte, daß das Wirksame das Historische sei, die Wirkung der biblischen Prophetie unterschätzt, da er ihren Wert für gering hielt. Daß sich aus der Entwicklungsgeschichte der Moderne als Synthese aus griechisch-römischer Antike und Christentum Werte und Normen für die Moderne gültig ableiten lassen und die historische Relativierung der Normen durch die Geschichte überwunden werden könne139, mußte Max Weber als „romantischer Schwindel“ gelten, so daß Max Weber das gesamte Alte Testament dem „antiken Judentum“ und nicht einem davon unterschiedenen Hebraismus zusprechen konnte140. Auch Hermann Cohens Idee eines messianischen Ziels der Geschichte als regulativer Idee bleibt Max Weber fremd. In einem Brief an Hermann Kantorowicz aus dem Jahre 1909 konstatiert er entsprechend, daß er Hermann Cohen „ganz fern stehe“141. Er hat an Hermann Cohens Ethik nur die gesinnungsethischen Züge, die nicht nach dem Erfolg des Handels fragen lassen, geschätzt142, die gesinnungsethische Lösung für die Moderne allem Respekt zum Trotz aber für

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Annahme einer Tendenz in der historischen Entwicklung voraus, die aber für Max Weber weder notwendiges Schicksal noch mit einem Werturteil verbunden sein soll. Vgl. Ernst Troeltsch, Historismus, S. 189f. Anm. 87. Zu der Max Weber wenig überzeugend Antisemitismus unterstellenden Monographie von Michael Spöttel (Max Weber und die jüdische Ethik. Die Beziehung zwischen politischer Philosophie und Interpretation der jüdischen Kultur, Frankfurt/Main: Peter Lang 1997) vgl. Eckart Otto, Max Weber, S. 60f. Anm. 220, sowie die Rezension von Sven Wöhler in der Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte, Jg. 8, 2002, S. 401–405. Vgl. Max Weber, Briefe 1909-1910, hg. von M. Rainer Lepsius/Wolfgang J. Mommsen, MWG II/6, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1994, S. 321. Der Brief ist auf den 20. November 1909 datiert. Vgl. Max Webers Brief an Robert Michels vom 19. Februar 1909; vgl. Max Weber, a.a.O., S. 61.

inadäquat gehalten, da er, wie er in der „Rechtssoziologie“ 143 begründet, die okzidentale Rationalität nur als eine formale gelten läßt. Die Rechtsentwicklung in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, die u.a. die material-ethische Forderung sozialer Solidarität zur Geltung gebracht hat, erweist dies als Engführung144. Das gilt international gleichermaßen für die zunehmende Durchsetzung der Menschenrechte, die sich, wie bereits Georg Jellinek aufgezeigt hat, der christlich-reformatorischen Tradition verdanken145 und, so ist inzwischen zu ergänzen, ihre Wurzeln auch in der Hebräischen Bibel haben146, deren Gerechtigkeits-Konzeption neben denen der westmediterranen Antike 147 die ethische Substanz der Gesellschaften in der Moderne, in den unterschiedlichsten nationalen 143

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Vgl. Max Weber, „Rechtssoziologie“, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 5. Auflage, 1980, S. 387–513. Zur Werkgeschichte vgl. vorläufig Werner Gephart, „Juridische Grundlagen der Herrschaftslehre Max Webers“, in: Hanke, Edith/Mommsen, Wolfgang J. (Hg.), Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 73–98, hier S. 74 Anm. 4. Max Weber rekonstruiert den Rationalisierungsprozeß des Rechts vornehmlich anhand des Prozeßrechts (vgl. dazu zuletzt Bernhard Quensel/Hubert Treiber, Jurisprudenz, S. 91–124), was auch für die antike Rechtsgeschichte gilt; vgl. dazu Eckart Otto, „Max Weber und die mesopotamische Rechtsgeschichte mit einer werkbiographischen Interpretation der unveröffentlichten Exzerpte GStA PK, HA, Nl. Max Weber, Nr. 31, Bd. 2, Bl. 253-253R und 258“, Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft, Jg. 15, 2002, S. 41–88. Zum Verhältnis der Rechts- zur Religionssoziologie Max Webers vgl. zuletzt Werner Gephart, Handeln und Kultur, S. 29ff., sowie Hubert Treiber, „‚Wahlverwandtschaften‘ zwischen Webers Religions- und Rechtssoziologie“, in: ders./Breuer, Stefan (Hg.), Zur Rechtssoziologie Max Webers. Interpretation, Kritik, Weiterentwicklung, Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung 65, Opladen: Westdeutscher Verlag 1984, S. 6–68. Vgl. dazu auch Manfred Rehbinder, „Recht und Rechtswissenschaft im Werk Max Webers“, in: Weiß, Johannes (Hg.), Max Weber heute, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 497–514. Vgl. Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, Leipzig: Duncker & Humblot, 2. Auflage 1904; s. dazu Jens Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 28, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 2000, bes. S. 42ff.; s. dort (a.a.O., S. 123ff.) auch zum Verhältnis Georg Jellineks zu Max Weber; vgl. dazu auch Eckart Otto, Max Weber, S. 29ff. Zu Georg Jellineks Stellung in der Heidelberger Gelehrtenrepublik seiner Zeit vgl. auch Klaus Kempter, Die Jellineks 1820–1955. Eine familienbiographische Studie zum deutschjüdischen Bildungsbürgertum, Schriften des Bundesarchivs 52, Düsseldorf: Droste 1998, S. 309ff. Zum Verhältnis Georg Jellineks zu Ernst Troeltsch vgl. Friedrich Wilhelm Graf, „Puritanische Sektenfreiheit versus lutherische Volkskirche. Zum Einfluß Georg Jellineks auf religionsdiagnostische Deutungsmuster Max Webers und Ernst Troeltschs“, ZNThG, Jg.9 2002, S. 42–69. Eckart Otto, Das Deuteronomium. Politische Theologie und Rechtsreform in Juda und Assyrien, Beihefte zur Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft 284, Berlin/New York: de Gruyter 1999; ders., „Human Rights: The Influence of the Hebrew Bible“, JNSL, Jg. 25/Heft 1, 1999,S. 1–20 = „Heebra piibli mõju inimõigustele", Akadeemia., Jg. 13, 2001, S. 955–975; ders., „‚Menschenrechte“ im Alten Orient und im Alten Testament“, in: Höver, Gerhard (Hg.), Religion und Menschenrechte. Genese und Geltung, Schriften des Zentrums für Europäische Integrationsforschung 29, Baden-Baden: Nomos 2001, S. 13–45; ders., Menschenrechte, S. 167ff. Vgl. dazu Eckart Otto, “Law and Ethics”, in: Johnstone, Sarah I. (Hg.), Religions of the Ancient World, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2004, S. 84–97. 519–521; ders., „Recht und Ethos in der ost- und westmediterranen Antike. Entwurf eines Gesamtbildes“, in: Witte, Markus (Hg.), Gott und Mensch im Dialog. FS Otto Kaiser, Beihefte zur Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft 345/I, Bd. I, Berlin/New York 2004; S. 91–109.

Verfassungen und im Völkerrecht beeinflussen148. Ist es für Max Weber Aufgabe der Sozialwissenschaft als Wirklichkeitswissenschaft, „die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart (zu) verstehen – den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestalt einerseits, die Gründe ihres So-und-nicht-anders-Gewordenseins andrerseits“149, so hätte er heute – sofern ihn die kantische Voraussetzung, daß Recht stets auf Enthaltung von Rechtsverletzungen gehe, aber niemals ein eigentlich positives Verhalten vorschreibe, nicht daran gehindert hätte – den Rationalisierungsprozeß des Rechts in der Moderne nicht als den einer nur formalen Rationalisierung rekonstruieren können, sondern wertethische Rationalisierungen einbeziehen und sich Ernst Troeltschs normativ-praktischem Werturteil in bezug auf die Moderne annähern können150. Doch selbst wenn Max Weber Wertrealisation konstatiert, so bleibt er doch von einem Werturteil weit entfernt. Ein Werturteil bedürfe der vorlaufenden erkenntnistheoretischen Klärung der apriorischen Voraussetzungen, die ein solches Urteil ermöglichen. Ernst Troeltschs Methodik des Werturteils als Tathandlung in praktischer Absicht151 weist dagegen Inkonsistenzen auf, die Hermann Cohens Bestehen auf dem Defizit eines induktiven Religionsbegriffs unterstreicht: „Die Vernunft ist die Quelle der Begriffe. Und der Begriff muß die Quelle sein; er darf niemals als Mündung gedacht werden für die induktiven Zuflüsse, die sich in ihm zusammenfänden. Die Vernunft ist der Felsen, aus dem der Begriff entspringt und aus dem er erst entsprungen sein muß für die methodische Einsicht, wenn der Lauf übersichtlich werden soll, den er im Stromgebiet der Geschichte nimmt“152.

Gegen Ernst Troeltschs These der historischen Wertbildung, die der inhaltlichen Erzeugung und Gestaltung eines für uns geltenden Ideals, zur inhaltlichen Erfüllung des formalen Begriffs absoluter Werte diene153, hat Heinrich Rickert eingewandt, eine derartige „Kulturschraube ohne Ende“ helfe wenig. Wir müßten uns vielmehr aus dem Entwicklungsprozeß der Kultur gewissermaßen heraushebeln in eine Sphäre, in der das Leben eine Gestaltung finde, die auf sich ruhe154. Auch für Ernst Troeltsch 148

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Vgl. Eckart Otto, „Gerechtigkeit in der orientalischen und okzidentalen Antike. Aspekte für den ethischen Diskurs in der Moderne im Spannungsfeld zwischen Max Weber und Ernst Troeltsch“, in: Gestrich, Christof (Hg.), Die Aktualität der Antike. Das ethische Gedächtnis des Abendlandes, BThZ 19, Berlin: Wichern-Verlag 2002, S. 44–64. Vgl. Max Weber, „Objektivität“, 170f. Faktisch hat sich Max Weber mit der Neufassung seines Programms der Wirtschaftsethik der Weltreligionen im Jahr 1919 Ernst Troeltsch angenähert und entsprechend mit der Revision der Aufsätze zur Protestantischen Ethik in RS I 1919/1920 in nicht unerheblichem Maße Zitate Ernst Troeltschs eingefügt (vgl. dazu Eckart Otto, Max Weber, S. 77f.), gleichzeitig aber die Distanz zu Werner Sombart unterstrichen. Vgl. dazu Dietrich Korsch, Dialektische Theologie, S. 62ff. Hermann Cohen, Religion der Vernunft, S. 6; vgl. auch ders., Der Begriff der Religion, S. 5: „Der Begriff [...] ist das Problem der positiven Schöpfung, die nur der Deduktion, niemals der Induktion gelingen kann“. Vgl. dazu auch Andrea Poma, Einleitung, S. 12*. Vgl. Ernst Troeltsch, Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Gesammelte Schriften, Bd. II, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1913, S. 703. Vgl. Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 2. Auflage 1913, S. 635. Ähnlich wieder Reiner Anselm, „Denker

bedarf das Werturteil des religiösen Apriori, da es „in der aus dem Wesen der Vernunft heraus zu bewirkenden absoluten Substanzbeziehung (liegt), vermöge deren alles Wirkliche und insbesondere alle Werte auf eine absolute Substanz als Ausgangspunkt und Maßstab bezogen werden“155 sollen, doch er will dieses Apriori induktiv-historisch verorten, so daß es gerade nicht konstruktive Funktion im Werturteil haben kann und diese Theorie des Werturteils, die Max Weber als „romantischen Schwindel“ bezeichnet hat, zirkulär bleibt. Umgekehrt entgeht auch Hermann Cohen nicht der Aporie, Religion einerseits als allgemeine Funktion des Bewußtseins erweisen zu wollen, andererseits auf die historischen Quellen des Judentums als Entdeckungszusammenhang der als allgemeingültig zu erweisenden Religion zu rekurrieren: „Dabei stellt sich das Problem, daß das, was als notwendiges Implikat einer übergeschichtlich verstandenen Vernunft aufgewiesen werden soll, sich faktisch sehr vorraussetzungsreichen geschichtlichen Zusammenhängen verdankt“156.

Das Programm einer christlich-jüdischen „Kultursynthese“ scheitert im Dialog zwischen Hermann Cohen und Ernst Troeltsch letztlich an den nicht vermittelten erkenntnistheoretischen Voraussetzungen von Wertsetzungen und den in den jeweiligen Positionen erkennbar werdenden erkenntnis-theoretischen Schwachstellen. An dieser Stelle hätte der Dialog zwischen Hermann Cohen und Ernst Troeltsch, die beide davon ausgingen, daß Religion ein wesentlicher Faktor in der Kultur der europäischen Moderne ist und es in ihr vernünftig zugehen muß, will sie ein solcher Faktor bleiben157, ansetzen müssen, um zu einer Annäherung zu kommen, weisen doch die Defizite in den jeweiligen erkenntnistheoretischen Fundamenten auf die Stärken in der Position des anderen.158 Ernst Troeltsch hat Ansätze zu einem kritischen Dialog unternommen159, auf die Hermann Cohen nicht mehr antworten

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des Christentums – Ernst Troeltsch“, Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft, Jg. 17, 2004, S. 6–25, hier S. 16f. Ernst Troeltsch, Zur religiösen Lage, S. 494. Hans Ludwig Ollig, Religion und Freiheitsglaube, S. 338. Benzion Kellermann (Monotheismus, S. 14ff.) vergröbert die Problemstellung, wenn er das „logische und ethische Apriori“, von dem er mit Hermann Cohen sagt, daß es sich Überlegungen verdanke, die von dem jeweiligen geschichtlichen Ausgangspunkt unabhängig seien, ausschließlich unkritisch durch biblische dicta probantia zu begründen sucht. In diesem Sinne spricht Benzion Kellermann (a.a.O., S. 26) selbst von „Belegstellen“. Ohne es zu reflektieren, wird ihm dann aber die historische Frage nach der Echtheit prophetischer Worte entscheidend für ihre „Wahrheit“. Wenn Benzion Kellermann (a.a.O., S. 66) also fordert, es gelte nicht nachzuweisen, daß die Propheten Hegelianer oder Kantianer gewesen seien, sondern die Philosophie den Prophetismus zu verstehen und methodisch zu begründen habe, so läuft sein Argumentationsgang dem zuwider. Es ist ein Defizit des Diskurses insgesamt, daß bei allen Teilnehmern mit Ausnahme Max Webers Argumente der unterschiedlichen Ebenen apriorischer und konkret-historischer Art nicht ausreichend differenziert sind, was Mißverständnisse provoziert hat. Vgl. dazu bereits Emile Bréhier, „Le concept de religion d’après Hermann Cohen“, Revue de métaphysique et de morale, Jg. 32, 1925, S. 359-372, hier S. 363. Das dialektische Oszillieren zwischen apriorisch-transzendentaler und induktiv-historischer Wertsetzung verbindet beide Positionen bei unterschiedlicher Gewichtung der Pole. Vgl. Ernst Troeltschs Rezension von Hermann Cohens „Begriff der Religion im System der Philosophie“ in der ThLZ, Jg. 43, 1918, S. 57–62, die nach dem Tode Hermann Cohens

konnte. Für Max Weber mußte die Idee einer Kultursynthese im Sinne von Ernst Troeltsch schon deshalb obsolet sein, weil er der Religion in der Moderne keine nachhaltig prägende Kraft mehr zuerkennen konnte. Das Judentum war ihm - nicht zuletzt vermittelt durch Friedrich Nietzsche - anders als für Werner Sombart in seinem Geiste traditional und mit dem okzidentalen Rationalismus nicht kompatibel160. Das Alte Testament gehörte für ihn in der Vermittlung der Septuaginta im christlichen Kanon in die Vorgeschichte des Geistes des modernen Rationalismus. Ernst Troeltschs Haltung dem nachbiblisch-talmudischen Judentum gegenüber ist nicht Ausdruck eines Antisemitismus oder Antijudaismus, sondern einer Inkonsistenz in den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des Werturteils, das sich aus der Christentumsgeschichte im Verhältnis zu der des Judentums gewinnt. Ernst Troeltsch hat sich wie ähnlich Max Weber für die rechtliche und politische Gleichstellung der Juden im Deutschen Reich und gegen jede Form von Antisemitismus ausgesprochen, wohl aber den Eigencharakter der jüdischen Kultur betont und damit dem Programm einer „Kultursynthese“ unter Einbeziehung des Judentums widersprochen161. Der Aufbau einer nationalen Kultur und feineren Geistigkeit „kann seinem Wesen nach gar nicht in die Hände der Juden fallen, da diese bei allen außerordentlichen Talenten in dieser Hinsicht nach Ausweis der Erfahrung nicht sehr produktiv sind. Sie sind ein belebender Zusatz zur deutschen Schwerfälligkeit und Philisterei, aber sie sind auch heute nicht die geistigen Führer, sondern die eifrigen Kommentatoren und geistreichen Umschreiber deutscher Führer. Es muß nur Recht und Sitte werden, daß man das, was wirklich jüdisch ist, als solches bezeichnen darf in aller Ruhe und Achtung, und daß nicht schon die Bezeichnung einer Sache als ‚jüdisch‘ für antisemitisch gilt“.162 Ernst Troeltsch und Hermann Cohen wollten im Gegensatz zu Max Weber die Moderne nicht der „Anarchie der Werte“ ausliefern, sondern auf ein ideales Wertesystem beziehen163. Hermann Cohen hat die im Aufweis des Anteils der Religion an der Vernunft liegende Chance für eine „Theologie der Religionen“ erkannt und mit Stolz für das Judentum und die Hebräische Bibel Ursprünglichkeit

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erschien. Vgl. auch Ernst Troeltsch, Historismus, S. 541ff. Vgl. dazu auch Bernhard Quensel, Max Webers Konstruktionslogik. Sozialökonomik zwischen Geschichte und Theorie, Diss. HWP Hamburg 2004, S. 158–195. Vgl. Ernst Troeltsch, „Vorherrschaft des Judentums?“, Kunstwart und Kulturwart, 1920, Heft 1, S. 11–16. Vgl. Ernst Troeltsch, a.a.O., S. 16. Vgl. Ernst Troeltsch, „Moderne Geschichtsphilosophie“, in: ders., Gesammelte Schriften II, S. 673–728, hier S. 679. Egbert Stolz (Die Interpretation der modernen Welt bei Ernst Troeltsch. Zur Neuzeit- und Säkularisierungsproblematik, Diss. theol. Hamburg 1979, S. 272ff.) sieht in Ernst Troeltschs erkenntnistheoretischer Aporie einen Scheitelpunkt in der Reflexionsgeschichte der Neuzeit, die sich „mit sich derart aporetisch konfrontiert sieht, daß sie, in ihrem traditionellen Interpretationsinventar offensichtlich überfordert und durch sich selbst in ihren herkömmlichen begrifflichen und Wertorientierungen irritiert, ‚auszubrechen‘ beginnt - in demselben Moment etwa, wo sie endlich ihre weltgesellschaftliche Einheit gewinnt und politisch-sozial realisiert, verliert sie endgültig die Einheit ihrer Selbstdeutung: ihre absolute, spekulativ-apriorische geschichtsphilosophische Selbstbestimmung“. Genau dies geschieht in der Kontroverse zwischen Ernst Troeltsch und Hermann Cohen. Max Weber hat auf seine Art die Konsequenzen aus diesem Dilemma gezogen.

reklamiert, die auch über den abgeleiteten Status der christlichen Religionsgeschichte Auskunft gebe: „Ich weiß mich frei von dem Vorurteil der christlichen Theologie aller Schattierungen und ebenso der christlichen Religionsphilosophie aller Schattierungen, sofern sie die Absolutheit des Christentums proklamieren; ich behaupte nicht, daß einzig und allein das Judentum die Religion der Vernunft wäre: ich suche zu begreifen, wie auch andere monotheistische Religionen an der Religion der Vernunft ihren fruchtbaren Anteil haben, wenngleich dieser an Ursprünglichkeit mit dem Judentum sich nicht messen kann.“164

Die hier aufgerufene Freiheit von Absolutheitsansprüchen der konkreten Religionsgestalten ist Folge der in der Logik als denknotwendig ausgewiesenen prophetischen Idee Gottes als des einzigen, eine Idee, die die Differenz zwischen Gott und allem, was nicht Gott ist, zum Ausdruck bringt und die systematische Einheit von Natur und Ethik, Sein und Sollen begründet165. Sie weist den Weg, in einer säkularen Welt eine Pluralität von Werten zu akzeptieren, ohne bei Friedrich Nietzsches These vom ewigen Kampf der Werte und Interessen als unhintergehbar stehenzubleiben. Die Debatte der Jahre 1916–17 um eine Kultursynthese unter Einbeziehung des Judentums ist nach der Schoa historisch überholt. Die in diesem Diskurs ausgearbeiteten Argumente überdauern ihre polemischen Anteile und bleiben gültig, wenn heute die Frage nach dem Beitrag von Judentum und Christentum zur ethischen Substanz moderner Gesellschaft gestellt wird. Mit dem Monotheismus ist, das hat Hermann Cohen eindrücklich gezeigt, die Idee des Guten verbunden, die, so wird heute zur Begründung der Ablehnung des Monotheismus argumentiert, die Ausgrenzung eines „Bösen“ als notwendig nach sich ziehe 166. „An der Gesinnung des Guten gegen das Böse ist damit selbst tendenziell Böses. Das Böse macht eben auch den Guten, ja gerade ihn gegen sich: ‚böse‘“ — so zuletzt Hartmann Tyrell 167. 164

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Vgl. Hermann Cohen, Religion der Vernunft, S. 39. Aus dem hier reklamierten Status der Ursprünglichkeit resultiert für Hermann Cohen kein Absolutheitsanspruch des Judentums. Benzion Kellermann (Monotheismus, S. 33) leitet daraus mit Hinweis auf Fichtes Reden an die deutsche Nation die Forderung des Judentums ab, „den Urhebern und Trägern universaler Kulturwerte die verdiente Dankbarkeit und Anerkennung zu zollen, dies um so mehr, als es ja jedem Volke und jedem Menschen unbenommen ist, die erwähnten Kulturwerte zu übernehmen und zu verwirklichen“. Hermann Cohen sieht, wie auch in seinem Vortrag zum Stil der Propheten von 1901 bereits angedeutet, ein Defizit christlicher Religion in der Inkarnationslehre, so insbesondere der johanneischen Logos- Christologie, als Verwischung der Differenz von Gott und Mensch und Infragestellung der Autonomie des Menschen als sittlichen Wesens; Hermann Cohen, Religion der Vernunft, S. 55f. 124f.; vgl. dazu Hans Ludwig Ollig, Religion und Freiheitsglaube, S. 239ff.; Michael Zank, Inauthentizitätsverdacht, 316ff. Zweifel, die keineswegs nur aus der christlichen Erbsündenlehre resultieren, sind allerdings anzumelden, wenn Hermann Cohen anhand des Buches Ezechiel aufzeigen will, daß die Reue als Prozeß der Selbstheiligung aus der Sünde herausführe. Hermann Cohen, Religion der Vernunft, S.41-57. Vgl. nur Jan Assmann, Die mosaische Unterscheidung. Oder der Preis des Monotheismus, München/Wien: Hanser 2003. Siehe dazu die Rezension von Klaus Koch in: ThLZ, Jg. 129, 2004, S. 900–903. Vgl. Hartmann Tyrell, „Prolegomene Moral: Religionssoziologische Anmerkungen zu Gut und Böse“, in: Pickel, Gert/Krüggeler, Michael (Hg.), Religion und Moral. Entkoppelt oder verknüpft?, Veröffentlichung der Sektion „Religionssoziologie“ der Deutschen Gesellschaft für

Hermann Cohen hat bereits in der „Ethik des reinen Willens“ von 1904 gezeigt, daß in seiner Interpretation der hebräischen Prophetie diese Aporie der Idee des Guten aufgehoben ist, insofern die Propheten als Vertreter einer universalen Sittlichkeit die Dimension der Zukunft eröffnen, in der das Gute in der einen Menschheit verwirklicht werde:168 „Der eine Gott fordert die eine Menschheit. Der Krieg muss aufhören; dieser Kampf ums Dasein der Völker. Friede muss auf Erden werden. Der Friede ist die Sittlichkeit. Gott ist einzig, und sein Name soll einzig sein. Alle Völker sollen in ihm und durch ihn zur einen Menschheit sich vereinigen“.

Die Idee des monotheistischen Gottes wird in ihrer prophetischen Gestalt zu einer regulativen Idee der Überwindung der Ausgrenzung von Menschen aus der Menschheit im Namen des moralischen Guten. Selbst dort, wo das Ethos und seine Folgen als Einheit von Tat und Ergehen verstanden werden, das Böse und das Übel also eine auch sprachliche Einheit bildeten, ist die Rede vom Bösen ein Erklärungsversuch des Übels, der, wie Hermann Cohen gezeigt hat, bereits von der hebräischen Prophetie überwunden wurde. Dieses bei Hermann Cohen transzendental begründete Werturteil der Sittlichkeit als Frieden der einen Menschheit will mit Ernst Troeltsch auch als ein praktisches begriffen handlungsleitend sein 169, das auch heute in gesellschaftlich-politischen Konfliktfeldern ethischer Anspruch ist170.

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Soziologie, Jg. 6, Opladen: Leske & Budrich 2001, S. 65–102, hier S. 89. Hermann Cohen, Ethik, S. 383. Zielt Ernst Troeltsch mit seiner Kritik an Hermann Cohen, keine der historisch-positiven Religionen sei aus transzendentaler Vernunft deduzierbar, auch auf die Notwendigkeit der Toleranz zwischen den Religionen (vgl. dazu Trutz Rendtorff, „Das Verhältnis von liberaler Theologie und Judentum um die Jahrhundertwende“, in: ders., Moderne, S. 59–71, hier S. 66f.), so führt auch Hermann Cohen zu gleichen Konsequenzen, die mit Trutz Rendtorff (a.a.O., S. 71) politisch so umzusetzen sind, daß das Verhältnis von Christentum und Judentum in der Neuzeit nicht zu bestimmen sei „ohne klare Einsicht in dieses Tertium: die substantielle Notwendigkeit einer liberal verfaßten Demokratie“. Siehe dazu Eckart Otto, „Politische Hermeneutik“, S. 145–181.



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