Die Grenzen des Leistungsprinzips: Leistungsvergleiche im Statuszuweisungsprozess
1 Einleitung
Unter dem Begriff der Leistungsgesellschaft" versteht man ein bestimmtes Modell des gesellschaftlichen Statuszuweisungsprozesses. In einer Leistungsgesellschaft" durchlaufen die Individuen spätestens von ihrem fünften oder sechsten Lebensjahr an eine kontinuierliche Serie von Leistungsvergleichen, die einerseits konstante Lernfähigkeitspotentiale und Talente sichtbar machen und anderseits einen zunehmend grösseren Teil der Achtungserweise und materiellen Belohnungen an den Anstrengungsgrad bei der Leistungserbringung knüpfen. Auf diese Weise werden die Individuen früh an spezifisch universalistische Beurteilungen gewöhnt, und sie werden auf ein von ständiger Konkurrenz geprägtes Berufsleben vorbereitet (Dreeben 1980). Da die Eltern ihren Beruf meist außerhalb der Familie ausüben, kann die Familie nicht mehr für das spätere Berufsleben vorbereiten. Diese Funktion hat das Erziehungssystem übernommen, das die Individuen für ihre künftigen Berufsrollen erzieht und sozialisiert. Die Ausdifferenzierung spezialisierter gesellschaftlicher Teilsysteme und die Entstehung großer Arbeitsorganisationen mit komplexer Arbeitsteilung haben im Erziehungssystem zu einem Prozess der immer weiter getriebenen Binnendifferenzierung geführt. Die Leistungsbeobachtungen im Erziehungssystem sortieren dabei die Individuen im Laufe ihrer Schulkarrieren gemäss der Diagnose ihrer Intelligenz, ihrer Leistungsbereitschaft und dem Vorliegen oder der Abwesenheit spezieller Talente auf bestimmte Segmente des Arbeitsmarktes. Mit dem Einstieg ins Berufsleben beginnt nun die Leistungsbeobachtung durch die funktionssystemspezifischen Reputationsmechanismen und die immer standardisierteren Laufbahnregimes der Arbeitsorganisationen zu greifen. Den Individuen bleibt in diesem Modell nichts anderes übrig, als ihre Statusaspirationen laufend dem Feedback objektiver" Leistungsbewertungen anzupassen, und diejenigen Gelegenheiten zu ergreifen, die ihnen dann noch offenstehen. Dafür können sie auch sicher sein, dass ihre Leistungen in der Schule und in den Arbeitsorganisationen mit angemessen Stellen belohnt werden.
Berücksichtigt man aber die Ergebnisse der Kommensurationsforschung, dann muss eben die Möglichkeit objektiver" Leistungsvergleiche prinzipiell in Frage gestellt werden (Espeland und Stevens 1998, Espeland 2001, Espeland und Sauder 2007, Espeland und Sauder 2009, Heintz 2010, Heintz und Werron 2011). Dieser Forschungszusammenhang betont, dass der soziale Vergleich – und damit auch der Leistungsvergleich – vorhandene Phänomene nicht nur passiv registriert und evaluiert, sondern dass er diese Phänomene selbst konstituiert, indem er Verschiedenes überhaupt erst vergleichbar macht. Die Praxis sozialer Vergleiche setzt immer Äpfel" und Birnen" in Relation, weil erst unter diesen Umständen das darin liegende Potential zur Komplexitätsreduktion und Informationsgewinnung ausgereizt wird (Espeland und Stevens 1998, Heintz 2010). Nicht selten werden dadurch ganz neue Gegenstände wie das Bruttosozialprodukt hergestellt, die überhaupt erst aus dem Vergleich hervorgegangen sind (Speich Chassé 2013). Oft werden bereits bestehende Phänomene, etwa die Universitäten, dabei durch den Vergleich (Rankings) entscheidend transformiert (Espeland und Sauder 2007).
Zwei weitere Einsichten aus dieser Forschungstradition belegen die transformierende Wirkung sozialer Vergleiche und sprechen deshalb gegen die Realisierbarkeit objektiver Leistungsvergleiche im Statuszuweisungsprozess: Zum einen hat diese Forschung hervorgehoben, wie kontextsensibel diese sozialen Praktiken sind und zum anderen gibt es klare Belege für die Reaktivität dieser Praktiken. Jeder Gegenstand lässt sich mit unabsehbar vielen anderen Gegenständen unter den verschiedensten Kriterien vergleichen. Die hohe interpretative Flexibilität sozialer Vergleiche führt dazu, dass sich in diesen Praktiken eine Vielzahl kontextspezifischer Einflüsse niederschlagen wird. Soziale Vergleiche können dazu verwendet werden, um Verteilungsordnungen zu legitimieren oder bislang akzeptierte Hierarchisierungen in Frage zu stellen, indem durch den Austausch der Vergleichskriterien bislang als relevant erachtete Differenzen nivelliert werden (Espeland und Stevens 1998, S. 314). So lösen soziale Vergleiche nicht selten Kaskaden konfligierender Vergleiche aus. Entsprechend vielfältig sind die Motive, die durch soziale Vergleiche bedient werden können. Soziale Vergleiche weisen zudem typischerweise die Eigenschaft auf, durch ihre pure Existenz auf die verglichenen Phänomene zurückzuwirken. So löst die Antizipation der Platzierung in Universitätsrankings oft Strukturänderungen an den amerikanischen Universitäten aus (Espeland und Sauder 2007) und gute Zensuren machen aus guten Schülern bessere, weil Erfolgserlebnisse motivierend wirken (Luhmann und Schorr 1988).
Damit lässt sich eine neue Perspektive auf den Statuszuweisungsprozess gewinnen, denn dieser Prozess beruht auf einer ganzen Serie aneinander gekoppelter Leistungsvergleiche. Das beginnt beispielsweise in der Schule beim situativen Lob und Tadel in der Unterrichtsinteraktion und reicht von den Zensuren und Zensurendurchschnitten über die Übertrittsentscheidungen zu den Zertifikaten und Abschlussnoten (ebd., S. 300ff.). Dabei werden die schulischen Leistungen an verschiedenen Schulen in verschiedenen Bundesländern als vergleichbar behandelt, solange es sich um dieselbe Klassenstufe am selben Schultyp handelt, obwohl bekannt ist, dass oft schon Parallelklassen unterschiedlich weit im Lernstoff fortgeschritten sind oder unterschiedlich streng bewertet werden. Es ist unter anderem die Quantifizierung in Schulnoten, die es erlaubt, aus situativ-heterogenen Selektionsereignissen vergleichbare Notendurchschnitte zu errechnen. Kann bei der einzelnen Zensur noch mit dem Lehrer über die angemessene Anwendung der Kriterien verhandelt werden, so entsteht aus der allmählichen Aggregation unzähliger Unterrichtsinteraktionen, Zensuren und Prüfungen ein Zertifikat, das kaum mehr in Frage gestellt werden kann.
So anregend die Analysen der Kommensurationsforschung sind, so unterspezifiziert bleibt dabei in der Regel, was als relevanter Kontext sozialer Vergleiche zu behandeln ist. An dieser Stelle bietet sich deshalb eine gesellschaftstheoretische Präzisierung an. Neben Foucaults Analysen zur Biopolitik (Hacking 1982, Espeland und Sauder 2009) wird dabei in den letzten Jahren vermehrt das Konzept funktionaler Differenzierung zur Kontextuierung der Kommensurationsforschung herangezogen (Heintz 2010, Heintz und Werron 2011). Diese Forschung beruht auf der Annahme, dass sich die Differenzierungsform der Gesellschaft untern anderem darin niederschlagen wird, was als vergleichbar und was als inkommensurabel behandelt wird. So bilden die Funktionssysteme nach Bettina Heintz eben auch eigenständige Vergleichshorizonte aus:
Während die vormodernen Standesgrenzen einen übergreifenden Vergleich zwar nicht verhinderten, ihn aber doch limitierten, trifft die Vergleichskommunikation heute auf die Grenzen der Funktionssysteme: Publikationszahlen werden nicht mit den Bilanzsummen von Unternehmen verrechnet, der Stimmengewinn der politischen Parteien nicht mit den Erfolgen der Bundesliga-Vereine." (Heintz 2010, S. 167)
Jedes Funktionssystem bildet danach seinen eigenen Vergleichshorizont aus und diese Vergleichshorizonte verhalten sich zueinander als inkommensurabel. Der Sinnhorizont der Funktionssysteme lässt interne wie externe Ereignisse als vergleichbar erscheinen, wenn sie zum Beispiel aus der Perspektive des funktionssystemspezifischen Codes thematisiert werden. Andere systemspezifische Strukturen wie die Programme fungieren schließlich als Vergleichskriterien, durch die sich Unterschiede am Vergleichbaren aufzeigen lassen (ebd., S. 164). Konzentrieren sich Heintz und Werron auf die Vergleichsoperationen, durch die die Anschlussfähigkeit der Basisoperationen selbst beobachtet wird (Heintz und Werron 2011), möchte ich mich im Folgenden auf soziale Vergleiche konzentrieren, die eher peripherer Natur sind. Sieht man vom ausdifferenzierten Leistungssport ab, dessen operative Reproduktion sich aus der Kommunikation von und über Leistung ergibt (Werron 2010), so sind die karrierespezifischen Leistungsvergleiche im Erziehungssystem und in den funktionssystemspezifischen Arbeitsorganisationen kein kommunikativer Selbstzweck. Die Funktion des Erziehungssystems liegt aus systemtheoretischer Perspektive in der Personenveränderung durch erzieherische Kommunikation (Luhmann und Schorr 1988, S. 118ff.) und nicht in der Zertifizierung der Klienten. Der Zweck" von Arbeitsorganisationen liegt definitiv nicht in der Leistungsevaluation der Mitglieder. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass es die außerhalb des Leistungsvergleichs liegenden systemspezifischen Kommunikationsdynamiken und die davon berührten Bezugsprobleme sind, die die Spezifikation der Vergleichsgegenstände und Vergleichskriterien leiten. Dabei kann es zu komplexen Überdeterminierungen kommen, wenn mehrere Systemebenen gleichzeitig zu berücksichtigen sind (Itschert 2014, S. 255ff.). Ein Beispiel hierfür wären Personalentscheidungen in funktionssystemspezifischen Organisationen, bei denen einerseits die Reputationsmechanismen des Funktionssystems implementiert und andererseits auch die damit verbundenen organisationsspezifischen Folgen im Blick behalten werden müssen.
Im Modell der Leistungsgesellschaft beruht der Statuszuweisungsprozess auf einer Kette perfekt ineinander greifender Leistungsevaluationen. So muss dafür gesorgt werden, dass das Erziehungssystem in seiner zeitlichen Rhythmik, seinen Ausbildungsprogrammen und seinem quantitativen Output fest an die Nachfrage nach entsprechend qualifiziertem Personal in den anderen Funktionssystemen und Arbeitsorganisationen gekoppelt ist. Nur wenn es gelingt, das Erziehungssystem perfekt an die Leistungsanforderungen der rekrutierenden Systeme anzukoppeln, kann erwartet werden, dass die schulischen Leistungen die Verteilung der Jobs bei den Ersteinstellungen dirigieren. Sobald Zweifel aufkommen, ob die im Erziehungssystem zertifizierten Fähigkeiten und Kenntnisse berufsrelevant sind, oder das Erziehungssystem mehr Absolventen produziert als nachgefragt werden, kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die durch die Bildungszertifikate attestierten Leistungen mit entsprechenden Arbeitsplätzen honoriert werden. Es kann dann, um eine glückliche Formulierung aus der Einleitung zu diesem Band aufzugreifen, zur Entkopplung von Leistungsevaluation und Sanktion kommen, weil Evaluation und Sanktion in jeweils verschiedenen Systemen durchgeführt werden. Aus systemtheoretischer Perspektive muss deshalb der Zusammenhang von funktionaler Differenzierung und sozialen Vergleichen etwas vorsichtiger als bei Bettina Heintz (2010) formuliert werden. Zwar bilden die Funktionssystemgrenzen oft Grenzen sozialer Kommensurabilität, doch gerade im Fall von funktionssystemspezifischen Leistungsbeziehungen, hier der Berufsausbildung im Erziehungssystem, kommt es zur wie auch immer problematischen Übertragung von systemspezifischen Vergleichen aus dem Kontext eines Systems in den Kontext eines anderen Systems. So wird gerade in der Ungleichheitssoziologie das Verhältnis der im Erziehungssystem hergestellten Bildungszertifikate zu den dadurch erreichbaren Arbeitsstellen auf dem Arbeitsmarkt als Form der Konvertierung verschiedener Währungen (Zertifikate, Einkommen) verstanden (Bourdieu 1983, Kreckel 1997, 80ff.). Die Konvertierung setzt aber die Vergleichbarkeit der verschiedenen systemspezifischen Währungen" voraus. Im Folgenden muss also gerade auch nach den Grenzen der Übersetzbarkeit der diesen Konversionen zugrunde liegenden sozialen Vergleiche gefragt werden.
Ohne Zweifel bleibt eine Analyse der Leistungsvergleiche im Statuszuweisungsprozess unvollständig, wenn dabei nur der gesellschaftliche Kontext der Funktionssysteme berücksichtigt wird. Wie die Ungleichheitssoziologie in einer kaum mehr überblickbaren Flut an Publikationen gezeigt hat, muss die moderne Gesellschaft auch als ungleiche Verteilungsordnung sozial hoch bewerteter Güter beschrieben werden. Diese Verteilungsstrukturen beeinflussen ihrerseits die Vergleichsprozesse. Die schichtspezifische Verteilung von Einkommen, kulturellen Kompetenzen und sozialen Beziehungen führt dazu, dass die Leistungsvergleiche auf einem unebenen Spielfeld stattfinden. Je nach der schichtspezifischen Herkunft finden die Individuen, die die Leistungsvergleiche absolvieren, dabei ungleiche Startbedingungen vor. Die Schichtungsstrukturen können dabei auf der Seite der Selbstselektion ansetzen, so weisen die Kinder der Mittel- und Oberschicht beziehungsweise ihre Eltern aufgrund ihrer Ressourcenausstattung höhere Bildungsaspirationen auf oder sie schätzen die Risiken längerer Ausbildungswege geringer ein, oder sie setzen auf der Seite der Fremdselektion an, weil die Lehrer oder Personalchefs schichtspezifische Vorurteile aufweisen. Die dadurch erzeugten Abweichungen von einem meritokratischen Statuszuweisungsprozess sind allerdings so fest im Bewusstsein der Gegenwartsgesellschaft verankert, dass auch die sozialwissenschaftlichen Experten zur Ansicht tendieren, dass eine sozialpolitische Neutralisierung sozialer Ungleichheit die moderne Gesellschaft in eine Leistungsgesellschaft verwandeln würde. Ich möchte hingegen im Folgenden zeigen, dass die durch die Differenzierungstheorie hervorgehobenen Kontexte die Realisierbarkeit eines meritokratischen Statuszuweisungsprozesses ebenfalls unmöglich machen. Mit anderen Worten: Die funktional differenzierte Gesellschaft kann keine Leistungsgesellschaft sein, unabhängig davon wie ausgeprägt die Schichtungsstrukturen ausfallen.
2 Leistungsevaluation im Statuszuweisungsprozess
Der gesellschaftliche Statuszuweisungsprozess, durch den die Individuen auf die Leistungsrollen in den Funktionssystemen sowie die Mitgliedschaftsrollen in Arbeitsorganisationen dirigiert werden, umfasst nacheinander und teilweise nebeneinander die Kontexte verschiedener Systeme: von der Familie über die Schule zu den Arbeitsorganisationen und Funktionssystemen. Ich werde im Folgenden den Statuszuweisungsprozess vom Erziehungssystem in die Arbeitsorganisationen nachverfolgen, um zu rekonstruieren, unter welchen Bedingungen die statusrelevanten Leistungsvergleiche stattfinden. Es geht darum zu bestimmen, wie diese spezifischen Kontexte den möglichen Rationalisierungsgrad der Vergleichsoperationen limitieren und in welche Richtung die Vergleichsoperationen dadurch umdirigiert werden. Aus systemtheoretischer Perspektive setzt eine Analyse der schulischen Leistungsvergleiche voraus, dass zunächst der funktionssystemspezifische Kontext ausgeleuchtet wird.
Der Statuszuweisungsprozess in der Schulkarriere
Die Funktion des Erziehungssystems besteht in der kommunikativen Veränderung von Personen in erziehenden Interaktionen. Erziehung setzt dabei immer auch Leistungsvergleiche voraus, denn im Unterricht muss mindestens zwischen korrekten und falschen Antworten unterschieden werden. Da diese Selektion in der Regel in Jahrgangsklassen vollzogen wird, in denen eine annähernde Gleichheit des Wissensstandes unterstellt werden kann, wird jedes Lob und jeder Tadel im Unterricht bereits als Leistungsvergleich beobachtet (Luhmann und Schorr 1988). Mit der zunehmenden internen Differenzierung des Erziehungssystems in jeweils hierarchisch gegliederte Subsysteme für Sekundar- und Tertiärbildung nehmen dabei die internen Selektionszwänge in der Form von Übertrittsentscheidungen immer mehr zu. Die wissenschaftliche Analyse schulischer Selektionen weist dabei dasselbe Technologiedefizit auf, das schon für das peopleprocessing" sich als typisch erwiesen hat (Luhmann und Schorr 1988, S. 300ff., Kalthoff 1997, S. 131ff.). Auch hier wird wiederum die Komplexität und Kontingenz der möglichen Vergleichsperspektiven sichtbar. So lassen sich schulische Leistungen an objektiven" Leistungsstandards (Sachdimension), in der Zeitdimension nach individueller Leistungssteigerung und in der Sozialdimension als Leistungsvergleich innerhalb einer Schulklasse durchführen (Heckhausen 1974, S. 48ff.). Aus der Perspektive des Meritokratiemodells erscheinen nur die Leistungsvergleiche in der Sachdimension brauchbar zu sein, da den anderen beiden Vergleichstypen die nötige Generalisierbarkeit fehlt. Durch die politische Vorgabe einheitlicher Lehrpläne, inklusive standardisierter Lernziele, soll dies gewährleistet sein.
Die Reduktion schulischer Leistungsevaluationen auf Vergleiche in der Sachdimension misslingt aber schon deshalb, weil bei der klassischen Zensur der Lehrer selbst den Leistungsvergleich vornimmt. Der Lehrer kann aber bei der Korrektur nicht eindeutig zwischen Erleben und Handeln unterscheiden. Schlechte Klausuren können auf das mangelnde Talent oder die schlechte Vorbereitung der Schüler zugerechnet werden, aber auch auf die pädagogischen Missgeschicke des Lehrers oder seiner Vorgänger. Die Lehrer behelfen sich in der Regel mit einem Wechsel in die Sozialdimension. Man sortiert die Klausuren nach dem Leistungsstand aus den vorhergegangen Klausuren (Kalthoff 1997, 137ff.). Sind sogar die guten Schüler nicht in der Lage die Aufgaben zu lösen, kann der Lehrer eigene Fehler nicht mehr ausschließen und es beginnt die Arbeit am Schnitt". Spätestens ab diesem Moment geht die Generalisierbarkeit der Zensuren verloren. Sie bilden nur noch ordinal gradierte Differenzen innerhalb des Klassenverbundes ab, da das Niveau der Besten in der Klasse festlegt, was noch zu verstehen gewesen ist und was nicht. Sind die Besten vergleichsweise schlecht, mag diese Hürde nicht allzu hoch liegen.
Dieses Beispiel zeigt aber eine weitere Technik, wie im Unterricht mit der hohen Unsicherheit bei schulischen Leistungsvergleichen umgegangen wird. Die verschiedenen Selektionsereignisse bilden dabei ein sich wechselseitig stützendes Netzwerk (Luhmann und Schorr 1988), das als Kontext bei Attributionsproblemen den Ausschlag gibt. Das können die Selektionsereignisse in derselben Klasse im selben Fach sein. In diesem Fall wechseln die Lehrer bei Attributionsproblemen von den Vergleichsoperationen in der Sachdimension in die Sozialdimension. Es finden sich weitere Beispiele solcher Kompensations- und Übersetzungstechniken. Ist sich der Lehrer bei der Bewertung einer Klausuraufgabe unsicher, wird es schwer sein, die Erinnerung an vorgehende Interaktionserfahrungen mit diesem Schüler auszublenden. Das Ergebnis einer mündlichen Prüfung ist so stark situativen Einflüssen wie Tagesform oder Nervosität ausgesetzt, dass man bei der Bewertung meist ebenfalls auf frühere Selektionsereignisse zugreifen wird. In den beiden letzten Beispielen greift der Lehrer bei Attributionsproblemen auf Leistungsvergleiche in der Zeitdimension zurück. Lob und Tadel, Zensur oder Prüfung verweisen immer auch auf vorangegangene Selektions- und Vergleichsereignisse, die bei Vergleichsunschärfen das Vergleichsergebnis mitbestimmen werden. Die Wechsel in die Zeit- oder die Sozialdimension stellen dabei funktionale Äquivalente dar. Auf jeden Fall werden die Leistungsvergleiche an dieser Stelle extrem kontextsensibel. Da die einzelnen Selektionsereignisse aber auf derselben Notenskala eingetragen werden, wird die Indexikalität schulischer Selektionen unsichtbar gemacht.
Alle Leistungsvergleiche weisen aber eine weitere Mehrdeutigkeit auf: Eine individuelle Leistung kann auf konstantes Talent und variable Anstrengung zurückgeführt werden. Das Meritokratiemodell setzt dabei voraus, dass beide Aspekte optimiert werden. Die Leistungsevaluationen bei Übertrittsentscheidungen und beim Abschlusszeugnis sollen einerseits als zuverlässiges Talentsignal dienen und andererseits müssen gerade die vielen dazwischen liegenden Selektionsereignisse Unterschiede in der Leistungsanstrengung sichtbar machen, damit das Zertifikat auch verdient ist und die Individuen daran gewöhnt werden, mit hohem Einsatz zu arbeiten. Gerade an dieser Stelle werden im Erziehungssystem aber wieder deutliche Defizite in den Selektionstechniken sichtbar. Im Unterricht steht vor allem der Motivationsaspekt im Vordergrund. Der Lehrer wird vor allem die Zurechnung auf Leistung wählen, da nur diese Attribution pädagogische Chancen eröffnet. Die Lehrer bevorzugen an dieser Stelle die Maxime, dass jedes Kind alles erreichen kann, wenn es sich nur anstrengt. Nach Luhmann und Schorr versuchen die Schüler aber gerade die Zurechnung auf die konstanten Eigenschaften zu dirigieren, weil sich im positiven Fall daraus mehr Anerkennung für die eigene Person ziehen lässt – niemand ist gerne der Streber – oder weil sich im negativen Fall damit weitere Leistungsanforderungen wirkungsvoll abwehren lassen. Interessanterweise kippt diese Zurechnungsneigung bei den Übertrittsentscheidungen. Da hier die Schule einigen Schülern bestimmte Karrierechancen langfristig eröffnet und anderen Schülern verschließt, neigen die Schulen an dieser Stelle dazu, den konstanten Faktor Talent zu bevorzugen. Die aggregierten Schulleistungen beim Übertritt werden als zuverlässiges Signal der zukünftigen Leistungsmöglichkeiten behandelt, obwohl gerade in der kindlichen Entwicklung drastische Sprünge und Einbrüche keine Seltenheiten sind. Entsprechend gering fällt dann faktisch die Prognosegenauigkeit der bisherigen Schulleistungen aus. Nach Luhmann und Schorr begehen die Schulen hier zwangsläufig einen von zwei Fehlern: Durch strenge Selektion nimmt man die Fehlplatzierung der Spätentwickler in Kauf und durch laxe Selektion werden viele Kinder in Schulen platziert, in denen sie leistungsmässig überfordert sind und Misserfolg an Misserfolg reihen (Luhmann und Schorr 1988, S. 328ff.). An dieser Stelle schlägt sich dann auch der politische Kontext nieder. Je nachdem, ob der öffentliche Diskurs gerade die Demokratisierung des Erziehungssystems vorantreiben will oder neoliberale Diskurse das Problem der Elitenausbildung in den Vordergrund stellen, wird die Erziehungspolitik hier Richtungswechsel vorzunehmen versuchen. In jedem Fall kann nicht mit einer objektiven" Leistungsevaluation gerechnet werden, da man einen der beiden Fehler zwangsläufig begeht.
Wie Mechthild Gomolla und Frank Olaf Radtke gezeigt haben, können aber auch demographische Faktoren für die mangelnde Rationalität von Übertrittsentscheidungen verantwortlich sein (Gomolla und Radtke 2007). Der zahlenmässige Rückgang der Schülerpopulation in den achtziger Jahren hat zu einem drastischen Überlebenskampf der einzelnen Schulen geführt. Die Autoren zeigen, dass dadurch für einen Teil der Migrantenkinder zusätzliche Plätze an den Realschulen und Gymnasien freigeworden sind. Eine andere Teilpopulation wurde aber plötzlich bevorzugt an die Sonderschulen überwiesen. Die Grundschulen haben, um ihre Klassengrösse zu bewahren, kaum mehr deutsche Kinder an die Sonderschulen überwiesen. Zuvor sind die schulischen Leistungen dieser Kinder als eindeutiger Hinweis auf gravierende Lernbehinderungen gedeutet worden, durch die das Unterrichtstempo an den Regelschulen in nicht hin zu nehmenden Masse aufgehalten werde. Nach den demographischen Änderungen werden sie wieder wie ganz normale schlechte Schüler behandelt. Die Sonderschulen haben ihr Überleben dann damit gesichert, indem sie bereit gewesen sind, in großer Zahl Migrantenkinder aufzunehmen, obwohl sie auf diese pädagogische Aufgabe nicht vorbereitet waren. (ebd., S. 140ff.). Zur gleichen Zeit verwandelte sich also der aus dem Migrationshintergrund resultierende Lernrückstand in eine für normale Schulen nicht mehr tragbare Lernbehinderung. Eine Teilpopulation der Migrantenkinder erlebt einen überraschenden Aufstieg und eine andere einen drastischen Abstieg. Es ist völlig eindeutig, dass sich die plötzlichen Änderungen in den kollektiven Schulkarrieren der Migrantenkinder nicht durch eine plötzliche Änderung im Leistungsvermögen dieser Schülerpopulation erklären lässt. Zumal die Autoren zeigen können, dass es sich um eine weitgehend konstante Gruppe von Migranten gehandelt hat, die meist schon länger als zehn Jahre in Deutschland ansässig gewesen ist. Hier haben demographische Faktoren wie die sinkende Geburtenrate zur Ressourcenknappheit im Erziehungssystem geführt, die sich ihrerseits in einer Änderung der Zuweisungsentscheidungen der Schulen niedergeschlagen hat. Dass diese Änderungen so geräuschlos vorgenommen werden konnten, liegt an der hohen Unsicherheit bei den Übertrittsentscheidungen. Die mangelnde Rationalität der den Übertrittsentscheidungen zugrunde liegenden Leistungsvergleiche eröffnet den interpretatorischen Spielraum, den dann die Mikropolitik der Schulen ausbeuten kann.
An dieser Stelle wird auch ein interessanter Umschlag von quantitativen in qualitative Vergleiche sichtbar: Ab einer bestimmten Schwelle handelt es sich nicht mehr einfach um etwas schlechtere schulische Leistungen, stattdessen wird diese Population kategorisch erfasst. Die schlechten Leistungen werden nicht mehr durch die üblichen Faktoren erklärt (etwas weniger Fleiss, etwas weniger Talent), sondern als spezifisches konstantes Personenmerkmal erfasst. Man nennt das heute nicht mehr erblichen Schwachsinn", sondern Lernbehinderung". Doch letztlich werden in beiden Fällen Kinder von der Regelschule aussortiert und dauerhaft mit deutlich geringeren Leistungsanforderungen konfrontiert. Aus der Perspektive der Sonderschulpädagogik handelt es sich um Kinder, die aufgrund besonderer kognitiver Strukturen den Einsatz spezieller pädagogischer Techniken erfordern. Die Sonderschulpädagogik räumt dabei selbst eine Tendenz zur Unterforderung ein (Hänsel 2003, S. 603). Interessanterweise wird die Kategorie der erblich Lernbehinderten" dann meist auch mit anderen Kategorien kombiniert. Die Sonderschule hat nicht umsonst den Ruf der Armenschule". Dabei muss die Sonderschule, um ihre Sonderkompetenz zu bewahren, die schulische Leistungsschwäche medikalisieren, indem sie diese beispielsweise erblich zurechnet (ebd., S. 602). Gerade die Sonderschule wird also die schwachen Schulleistungen ihrer Klientel eher nicht auf Armut" zurechnen, sondern sie tendiert zur Annahme, dass bestimmte Milieus" deutlich mehr erblich Lernbehinderte aufweisen, weil nur so die Sonderschule ihre besondere Kompetenz gegenüber der Regelschule geltend machen kann. So gibt es in der Pädagogik starke Tendenzen den Sonderschulbereich nicht mehr als getrennte Schulform weiter zu führen, sondern diesen Bereich in der Form des integrativen Unterrichts an der Regelschule zu integrieren. Die Sonderschulen stehen deshalb in der Beweispflicht, dass ihre Schüler so sehr anders" sind, dass ihnen die Regelschule nicht zugemutet werden könnte. Gomolla und Radkte (2007) zeigen aber, wie dabei demographische Verschiebungen abrupte Zurechnungsänderungen auslösen. Es ist dann nicht mehr die inländische Armut, die den günstigsten Nährboden für erbliche Lernbehinderungen bietet, sondern plötzlich ist es der Migrationshintergrund.
Der Statuszuweisungsprozess im Übergang von der Schul- zur Berufskarriere
Verfolgt man die Serie der Leistungsvergleiche im Statuszuweisungsprozess weiter, stösst man auf die Diskontinuität im Übergang von der Ausbildungs- zur Berufskarriere. Die Annahme, dass es für die rekrutierenden Arbeitsorganisationen rational sei, sich vor allem auf die Leistungsvergleiche des Erziehungssystems zu verlassen, ist nur selten systematisch begründet worden. Die meisten Autoren begnügen sich an dieser Stelle mit generellen Vertrauensbeweisen wie dem Folgenden: Industrialism requires an educational system functionally related to the skills and professions imperative to its technologies" (Kerr et al. 1962, S. 36). Dabei beruht diese Rationalitätsunterstellung auf einer Reihe höchst problematischer Annahmen. Dass die rekrutierenden Arbeitsorganisationen die Leistungsevaluationen des Erziehungssystems zur dominanten Grundlage von Rekrutierungsentscheidungen machen, ist weit weniger selbstverständlich als oft angenommen wird. Dabei wird beispielsweise vorausgesetzt, dass das Erziehungssystem in der Lage ist, zu antizipieren, welche Fähigkeiten und Kenntnisse die Arbeitsorganisationen benötigen. Zudem wird vorausgesetzt, dass das Erziehungssystem in der Lage ist, diese Kenntnisse und Fähigkeiten überhaupt zu vermitteln und man davon ausgehen kann, dass dieser Aneignungsprozess von ausreichender Dauer ist, so dass die Zertifizierten auch noch einige Jahre später darüber verfügen, wenn sie sich mit den Zertifikaten auf dem Arbeitsmarkt bewerben. Des Weiteren wird dabei vorausgesetzt, dass das Erziehungssystem die Nachfrage der rekrutierenden Arbeitsorganisationen zeitnah und in der korrekten Zusammensetzung – beispielsweise im Herbst 2016 etwa 20000 Ingenieure, 10000 Lehrer und 40 Soziologen – zu liefern in der Lage ist. Ist nur eine dieser Annahmen nicht gegeben, dann verliert das Meritokratiemodell seine Plausibilität. Es könnte dann immer noch sein, dass die rekrutierenden Arbeitsorganisationen alle Zertifizierten mit Stellen versorgen. John W. Meyer (1977) geht davon aus, dass die Arbeitsorganisationen sogar in großer Zahl Stellen für Astrologen schaffen würden, wenn das Erziehungssystem die Astrologie als Disziplin an den Universitäten verankern würde. Doch diese Rekrutierungsentscheidungen beruhen dann nicht mehr auf dem Prinzip, dass die Leistungsvergleiche des Erziehungssystems als funktionierende Leistungssignale künftiger Organisationsmitglieder behandelt werden können. Unterstellt man im strikten Sinne rationale Arbeitsorganisationen, müsste man dann gerade von der Entkopplung der Rekrutierungsentscheidungen von den Leistungsvergleichen des Erziehungssystems ausgehen.
Man findet gerade einmal zwei Theorien, die die im Meritokratiemodell vorausgesetzten Annahmen systematisch modelliert haben: Die Humankapitaltheorie (Schultz 1961, Becker 1975, Kamaras 2003, Checchi 2006) und die Signalingtheorie (Spence 1973). Beide Theorien gehen davon aus, dass der Arbeitsmarkt in der Lage ist, die Kopplung des Outputs des Erziehungssystems mit der Inputnachfrage der rekrutierenden Arbeitsorganisationen zu koppeln. In beiden Modellen konkurrieren die Arbeitnehmer um Stellen in Arbeitsorganisationen und die Organisationen des Erziehungssystems um Auszubildende. Die Humankapitaltheorie geht dabei davon aus, dass die Organisationen des Erziehungssystems tatsächlich in der Lage sind, die zukünftige Produktivität ihrer Auszubildenden zu erhöhen. Da sich an den Produktmärkten nur die Arbeitsorganisationen erhalten können, die ihre Produktionsfaktoren nach ihrer Produktivität bezahlen, können nur diejenigen Arbeitsnehmer ihre schulischen Humankapitalinvestitionen realisieren, die Ausbildungsprogramme absolviert haben, die ihre Produktivität für ihre zukünftigen Arbeitgeber erhöhen. Nur diejenigen Organisationen des Erziehungssystems, deren Ausbildungsprogramme dieser Anforderung entsprechen, werden genügend Auszubildende anziehen, um ihre Finanzierung sicherstellen zu können. Das Modell lebt nicht zuletzt von der Eindeutigkeit der Motivzurechnungen und Vergleichshorizonte. Die Arbeitnehmer können davon ausgehen, dass die Arbeitsorganisationen ihre möglichen zukünftigen Organisationsmitglieder nur nach ihrer Produktivität beurteilen und sich diese objektiv im Einkommen ausdrückt. Die Universitäten können sichergehen, dass ihre Studierenden ihren Studiengang als rationale Humankapitalinvestition durchkalkulieren, also den Studiengang nur auf die dadurch zu erzielenden Einkommenszugewinne hin vergleichen und sich dabei beispielsweise nicht von der Faszination der Inhalte ablenken lassen. Im Verlauf eines langen trial and error"-Prozesses habe sich danach eine so enge Kopplung zwischen dem Leistungsoutput des Erziehungssystems und der Leistungsnachfrage der Arbeitsorganisationen eingespielt, dass sich ein positiv lineares Verhältnis der Produktivität und der Länge der schulischen Ausbildung herausgebildet habe. Da die Bildungszertifikate perfekt auf die Anforderungen der rekrutierenden Arbeitsorganisationen einjustiert sind, lassen sich die in den Bildungszertifikaten geronnenen schulischen Leistungsvergleiche direkt in das Einkommen der Bewerber übersetzen.
Ein Blick in die vorwiegend ökonomische Literatur zu diesem Thema weist aber schon eine viel höhere Komplexität und Ambivalenz dieser Vergleichsprozesse auf als sie im Humankapitalmodell vorausgesetzt wird. So hängen die Lohnunterschiede in den Arbeitsorganisationen vor allem von den organisationsinternen Strukturen wie der Zahl der Hierarchiestufen ab. Die Stellenstruktur der Organisationen stellt ein Referenzsystem für die Vergleichsprozesse angemessener Entlohnungen dar, das die Arbeitsorganisationen nicht ungestraft ignorieren können (Thurow 1976, Moss Kanter 1987). Das Einkommen bildet also nicht die Produktivität der Mitglieder und ihrer Humankapitalinvestitionen ab, sondern eher die Organisationsstrukturen. Zudem hat sich mit der Signalingtheorie ein ernstzunehmender Konkurrent zur Humankapitaltheorie herausgebildet, der auf der genau umgekehrten Annahme beruht und mindestens ebenso plausibel ist. Danach erhöht die schulische Ausbildung nicht die Produktivität der Auszubildenden und die Schulzertifikate dienen vor allem als Signal für Lernfähigkeit. Wer sich beispielsweise in wenigen Jahren mit der Komplexität wissenschaftlicher Forschung einigermaßen vertraut machen könne, sei auch in der Lage, schnell mit den Anforderungen einer neuen Stelle vertraut zu werden. Dann sinkt der Wert eines Zertifikats aber gerade mit der Dauer, die der Absolvent zu seiner Erlangung verbraucht hat. Man sieht, die Signalingtheorie beruht auf der Annahme des umgekehrt linearen Zusammenhangs der Humankapitaltheorie.
So wenig wie die Arbeitnehmer die Löhne und Gehälter als objektive Bewertung der aus der Ausbildung resultierenden Produktivitätssteigerung behandeln können, so wenig können die Arbeitsorganisationen das Zertifikat als eindeutiges Leistungssignal behandeln. Es ist nicht auszuschließen, dass man in einem langen Studium mehr berufsrelevante Fähigkeiten und Kenntnisse erwirbt als in einem kurzen, auch wenn es oft nur ein Hinweis für mangelnden Ehrgeiz oder Begriffsstutzigkeit ist. Umgekehrt kann eine außergewöhnlich kurze Studienzeit ebenso ein Indiz für eine schnelle Auffassungsgabe wie ein Anzeichen für die lasche Selektivität vieler Studiengänge sein. Dasselbe Dilemma betrifft die Universitäten. Gut besuchte Studiengänge können für sich beanspruchen, gut auf die Praxis vorzubereiten. Man kann sich die Studierenden aber auch als blosse Konsumenten ihrer Ausbildungsgänge vorstellen, die zu den Instituten gravitieren, die die geringsten Anforderungen stellen (Blaug 1976, S. 835). Von außen – in diesem Fall seitens der Universitätsleitung – lässt sich wahrscheinlich oft nur schwer entscheiden, welcher Fall vorliegt. Unter diesen Umständen wird man nicht davon ausgehen können, dass sich mit der Zeit ein optimales Gleichgewicht in den Leistungsbeziehungen zwischen dem Erziehungssystem und den Arbeitsorganisationen einspielt. Dann entfällt aber auch für die Konvertierung von Bildungszertifikaten in Einkommen eine rationale Grundlage.
Aus soziologischer Perspektive lassen sich weitere Einwände gegen eine rationale Kopplung des Outputs des Erziehungssystems mit der Leistungsnachfrage der Arbeitsorganisationen anführen. Die empirische Forschung zeigt, dass man an den Schulen und Universitäten nicht nur das Lernen, sondern auch das Vergessen lernt (Collins 1979, S. 18). Nach der Klausur muss schnell neuer Speicherplatz für den nächsten Lernstoff geschafft werden. Zudem hat Luhmann immer vor den Sozialisationsschäden langer Bildungskarrieren gewarnt (Luhmann 2004, S. 37). Das habituelle Antizipieren des Urteils des Lehrers verstärke auf Dauer konformistische Persönlichkeitsstrukturen. Zudem scheint eine wirkungsvolle Synchronisierung des Erziehungssystems mit seinen Leistungsabnehmern nicht realisierbar zu sein. Während in den Arbeitsorganisationen ständig neue Techniken und Arbeitsroutinen entwickelt werden, setzen Reformen des Erziehungssystems erstmal eine Neuerziehung des Lehrkörpers voraus (Bourdieu und Passeron 1971). Und während die Nachfrage nach bestimmten Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt kurzfristigen Schwankungen unterliegt, verbraucht jede individuelle Ausbildungskarriere mehrere Jahre. Vor diesem Hintergrund müsste man eigentlich von einer deutlichen Entkopplung der Verteilung der Ausbildungszertifikate und der Rekrutierungsentscheidungen ausgehen. Die empirischen Befunde weisen aber auf eine relativ konstante Konvertibilität der Bildungszertifikate hin, die zudem einige interessante Besonderheiten aufweist (Groot und Oosterbeek 1992). Anders als die Signalingtheorie annimmt, erschöpft sich die Bedeutung des Bildungszertifikats nicht darin, Leistungssignal bei der Ersteinstellung zu sein. Die Bildungszertifikate erreichen oft ihre grösste Wirkung Jahre nach dem Berufseinstieg. Wie ich unten noch zeigen werde, lässt sich dieser Befund aber nur richtig interpretieren, wenn man die Karrierestrukturen der Arbeitsorganisationen mit ins Bild nimmt. Festhalten lässt sich: Obwohl zunehmend deutlicher wird, dass sich die Leistungsvergleiche im Erziehungssystem nicht als eindeutige Leistungsindikatoren auf dem Arbeitsmarkt verwenden lassen, weil den Bildungszertifikaten keine objektiven Produktivitätszunahmen korrespondieren und sie aufgrund der Technologiedefizite der schulischen Leitungsvergleiche auch nicht als eindeutiges Signal der Lernfähigkeit behandelt werden können, kommt es nicht zur Entkopplung von Leistungsvergleich und Sanktion. Man findet hier eine nichtmeritokratische Übertragung von Leistungsvergleichen aus einen System in den Kontext eines anderen.
Der Statuszuweisungsprozess in der Berufskarriere
Hier muss aber zunächst festgehalten werden, das das Problem der Unzuverlässigkeit der Leistungssignale nicht nur für die Bildungszertifikate, sondern für alle Leistungsindikatoren bei Rekrutierungsentscheidungen gilt, seien es die strategisch zurechtgemachten Lebensläufe, die Eindrücke aus Bewerbungsgesprächen oder die Ergebnisse von Assessment-Centern. Das grundlegende Problem besteht darin, jemanden für eine Stelle zu rekrutieren, die er noch nicht eingenommen hat. Es handelt sich hier um prospektive Leistungsvergleiche. Anders als beispielsweise bei den schulischen Zensuren, bei denen bereits erbrachte Leistungen verglichen werden, beruhen Rekrutierungsentscheidungen auf dem Vergleich von Leistungsindikatoren, die die zukünftige Leistungsfähigkeit der Bewerber erfassen sollen. Es liegt auf der Hand, dass dieses Entscheidungsproblem mit viel grösseren Unsicherheiten verbunden ist als der retrospektive Vergleich. Das Meritokratiemodell vereinfacht die Rekonstruktion der den Rekrutierungsprozessen zugrundeliegenden sozialen Vergleiche in unzulässiger Weise, indem es die Vergleichsoperationen auf den simplen Abgleich der Stellenprogramme mit den zertifizierten Kenntnissen und Fähigkeiten der Individuen reduziert. Aus systemtheoretischer Perspektive müssen die Rekrutierungsentscheidungen als Programmierung einer der drei zentralen Entscheidungsprämissen verstanden durch die der organisationale Entscheidungsprozess Struktur gewinnt (Simon 1964, Luhmann 2000). Persönlichkeitsstrukturen wie Ambiguitätstoleranz, Risikoaversität oder die Tendenz zur Fremd- oder Selbstattribution, die Fähigkeiten und Kenntnisse sowie die berufsrelevanten Netzwerke prägen den Entscheidungsstil des Stelleninhabers und wirken damit ebenso selektiv wie die Sachprogramme und Kommunikationswege, also den beiden anderen Entscheidungsprämissen. Die schulische Erziehung oder die vorangegangene Berufserfahrung lösen dabei die unterschiedlichsten Sozialisationseffekte aus, die sich ihrerseits auf kaum kalkulierbare Art und Weise im Entscheidungsverhalten der Individuen niederschlagen werden. Da sich die Vertreter des Meritokratiemodells vorwiegend für die Besetzung der Führungspositionen interessieren, kommt als weiteres Problem hinzu, dass diese Stellen – besonders, wenn es sich um Generalistenstellen handelt – eine besonders breite Palette an Kompetenzen und Anforderungen verlangen und das nur vage Erfolgskriterien für die Aufgabenerfüllung in diesen Stellen verfügbar sind.
Die formalen Organisationen können diese Komplexität nur dadurch abarbeiten, dass sie den Entscheidungsprozess in mehrere Phasen dekomponieren. Im ersten Schritt versucht man aus dem Stellenprofil eine Reihe pragmatischer Typisierungen möglicher Kandidaten abzuleiten, etwa: Jurist mit Berufserfahrung im Scheidungsrecht (Luhmann 1971, S. 214). Die daraufhin formulierte Stellenausschreibung soll einen homogeneren Pool an Kandidaten erzeugen, aus dem dann wiederum nach vorab festgelegten Kriterien eine bestimmte Anzahl an Kandidaten zu eingehenderen Tests eingeladen wird (Bewerbungsgespräch, Assessment-Center, Probevortrag). Die Rationalität mehrstufiger Entscheidungsprozesse hängt davon ab, dass die Ergebnisse der vorangegangen Phasen allenfalls partiell revidiert werden. Jede dieser Phasen weist dabei ihre eigenen Tücken auf. Zunächst scheint es nicht allzu schwer zu sein, aus dem Stellenprofil einige persönliche Typisierungen abzuleiten, mit denen sich eine Stellenausschreibung formulieren lässt. Die Arbeitsorganisation wird auch nie erfahren, welche Selektivität mit dem Ausschluss von Kandidaten verbunden ist, die nicht den in der Stellenanzeige ausgewiesenen Typisierungen entsprechen und dadurch entmutigt wurden, sich zu bewerben. Sie bekommt diese einfach nicht zu Gesicht". Aber spätestens in der zweiten und dritten Phase bricht die eigentliche Komplexität der Entscheidung hervor. An den eingeladenen Kandidaten werden plötzlich positive Eigenschaften sichtbar, die sich als stellenrelevant erweisen können, die aber nicht bei der Selektion in Phase zwei berücksichtigt worden sind. Im Hinblick auf das Prinzip der Chancengleichheit müssten diese Eigenschaften eigentlich ausgeblendet werden, da vielleicht auch einige der nicht eingeladenen Kandidaten sich dadurch hätten positiv auszeichnen können. Dann vergibt man aber Rationalitätschancen bei der Rekrutierungsentscheidung. Letztlich muss man eine Wahl aus Kandidaten treffen, die für die Mitgliedschaftsübernahme sowohl positive als auch negative Eigenschaften aufweisen (Luhmann 2000, S.292). Auch hier zeigt sich wieder die Komplexität und Kontingenz der Vergleichsoperationen, die in der Regel mehr als einen brauchbaren Kandidaten erzeugen und schnell zur Politisierung solcher Entscheidungsprozesse beitragen.
Mit dem Assessment-Center ist ein Instrument des Human Ressource Managements entwickelt worden, das mithilfe moderner Psychologie mit der Rationalisierung der Rekrutierungsentscheidungen ernst machen soll. Die Teilnehmer an Assessment-Centern müssen eine Reihe verschiedener Übungen absolvieren, die tatsächliche Entscheidungssituationen in der Stelle simulieren sollen. Psychologen und Personalmanager beobachten die Teilnehmer daraufhin, wie viele der für die Stelle als leistungsrelevant erachteten Eigenschaften sie in welcher Ausprägung zeigen. Die bisher durchgeführten Evaluationen von Assessment-Centern kommen dabei zu einem seltsam ambivalenten Ergebnis (Klimoski und Brickner 1987, Kleinmann 2013). Zwar weisen diese Verfahren eine relativ hohe prognostische Validität auf. Bewerber, die gut in einem Assessment-Center abgeschnitten haben, haben danach meist erfolgreiche Karrieren hingelegt. Aber sie weisen eine eher geringe Konstruktvalidität auf. Das heisst, sie sind weder zuverlässig darin, die verschiedenen Merkmale getrennt zu erheben, noch scheinen die Urteile von den erhobenen Merkmalsverteilungen abzuhängen. Mit anderen Worten: Assessment-Centern scheinen zu funktionieren, aber niemand weiss weshalb. Dabei könnte es sein, dass die Ergebnisse des Assessment-Centers bekannt werden und sich dadurch auch die späteren Beförderungsentscheidungen einfach am Urteil des Assessment-Centers orientiert haben. Oder die Evaluatoren weisen letztlich einfach dieselben Präferenzen für Kandidaten auf, wie die späteren Personalstellen. Das Assessment-Center misst dann nicht die Leistungsfähigkeit, sondern einfach die Übereinstimmung mit dem Stereotyp des erfolgreichen Managers. Aufgrund der augenblicklichen Literaturlage lässt sich zwar über die Funktionalität von Assessment-Centern noch kein abschließendes Urteil erlauben, aber die wenig systematische Art in der aus den zu besetzenden Stellen Aufgabensimulationen abgeleitet werden und der unsystematische Charakter der Urteilsfindung sprechen gegen eine meritokratische Lesart.
Nimmt man die Versetzungsentscheidungen (Beförderung, lateraler Stellenwechsel, Demotion) hinzu, tauchen zwei weitere Probleme auf: die artifizielle Inkommensurabilität der Kandidaten und die Entkopplung von Leistung und Beförderung. Die meisten Arbeitsorganisationen weisen eine annähernd pyramidenförmige Struktur auf, bei der mit jeder Hierarchiestufe die Stellenbreite abnimmt. Die organisationsinternen Karrierestrukturen ähneln deshalb der Reise nach Jerusalem. Nach jeder Runde nehmen die Zahlen der zu besetzenden Stühle ab. Die Arbeitsorganisationen steigern deshalb nicht die Entscheidungsrationalität (Brunsson 1986), indem sie den Pool möglicher Kandidaten besonders groß halten, um nicht geeignete Kandidaten versehentlich zu übersehen, sondern sie sorgen gerade für artifizielle Knappheit. Charles Tilly (1998), aber auch Frank Dobbin (2009) haben gezeigt, wie Arbeitsorganisationen Formen kategorialer Ungleichheit wie Gender, Hautfarbe oder Ethnie verwenden, um bestimmte Personengruppen von vornherein bei den Rekrutierungsentscheidungen für bestimmte Stellen auszuschließen. Many employers matched people with jobs based on ability, but only after dividing them by sex and race. Women who could type would be typists, those who couldn`t would answer the phone. But Women would never go down in the mine, or up into the corner office" (Dobbin 2009, S. 23). Es handelt sich hier um die Konstruktion artifizieller Inkommensurabilität (Espeland und Stevens 1998). Nach einem Manager schloss die Natur der Frau eine Rekrutierung für Führungsaufgaben aus: Most girls don`t have what it takes. They don`t have the killer instinct" (Dobbin 2009, S. 24). So haben amerikanische Unternehmen in den fünfziger Jahren Farbige und Frauen von allen internen Karrierewegen ausgeschlossen. Nach Tilly schützen die Arbeitsorganisationen ihre internen Strukturen, etwa die zentrale Hierarchie, indem sie diese durch externe kategoriale Ungleichheiten abstützen (Tilly 1998, S. 95). Tilly nennt diese Strategie Emulation" (ebd., S. 10). Auch hier scheint sich wieder der Kontext der Arbeitsorganisation in den Vergleichsoperationen niederzuschlagen. An und für sich bietet die Stelle der Sekretärin in vielen Hinsichten gute on the job"-Qualifikationsmöglichkeiten für Führungsaufgaben: Einblick in die Hinterbühne, Anwesenheit in vielen Entscheidungsinteraktionen und ein weitreichendes Kontaktnetz als Grenzstelle zur Führungsposition. Diese Nähe liefert aber auch die Mittel, um den direkten Vorgesetzten sabotieren zu können, um an dessen Stelle zu treten. Indem die Position der Sekretärin" gegendert wird, liefern gesellschaftliche Stereotype die Begründung, um den Ausschluss ansonsten naheliegender Kandidatinnen zu rechtfertigen. Der Vorgesetzte kann sich auf seine" Sekretärin verlassen, weil sie von vornherein von der Nachfolge ausgeschlossen ist. Sie kann wie die Ehefrau allenfalls mit ihm aufsteigen (Moss Kanter 1993, S. 41).
Seit den sechziger Jahren werden die Unternehmen immer stärker von sozialen Bewegungen wie der Frauenbewegung und der Bürgerrechtsbewegung unter Druck gesetzt, diese Rekrutierungs- und Beförderungspraktiken abzustellen. Die Arbeitsorganisationen sehen sich seit dieser Zeit dem Risiko von Diskriminierungsverfahren ausgesetzt. Frank Dobbin (2009) weist hier auf einen faszinierenden historischen Umweg hin. Die ersten Antidiskriminierungsgesetze in den Vereinigten Staaten seien so vage formuliert gewesen, dass von ihnen für die Firmen relativ wenig Gefahr ausgegangen sei. Die Firmen seien aber zur Beute ihre eigenen Emulationsstrategien geworden. Um ihre Frauenquoten in Führungspositionen zu stärken, hätten sie die Managementpositionen gegendert und die Frauen vor allem in die rasch wachsenden Personalabteilungen versetzt. Diese Frauen saßen dann genau an dem Ort, um die Antidiskriminierungsmaßnamen umzusetzen und deren komplette Entkopplung zu verhindern. Seit dieser Zeit sind Emulationsstrategien, die auf kategoriale Ungleichheit wie Hautfarbe und Gender zurückgreifen, zunehmend riskanter geworden. Es bleibt aber immer noch eine legitime Emulationsstrategie übrig: Man kann Bildungszertifikate als artifizielle Beförderungsschwellen verwenden – ohne Universitätsstudium kein Zugang zum mittleren Management – , obwohl nicht nur Randall Collins (1979) der Ansicht gewesen ist, dass sich die meisten der in diesen Stellen geforderten Kompetenzen auch on the job" erlernen lassen. So ließe sich auch erklären, weshalb Schulzertifikate erst Jahre nach dem Berufseinstieg ihre höchste Wirksamkeit entfalten: eben, wenn sie als Beförderungsschwelle eingesetzt werden. Letztlich handelt es sich auch hier um einen Fall artifizieller Inkommensurabilität. Wer keinen Hochschulabschluss gemacht hat, der wird vom Vergleich für die Eignung für Führungspositionen ausgeschlossen, obwohl es Hinweise aus Krisenzeiten wie der deutschen Nachkriegszeit gibt, dass man sich diese Fähigkeit auf der Stelle selbst aneignen kann.
Abgesehen davon, dass weder die Antidiskrimierungsgesetzgebung noch die verschiedenen Instrumente der Personalmanagement-Manuale (Mutterschaftsurlaub, öffentliche Stellenausschreibungen, Traineepositionen für Minoritäten oder Sensibilisierungskurse für das Management) die Diskriminierung nach Geschlecht, Hautfarbe oder Ethnie beendet haben, zeigt die Studie von Dobbin deutlich, dass diese Instrumente weder aus Rationalitätsgründen (Rekrutierungsrationalität) noch aus moralischen Gründen eingeführt wurden. Die Unternehmen, hier zunächst nur die großen Regierungsvertragspartner aus der Rüstungsindustrie, haben sich dadurch vor dem Verlust von Aufträgen und legitimitätsschädigenden und teuren Gerichtverfahren zu schützen versucht. Für diese Unternehmen ist es zweitrangig gewesen, ob diese Instrumente aus dem Personalmanagement tatsächlich ihre Funktion erfüllen, solange dadurch misstrauische Regierungsstellen und Gerichte besänftigt wurden.
Neben der Konstruktion artifizieller Inkommensurabilität, stellt aber auch der Mechanismus der Entkopplung von Leistungsvergleich und Sanktion das Meritokratiemodell in Frage. Die Ursachen dafür sind oft sehr trivial. Die Leistung in den Mitgliedschaftsrollen der Arbeitsorganisationen lohnt sich nur dann karrieretechnisch, wenn auch eine vakante Stelle vorhanden ist. Hier kommt es oft vor allem darauf an, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. Die Entkopplung von Leistungsvergleich und Sanktion kann aber auch das Ergebnis von strukturellen Ursachen sein. Andrew Abbott hat dies an den Karrierestrukturen von Psychiatern in den Vereinigten Staaten Ende des neunzehnten Jahrhunderts beschrieben (Abbott 1990, S. 97). 1870 hatte noch jeder Assistenzarzt in einer Psychiatrie die realistische Aussicht, später die Leitung einer psychiatrischen Anstalt übernehmen zu können. In den folgenden 30 Jahren nehmen die Beförderungschancen dramatisch ab. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts hat sich die Stelle des Assistenzarztes für zwei Drittel in eine Karrieresackgasse verwandelt. Der amerikanische Staat hat den wachsenden Bedarf nach psychiatrischen Therapien nicht durch Neugründungen, sondern durch Ausbau der bestehenden Einrichtungen bedient. Dadurch wurden aber nur die Assistenzstellen und nicht die Leitungspositionen vermehrt. Wie Pierre Bourdieu gezeigt hat, hat die Bildungsdemokratisierung in Frankreich Ende der sechziger Jahre einen ähnlichen Effekt auf die Karrierestrukturen der Universitäten gehabt (Bourdieu 1988, S. 262). Auch hier wurden die Universitäten vergrössert und damit das Verhältnis der Mittelbaustellen zu den Lehrstühlen verschlechtert. Die Entkopplung der Leistungsbewertung und der Sanktion resultiert hier vor allem daraus, dass die Beförderungsentscheidungen durch die Universitäten und die Entscheidung über den Ausbau der Stellen durch staatliche Stellen getroffen wurden, denen der karrierespefizische Effekt ihrer Entscheidungen wahrscheinlich nicht bewusst gewesen ist.
3 Schluss
Nach den Vertretern des Meritokratiemodells bildet der Statuszuweisungsprozess die wirtschaftliche und militärische Konkurrenz nationaler Gesellschaften ab, bei der sich die Gesellschaft durchsetzt, der eine optimale Besetzung der Elitepositionen gelingt (Bell 1973, Kerr et. a. 1960, Warner 1950). Die Ausdifferenzierung spezialisierter Teilsysteme und die damit einhergehende Emergenz komplexer symbolischer Ordnungen treibe die Anforderungen an das Erziehungssystem und seine Absolventen immer höher und damit spitze sich das Problem der Knappheit des Talents immer mehr zu. Die vormodernen Gesellschaften hätten selbst die Besetzung der gesellschaftlich bedeutendsten Rollen dem Zufall der Geburt überlassen. In der Gegenwart hingegen dominiere die wissenschaftlich gesteuerte Leistungsdiagnose. Ich habe zu zeigen versucht, dass eine Analyse der Leistungsvergleiche in den am Statuszuweisungsprozess beteiligten Sozialsystemen zur entgegengesetzten Einsicht führt. Obwohl unsere Schul- und Berufskarrieren von einem dichten Netz von Leistungsvergleichen überzogen sind, leben wir nicht in einer Leistungsgesellschaft. Dies liegt einerseits an den Eigentümlichkeiten sozialer Vergleiche, die das Verglichene nicht einfach passiv abbilden, sondern überhaupt erst als Vergleichbares konstruieren. Es liegt aber auch an der interpretativen Flexibilität sozialer Vergleiche, in denen sich immer auch der soziale Kontext niederschlägt.
Ich habe in diesem Artikel den Kontext der am Statuszuweisungsprozess beteiligten Sozialsysteme ausgeleuchtet. Dabei erweisen sich die statusrelevanten Leistungsvergleiche als extrem kontextsensibel. So führen die praktischen Zwänge der pädagogischen Kommunikation dazu, dass die einzelnen schulischen Leistungsvergleiche sich nie aus dem weiteren Kontext der Leistungsvergleiche herauslösen lassen. Dabei werden situativ jeweils andere schulische Vergleichsereignisse herangezogen. Die vermeintliche Objektivität schulischer Leistungsevaluationen scheint deshalb eher ein rhetorischer Effekt der Quantifikation in Schulnoten zu sein, die die Indexikalität des schulischen Bewertens zu invisibilisieren hilft. Noch drastischer wirkt die Überlagerung quantitativer Leistungsvergleiche mit Formen der kategorialen Ungleichheit, wie sie Gomolla und Radtke im Sonderschulbereich festgestellt haben. Hier werden plötzlich quantitative Unterschiede in den Leistungen durch qualitativ-kategoriale Ursachen erklärt, um den Ausschluss bestimmter Gruppen von der Regelschule zu legitimieren. Die Problematik dieses Verfahrens wird sichtbar, als es aufgrund demographischer Veränderungen zum abrupten Austausch der Kategorien kommt. Eine ganz eigentümliche Unsicherheit kommt bei den Schulübertrittsentscheidungen, den Ersteinstellungen und den Beförderungs- wie Demotionsentscheidungen ins Spiel. Bei diesen Leistungsvergleichen werden nicht bereits erbrachte Leistungen, sondern Indikatoren zukünftiger Leistungen verglichen. Dabei weisen die Indikatoren oft eine sehr geringe Prognosegenauigkeit auf – oder die Prognosegenauigkeit ist unbekannt. Nicht selten werden dabei auch Leistungsvergleiche in einem System als Leistungsindikatoren in einem anderen System behandelt, obwohl die durch die Systemgrenzen erzeugten sozialen Diskontinuitäten eine solche Übertragung als hoch problematisch erscheinen lassen.
Die sozialen Systeme reagieren auf dieses Problem entweder durch die fallweise Entkopplung von Leistungsvergleich und Leistungssanktion oder sie wenden nicht-meritokratische Übertragungen an, bei denen das die fremden Leistungssignale importierende System diese mit systemspezifischen Opportunismus verwendet. So verwenden viele Arbeitsorganisationen Bildungszertifikate als Beförderungsschwellen. Der Leistungsvergleich wird hier nicht zur Optimierung der Rekrutierungsrationalität eingesetzt; stattdessen dient er dazu, die im Laufe der Karriere grösser werdende Selektivität bei den Beförderungsentscheidungen zu legitimieren. Dieselbe Funktion erfüllt die Technik der Konstruktion artifizieller Inkommensurabilität. In beiden Fällen geht es darum, Personen aufgrund leistungsirrelevanter, aber legitimer Begründungen vom Eignungsvergleich auszuschließen. Im Falle askriptiver Kriterien setzt dies allerdings die Komplizenschaft der Ausgeschlossenen voraus, und diese Tendenz scheint zumindest für die Kategorie Gender" im Abnehmen begriffen zu sein.
Führt man sich die Vielzahl der Abweichungen vom meritokratischen Statuszuweisungsmodell vor Augen, dann wird man mit Georg Simmel (1992) oder Randall Collins (1979) auch die Annahme der Knappheit des Talents in Frage stellen müssen. Bedenkt man die unsinnigen und unkontrollierbaren Zufälle, durch die die Menschen auf allen Gebieten in ihre Positionen gelangen, so wäre es ein unbegreifliches Wunder, dass nicht eine sehr viel größere Summe von Unfähigkeit in deren Ausfüllung hervortritt, wenn man nicht annehmen müsste, dass die latenten Qualifikationen für die Stellungen in sehr großer Verbreitung vorhanden sind" (Simmel 1992, S. 281). Obwohl der Statuszuweisungsprozess so eklatant vom Meritokratiemodell abweicht, scheint dies die routinemässige Reproduktion der Funktionssysteme und Arbeitsorganisationen nicht ernsthaft zu gefährden, auch wenn die Litanei der Arbeitgeberverbände anderes vermuten lässt, wenn sie den Kapitalismus an der Unfähigkeit der jeweils aktuellen Berufseinsteigergeneration kollabieren sehen.
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Daniel Speich Chassé hat in dieser Studie die ökonomischen Diskurse untersucht, die sich mit der statistischen Erfassung der globalen Verteilung ökonomischen Wohlstands befasst haben. Der wissenschaftliche Diskurs drehte sich um die Frage, wie sich der wirtschaftliche Wohlstand von Staaten messen und vergleichen lässt. Daniel Speich Chassé zeichnet nach, wie mit dem Konzept des Bruttosozialprodukts ein marginaler Beitrag einiger Wirtschaftsstatistiker, der in weiten Teilen der Disziplin auf großen Widerstand gestossen ist, sich allmählich in ein Objekt verwandelt hat, das ökonomische, politische und öffentliche Diskurse strukturiert, weil es von sehr heterogenen Akteuren in sehr unterschiedlichen Situationen verwendet werden kann.
Ein Beispiel veranschaulicht diesen Effekt besonders gut: Die Universitäten werden in den angelsächsischen Rankings auch nach ihren Yieldraten beurteilt. Dabei handelt es sich um den Anteil der Studienplatzbewerber, die im Fall einer Zusage seitens der Universität den Studienplatz auch annehmen. Das führt dazu, dass die Universitäten, die mittlere Plätze in den Rankings einnehmen, den besten Bewerbern oft absagen, da hier das Risiko groß ist, dass diese auch Studienplätze von besser gerankten Universitäten erhalten haben und damit das Risiko steigt, dass die Universität eine Absage erhält (Espeland/Sauder 2007). Das heisst man lehnt die besten Kandidaten ab, weil sie einem potentiell die Platzierung in den Rankings verderben könnten.
Dieser Effekt von Quantifizierung wird in der Literatur sehr ausführlich untersucht (Hacking 1982, Espeland/Stevens 1998). Nach Bettina Heintz bildet die Kommunikation von Zahlen ein eigenes Kommunikationsmedium neben Oralität oder Schriftlichkeit (Heintz 2011). Die Besonderheit der numerischen Kommunikation liege zum einen in ihrer Disembeddedness und ihrer Selbstexplikativität. Numerische Kommunikation liefere aber nicht nur eine Lösung des Verstehensproblems, sondern erhöhe als technology of persuasion" zum anderen auch die Annahmewahrscheinlichkeit der Kommunikation. Eine 1 in Mathematik ist eine 1 und keine 2, und das ist in Baden-Württemberg ebenso wie in Nordrhein Westphalen.
Für eine Theorie, die die Funktion des Erziehungssystems vor allem im Bereich der Selektion und Zertifizierung sieht, siehe Meyer 1977. Allerdings setzt auch Meyer die schulische Selektion nicht mit einer rationalen Leistungsevaluation gleich, er beschreibt diese Praxis eher als rituelle Weihe im Namen des religioiden Rationalismus der Weltkultur.
Neben dem Bezugsproblem der Rekrutierungsrationalität müssen hier beispielsweise die Bezugsprobleme der Motivation und Legitimation Betracht gezogen werden werden.
Die Kombination des Konzepts des sozialen Vergleichs mit dem Konzept der Entkopplung findet sich bereits bei Espeland und Sauder 2009. Hier allerdings gerade unter umgekehrten Vorzeichen. Die Autoren wundern sich, weshalb es nicht gelingt die universitären Entscheidungsprozesse von den öffentlichen Vergleichsdiskursen der Universitätsrankings zu entkoppeln, obwohl doch die meisten Rektoren der von ihnen untersuchten Law Schools die Universitätsrankings für nicht valide halten. André Kieserling hat in einem unpublizierten Vorlesungsmanuskript Gerechtigkeitsschäden und Funktionen sozialer Ungerechtigkeit" vorgeschlagen, die Ungleichheitssoziologie mit einem generalisierten Entkopplungskonzept neu zu lesen. Danach gibt es keine Erwartungsstruktur, die sich in allen Situationen für die Reproduktion eines Systems als funktional erweist. Alle Systeme müssen deshalb in der Lage sein, Erwartungsstrukturen situativ außer Kraft zu setzen. Das gelte dann aber auch für die Erwartungsstruktur der Leistungsgerechtigkeit (Kieserling 2014).
Dies lässt sich gut an der Kontroverse zur Reproduktion schulischer Ungleichheit zwischen Pierre Bourdieu und John Goldthorpe demonstrieren. Im Grunde stehen sich hier zwei Erklärungsmodelle zur Reproduktion sozialer Ungleichheit gegenüber. Die eine Seite erklärt die Reproduktion von Bildungsungleichheit von einer Generation zur nächsten durch einen Schichtbias bei der Fremdselektion durch die Schule (Bourdieu und Passeron 1971, DiMaggio 1982, Bourdieu 2004, Vester 2005, Gomolla-Radtke 2007) und die andere Seite erklärt dasselbe Phänomen durch den Einfluss der Einkommensverteilung auf die Selbstselektion für unterschiedliche Ausbildungswege (Goldthorpe und Breen 2000, Goldthorpe 2007, Becker 2009).
Vergleiche in der Sozialdimension erreichen höchstens eine klasseninterne Kohärenz, Vergleiche in der Zeitdimension lassen nur relative Verbesserung der Leistungen bestimmter Individuen erkennen. Die Vergleiche in der Zeit- und Sozialdimension liefern deshalb keine Grundlage, aufgrund derer sich beispielweise alle Inhaber eines bestimmten Bildungszertifikats miteinander vergleichen ließen. Dies wäre nur dann möglich, wenn sich der Leistungsvergleich auf das Erreichen klar definierter Lernziele bezieht.
Bei guten Schülern wird die schlechte Prüfung der Situation zugerechnet, fallen die davorliegenden Leistungen des Prüflings schlecht aus, bestätigt die Prüfung die Ergebnisse der schon absolvierten Leistungsvergleiche (Luhmann und Schorr 1988, S. 292). Sobald sich dieser Selektionsbias durch die Studierenden antizipieren lässt, muss man damit rechnen, dass einige Studierende mit konstant guten Noten zu pokern beginnen und schlecht vorbereitet in die Prüfungen gehen.
Nach Luhmann und Schorr liefert die empirische Forschung folgendes Ergebnis: Zwar liegen die Mittelwerte der Leistungstests an den Gymnasien, den Realschulen und Hauptschulen deutlich auseinander, aber es finden sich auch große Überschneidungen, da die besten Hauptschüler die schlechtesten Gymnasiasten übertreffen (ebd., S. 312).
John Meyer geht im Gegenteil von einem gesellschaftsweiten religioiden Glauben an die rationale Weihe durch die Schule aus. Da die Schulen aufgrund des Technologiedefizits im Erziehungssystem gar nicht in der Lage sind, erwartbar Lerneffekte bei den Schülern auszulösen, beschränkten sich diese auf den Akt der feierlichen Zertifizierung. Dass den hierarchisch gegliederten Schulzertifikaten zumindest teilweise echte Unterschiede in den erworbenen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechen, führt Meyer auf den Effekt des Noblesse oblige" zurück. Die Geweihten arbeiten danach daran, der Weihe gerecht zu werden (Meyer 1977).
Diese Annahme führt zu einigen ironischen Konsequenzen. Wenn sich die schulischen Ausbildungen nur noch in ihrer Länge unterscheiden und die Länge der Ausbildung eine lineare Korrelation mit der Produktivität der Auszubildenden aufweist, dann müsste sich die längere Ausbildung eines Arbeitnehmers immer durch die kürzere Ausbildung mehrere anderer Arbeitnehmer substituieren lassen. Man kann dann ausrechnen, wie viele Klempner einen Chirurgen ersetzen können (Kamaras 2003, S. 58).
Die Ranghierarchie der Arbeitsorganisation muss im Einkommen abgebildet werden, um Karrieremotive zu erzeugen. Nach Rosabeth Moss Kanter wird allerdings die klassische Entlohnungstechnik, in der die Einkommen an die Position gebunden sind, gerade unter den Wirtschaftsunternehmen immer häufiger durch leistungsabhängige Zahlungen wie Managerboni oder Mitarbeiterbeteiligungen ergänzt. Auch wenn diese Entlohnungspraktiken sich immer weiter verbreiten, so entsprechen sie doch kaum dem Meritokratiemodell. So profitieren nicht alle Gruppen von leistungsabhängigen Zahlungen, sondern meistens nur das Management. Firmen, die die gesamte Belegschaft an Gewinnen beteiligen, können wiederum individuelle Leistungsunterscheide nicht abbilden (Moss Kanter 1987). Allerdings wurden in den letzten Jahrzehnten so viele verschiedene Entlohnungstechniken entwickelt, so dass eine globale Evaluation dieser Techniken nicht mehr möglich ist. Ein Punkt scheint aber noch erwähnenswert: Diese Entlohnungstechniken sollen vor allem zwei Probleme lösen, Leistungsmotivation und Verteilungsgerechtigkeit. Dabei wird aber übersehen, dass das positionsgebundene Entlohnungssystem auch für die Übernahme von formaler Verantwortlichkeit entschädigt. Wenn aber beispielweise durch Bonuszahlungen sich das Gehalt auch ohne Stellenwechsel deutlich vergrössern lässt, dann entfällt dieser Anreiz. Allerdings fragt sich, wie wichtig dieser Punkt gerade für das höhere Management noch ist, wenn diesen Angestellten beispielsweise durch goldene Fallschirme die Entlassung versüsst wird.
Die Vorzüge der Signalingtheorie liegen darin, dass sie auf die erziehungssoziologisch höchst fragliche Annahme verzichten kann, dass die Schule die Produktivität der Absolventen erhöht, wofür die Schule antizipieren können müsste, welche Fähigkeiten und Kenntnisse die Arbeitsorganisationen benötigen. Die Schwäche der Signalingtheorie liegt darin, dass sie auf die Rationalität der Selektionstechnologie der Schulen vertraut, obwohl die erziehungswissenschaftliche Literatur eher Belege für das Gegenteil liefert (Kalthoff 1997, S.127ff.).
So gilt heute Randall Collins These vom zwangsläufigen Kollaps des Erziehungssystems durch Bildungsinflation als empirisch widerlegt. Es lässt sich allenfalls eine leichte Tendenz zum Bedeutungsverlust von Bildungszertifikaten feststellen (Goldthorpe und Breen 2001)
Dieser Befund passt schlecht zur Signalingtheorie, weil diese davon ausgeht, dass die Arbeitsorganisation in den Jahren nach der Ersteinstellung über genug eigene Erfahrungen mit dem Mitglied verfügt, dass sie das Bildungszertifikat nicht mehr als Leitungssignal benötigt.
Gerade an den Universitäten, an denen die Rekrutierungsentscheidungen auf der Ebene der Professuren von besonderer organisationaler Tragweite sind und für die elaborierte Berufungsverfahren entwickelt wurden, herrscht auch ein extremer Grad der Politisierung dieser Entscheidungen (Kühl 2007).
Die Literatur weist allerdings zugunsten des Assessment-Centers daraufhin, dass die Prognosevalidität auch dann nicht abnimmt, wenn es nur von Psychologen und nicht von Personalmanagern durchgeführt wird.
Luhmann hat in einer seiner wenigen empirischen Studien gezeigt, dass deshalb die Tendenz zur Selbstattribution von Beförderungen gegen Ende der Karriere deutlich abnimmt (Luhmann 1973, S. 348)
Tilly bezeichnet diesen Prozess als Adaption" (1998, S. 97ff.). Wie Bourdieu geht er davon aus, dass die Akzeptanz der eigenen Inferiorität dem Selbstschutz dient. Bourdieu denkt hier vor allem an den Mechanismus der sauren Trauben" (Bourdieu 1987, S. 602).
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Report "Die Grenzen des Leistungsprinzips: Leistungsvergleiche im Statuszuweisungsprozess 1 Einleitung "