Philosophische Fakultät Lehrstuhl für Politikwissenschaft Lehrstuhlinhaber: Prof. Dr. Winand Gellner
Die Europäische Union in der Governance-Krise – Der faktische Fall des europäischen Grenzregimes
Helen Deffner Innstraße 13 94032 Passau
[email protected] Matrikelnummer: 65094 BA Governance and Public Policy – Staatswissenschaften Fachsemester: 06 Proseminar 41744: Totalitäre, autoritäre und demokratische Herrschaft. Theorie und Fallbeispiele Dozierender: Dr. Michael Weigl Modulzuordnung: Global Governance - PS Auswärtige Beziehungen und staatenübergreifende Organisationen Prüfungsnummer: 323301 Abgabetermin: 15.02.2016 Helen Deffner 1
Die Europäische Union in der Governance-Krise – Der faktische Fall des europäischen Grenzregimes
1. 2.
3.
4.
Einleitung .................................................................................................................. 1 Governance – eine Einführung ................................................................................. 3 2.1 Governance in der EU ......................................................................................... 4 2.2 Indikatoren des verwendeten Governance-Ansatzes ......................................... 5 Empirie ...................................................................................................................... 7 3.1 Steuerung und Koordination ............................................................................... 7 3.2 Netzwerke, Koalitionen, Vertragsbeziehungen und Wettbewerb ................... 12 3.3 Institutionalisierte Regelsysteme ..................................................................... 15 3.4 Grenzüberschreitung von Staat und Gesellschaft sowie Kompetenzverlagerung ..................................................................................... 18 Fazit ......................................................................................................................... 19
Literatur ............................................................................................................................... 22 Erklärung der wissenschaftlichen Redlichkeit ..................................................................... 26
1. Einleitung Der Sommer 2015 war für den europäischen Kontinent und im Besonderen die Europäische Union zweifelsohne ereignisreich. Das Thema, das die Medienlandschaft und Gesellschaft konstant beschäftigte, war die meist als „Flüchtlingskrise“1 bezeichnete Situation hunderttausender Menschen, die sich – auf der Flucht vor Bürgerkrieg und der Suche nach einem besseren Leben – auf den Weg nach Europa machten. Googelt man den Begriff, definiert Wikipedia als erste Quelle wie folgt: „Als Flüchtlingskrise in Europa 2015 bezeichnet man summarisch die krisenhaften Zustände, ausgelöst durch Ein- oder Durchreise Hunderttausender Flüchtlinge und Migranten in oder durch viele Staaten Europas.“
1
Der Begriff „Flüchtlingskrise“ hat sich in der deutschen Politik- und Medienlandschaft sowie der deutschen Gesellschaft im Jahr 2015 etabliert, um die krisenähnlichen Zustände zu unterstreichen, die durch die Ankunft von hunderttausenden Migranten in Europa und v.a. in Deutschland eingetreten sind. Die vorliegende Arbeit und weitere in diesem Sammelband veröffentliche Texte werden die Begrifflichkeit nutzen, da sie die am weitesten verbreitete darstellt. Klar soll dabei aber bereits zu Beginn statuiert sein, dass nicht die ankommenden Menschen die Krisenzustände verursacht oder dafür verantwortlich sind, sondern lediglich die organisatorischen und politischen Zustände damit beschrieben werden sollen. Aus diesem Grund wird der Begriff im Folgenden stets in Anführungszeichen gesetzt erscheinen, um zu unterstreichen, dass er lediglich konstruiert ist. 2
Asylpolitik, Integration von Migranten2 und Grenzregime waren lange Zeit Kernbereiche der Souveränität von Nationalstaaten. Die zunehmende politische Integration der EUMitgliedstaaten führte jedoch nicht nur zu einer Einführung gemeinsamer Außengrenzen, die mithilfe des Schengen-Abkommens für Freizügigkeit innerhalb der Union sorgen (die Nationalstaaten gaben dafür ihre Souveränität ab), sondern auch zu einem europaweiten Asylsystem, das mit dem Dublin-Abkommen Verflechtungen der lokalen, nationalen und supranationalen Ebene darstellt. Spannungen zwischen europäischer Integration und nationalstaatlichem Souveränitätsbedürfnis treten immer wieder auf. Ebendiese Crux zeigte sich 2015 nur zu deutlich, als Folge wurde vor allem Kritik an der Europäischen Union vielerorts laut. Ihr wurde allem voran mangelnde Handlungsfähigkeit vorgeworfen: „Das Problem ist, dass Brüssel völlig die Kontrolle verloren hat. Die EU kann weder die Außengrenzen schützen noch die Migrationsströme in Europa steuern. Gleichzeitig will sie aber die inneren Grenzen offenhalten.“ (Bonse 2015) Der Forderung Brüssels nach mehr Solidarität wiedersetzten sich die meisten Mitgliedstaaten und kritisierten, dass die Europäische Union nicht in der Lage sei, Verantwortung zu bündeln. (vgl. Euronews 2015) Besonders die Tatsache, dass sich die europäischen souveränen Staaten über das Jahr 2015 hinweg zunehmend voneinander distanzierten, dass sie sich gegenseitig kritisierten und verantwortlich machten für die Problemlage, führte dazu, dass besonders der Sommer häufig als „Krise der Europäischen Union“ betitelt wurde. Denn die EU ist nach Meinung weiter Teile von Gesellschaft und Politik als Mediatorin gescheitert. In den Augen der Öffentlichkeit scheint es erwiesen zu sein, dass gemeinsame Beschlüsse faktisch ignoriert wurden. Doch nicht erst seit dem Jahr 2015 gab es zwischenstaatliches und innereuropäisches Konfliktpotential, krisenähnliche Situationen sind jedoch nicht in gleichem Ausmaß eskaliert. Fraglich ist daher, was genau eine Governance-Krise ausmacht und welche Governance-Prinzipien 2015 nicht „funktionierten“. Die vorliegende Studie soll daher mit Hilfe von Indikatoren für Governance analysieren, inwieweit diese auf die „Flüchtlingskrise“ bezogen wirkten. Kernmerkmale von Governance sollen dafür definiert und unter ihnen subsumiert werden, was im Jahr 2015 vorfiel und inwieweit sich bei einer geschwächten Funktionsfähigkeit von einer Krise der EU sprechen lässt. Relevant ist dies zweifelsohne als Analysemittel für die jahrelange politische Integration der Union und ihrer Handlungsfähigkeit als Governance-Institution. Im Zentrum 2
Im Folgenden werden die Begriffe „Flüchtling“, „Migrant“ und „Geflüchteter“ synonym verwendet. 3
der Fragestellung steht also vor allem das Spannungsfeld zwischen europäischer Solidarität und nationaler Souveränität. Das Thema „Flüchtlingskrise“ stand das gesamte Jahr 2015 stark im Fokus der Politik, Medien und Zivilgesellschaft, und ist somit auch wissenschaftlich hochrelevant, da bisher wenig
Forschung
betrieben
wurde.
Es
liegen
lediglich
Berichte
von
Menschenrechtsorganisationen, NGOs und internationalen Institutionen vor.3 Hieraus folgt auch die Tatsache, dass insgesamt wenig Literatur für die empirische Analyse diese Arbeit zur Verfügung steht. Für den theoretischen Teil, die Definition von Governance, ist durchaus reichlich Literatur vorhanden: Vor allem die Arbeiten von Arthur Benz und Julia von Blumenthal werden hier verwendet, da beide zu den wohl wichtigsten GovernanceWissenschaftlern gehören. Diese Arbeit soll dazu dienen, die Krise von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus zu analysieren und für die kommenden Monate konstruktiv zu sein. Auch jenseits des Fallbeispiels ist die Relevanz der Arbeit zweifelsohne gegeben: Krisen beeinflussen die Arbeit der Europäischen Union immer wieder, zuletzt in den Jahren 2008 und 2009 mit der Wirtschafts- und Finanzkrise. Interessant für die Forschung ist deshalb, die Arbeitsweise der Union in solchen Krisenzeiten zu untersuchen und somit für künftige Ereignisse vorausschauend agieren zu können. 2. Governance – Eine Einführung Sozialwissenschaftliche Konzepte haben „immer ein doppeltes Verhältnis zur Realität“ (Benz et.al. 2007: 9): Sie stehen einerseits für eine Herangehensweise an die Wirklichkeit, mit der diese interpretiert, verstanden und erklärt werden soll; andererseits sind sie gleichzeitig „Teil der Wirklichkeit“ (ebd.), da sie das Handeln von Menschen, Gruppen und Organisationen beeinflussen können. Das Konzept der Governance ist besonders letzterem zuzuschreiben: Zwar ist es kein völlig neues Phänomen, doch das (seit 15 Jahren häufig verwendete) Konzept verändert zunehmend die Wahrnehmung handelnder Akteure. Dennoch hat man sich bis heute wissenschaftlich weder auf eine präzise Definition noch eine einheitliche Verwendung des Begriffs geeinigt – Governance ist ein anerkannt uneindeutiger Begriff. Bekannt ist aber weithin die Tatsache, dass auch andere Begriffe der Politikwissenschaft, wie beispielsweise „Staat“ und „Gesellschaft“, grundlegend unterschiedliche Begriffsverständnisse aufweisen. Dies liegt Arthur Benz zufolge „nicht an 3
Vgl. hierzu u.a.: Human Rights Watch: Europe´s Refugee Crisis; International Migration Organisation: Migration Crisis Response Situation Report. 4
Ungenauigkeit der Wissenschaft, sondern in der Vielschichtigkeit der Gegenstände“ (Benz/Dose 2010: 13): Sie alle besitzen einen hohen Grad an Komplexität und lassen sich nicht unmittelbar erkennen – nur durch die Beobachtung einzelner Merkmale können sie definiert werden. Die vorliegende Arbeit wird deshalb exakt dies versuchen: Indikatoren für Governance sollen erstellt werden, um festzustellen, ob sich anhand einer NichtFunktion dieser Merkmale feststellen lässt, dass sich die Europäische Union in einer Krise befindet. Dies soll am Fallbeispiel der sogenannten „Flüchtlingskrise“ und dem daraus folgenden faktischen Fall des europäischen Grenzregimes erläutert werden. 2.1. Governance in der EU Die Europäische Union funktioniert als „komplexes, dynamisches Gleichgewicht“ (Benz 2010: 29 f.) aus dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission, sowie einer (auch durch die Institutionen hervorgebrachten) starken Verflechtung der europäischen und nationalstaatlichen Ebene. Entscheidungen können daher nur „im Zusammenwirken dieser Institutionen und unter Beteiligung von nationalen Regierungen und Verwaltungen sowie Interessensgruppen getroffen werden“ (ebd.). Diese Tatsache lässt sich mit dem Begriff der „Governance“ gut umschreiben. Dieser steht, kurz gesagt, für das Zusammenspiel staatlicher und nichtstaatlicher Akteure auf staatlicher und interstaatlicher Ebene. Die Definition des Europalexikons (Hüttmann/Wehling 2013: 3) lautet: „Der Begriff G. [lat.: gubernare = steuern] wird seit den 1990er-Jahren in der EU-Forschung genutzt, um neue, nicht hierarchische Formen der politischen Steuerung und des »Regierens in Netzwerken« (network governance) zu beschreiben. Er steht (…) für eine auf Koordination und Verflechtung der politischen Entscheidungsebenen (EU, Mitgliedstaaten, Regionen, Kommunen) angelegte Form der Steuerung im EU-Mehrebenensystem.“ Und
in
der
Tat:
Die
EU-Prozesse
der
politischen
Meinungsbildung
und
Entscheidungsfindung werden von einer Vielzahl von Akteuren vorangetrieben. Laut Jachtenfuchs und Kohler-Koch bietet sich die Governance-Perspektive hier an, „wenn man die EU in erster Linie als ein Unternehmen der gemeinsamen Problemlösung sieht (…).“ (2010: 69 f.) Auch Interessen- und Lobbygruppen spielen in allen EU-Institutionen wichtige Rollen: Sie bringen sich in Entscheidungsprozesse ein und haben vor allem in der Öffentlichkeit meinungsbildende Funktionen. 5
Wissenschaftliche Definitionsansätze für Governance gibt es reichlich. Arthur Benz, der in zahlreichen Schriften der Governance-Forschung erwähnt wird und als einer der führenden Wissenschaftler des Themenbereichs gilt, definiert Governance als „institutionelle Regelungsmechanismen“ (bei ihm sind diese Staat, Markt, Netzwerk und Gemeinschaft), innerhalb derer „Elemente von Hierarchie, Wettbewerb und Verhandlungssystemen“ zum Einsatz kommen. (2004b: 20) Guy Peters und Jon Pierre erläutern dagegen, dass Governance als Struktur Hierarchien, Märkte, Netzwerke und Gemeinschaften umfasst. (vgl. 2000: 17-23) Stefan Lange und Uwe Schimank unterschieden wiederum abstrakt formulierte Governance-Mechanismen und Governance-Regime, die als Kombination verschiedener Governance-Mechanismen in einem konkreten sozialen Kontext gedacht werden. (vgl. 2004:20) All dies macht deutlich, dass erhebliche konzeptionelle Unterschiede bestehen, die einerseits mit der gewählten theoretischen Fundierung zusammenhängen und sich deshalb häufig von der Grundidee nicht zu sehr unterschieden, andererseits aber von dem gewählten Abstraktionsgrad determiniert werden. Der zentrale Unterschied zu dem früher geläufigeren Begriff des Governments (der den Bereich des formalen Entscheidens innerhalb einer Verfassungsinstitution beschreibt) liegt laut Blumenthal auf der „Ausgestaltung des Prozesses“ und nicht im Ergebnis von ebendiesem. (vgl. von Blumenthal 2005: 1151) Institutionen, Prozesse und Ergebnisse politischen Handels stehen jedoch auch bei Governance im Mittelpunkt – es geht letztlich also lediglich um den Wechsel der Perspektive und nicht den des Forschungsgegenstandes. Konkreter:
Die
Europäische
Union
weist
in
ihren
Gesetzgebungs-
und
Politikgestaltungsprozessen mehrere Indikatoren dafür auf, dass Governance als Beschreibungsrahmen geeignet zu sein scheint. 2.2. Indikatoren des verwendeten Governance-Ansatzes Für eine Feststellung der Kernmerkmale des Governance-Konzeptes soll im Folgenden der Fokus auf den beiden renommierten Governance-Wissenschaftlern Julia von Blumenthal und Arthur Benz liegen. Laut von Blumenthal lässt sich als Kernelement der Governance der „Wandel staatlicher Steuerung in Richtung auf kooperative Formen unter Einbeziehung privater Akteure“ nennen (von Blumenthal 2005: 1149). Ihr zufolge erfolgen Entscheidungen der EU also nicht in einem top-down-Prozess, sondern durch Kooperation
6
aller Akteure. Benz legt sich auf die folgenden vier Kernmerkmale fest, die für diese Studie als Grundlage der verwendeten Governance-Indikatoren verwendet werden: a. „Steuern und Koordinieren (oder auch Regieren) mit dem Ziel des Managements von Interdependenzen zwischen (i.d.R. kollektiven) Akteuren“. (Benz 2010: 25 f.) Die Europäische Union, besonders in Form der Kommission, kann also durch topdown-Koordination der Mitgliedstaaten, beispielsweise in Form von Gipfeltreffen, Kooperationen verbessern. Gleichzeitig können aber auch Bedingungen erzeugt werden, die die Akteure mit widersprüchlichen Anforderungen konfrontieren. Koordination muss zudem nicht durch bewusste und explizite Vorgänge wie Verhandeln bestimmt sein, sondern kann schon dadurch erreicht werden, dass Akteure bei der Wahl des eigenen Handelns das wahrgenommene und antizipierte Handeln anderer berücksichtigen. Governance beruht daher im Kern auf Interaktion, und Mechanismen wirken im Prinzip wechselseitig. (vgl. Benz/ Dose: 252 f.) b. „Netzwerke, Koalitionen, Vertragsbeziehungen und die wechselseitige Anpassung an Wettbewerb“, also Interaktionsmuster und Modi kollektiven Handelns. (Benz 2010: 25 f.) Die Effizienz und Effektivität dieses Handelns kann durch neue Steuerungsformen noch gesteigert werden, wodurch staatliche Handlungsfähigkeit (zurück)gewonnen werden kann (vgl. von Blumenthal 2005: 1163); diese These wird auch als „normativer Governance-Ansatz“ bezeichnet. Fraglich ist außerdem, „welche sozialen Mechanismen Handlungen so kausal verknüpfen, dass gemeinsames Handeln erreicht wird.“, (Hedström/Swedberg 1998: 18) da Akteure meist unterschiedlichen Handlungsmodellen wie rationalem und kreativem Handeln folgen. c. Institutionalisierte Regelsysteme, die das Handeln der Akteure lenken. Bei Benz sind dies besonders Kompetenz-, Mehrheits- und Verhandlungsregeln. Strukturen können hierbei durch reale Machtverhältnisse oder durch eine Anerkennung und Festlegung als Institution entstehen (vgl. ebd. 2010: 251). Innerhalb des Europäischen Rates und der Kommission, die Institutionen des europäischen Governance-Systems sind und in dieser Studie meist im Fokus stehen, sind solche Regeln jedoch kaum transparent.
7
d. Steuerungs- und Koordinierungsprozesse überschreiten häufig Grenzen von Staat und Gesellschaft, Entscheidungen und Regelungskompetenzen werden zudem von der nationalen auf die regionale und lokale Ebene sowie auf eine Ebene oberhalb des Nationalstaats verlagert. (vgl. von Blumenthal 2005: 1154 f.)4 Relevant für die hier verwendete Governance-Definition und der Indikatoren scheinen zusätzlich noch Benz´ Überlegungen zum sogenannten „policy transfer“: Koordinierung entsteht durch Nacheifern beobachteten Handelns, „kollektives Handeln beruht also auf einer Art Konkurrenzverhältnis.“ (Benz/Dose 2010: 253) Individuelle Motive steuern dieses Handeln und veranlassen Verhaltensabweichungen. 3. Empirie Fraglich ist nach dieser Definition von Governance, was konkret eine Governance-Krise ausmacht. Gemäß der Definition nach Weigl zu Beginn dieses Bandes ist eine Krise gezeichnet durch eine eingeschränkte Gestaltungs- und Problemlösungsfähigkeit in politischen Prozessen. Die oben erstellten Indikatoren beschreiben eben solche Prozesse. Der folgende Teil wird daher jeweils untersuchen, ob diese im Jahr 2015 als eingeschränkt oder „nicht funktional“ beschrieben werden können. Analysiert werden soll anhand eines Abgleichs der Theorie mit dem Fallbeispiel der „Flüchtlingskrise“ 2015, inwieweit die Europäische Union im Umgang mit der Situation handlungsfähig war. Falls hierbei festgestellt werden sollte, dass es durch kritische Zustände nicht gelang und mindestens zwei der vier vorgegebenen Indikatoren, also mehr als die Hälfte, nicht als zutreffend beschrieben werden können, soll dies ein Indiz dafür sein, dass sich die EU in einer solchen Governance-Krise befindet. 3.1. Der
Steuerung und Koordination: erste
Governance-Indikator
ist
die
Steuerung
und
Koordinierung
von
Interdependenzen zwischen kollektiven Akteuren mithilfe von Netzwerken und Verbindungen, besonders in top-down-Prozessen gewisser Akteure und Institutionen. Im Sommer 2015 versuchte die Europäische Kommission mittels Gipfeltreffen von Staatsund Regierungschefs, Innen- und Justizministern sowie Organisationen wie dem UNHCR,
4
In der vorliegenden Studie soll der Fokus dieses Indikators im Besonderen auf der Verlagergung von Kompetenzen liegen. 8
Ärzte Ohne Grenzen und dem Internationalen Roten Kreuz eine europaweite Koordinierung und Kooperation zu konstruieren, um sowohl den Umgang mit Prozedere wie Registrierungsprozessen und Eurodac-Datensammlungen als auch Grenzkontrollen einheitlich zu gestalten. Zudem sollten Unstimmigkeiten zwischen Staaten geschlichtet werden, die sich im Prozess der Flüchtlingsversorgung zu wenig unterstützt sahen. 2015 erreichten über eine Million Migranten und Fliehende die EU. Ein Großteil der Menschen kam über den Seeweg in Griechenland (ca. 840,000) und Italien (ca. 153,000) an, (International Organisation for Migration 2015) hinzu kamen Grenzübertritte über die Grenzen Bulgariens, Spaniens, Maltas und Zyperns. 942,400 aller Angekommenen beantragten Asyl in einem der EU-Mitgliedstaaten, bevorzugte Länder waren allen voran Deutschland und Ungarn. (Eurostat 2015) Zahlreiche Staaten erklärten jedoch, nicht genügend Personal für Asylanträge und Erstaufnahmen bereitstellen zu können; besonders südlich gelegene Mitgliedstaaten verwiesen bereits im Frühjahr auf die Tatsache, dass sie sich auf Grund der konstanten Migranteneinreise nicht in der Lage sähen, all diese genügend registrieren, erkennungsdienstlich untersuchen und versorgen zu können. (vgl. The Guardian 2015) Vielerorts drohte zudem eine humanitäre Katastrophe, die in zahllosen Aufnahmeeinrichtungen und Camps die Lage eskalieren ließ. Geflüchtete wurden in beinahe allen Mitgliedstaaten in provisorischen Camps und Zeltstädten untergebracht, in denen die medizinische und verpflegungstechnische Versorgung internationalen Hilfsorganisationen zufolge unzulänglich sei.5 In ihren Augen waren die Mitgliedstaaten ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden – ebenso wenig wie die EU. (ebd.) Besonders in Staaten an den EU-Außengrenzen wie Griechenland, Bulgarien und Italien konnten Menschen nicht ausreichend versorgt werden und Regierungen erklärten ihre Überforderung mit den Zahlen der ankommenden Menschen und der daraus folgenden Versorgungslage. (Der Standard 2015) Die internationale Presse erläuterte die offensichtliche Handlungsunfähigkeit der Staaten: “As a new crisis develops, the nations of Europe appear overwhelmed, belatedly scrambling to plug the gaping holes in their asylum system and contain what has become a full-blown humanitarian emergency.” (Faiola 2015) Die EU-Institutionen versuchten mithilfe von mehrmaligen Gipfeltreffen die Spannungen zwischen den betroffenen Staaten zu lösen und Umverteilungsprogramme zu erstellen, um 5
Vgl. Amnesty International: Balkans: Refugees and migrants beaten by police, left in legal limbo and failed by EU. 9
diese so zu „entlasten“. Die folgenden drei Gipfel sind wohl die bedeutendsten im Versuch von EU-Seite, die Situation zu entspannen. Am 26. Juni 2015 trafen sich EU-Regierungschefs in Brüssel mit dem Vorhaben, 60.000 Flüchtlinge auf alle 28 Mitgliedstaaten zu verteilen. Trotz heftiger Kritik sprachen sich mehrere osteuropäische und baltische Staaten gegen eine verbindliche Quote aus, die Umverteilung solle stattdessen auf freiwilliger Basis geschehen. Besonders Matteo Renzi, italienischer Ministerpräsident, verurteilte diese Weigerungen und daraus folgenden Beschlüsse scharf: "Wenn ihr nicht mit der Zahl von 40.000 (bereits in Italien und Griechenland eingetroffenen Geflüchteten) einverstanden seid, dann verdient ihr es nicht, Europa genannt zu werden. (…) Wenn das eure Idee von Europa ist, dann könnt ihr es für euch behalten.“ (DIE ZEIT 2015) Auch Angela Merkel bezeichnete die Lage als „eine riesige Aufgabe“, Europa müsse zeigen, ob es ihr gewachsen sei. Grundlegend für die Diskussion seien die je nach Mitgliedstaat „sehr unterschiedlichen Betrachtungsweisen“ (Der Spiegel 2015). Am 14. September kamen die europäischen Innen- und Justizminister zu einem erneuten Sondergipfel zur Geflüchteten-Umverteilung zusammen. Trotz der Entscheidung6, 160.000 Menschen aus besonders „belasteten“ Staaten umzusiedeln, stand zum Abschluss der Tagung nicht fest, welches Land wie viele Menschen aufnehmen würde, und auch die Entscheidung über eine feste Quote (nach Plänen der EU-Kommission) war vertagt worden. Grund für die Unklarheiten waren abermals Meinungsverschiedenheiten zwischen EUStaaten. Vor allem Deutschland kritisierte die ausgebliebene Festlegung stark, da es 2015 proportional besonders viele Geflüchtete aufnahm und die Regierung sich von den meisten anderen EU-Staaten im Stich gelassen fühlte. „Solidarität sieht völlig anders aus“ bezeichnete der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Roger Lewetz, die Entscheidung; „Wir müssen über Druckmittel reden“, schlussfolgerte der deutsche Innenminister Thomas de Maizière. (ZDF-Morgenmagazin 2015) Vor allem jene Länder, die StrukturmittelFörderung der EU erhielten, würden sich vornehmlich weigern, Menschen aufzunehmen; man müsse deshalb darüber nachdenken, weniger Mittel an ebendiese Länder zu
6
Im Europäischen Rat herrscht das Konsens-Entscheidungsprinzip: Entscheidungen gelten als gebilligt, wenn kein Organ-Mitglied Bedenken oder eine Ablehnung äußert; sollte dies der Fall sein, werden die Verhandlungen bis zur Einigkeit fortgeführt. Dies ist im Art. 15 Abs.4 EUV geregelt. 10
vergeben. Auch Sigmar Gabriel zeigte sich enttäuscht von den Ergebnissen und bezeichnete sie als „blamabel“ für Europa. (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2015) Ein weiteres Mal kamen am 25. Oktober Staats- und Regierungschefs von zehn EUMitgliedstaaten sowie von Serbien, Albanien und Mazedonien in Brüssel zu einem Sondergipfel zusammen, um ein koordiniertes Vorgehen in den betroffenen Staaten zu ermöglichen und Sofortmaßnahmen zu beschließen. Von Kommissionspräsident JeanClaude
Juncker
wurde
ein
16-Punkte-Plan
vorgestellt,
der
eine
verbesserte
Zusammenarbeit ermöglichen und eine sich zuspitzende humanitäre Katastrophe verhindern sollte; Nachbarn sollten zusammenarbeiten und nicht gegeneinander. Nachdem zahlreiche Staaten, vor allem auf dem Balkan, die Migranten von einer Binnengrenze zur anderen passieren hatten lassen und teils sogar bis zur nächsten Staatsgrenze geführt oder gebracht hatten, erklärte Junker auf dem Gipfel schon zu Beginn: "Eine Politik des Durchwinkens von Flüchtlingen in ein Nachbarland ist nicht akzeptabel." (Der Spiegel 2015) Reaktionen darauf fielen jedoch kritisch aus, die Länder der Region wiesen sich stattdessen gegenseitig Schuld zu. Kroatiens Regierungschef Zoran Milanovic bestätigte, dass das Land auch weiterhin Fliehende nicht für längere Zeit aufnehmen, sondern wie bisher an Slowenien „weiterreichen“ werde. Serbien, Bulgarien und Rumänien drohten an, dass – falls Deutschland und Österreich ihre Grenzen schließen würden – die Staaten das Gleiche tun würden, und bestanden auf eine Sicherung der EU-Außengrenzen. (vgl. Der Spiegel 2015) Mehrere Teilnehmer warnten vor einem Zerfall der EU, sollte die Problematik nicht gelöst werden. (vgl. DIE ZEIT 2015) Wie im ersten Indikator beschrieben antizipierten Akteure in diesen Verhandlungen offensichtlich das Verhalten weiterer Mitgliedstaaten und entschieden dementsprechend. Die Gipfeltreffen markieren den Versuch der Kommission und des Rates, Vorgehensweisen der Unions-Mitgliedstaaten zu koordinieren und das weitere gemeinsame Vorgehen zu steuern. Anhand der Reaktionen europäischer Politikern in auf die Gipfel folgenden Interviews und Erklärungen lässt sich jedoch eine generelle Ablehnung dieses Versuches feststellen – sie äußerten entweder Resignation oder Aggression. Die Hauptkritik galt zwar den jeweils anderen Mitgliedstaaten und ihrer Unwilligkeit zu Kooperation und vor allem zu härterem Durchgreifen, was besonders Fragen der Durch- und Weiterreise von Migrant*innen betrifft; jedoch auch der Tatsache, dass keine Instanz, auch nicht 11
Kommission und Rat, sich in der Lage sahen, die souveränen Staaten zu eben solch einer härteren Vorgehensweise zu veranlassen oder sogar zu zwingen. Als Antwort auf die extremen Koordinationsschwierigkeiten und die scharfe Kritik entwickelte die Europäische Kommission bereits im Mai 2015 die sogenannte „European Agenda on Migration“ mit dem Ziel eines „comprehensive approach to migration management“. (Europäische Kommission 2015) Zunächst als grundlegende Struktur für die kommenden Monate gedacht, veröffentlichte sie im September als Reaktion auf die Situation ein „set of priority actions“, um die Agenda innerhalb der folgenden sechs Monate zu implementieren und durchzusetzen. In der Erklärung zur Agenda bestätigte die Kommission die weitverbreitete Kritik, dass Staaten nicht zur Genüge zusammenarbeiteten und die Lösungsansätze nicht ausreichend seien: Die Reaktionen auf die Zustände seien „immediate but insufficient.“ Es brauche stattdessen ein Set von Maßnahmen sowie eine klare und konsistente Policy: “We need to restore confidence in our ability to bring together European and national efforts to address migration, to meet our international and ethical obligations and to work together in an effective way, in accordance with the principles of solidarity and shared responsibility.” Mitgliedstaaten seien allein nicht in der Lage, die Situation zu adressieren, daher werde ein neuer, gesamt-europäischer Ansatz benötigt. (alle Zitate Europäische Kommission 2015) Hierzu entwickelte die Kommission einen Zehn-Punkte-Plan für alle Akteure, den sowohl das Europäische Parlament als auch der Rat unterstützen; Mitgliedstaaten hätten sich Mitgliedstaaten zu konkreten Schritten bereiterklärt. (ebd.) Diese als Appell formulierte Forderung lässt sich als Top-Down-Steuerung bezeichnen, mit der die europäischen Institutionen versuchten, eine europaweite Strategie zu implementieren. Auf die Forschungsfrage dieser Studie bezogen lässt sich feststellen, dass außerordentliche Gipfeltreffen und die beschriebenen Forderungen den Versuch von Kommission und Rat markierten, die als „Krise“ beschriebenen Zustände zu verbessern und dagegenzuwirken. Jedoch lässt sich im Nachhinein7 feststellen, dass diese Notfallmaßnahmen nicht vollständig wirkten. Bis zum jetzigen Zeitpunkt sind kaum Verbesserungen durch die Schritte festzustellen: Mitgliedstaaten der Union ringen weiterhin nach einer gemeinsamen Lösung, weigern sich jedoch, sich von supranationalen Vorgaben maßregeln lassen. Der
7
Stand der Arbeit: Januar 2016. 12
Vorsitzender von Carnegie Europe, Jan Techau erklärte: „Die Europäische Kommission hat wichtige Vorschläge zur Lösung des Flüchtlingsproblems gemacht. Aber es fehlt der politische Wille der Mitgliedstaaten, diese auch umzusetzen.“ (Die Welt 2015) Während zahlreiche Mitgliedstaaten die Umverteilungsquoten bisher nicht durchsetzten, klagten Ungarn und die Slowakei sogar gegen diese. (ebd.) Feststellen lässt sich daher, dass Maßnahmen der EU meist nicht implementiert werden konnten und die Lage auch weiterhin zu eskalieren droht. Nur wenige Verbesserungen sind sichtbar und der Indikator der Steuerung und Koordinierung durch top-down-Maßnahmen lässt sich als gescheitert beschreiben. 3.2.
Netzwerke, Koalitionen, Vertragsbeziehungen und Wettbewerb
Mithilfe von Netzwerken, Koalitionen, Vertragsbeziehungen und Wettbewerb sollen im Governance-System Effizienz und Effektivität gesteigert werden – besonders staatliche Handlungsfähigkeit soll zurückgewonnen werden. Die Europäische Union befindet sich in einem Prozess der Harmonisierung des Asylrechts der Mitgliedstaaten – nur Teilbereiche konnten bisher angepasst werden. Beim Sondergipfel von Tampere im Oktober 1999 wurden gemeinsame Leitlinien, unter anderem für Asyl und Einwanderung, entworfen, da die „gesonderten, aber eng miteinander verbundenen Bereiche Asyl und Migration die Entwicklung einer gemeinsamen Politik der EU erforderlich [machen].“ (Europäischer Rat, r1999: 3). Zudem wurde festgestellt, dass Migrationsströme künftig in sämtlichen Phasen effizient gesteuert werden müssten und daher ein umfassender Ansatz zur Steuerung und Regulierung von Migrationsströmen notwendig sei. Verträge, die die „Flüchtlingskrise“ hätten regeln können und sollen, gibt es durchaus. Einerseits bestehen fünf verschiedene Rechtsakte, die den Kern des gemeinsamen europäischen Asylsystems bilden: die Dublin-Verordnung (der sich neben den 28 EU-Staaten auch Norwegen, Island, Liechtenstein und die Schweiz verpflichtet haben), die Asylverfahrens-, Anerkennungs- und Aufnahmebedingungsrichtlinie sowie die Eurodac-Vorschriften über die Abnahme von Fingerabdrücken. Hinzu kommt das Schengen-Abkommen. Für die Zustände im Jahr 2015 sind allem voran die Aussetzungen und NichtDurchführungen mehrerer dieser Vertragsbeziehungen verantwortlich. Besonders die Erstregistrierungen führten zu innereuropäischen Konflikten. Während im Zeitraum vom 13
20. Juli bis 30. November knapp 500.000 Migranten nach Griechenland einreisten, wurden nur circa 121.000 von ihnen gemäß des Eurodac-Systems registriert – aber eine "effective implementation of the Eurodac regulation is essential for the functioning of the Dublin system and EU relocation schemes.”(ebd) Zusätzlich trat zutage, dass das System nicht funktionierte: Deutschland als Binnenstaat erhielt im ersten Quartal 2015 rund 40 Prozent der in der EU registrierten Asylanträge, während Italien als Staat an der EU-Außengrenze nur acht Prozent bekanntgab, obwohl dort auf Grund der geographischen Position weitaus mehr Menschen ihren Asylantrag hätten stellen müssen. (vgl. Eurostat 2015) Die Europäische
Kommission
erließ
Ende
September
40
Beschlüsse
in
Vertragsverletzungsverfahren gegen 19 Mitgliedstaaten der Union auf Grund der nichtausreichenden Anwendung der Verordnungen. (vgl. Juris 2015) Griechenland, Kroatien und Italien wird von der EU-Kommission zudem vorgeworfen, sich nicht an EurodacVorschriften gehalten und Migranten nicht vorschriftsmäßig registriert zu haben. (vgl. BBC 2015) Innerhalb der EU gilt seit Verabschiedung des Dublin-Abkommen 1990 zudem der Grundsatz, dass Migranten in ihrem ersten europäischen Aufenthaltsland ihren Asylantrag stellen müssen. Diese Verordnung markierte den Beginn der gemeinschaftlichen europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik markierte. Staaten, die über EU-Außengrenzen verfügen, konnten ihren damit einhergehenden Pflichten 2015 in weiten Teilen nicht zur Genüge nachkommen: Hunderttausende Menschen betraten EU-Grund, ohne ihren Asylantrag in den südlichen Außenstaaten wie Italien oder Griechenland zu stellen, und reisten stattdessen unregistriert in nördlichere Staaten weiter. Zentrale Staaten wie Mazedonien, Kroatien und Slowenien ließen Fliehende durch ihr Staatsgebiet passieren, Menschen wurden teilweise weder von der Weiterreise abgehalten noch dorthin rücküberführt, wo sie ursprünglich Asyl beantragt hatten. Konfliktpotenzial waren deshalb nicht nur „versäumten“ Registrierungen, sondern vor allem die ebenfalls ausgebliebene, eigentlich vorschriftsgemäße Rückführung in Ersteinreisestaaten. Empirisch ist mindestens feststellbar, dass nicht nur die Verfahrensweisen, sondern vor allem auch die Konsequenzen der Dublin-VO nicht wirkten: Abschiebungen und Rückführungen wurden teils monatelang ausgesetzt und nicht weiterverfolgt. Staaten kritisierten jedoch weniger das System als vielmehr andere Staaten. Victor Orban erklärte, Ungarn könne laut Dublin-VO gar nicht das zuständige Erstaufnahmeland für ankommende 14
Fliehende sein. Die Situation sei „kein europäisches, sondern ein deutsches Problem“. (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2015) Die darauffolgende Reaktion der deutschen Regierung berief sich jedoch darauf, dass Deutschland sich an geltendes EU-Recht halte und dies ebenso von den anderen EU-Mitgliedstaaten erwarte. (vgl. Deutsche Bundesregierung 2015) Die bayerische CSU ließ in ihrer Parteizeitung wiederum verlauten, die österreichische Bundesregierung ignoriere geltendes Recht: „Wien macht es sich eindeutig zu leicht, indem es alle Flüchtlinge nach Deutschland durchreicht.“ (Bayernkurier 2015) Zudem wurde Kritik an der Verordnung selbst laut: Angela Merkel betonte, das DublinAbkommen entspreche nicht mehr den Gegebenheiten. (vgl. ARD-Sommerinterview 2015) Weiter ging die Grünen-Europaabgeordnete Barbara Lochbihler: Dublin sei „vollkommen gescheitert", erklärte sie im Deutschlandfunk, (Deutschlandfunk 2015), auch die VizePräsidentin des Europaparlaments Ulrike Lunacek betonte: „Dublin ist tot – und das ist auch gut so.“; (DIE ZEIT 2015) aus zivilgesellschaftlichen Gruppen wurde ebenfalls heftige Kritik laut.8 Als Reaktion auf ausgesetzte Rückführungen und unzureichende Registrierungen Einreisender reagierten einige Staaten mit intensivierter Grenzsicherung. Innerhalb des Schengen-Raums sind Grenzkontrollen nur in Ausnahmefällen und bis zu maximal sechs Monaten zulässig, stattdessen soll intensivierte grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit geleistet werden (vgl. Wikipedia: Schengen-Abkommen). Da aber eine Einreise ohne Visum nur über EU-Außengrenzenstaaten möglich ist und diese sich nicht in der Lage sahen, die Zahl der Migranten zu registrieren, die im Jahr 2015 allein „irregulär“ einreisten (im Gebiet der Europäischen Union kam es zu rund 1,6 Millionen irregulären Grenzübertritten), (vgl. Bewarder/ Kammholz 2015) rückten Sicherheitsfragen stärker in den Fokus und die Außengrenzen wurden zwangsläufig zu einem Brennpunkt der EUAsylpolitik. Da diese aber durchlässig kontrolliert wurden, äußerten zahlreiche zentraleuropäische Staaten heftige Kritik an den südlichen Mitgliedstaaten und erklärten es für notwendig, ihre eigenen Binnengrenzen (trotz Schengen-Abkommens und des Freizügigkeitsprinzips) zu kontrollieren. So führte Deutschland am 13. September 2015 Grenzkontrollen ein. (vgl. Bundesministerium des Inneren 2015) Kurz darauf kündigten
8
Bspw. Greenpeace Magazin: Das Dublin-System ist gescheitert. 15
auch Österreich, die Slowakei und die Niederlande die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an; weitere Länder kamen später hinzu. Zusätzlich
zu
eigenständigen
Grenzkontrollen
errichteten
mehrere
Staaten
Grenzzaunanlagen – nicht nur an den Außengrenzen, sondern ebenfalls von Mitgliedstaaten
im
Binnenraum
der
EU.
Ungarn
baute
im
September
in
Eigenverantwortung und ohne Koordination mit der EU Grenzzaunanlagen zu Kroatien, Serbien und Slowenien, um so das Einreisen von Migranten besser kontrollieren zu können. (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung 2015) Dies traf europaweit auf scharfe Kritik. (vgl. Kammholz 2015) Diese Vorgehensweisen können keineswegs als kollektives Handeln beschrieben werden. Alle erörterten Vorgänge und Maßnahmen beruhen auf nationalstaatlichen und sicherheitspolitischen (oder zumindest als solche empfundenen) Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten. Wichtig ist bei der Analyse dieses Indikators deshalb die Abwägung zwischen gewonnener nationalstaatlicher oder supranationaler Handlungsfähigkeit. Zweifelsohne lässt sich beispielsweise eine effizientere und effektivere nationale Handlungsfähigkeit Ungarns feststellen, das u.a. durch Grenzkontrollen in der Lage war, die Einreise von Migranten zu kontrollieren und nationale Interessen zu wahren. Eine europäische Uneinigkeit ist aber dennoch unübersehbar, und die Vorgehensweise der europäischen Staaten in der Gesamtheit der Union kann keineswegs als einheitlich beschrieben werden. Koalitionen und Netzwerke wurden ausgesetzt oder zumindest langfristig beschädigt, die Mitgliedstaaten waren offensichtlich mit der Krisensituation überfordert, Menschen wurden nicht ausreichend registriert und versorgt, als „europäisch“ bezeichnete Werte wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit des Einzelnen wurden nicht verfolgt. (vgl. Polke-Majewski 2015) Diese nationalen „Alleingänge“ stärkten somit zwar die Nationalstaaten selbst, keineswegs aber die Staatenunion und ihre Governance. 3.3.
Institutionalisierte Regelsysteme
Der dritte Indikator bezieht sich auf institutionalisierte Systeme in Form von Kompetenz-, Mehrheits- und Verhandlungsregeln innerhalb der EU-Strukturen.
16
Bereits seit einigen Jahren, und besonders seit der Finanzkrise in den Jahren 2008 und 2009, bilden sich innerhalb der EU zunehmend Strukturen heraus, die einige Staaten in eine Vormachtstellung heben. Deutschland mit Bundeskanzlerin Angela Merkel stand stets besonders im Fokus; gipfelnd in der „Flüchtlingskrise“ dieses Sommers wurde europaweit in der Öffentlichkeit das Bild Merkels als eine Kanzlerin ganz Europas gezeichnet. Das Times Magazine kürte sie zur „Woman Of The Year 2015“. Obwohl die Mitgliedstaaten der Union theoretisch souverän und hierarchielos miteinander in Beziehung stehen, steht Deutschland klar im Mittelpunkt, insbesondere als Vorreiterin in Handlungsweisen. Dies lässt sich beispielsweise an der Tatsache erkennen, dass zahlreiche weitere Mitgliedstaaten kurz nach der Wiedereinführung der Grenzkontrollen Deutschlands ebenfalls solche ankündigten. 9 Maßnahmen zur Handhabe der „Flüchtlingskrise“ wurden im Sommer 2015 wie bereits beschrieben vorwiegend auf Gipfeltreffen und Sondergipfeln festgelegt, die zumeist im Rahmen des Europäischen Rates oder der Kommission stattfanden. Tatsächliche Verhandlungsarten innerhalb der Union sind zwar größtenteils intransparent und kaum ersichtlich, da die Sitzungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden und lediglich gemeinsame Schlussfolgerungen veröffentlicht werden; Verhandlungsregeln sind jedoch in der Fachliteratur festgehalten. Beteiligte werden demnach zu Fairnesskriterien gezwungen und Mitgliedern wird abverlangt, „dass sie nach Maßstäben der Gleichheit der Leistungsfähigkeit zur Problemlösung beitragen oder sich an den Kosten beteiligen.“ (Eising 2000:
272)
Staaten,
die
sich
gegenteilig
verhalten,
werden
isoliert.
Bei
Mehrheitsentscheidungen sei diese Isolation jedoch „weder im Hinblick auf die Verwirklichung von Politikziele noch im Hinblick auf die Akzeptanz innerhalb der nationalen Öffentlichkeit attraktiv“. (ebd.) Diese Kriterien wurden während der Gipfeltreffen durchaus eingehalten. Rechtfertigung für die Umverteilungsquoten war die „fairere“ Verteilung Geflüchteter auf alle europäischen Mitgliedstaaten. Zu besonderen Kontroversen führte die Diskussion um die Möglichkeit für Staaten, sich (auf Grund besonderer Umstände wie beispielsweise Naturkatastrophen) „freizukaufen“. Letztlich wurde der Beschluss des
9
Erwähnt werden muss hier jedoch auch die zunehmende Kritik, vor allem auch innerhalb der deutschen Politiklandschaft, an Angela Merkels Kurs in der „Flüchtlingskrise“, vgl. hierzu Tomkiw 2015; Stewart 2015.
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Gipfels gegen die Stimmen Tschechiens, Ungarns, Rumäniens und der Slowakei beschlossen und das Konsensprinzip somit entkräftet. (vgl. Schiltz 2015) Die Verhandlungsregeln der Gleichheit als auch Kostenbeteiligung wurden somit eingehalten. Staaten, die Entscheidungen der Gipfeltreffen nicht trugen und sich weigerten, diese zu implementierten, wurden jedoch nicht isoliert. Als Beispiel für Koalitionsbildungen innerhalb der Union können die Visegrád-Staaten (Slowakei, Polen, Ungarn und Tschechien) herangezogen werden. Alle vier Mitgliedstaaten der Europäischen Union waren in die Verhandlungen zur Umverteilungsregelung von Geflüchteten integriert. Dennoch stellten sie sich geschlossen gegen diese Vorhaben. „Verpflichtende Quoten sind inakzeptabel“, erklärten die vier Staaten am 04. September 2015 in einer gemeinsamen Erklärung, solidarische Hilfe solle nur auf freiwilliger Basis erfolgen. (Heinrich-Böll-Stiftung 2015) Ungarn und die Slowakei reichten im Dezember zudem Klagen beim Europäischen Gerichtshof gegen die beschlossene Flüchtlingsumverteilung ein. Orban erklärte hierzu: „Es genügt nicht, zu protestieren, es muss gehandelt werden.“ (Die ZEIT 2015) Hieran zeigt sich nicht nur, dass sich auch innerhalb der Union Fraktionen bildeten, um geschlossen Ansichten zu vertreten und diese gegen weitere Mitgliedstaaten durchzusetzen, sondern auch, dass gefasste Beschlüsse offensichtlich von mehreren eingebunden Staaten nicht getragen werden. Auch hier lässt sich also feststellen, dass Verhandlungsregeln insofern existieren, als Entscheidungen von EU-Institutionen als Konsens in der Öffentlichkeit präsentiert werden, einzelne Mitgliedstaaten sich jedoch konsequent gegen diese stellen und sie sowohl hinterfragen als auch nicht implementieren. Da die Definition des Indikators nach Benz lediglich aufführt, dass institutionalisierte Regelsysteme in Governance-Strukturen existieren und dies auch in der EU ohne Frage der Fall ist, ist der Indikator nicht eindeutig eingeschränkt. Es kann jedoch aufgezeigt werden, dass innerhalb der Institutionen Meinungsverschiedenheiten
und
Verhandlungsprobleme
offenbart
wurden,
die
Konsensentscheidungen erschwerten und besonders in Krisenzeiten wie dieser gemeinsames Handeln behinderten.
18
3.4.
Grenzüberschreitung zwischen Staat und Gesellschaft sowie Kompetenzverlagerung
Der letzte Indikator für Governance ist qua Definition bereits zweigeteilt in eine Verlagerung von Kompetenzen auf die lokale und die supranationale Ebene. So soll für ersteren Teil der Freistaat Bayern als Exempel herangezogen werden, der auf Grund von extrem hohen Einreisezahlen akut handeln musste und der Situation am stärksten ausgesetzt war. Als deutsches Bundesland verlagerte Bayern im Jahr 2015 eigenständig Kompetenzen auf die lokale Ebene, teils auch ohne Zustimmung der Bundesregierung. Die regierende CSU beugte sich den bundesweiten Vorgaben nicht, sondern führte auf eigene Initiative Rasterfahndung und verschärfte Personenkontrollen direkt hinter der österreichischen Grenze ein. Ihre Reaktion auf Merkels „Wir schaffen das“ war eine Ablehnung der Regierungslinie und stattdessen die Konstruktion einer eigenständigen Politiklinie. (vgl. Bayernkurier 2015) Bayerns Innenminister Joachim Hermann erklärte, die Bundespolizei sei nicht in der Lage, alle Grenzübergänge zu kontrollieren und der Bund habe eine Unterstützung Bayerns abgelehnt, es gebe „kein Verständnis“. Daher sei eine eigenständige Schleierfahndung der einzige Weg, die Lage zu kontrollieren; „Das tun wir, indem wir teilweise sogar wenige Meter hinter der Grenze damit beginnen.“ (Die Welt 2015) Sogar eine mögliche Klage gegen den Bund wurde in Parteikreisen und Landtagssitzungen erwogen: Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio hatte ein Gutachten vorgelegt, dass erklärte, die Eigenstaatlichkeit der Länder dürfe durch das Wirken des Bundes nicht verletzt oder gefährdet werden. Dies sei jedoch der Fall, indem die Bundesregierung sich weigere, die Zuwanderung wirksam zu begrenzen. (vgl. Der Spiegel 2016) Insofern wird der Indikator zwar teils erfüllt, da in der Tat Kompetenzen auf die lokale Ebene verlagert wurden. Allerdings wurden die Kompetenzen von der bayerischen Regierung eigenmächtig übernommen, nicht von der Bundesregierung abgegeben. Betrachtet man diese Vorgehensweise im EU-Kontext, entspricht dies nicht der Idee des Governance-Konzeptes, durch Kompetenzverlagerung ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Die Ziele von Bundes- und Landesregierung waren in diesem Fall klar nicht kongruent. Auch auf supranationaler Ebene wurden Kompetenzen der Nationalstaaten nicht freiwillig auf die EU-Ebene abgegeben. Die Mitgliedstaaten versuchten stattdessen, so lange wie möglich im souveränen Bereich zu agieren. Gipfeltreffen erreichten kaum Beschlüsse, da 19
sich die Staaten weigerten, verbindliche Quoten und Handlungsweisen zu akzeptieren, die von supranationaler Ebene vorgegeben werden sollten. Rechtfertigung war stets, dass eigenständiges
Vorgehen
schnelleres
und
praktikableres
Handeln
ermögliche.
Entscheidungen wurden daher nicht hinausgezögert, bis die Kommission oder andere EUOrgane diese absegnen konnten, sondern aus dem Moment heraus von Staatsregierungen gefällt – beispielhaft kann hier die bereits beschriebene Vorgehensweise Ungarns herangezogen werden. Es lässt sich also feststellen, dass durchaus Kompetenzverlagerungen auf die lokale sowie die überstaatliche Ebene stattfanden – jedoch nicht dem Governance-Konzept entsprechende Verlagerungen, sondern solche, mit denen Nationalstaaten ihre Handlungsfähigkeit wahren wollten, da sie der EU eben dies nicht zutrauten. Dies kann als trickle-down-Effekt bezeichnet werden: Nationalstaaten wandten sich gegen EUEntscheidungen, um praktikabler und im Eigeninteresse handeln zu können; regionale und lokale Entscheidungsträger folgten diesem Beispiel und agierten eigenmächtig. Die Europäische Union verfügte somit auch bei diesem Indikator für Governance nur über eingeschränkte Gestaltungs- und Problemlösungsfähigkeit. 4. Fazit Weltweit gibt es zahlreiche institutionalisierte Kooperationen zwischen Staaten zu diversen Policy-Feldern, meist im Rahmen der Vereinten Nationen geregelt und formalisiert – Klimawandel und internationaler Handel sind nur zwei Beispiele. Relevant für diese Einigungen ist die Übereinkunft, dass „collective action and cooperation are often more efficient in meeting state´s interests than unilateralism and inter-state competition”. (Betts 2011: 453) Offensichtlich ist jedoch gleichzeitig, dass sich für das Feld der internationalen und europäischen Migration „no formal or coherent multilateral institutional framework regulating states´ responses“ finden lässt. (ebd.) Souveräne Staaten sind weitestgehend autonom in ihren Migrations-Policies. Obwohl es bei Flüchtlingskrisen weltweit eingespielte Verfahren gibt und diese 2015 in der Europäischen Union auch angewendet wurden, wirkten sie auf Grund verschiedenster Faktoren nicht. Irena Vojáčková-Sollorano, UN-Koordinatorin in Serbien: „Neu für uns ist, dass die betroffenen Staaten Schwierigkeiten haben, Entscheidungen zu treffen. Die europäischen Länder sind wie paralysiert. (…)
20
Ausgerechnet hier in Europa ist die Situation außer Kontrolle geraten.“ (Süddeutsche Zeitung 2015) Wie in der vorliegenden Studie erläutert, kann das Jahr 2015 zumindest im Politikbereich der Migrationsregime und der Geflüchteten-Versorgung als krisenhaft angesehen werden. Anhand eines Abgleichs der Indikatoren für Governance mit den Vorkommnissen, Verhandlungen und Vorgehensweisen der europäischen Staaten ließ sich feststellen, dass sämtliche Indikatoren von der Realität konterkariert wurden. Eine Policy-Krise besteht, wenn Prozesse der Herstellung allgemein verbindlicher Regelungen und Entscheidungen gestört werden. Dies war im Jahr 2015 zweifelsohne der Fall: Die Europäische Union war stets bemüht, die krisenhaften Zustände mit Gipfeltreffen, Verordnungen, Anweisungen, Verhandlungen und bi- und multilateralen Bündnissen zu stabilisieren und zu verbessern, befand sich aber dennoch in einem stetigen Zustand der Ohnmacht und des Dissenses. Auf EU-Level wurden keine in letzter Konsequenz für alle Staaten vertretbaren Lösungen formuliert, wie sich an der Weigerung zur Implementierung und Durchsetzung der vereinbarten Maßnahmen vieler Staaten zeigt. Die Mitgliedstaaten betrieben letztlich die Politik, die für sie als souveräner Staat am sinnvollsten und handhabbarsten war, verwarfen Governance-Prinzipien, handelten weitestgehend eigenmächtig nach nationalstaatlichen Interessen, teils sogar gegen die Vorgaben der Union, und stellten Werte wie Menschenrechte und das Recht auf Asyl in den Hintergrund. Bis Ende des Jahres waren nur wenige Verbesserungen der Situation zu erkennen. Governance-Prinzipien wie Netzwerke, Koalitionen und geregelte Verhandlungsabläufe der Europäischen Union werden in politisch erfolgreichen Phasen von allen Mitgliedstaaten stets gemeinsam vertreten und meist auch umgesetzt, in Krisenphasen wie dem Jahr 2015 – und mit Sicherheit auch den kommenden Monaten – galten diese jedoch augenscheinlich kaum noch. Trotz einer versuchten Vereinheitlichung der Migrations- und Asylpolitik waren die meisten Mitgliedstaaten darauf fokussiert, möglichst wenige Kompetenzen abzugeben und, falls nötig, in der Lage zu sein, im Alleingang Lösungsansätze durchzusetzen. Gemeinsame Beschlüsse wurden nicht umgesetzt. Nach Pollak ist gemeinsames politisches Handeln ein Ausdruck geteilter Werte. Eben dieses Handeln war jedoch nicht erkennbar und zeigt die Kluft zwischen gemeinsamen Werten und politischer Aktion zwischen den Mitgliedstaaten der EU auf. (Pollak 2007) Gemeinsam wurden vorwiegend solche Gesetzgebungen implementiert, die den europäischen Staaten die Möglichkeit gaben, 21
weiter voneinander ab statt näher zusammenzurücken. Barbara Lochbihler beschrieb die Situation treffend: "Es wird da gemeinsam gehandelt, wo es darum geht, Europa abzuschotten gegen die Flüchtlinge." Die Governance-Idee der Europäischen Union im Sinne des gemeinsamen Handels zwecks einheitlicher Interessen hat sich in ihr Gegenteil verkehrt. Die derzeitige Vorgehensweise der Mitgliedstaaten hat mit den Prinzipien einer gemeinsamen Union - eingehaltene Absprachen, Konsens-Entscheidungen, Netzwerke, Interessenausgleiche, informelle Kooperation - nur noch wenig zu tun. Letztlich zeigt dies das Scheitern der GovernanceWeise der EU. Obwohl das Konsensentscheidungs-Prinzip eine der Grundsäulen der Union ausmacht, wäre eine logische Schlussfolgerung aus der derzeitigen Situation die Neuaufsetzung der Beschlussprozedere. Denn auch im Jahr 2016 steht außer Zweifel, dass fliehende Menschen in Europa Schutz suchen werden, die Zahlen nehmen nicht ab. Abschottung ist hier kein zielführender Weg, wenn man weitere Tote auf dem Mittelmeer, an den Grenzzäunen von Ceuta und Melilla und an der türkisch-griechischen Grenze sowie humanitäre Katastrophen in Camps und an Grenzübergängen vermeiden möchte. „What is necessary is a unified European approach.“, meint Angela Merkel. (The Guardian 2015) Derzeit ist der einzige gemeinsame Ansatz der Mitgliedstaaten eine Hinwendung zu Maßnahmen wie der Marine-Mission NavFor Med, die Schleuser-Netzwerke aufdecken und attackieren soll, um so Menschen davon abzuhalten, europäischen Boden zu erreichen. Aus menschenrechtlicher Sicht wäre es jedoch mehr als wünschenswert, zu den Kernwerten der EU zurückfinden und diese umsetzen. Ob dies realistisch ist, ist jedoch abzuwarten.
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Erklärung der wissenschaftlichen Redlichkeit
Hiermit versichere ich, Helen Deffner, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne Benutzung anderer als der angegebenen Hilfsmittel angefertigt habe. Die aus fremden Quellen wörtlich oder sinngemäß übernommenen Gedanken sind als solche gekennzeichnet. Diese Hausarbeit wurde in gleicher oder ähnlicher Form noch keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegt.
Passau, den 20.01.2016
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Helen Deffner
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