Die Auseinandersetzung mit der Schuld und dem Bösen in der deutschen Kultur der Nachkriegszeit anhand der Werke von Karl Jaspers und Hannah Arendt

June 4, 2017 | Author: V. Vázquez Vidal | Category: Karl Jaspers, Hannah Arendt, Schuldfrage, Das Böse / the Evil, Nachkriegszeit
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Vicente Vázquez Vidal

Traballo de Fin de Grao

Die Auseinandersetzung mit der Schuld und dem Bösen in der deutschen Kultur der Nachkriegszeit anhand der Werke von Karl Jaspers und Hannah Arendt

Departamento de Filoloxía Inglesa e Alemá Facultade de Filoloxía

Santiago de Compostela 2015

Inhalt Zu dieser Arbeit........................................................................................................................ 1 I. Lissabon, 1755. Die Naturkatastrophen, eine Art des Bösen........................................... 3 II. Eine neue Staatsform aus Ideologie und Terror .............................................................. 9 III. Die Schuldfrage in der Nachkriegszeit .......................................................................... 16 IV. Wenn das Schreckliche die Normalität ist..................................................................... 25 V. Epilog: Eine Ethik nach Auschwitz ................................................................................. 34 Bibliographie........................................................................................................................... 38

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Zu dieser Arbeit Die deutsche Nachkriegszeit ab 1945 ist für mich eine der spannendsten Epochen der deutschen Kulturgeschichte. Die Frage der Schuld, der Verantwortung und des Bösen in Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust haben mich immer besonders interessiert. In dieser Bachelorarbeit wird es darum gehen, die Diskussionen und die Meinungen ausgewählter Autoren der Nachkriegzeit über die Themen der Schuld und des Bösen anhand einiger ihrer wichtigsten Werke darzustellen. Merkwürdigerweise hat das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 die mittelalterliche Wahrnehmung des Bösen verändert und damit auch die Beziehung des Menschen zur Göttlichkeit. Immanuel Kant hatte seinerzeit von dem Erdbeben erfahren und eifrig über die natürliche Erklärung des Bebens geforscht. Dass die Katastrophe keine Strafe Gottes gewesen ist, war Kant bereits klar. So hat sich langsam das Konzept von Böse und Schuld aus der mittelalterlichen Sicht verändert. Der Philosoph Theodor W. Adorno hat das Erbeben mit dem Holocaust verglichen, in dem Sinne, dass beide Katastrophen eine radikale Veränderung in der Kultur und der Philosophie Europas verursacht haben. In dem Werk Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951, dt. 1955) wird die Basis für ihre späteren Theorie des Bösen gebildet. Der dritte Teil ‚Totalitarismus’ spielt eine besonders wichtige Rolle für das Verständnis ihrer Ideen in Bezug auf die hier behandelten Probleme der späteren Nachkriegszeit. Die Theorien von Karl Jaspers, der sich auch mit den Problemen der Schuld beschäftigt hat, werden ebenso einen wichtigen Punkt dieser Untersuchung darstellen. Sein Buch „Die Schuldfrage“ wurde im Jahre 1946 veröffentlicht und bestimmte vier Schuldbegriffe (kriminelle, politische, moralische und metaphysische Schuld), die hinsichtlich der Verantwortung der Verbrecher im Nationalsozialismus kategorisiert wurden. Der Briefwechsel von 1926 bis 1969 zwischen Karl Jaspers und Hannah Arendt1 wird die Bedeutungsunterschiede beider Autoren bei der Frage der Schuld und des Bösen ermitteln. Nach der Konfrontation mit dem Eichmannsfall vertieft Hannah Arendt ihre Theorie des Bösen in zwei ihrem bekanntesten Bücher: „Eichmann in Jerusalem: die Banalität des !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 1

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Arendt, H. 1985: Karl Jaspers, Briefwechsel. Piper Verlag GmbH, München/Zürich. 3!

Bösen“ (1963) und den späteren Vorlesungen „Über das Böse“ (2006). Beide Werke bedeuten einen weiteren Schritt in der Auffassung der Konzepte der Schuld und des Bösen. Im besonderen ist das zweite eine Antwort auf die Ideen von Jaspers und noch eine Erklärung ihres sehr bekannten Begriffes der „Banalität des Bösen“, der die Autorin weltbekannt gemacht hat und die Wahrnehmung des Bösen im Kontext von totalitären Zusammenhängen radikal verändert hat.

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I. Lissabon, 1755. Die Naturkatastrophen, eine Art des Bösen. Unter dem Begriff „böse“ findet sich im Wörterbuch folgendes: „a) adj. moralisch schlecht, verwerflich; und b) schlecht, schlimm, übel“2. Als Adjektiv bezeichnet dieses Wort die Eigenschaft eines Substantivs, zum Beispiel „ein böser Mensch“ heißt, dass ein Mensch entweder schlecht, schlimm oder übel ist. Dieses kleingeschriebene Wort ist leicht zu beschreiben: Aus dem Bereich der Moral empfindet jemand, dass irgendeiner die Eigenschaft hat, schlecht oder übel zu sein; oder dass jemand aus der Sicht der Moral etwas Verwerfliches gemacht hat. In unserer jüdisch-christlichen Tradition wird das Gute mit der Göttlichkeit identifiziert. Gott ist von allen Wesen das, was am besten ist. In der Bibel finden sich reichlich Beispiele für die Güte, die Großzügigkeit und die Freundlichkeit Gottes. Dort heißt es zum Beispiel, dass Gott uns alles gegeben habe, was er erschaffen habe. Mit dem Bösen identifiziert ist der Teufel. „Wer Sünde tut, der ist vom Teufel; denn der Teufel sündigt von Anfang an. Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre“3. In der christlichen Tradition hatte Gott auch das Böse vorgesehen, indem er einen Engel schuf, der sich später gegen ihn entschließt und das Böse darstellt. So sei – laut Erzählungen in der Bibel – das Böse entstanden: „Du dachtest in deinem Sinn: Ich will in den Himmel hinaufsteigen und hoch über den Sternen Gottes meinen Thron aufrichten. Ich will über die Höhen der Wolken hinauffahren und will mich dem Höchsten gleichmachen“4. Das absolute Gute und Böse ist also mit den Göttern verbunden. Den Menschen bleibt die Moral: Das sind die Regeln, die jene befolgen sollen, die tugendhaft sein möchten. Die christliche Moral besteht aus den Regeln und Geboten, die einen zu einem guten Menschen machen und einen vom Bösen abfallen lassen. In diesem Sinne gehört die Moral nicht den Göttern sondern den Menschen – unabhängig davon ob die Moral eine Schöpfung des Menschen sei, damit diese die Tugend Gottes erreichen können oder, ob sie von den Göttern geschaffen worden sei, um die Verhältnisse der Menschheit in eine gute Richtung zu lenken.

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Nachgeschlagen bei Duden Online, Bibliographisches Institut GmbH, 2013 http://www.duden.de/rechtschreibung/boese (aufgerufen am 04.03.2015). 3 Zitat aus der Jerusalemer Bibel, 1. Johannes 3, 8. 4 Zitat aus der Jerusalemer Bibel, Jesaja 14, 12-14.

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Die Menschheit hat jahrhundertlang geglaubt, dass die Götter auf sie aufpassen. Aber sie bestrafen die Menschen auch manchmal. Im Alten Testament findet man zahlreiche Beispiele dafür, wie Gott eine Sintflut verursacht oder wie er eine ganze Stadt zu Asche reduziert, um das Böse zu vertreiben und dabei den Menschen zu zeigen, wie allmächtig er ist. Nachdem im Mittelalter wiederholt verheerende Pestepidemien Europa heimsuchten, interpretierte die Kirche diese Katastrophen als göttliche Strafe für die Sünden der Menschen. Als Wiedergutmachung, um die Sünde abzumildern, geißelten sich tausende Christen gruppenweise auf den Straßen der größten Städte Europas, die von der Epidemie betroffen waren. Der Schwarze Tod, die große europäische Pandemie, fand zwischen 1347 bis 1353 ihre Ausbreitung. Daran sind vermutlich 25 Millionen Leute: in der Zeit ein Drittel der Bevölkerung Europas gestorben.5 In Lissabon geschieht im November 1755 etwas Ungewöhnliches: Ein Erdbeben erschüttert die portugiesische Hauptstadt und fordert ca. 100.000 Tote. Ein Großteil der Stadt wird dabei zerstört. Außerdem löste das Erdbeben ein großes Feuer aus, weswegen die Bevölkerung zum Hafen und an die Strände der Stadt fliehen musste. Da sich das Epizentrum unter dem Meer befand, wurden viele Tsunamis ausgelöst. Einige Minuten nachdem die Bevölkerung also an die Strände geflüchtet war, wurde sie von einer riesigen Welle getroffen, was die Tragödie noch vergrößerte. Das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 veränderte die Sicht der Philosophen und der europäischen Denker auf die Beziehung zwischen Gott und dem Bösen. Es wurde dann eine andere Form des Bösen wahrgenommen, die man bis dahin nicht kannte: die Naturkatastrophen. Das Erdbeben von Lissabon bedeutete für Kants Analyse des Bösen eine Kehrtwende. Es geschieht am Feiertag und viele Kirchen und religiöse Gebäude sind zerstört oder umgestürzt. Und das alles in der Hauptstadt eines katholischen Landes. Wie könnte dann das Erdbeben eine Strafe Gottes sein? In Immanuel Kants Schriften über das Erdbeben erscheint zum ersten mal, dass solche Vorfälle natürliche Ursachen haben:

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Zahlen aus der deutschen Version der Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Schwarzer_Tod (aufgerufen am 04.03.2015).

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Es gelte nun, so Kant, die Gesetze der Natur zu erforschen, nach denen Gott das gewohnte Schöne, aber auch das ungewohnte Schreckliche – die „Erschütterung der Länder“, die „Wut des [...] bewegten Meers“, die „feuerspeienden Berge“ – eingerichtet habe, um sich mit dem Schrecklichen „bekannt zu machen“. Man werde dann feststellen, dass es sich um Folgen derselben Naturgesetze handele und dass die Normalität einem nur deswegen „natürlicher“ erscheint, weil man mit ihr „mehr bekannt ist“. Die Katastrophe ist also nur eine Besonderheit, die deswegen so furchterregend ist, weil man sie nicht einordnen und erklären kann. Sie findet aber innerhalb der Natur6 gesetzlichkeit statt und läuft dieser nicht etwa zuwider.

Kant spricht hier von Naturzufällen und nicht von „gottgewollten Schicksalsschlägen“7. Er war der erste, der nach den natürlichen Ursachen des Erdbebens suchte. Es gelingt ihm vieles: Er hatte nicht vom Epizentrum gesprochen und von sich bewegenden tektonischen Platten wusste man in jener Zeit ebenfalls noch nichts. Nichtsdestotrotz ging er davon aus, dass das Beben seine natürliche Erklärung hatte. Er stellte sich eine Explosion im Meeresboden vor, die die Stadt erschütterte und solche riesigen Wellen verursachte. Das Erdbeben erschüttert nicht nur Lissabon sondern auch die aufgeklärten Denker und Philosophen der Zeit. „Die unfassbare Katastrophe hat die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts des Bösen neu gestellt, weil das Leid der Menschen den bisherigen Antworten – allen woran dem Optimalweltgedanken Leibnizens – spottete“8, meint Josef Bordat. Das Erdbeben bricht mit der schönen Tradition der bisherigen Theodizee und ihre Grundsatzfrage muss neu gestellt werden: Ist es wirklich die beste aller möglichen Welten? Kurz nach dem Erdbeben schreibt Voltaire sein Poème sur le désastre de Lisbonne (1756), wo er mehr als eine Kritik einen wütenden Angriff auf den Optimismus macht: „Il n’est rien qu’on connaisse, et rien qu’on ne redoute. La nature est muette, on l’interroge en vain.“9 Voltaire meint, dass nach solch einem Vorfall irrt, wer noch denkt, dass „tout est bien, et tout est nécessaire“10. Außerdem stellt er eine rhetorische Frage: „Quoi! l’univers

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Bordat, J. 2007. „Kant und das Erbeben von Lissabon“ Aurora Magazin < http://sammelpunkt.philo.at:8080/1545/> Seite 11. (aufgerufen am 10.02.2015) [nachfolgend: Bordat (Kant): Seite] 7 Bordat, 2007: S. 12. 8 Bordat, 2007: S. 1. 9 Voltaire. 1756: „Poème sur le désastre de Lisbonne“. Online bei: Wiki- source. San Francisco: Wikimedia Foundation, September 2007. http://fr.wikisource.org/wiki/Poème_sur_le_désastre_de_Lisbonne (aufgerufen am 11.03.15) „Es gibt nichts, was wir kennen, nichts, was wir nicht befürchten. Die Natur ist stumm und wir fragen umsonst.“ Selbstübersetzung. 10 Alles ist gut und alles ist notwendig: Das ist die Hauptidee des Optimismus, wovon Leibniz der größte deutsche Vertreter war. Im Voltaires Gedicht „Poème sur le désastre de Lisbonne“ wird diese Schlussfolgerung parodiert und es findet eine Kritik statt, die sich auf diese Idee des Optimismus bezieht.

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entier, sans ce gouffre infernal, / sans engloutir Lisbonne, eût-il été plus mal?“11 Die Behauptung, dass das Universum ohne das Erdbeben von Lissabon schlimmer gewesen wäre, impliziert die Idee, dass solche von Gott geschickten Vorfällen an die Besserung der Menschheit gerichtet werden. Der Optimismus vertritt die Idee, dass alles was geschieht, selbst die schlimmsten Katastrophen, sich nach dem höchsten Gut richten: „Tout est au mieux“. Trotzdem war Voltaire in diesem Punkt nicht der Meinung: Für ihn heiligt der Zweck die Mittel nicht. Voltaires Werk Poème sur le désastre de Lisbonne (1756) und die spätere satyrische Novelle Candide, ou l’Optimisme (1759) wenden sich offenkundig gegen den Leibniz’schen Optimismus. Im besonderen ist Candide ein Katalog der Gräuel des 18. Jahrhunderts. Bei der Frage nach der Ursachen des Leids wirkt Voltaire pessimistisch, aber seine Theorien gehen mehr auf die Verhinderung durch das Handeln: „Il faut cultiver notre jardin.“12 Paraphrasiert heißt es, dass wir nicht in der Lage sind, das Leiden der Welt zu verhindern. Wir können (sollen!) aber in unserer unmittelbaren Umgebung so handeln, dass wir unser Leben fröhlicher machen. Das ist im letzten Sinne der Kant’sche Kategorische Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“13.

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Voltaire. 1756: „Poème sur le désastre de Lisbonne“. Online bei: Wiki- source. San Francisco: Wikimedia Foundation, September 2007. http://fr.wikisource.org/wiki/Poème_sur_le_désastre_de_Lisbonne (aufgerufen am 11.03.15) Ach was! das gesamte Universum, ohne diese höllischen Grube, / ohne Lissabon zu verschlingen, wäre es schlimmer gewesen? Selbstübersetzung. 12 Wir müssen unseren Garten anbauen. Selbstübersetzung. 13 Kant, I. (1785): Grundlegung der Methaphysik der Sitten. Korpora.org, Universität Duisburg-Essen. Online unter: http://www.korpora.org/Kant/aa04/421.html (aufgerufen am 13.03.15)

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II. Eine neue Staatsform aus Ideologie und Terror Auf der Suche nach den Gründen für den Holocaust stellt Hannah Arendt die Entstehung und die Beschaffenheit der sozialen Umstände dar, die zum Völkermord im Holocaust führten. So ist Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft14 (1951) entstanden. Erstmals vergleicht die Autorin den Nationalsozialismus mit dem Stalinismus. Es handelt sich beim Nationalsozialismus in Deutschland und beim Stalinismus in der Sowjetunion um zwei ähnliche Arten von Totalitarismus, die auf den Prinzipien des europäischen Rassismus und des europäischen Imperialismus basieren. Hannah Arendt schreibt mit der Absicht, die notwendigen politischen Voraussetzungen zu ergründen, die für ein friedliches und verständnisvolles Miteinander zwischen den Menschen notwendig sind, und sie möchte erklären, was schließlich zum Holocaust führte. Dieses Werk ist aber kein Handbuch. Es gibt keine Vorschläge, um ein bessere Zukunft zu errichten. Wie Karl Jaspers in dem Vorwort lobt: Es liegt nicht am Menschen und nicht an einem dunklen Verhängnis, was aus ihm wird [...] weil die Einsicht unsere politische Denkungsart klärt und dadurch erneuert, ist das Buch geschrieben. Es macht keine Vorschläge und gibt keine Programme. Denn es will als solches nur historische Erkenntnis. [...] Daher halte ich dieses Buch für Geschichtsschreibung großen Stils.15

Um die Wurzeln des Totalitarismus zu ergründen, geht Hannah Arendt ins Mittelalter zurück, in die Zeit eines Höhepunkts des Antisemitismus. Für sie ist Antisemitismus mehr als einfacher Hass auf Juden, wie es ihn im Mittelalter gegeben hatte. Wieso sollte etwas so Kleines, Unbedeutendes einen (Zweiten) Weltkrieg auslösen und eine Leichenfabrik wie Auschwitz hervorbringen? Wieso besteht solch ein „Ungleichgewicht zwischen Ursache und Wirkung“? Seit dem Mittelalter waren die Juden ein in ganz Europa zerstreutes Volk ohne eigenen Staat. Dadurch hatten sie keine richtige politische Sicherheit, behauptet Hannah Arendt. Auf der Suche nach Zuflucht und Stabilität versuchten sie in der Nähe der Macht zu bleiben, obwohl es nicht notwendigerweise Sympathie für die Politik der Herrscher gab, die sie aufnahmen. Die europäischen Monarchien hatten sehr häufig defizitäre Staatsfinanzen. Die Juden waren nun die einzigen, die Geld bereitstellen konnten und im Gegenzug Schutz !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 14

Arendt, H. 2014 a. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus und totale Herrschaft. Piper Verlag GmbH, München. 15 Arendt, 2014 a: S. 12.!

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erhielten. Zu diesem Zeitpunkt entsteht das Bild vom Juden als Kreditgeber für die Staaten und als Strippenzieher im Hintergrund, der das Geschick des Staates lenkt. Mit dem Imperialismus und der dadurch begünstigten wirtschaftlichen Erholung sanierten die Staaten ihre Finanzen; obwohl dafür andere Gebiete geplündert werden mussten. Die Zweckgemeinschaft zwischen den Juden und dem Staat zerbricht. Während die Herrscher keine Kredite mehr brauchen, sind die Juden noch immer auf Schutz angewiesen. Sie wurden sich selbst überlassen: Sie verfügen zwar über Geld, doch sie sind schutzlos. Hannah Arendt meint, dass die Vorstellung von einem reichen Juden unerträglich war; und sie war noch unerträglicher, wenn er nicht den Regierenden nahestand. Wirtschaftlich erfolgreich zu sein ohne körperliche Arbeit zu verrichten, war in jener traditionellen und christlichen Gesellschaft schlecht angesehen. Von da an wurden sie als Parasiten betrachtet. Im 19. Jahrhundert entstehen die ersten Parteien, die man als antisemitisch bezeichnen könnte: Es waren sowohl linke als auch rechte Parteien, die den Hass auf Juden aufnahmen und für sich nutzten. Obwohl diese Parteien nie wirklich akzeptiert waren, unterließen sie mit den Jahren ihr antisemitisches Handeln zugunsten von anderen lokaleren Kämpfen. Einige dieser Parteien verschwinden, andere schafften es weiterzuexistieren, bis es ihnen gelingt, ein Teil des totalitären Systems zu werden. Die europäische Gesellschaft zum Ende des 19. Jahrhunderts zeichnet sich durch einen relativen Verlust moralischer Werte aus, die den sozialen Bereich damals dominierten. Lebensweisen und -ansichten, die bis dahin als schlecht gegolten hatten, wurden jetzt akzeptiert. Hannah Arendt meint, dass die Gesellschaft eine Entspannung der Beziehung zum Judentum findet. Generell ist die europäische Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts toleranter. Kurzum, es fand eine Annäherung des Judentums an die europäische Gesellschaft statt. Eine Angelegenheit, der Hannah Arendt viele Seiten widmet, ist der Fall Dreyfuss. Dabei handelt es sich um einen Gerichtsprozess gegen einen jüdischen General in Frankreich zum Ende des 19. Jahrhunderts. Das Ganze hatte seinen Ursprung in einem Justizirrtum. General Dreyfuss wurde fälschlicherweise verurteilt, er hätte durch die angebliche Weitergabe vertraulicher Informationen an die Deutschen Verrat an der französischen Armee began!

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gen. Der Prozess machte die Probleme der damaligen französischen Gesellschaft sichtbar: eine undurchsichtige Justiz, Antisemitismus, Unzufriedenheit der Franzosen mit der Dritten Republik, Korruption, ... Mehr Relevanz erlangt dieser Fall mit der Veröffentlichung von Émile Zolas J’accuse...! (1898). Für Hannah Arendt ist der Fall Dreyfus ein Beispiel für das Europa, das sich auf ein unvergleichliches Verbrechen, auf den Völkermord im Abendland, vorbereitet. Der zweite Teil dieses Werkes behandelt den Imperialismus. Nach Arendts Auffassung beruht diese Regierungsform im Kern auf der Suche nach territorialen Zielen. Dafür war häufig einer Rechtfertigung für den Völkermord im Kolonialismus nötig. So dienen rassistische Theorien dazu, den Völkermord zu rechtfertigen, während es eigentlich wirtschaftliche und territoriale Motive waren. Die Welt teilt sich in eine obere und einen untere Kaste: Die europäische weiße Rasse bildet die obere Kaste und soll folglich die übrigen Rassen in der Welt dominieren. Durch Straffreiheit, die von rassistischen Theorien gestützt wird, werden von den europäischen Kolonialmächten in Übersee Verbrechen begangen: England in Indien oder Frankreich in Nordafrika. Mit dem Triumph der Russischen Revolution im Jahre 1917 beginnen die marxistischen Theorien in Europa an Akzeptanz zu gewinnen. Dadurch entstand eine Konfrontation zweier Ideologien: Der Marxismus behauptet, dass die antreibende Kraft der Geschichte der Klassenkampf ist. Der Imperialismus, der von Grund auf bürgerlich ist, meint Arendt, begreift Geschichte als einen Kampf zwischen den verschiedenen Rassen. So werden Kolonialisierung und Völkermord als Mittel zum Überleben der überlegenen Rasse und zugunsten des Fortschritts gerechtfertigt. Das Bürgertum bedient sich rassistischer Theorien, um die Massaker zu rechtfertigen, die durch sein wirtschaftliches und imperialistisches Handeln verursacht wurden, behauptet Arendt. In Europa nimmt die Rassentheorie eine andere Gestalt an. Während Deutschland sich auf eine pangermanische Bewegung konzentriert, suchen die verschiedenen Nationalismen in der Geschichte nach Beweisen, um ihre lange Existenz und ihre Tradition zu bekräftigen. Die pangermanische Bewegung verleiht dem „germanischen Volk“ einen göttlichen Ursprung, der von einem Repertoire falsch interpretierter oder verfälschter nordischer Mythen

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gestützt wird. Oft wurden die Ideologie16 und die kulturellen Elemente als politische Waffe genutzt, obwohl dahinter keine fundierte Theorie stand, behauptet Hannah Arendt. Mit Hilfe dieser Theorien, die der europäische Imperialismus17 erschaffen hat, werden die Juden zu Feinden der Deutschen erklärt. Antisemitismus war die einzige rassistische Theorie, die in Europa akzeptiert wurde. Im dritten Teil des Buches behauptet Hannah Arendt: Die Themen der antisemitischen Nachkriegspropaganda waren weder originell noch ein Monopol des Nazis. Lügen über eine jüdische Weltverschwörung waren seit der Dreyfus-Affäre gang und gäbe und hatten ihre Grundlage in der wirklich, bestehenden, internationalen Verbundenheit und gegenseitigen Abhängigkeit des über die Erde verstreuten jüdischen Volkes.18

Man könnte eventuell sogar sagen, dass, selbst wenn es keine Juden in Europa gegeben hätte, die Nazis eine andere Rasse als Feindbild gesucht hätten, um ihre Ziele zu erreichen. Hannah Arendt bringt es auf den Punkt: Der Antisemitismus der Nazis stellte eine Ausprägung des rassistischen Imperialismus in Europa dar, „so daß jeder Jude als ein »weißer Neger« und jeder Ausländer als ein »weißer Jude« erscheinen könnte“19. Der dritte Teil von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft beschäftigt sich letztendlich mit der totalen Herrschaft. Das ist ohne Zweifel der bekannteste und bedeutendste Teil des ganzen Buches; es gibt sogar Ausgaben, die nur den dritten Teil enthalten, da er am interessantesten und am besten geeignet ist, den Horror der Nazis zu verstehen. Wie konnte es passieren, dass Hitlers Partei, die eigentlich eine Gruppe unzufriedener gescheiterter Existenzen am Rande der Gesellschaft war, schließlich Europa beherrschen konnte, wie nie jemand zuvor? Hannah Arendt beginnt mit der Behauptung, dass sowohl Hitler als auch Stalin in der Lage waren, ihre Vorstellungen mit der Hilfe der Massen umzusetzen. Der ständige Ausnahmezustand, den die Menschen vor Hitlers Machtergreifung erlebten, war ein idealer Nährboden für den Totalitarismus. Der Begriff der „Masse“ ist dafür sehr geeignet, denn im Gegensatz zur „sozialen Klasse“ hat er Auswirkungen auf die Gleichheit und die Uniformität !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 16

Es ist nicht einfach, eine neutrale Definition des Begriffes ‚Ideologie’ zu finden. Jedoch werden wir uns damit im Folgenden beschäftigen. 17 Hannah Arendt nennt “kontinentalen Imperialismus” den europäischen Imperialismus, der territorialen oder wirtschaftlichen Absichten in Europa hat. (Arendt, 2014 a: S. 472)! 18!Arendt, 2014 a: S. 750.! 19!Arendt, 2014 a: S. 437.!

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der Menschen, die Mitläufer waren. Andererseits weist der Begriff „soziale Klasse“ auf eine Gliederung der Gesellschaft in Schichten hin, die für die Nazis in keiner Weise von Bedeutung war: Totalitäre Bewegungen sind Massenbewegungen, und sie sind bis heute die einzige Organisationsform, welche die modernen Massen gefunden haben und die ihnen adäquat scheint. Schon dadurch unterscheiden sie sich von allen Parteien [...].20

Die Enttäuschten aus dem Ersten Weltkrieg, die Gescheiterten aus der Weimarer Republik, das Bürgertum und der Mob ließen sich vom Totalitarismus verführen und bilden eine sozial-homogene Masse, die glaubt, Einfluss auf die Regierung zu haben. Doch in Wirklichkeit handelt es sich um eine Masse von Menschen, die extrem manipuliert und dominiert wird. Ausschlaggebend, um die Massen langfristig für den Totalitarismus zu begeistern, ist es, sie dauerhaft in einem Zustand der Bereitschaft zu halten, um sie bei Bedarf für das totalitäre Regime mobilisieren zu können. Abgesehen von einer enormen Menge an Propaganda, um die Massen zu überzeugen, ist der Terror ein wichtiges Mittel, um die Mengen zu beherrschen: Die Ideologie und der Terror bilden zusammen eine neue Staatsform. Die Isolation des Einzelnen in der Gesamtheit der Masse macht ihn verwundbarer und manipulierbarer. Die Selbstverleugnung ist notwendig und unumgänglich. Die Partei wirkt wie eine Familie und bietet dem Einzelnen Schutz. Die Beherrschung, die der Totalitarismus auf die Massen ausübt, ist ebenfalls eine seiner Grundpfeiler. Der Totalitarismus strebt nicht danach zu regieren, sondern danach, das Leben des Einzelnen zu beherrschen, seine Freiheit und Handlungsfähigkeit einzuschränken. Zusätzlich zum Staat und zur Propaganda wird eine enorme Polizeistruktur aufgebaut, die nahezu allgegenwärtig ist und den Terror verstärkt. Dieser Terror wird unverhältnismäßig, maßlos und willkürlich eingesetzt. So entwickelt das Individuum Respekt und fürchtet auf jedes Handeln eine negative Reaktion zu bekommen. Auf diese Weise wird der Einzelne zwar in einem gelähmten Zustand, jedoch auch in Bereitschaft gehalten. Der Totalitarismus, meint Arendt weiter, zielt nicht auf eine Sehnsucht nach mehr Territorien – obwohl Hitler im Prinzip Land als „neuen Lebensraum“ erobern und an!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 20!Arendt, 2014 a: S. 663.! !

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nektieren wollte und an die Weltherrschaft dachte. Der Totalitarismus strebt die reine Macht und Machterhaltung ohne einen bestimmten, erkennbaren Sinn an. Ist der Totalitarismus an die Macht gekommen, setzt sich die Todesmaschinerie in Gang. Auschwitz war die Erfüllung einer Notwendigkeit des Regimes. Der deutsche Historiker Hagen Schulze, Autor des Werkes Kleine Deutsche Geschichte21 (1996), benennt die Zeitentspannung von 1933 bis 1945 als „Großdeutscher Wahn“22. So und nur so, als irrige Annahme, als zwanghafte Einbildung lassen sich die letzten Jahre des Nationalsozialismus verstehen: Wie ein Stern hätte sich Deutschland in einer gewalttätigen Explosion zur Supernova ausgedehnt, jedoch war seine Energie verbraucht, er mußte zu einem Kalten, geschrumpften, schwarzen Gestirn zusammenstürzen.23

Hitler hoffte bis zu seinem Selbstmord von seinem Bunker aus die Alliierten zu besiegen. Es war fast wie eine Besessenheit, die ihm nicht die Wirklichkeit der Lage des Krieges, welchen Deutschland bereits seit Monaten nicht mehr gewinnen konnte, sehen ließ. In den letzten Monaten des Krieges kämpften Hitler und seine Gefolgsleute gegen ihr eigenes Volk: „Wir überlassen den Amerikanern, Engländern und Russen nur eine Wüste“24. Zum Glück gab es gegen diese Vernichtungsbefehle Widerstand. Mehrere Bürgermeister, Wehrmachtskommandeure und Zivilisten hatten ihr Leben eingesetzt, um die Verwirklichung dieser Wahnidee zu verhindern. Die Lage, in der sich Deutschland25 in der Nachkriegszeit befand, kurz zu erklären, ist schwierig. Aber die Fakten sind folgende: „Die Verluste am Menschen betrügen etwa das Dreifache des Ersten Weltkrieges, ungefähr fünfeinhalb Millionen Tote.“26 Hinzu kommen sechs Millionen in Polen und zwanzig Millionen in der UdSSR. Die deutschen Städte waren fast vollkommen zerstört, vor allem im Westen und in Berlin haben sich die Menschen in Ruinen und in Kellern eingerichtet. Vor allem in den Städten gab es kaum etwas zu essen. Es fehlte an Stoffen, an Kleidung und an anderen Verbrauchsgütern für die Produktion. Epidemi-

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Schulze, H. 1996: Kleine deutsche Geschichte. Mit Bildern aus dem Deutschen Historischen Museum. C. H. Beck, München. 22 Schulze, 1996: S. 197. 23 Schulze, 1996: S. 221. 24 Schulze, 1996: S. 226. 25 Ob man Deutschland in der Nachkriegszeit noch als Staat betrachten könnte, konnte man nicht so leicht sagen. Aber den Deutschen war es eigentlich nicht wichtig: Nach dem Krieg ging es einzig ums Überleben. 26 Schulze, 1996: S. 227.

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en suchten das Land heim und die Kriminalität war in manchen Fällen zum Überleben notwendig.27

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Fakten nach Schulze, 1996: S. 227. 15!

III. Die Schuldfrage in der Nachkriegszeit Wir haben fast alles verloren: Staat, Wirtschaft, die gesicherten Bedingungen unseres physischen Daseins, und schlimmer noch als das: die gültigen uns alle verbindenden Normen, die moralische Würde, das einigende Selbstbewusstsein als Volk. Karl Jaspers. Novemberheft 1945 der Zeitschrift Die Wandlung.

Nach dem Krieg gibt es ein verwüstetes Deutschland. Das Land wurde von Hitler in einen totalen Krieg geführt, in dem es nur zwei mögliche Enden gab: den Sieg oder die totale Vernichtung. Der Wiederaufbau des Landes stellt eine fast unmögliche Aufgabe dar: viele arbeitsfähige Männer sind im Krieg gefallen oder schwer verletzt worden. Ein Wiederaufbau von Innen ist nicht möglich. Andererseits sehen sich die mit dem Regime verbundenen Intellektuellen gezwungen, sich vom Nationalsozialismus loszusagen oder sie wurden entehrt. Die mit dem Regime kritischen Intellektuellen sind ins Exil gegangen. Einige, so wie Thomas Mann, haben das Land verflucht, das die schlimmste Grässlichkeit bis dahin begangen hatte, und werden nie mehr nach Deutschland zurückkehren. Die Flucht der geistigen Elite ins Exil und die fehlende Arbeitskraft – durch die vielen gefallenen Soldaten – machen es für Deutschland unmöglich, den Wiederaufbau eigenständig zu bewältigen. Stattdessen muss die Hilfe von außen kommen: von der UdSSR, den Vereinigten Staaten, von Großbritannien und von Frankreich, von den Alliierten. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde Jaspers gezwungen, seine akademische Arbeit an der Universität Heidelberg zu beenden. Seine Frau war eine Jüdin und er war ein hartnäckiger Verfechter der Weimarer Republik. Das heißt, er war gegen alle Bewegungen, die die Stabilität der Republik bedrohten, seien es kommunistische oder rechtsextremistische Bewegungen gewesen. So muss sich Jaspers in ein inneres Exil zurückziehen, bis im April 1945 entschieden wird, dass er in ein Konzentrationslager deportiert werden soll. Kurz vorher informieren ihn Freunde darüber und er beschafft sich Vorräte des Giftes Zyankali für sich und seine Frau, um sich umzubringen und so der Deportation zu entgehen. Die Alliierten-Truppen erreichen Ende März Heidelberg und so können Jaspers und seine Frau sich retten.

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Jaspers brach seinen Kontakt zu Heidegger ab, als dieser das Naziregime unterstützte. Nach dem Krieg versucht Jaspers den Kontakt zu Heidegger wieder aufzunehmen, der berühmte Philosoph des Daseins ist aber nicht bereit, seine politische Einstellung zu ändern und Jaspers bricht endgültig den Kontakt zu ihm ab. An derselben Universität in Heidelberg bekommt Karl Jaspers im Wintersemester 1945/46 aufgrund des Bedürfnisses, die NaziVergangenheit aufzuarbeiten, das Angebot Vorlesungen zu halten. Aus diesen zwei Semestern an der Universität Heidelberg entstand 1946 sein am meisten gelesenes Werk: Die Schuldfrage (1946). In dieser Vorlesungssammlung formuliert Jaspers seine ‚Idee der Universität’, welche er als einen ‚staatsfreien Raum’ definiert. Genau deswegen muss er 1958 die Universität Heidelberg verlassen und nach Basel umziehen: Es gab an den akademischen und Verwaltungsabteilungen der Universität immer noch viele Lehrer und Beamte, die mit dem Naziregime verbunden waren. Die Hilfe der Alliierten zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands spielt eine wichtige Rolle. Was hingegen den moralischen Wiederaufbau des Landes betrifft, bemerkt Jaspers eine solche Grausamkeit und Übertreibung in der Art und Weise, wie die Alliierten mit dem Problem der Schuld umgegangen sind. Kurz nach der Entdeckung der ersten Konzentrationslager zwangen die alliierten Soldaten die Leute dazu, sich die Leichenberge anzuschauen. Überall in Deutschland wurden Plakate geklebt, damit auch diejenigen, die nicht in der Nähe eines KZs wohnten, die Gräuel sehen konnten. Diese Plakate waren fett überschrieben mit ‚Diese Schandtaten: Eure Schuld!’ Es gab eine kalkulierte Grausamkeit gegenüber der deutschen Bevölkerung von Seiten der Alliierten. Das Ziel war nichts anderes, als ein bestimmtes Gefühl von Schuld hervorzurufen, was an sich gut gelungen ist. Deutschland war von der Schuld belastet, so etwas geschehen lassen zu haben. Man sagte, man würde Deutschland als Beispiel für die allerschlimmsten Gräuel der ganzen Geschichte nehmen. In dem Werk Die Schuldfrage von Jaspers beschäftigt er sich zu einem großen Teil damit, den Begriff von Kollektivschuld zu untergraben und später einen Rahmen zu etablieren, in dem man die Bedingungen aufstellt, um über das Geschehene zu reflektieren. Nach Jaspers solle streng genommen jeder von uns Angeklagter und Richter sein. Für ihn ist die Schuld eine Bestimmungskraft des Menschlichen, weil der Mensch über das Böse und das Gute verfügt. Die Schuld soll ein individuelles Gefühl sein und als solches kann es nicht verordnet oder übertragen werden. Die Schuld sollte aus !

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dem Inneren eines jeden Menschen kommen. Aus demselben Grund darf auch nicht die Schuld von einer anderen externen Person annulliert werden. Es ist ein Gefühl, das auftritt, wenn man gegen die Moral verstoßen hat. So behauptet Jaspers, dass man kein ganzes Volk für die Taten einiger Menschen verantwortlich machen kann: „Die kategoriale Beurteilung als Volk ist immer eine Ungerechtigkeit“28. Kategoriale Verallgemeinerungen und Beurteilungen führen dazu, Schuldige von Schuld zu entlasten und Unschuldige zu beschuldigen. Wer seine eigene Geschichte nicht kennt, der muss sie wiederholen, und deswegen alle Deutschen des Holocausts zu beschuldigen, würde bedeuten, ein weiteres Mal den gleichen Fehler zu machen: alle Juden der Probleme Europas zu beschuldigen, und sie mit der Vernichtung zu bestrafen. Wäre das deutsche Volk ‚kollektivschuldig’, sollte man sich in diesem Fall zwei Fragen stellen: Wer ist Richter, wo alle schuldig sind? und Wie bringt man ein ganzes Volk vor Gericht? Aus diesem Grund, bewertet Jaspers die Nürnberger Prozesse auf einen ersten Blick als „etwas neues“, in dem Sinne, dass bestimmte Angeklagte wegen konkreter Verbrechen und nicht wegen unbestimmten Kriegsverbrechen verurteilt, wie es bei dem Friedensvertrag von Versailles 1919 gemacht wurde. Jaspers findet ebenso positiv, dass die Alliierten nicht ihren militärischen Erfolg genutzt haben, um die Deutschen auch in einem juristischen Sinne zu besiegen. Er wird aber später seine Unzufriedenheit mit den Prozessen zeigen und wird sie als „Scheinprozesse“ abstempeln: Erstens war die UdSSR zu der Zeit noch ein totalitäres Regime. Wie soll eine solche Staatsform über Verbrechen im Ausland richten, wenn sie auch welche im Inland begeht? Und zweitens hatten die Alliierten unnötigerweise Dresden als Zielstadt im Osten bombardiert, nur um ihre Macht gegenüber der UdSSR zu demonstrieren. Somit trügen die USA auch eine Kriegsschuld. Warum sitzen sie dann im Gericht? Jaspers behauptet: „Der Prozeß ist das Ergebnis der Tatsache, dass nicht wir uns von dem verbrecherischen Regime befreit haben, sondern dass wir durch die Alliierten von ihn befreit worden sind.“29 Die Doppelmoral der Nürnberger Prozesse empört Jaspers. Einerseits wurden bestimmte Angeklagte wegen bestimmter Verbrechen verurteilt. Andererseits wurden auch hohe Führungspersonen vor Gericht gebracht und ihre Schuld sollte auf das gesamte Volk ausgeweitet werden. Ein verbrecherischer Staat bedeutet eine Last für sein Volk, behauptet Jaspers, weil die Taten und Verbrechen von bestimmten Menschen begangen werden, aber als Vertreter und im Namen des Volkes, obwohl diese Verbrechen nicht direkt von dem Volk !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 28 29

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Jaspers, 1946. S. 39 Jaspers, 1946. S. 50 18!

verlangt werden. Das Volk trägt die Verantwortung für die Grässlichkeiten der Regierenden, wie der lateinische Spruch sagt: quidquid delirant reges plectuntur Achivi30. In den Nürnberger Prozessen werden aber nur Verbrecher verurteilt: „die Begrenzung der Nürnberger Prozesse auf die Verbrecher entlastet das deutsche Volk. Aber keineswegs derart, dass es frei würde von jeder schuld.“31 Die Tatsache, dass in den Prozessen nur überführte Verbrecher verurteilt wurden, entlastet die deutsche Bevölkerung also nicht im Hinblick auf andere Arten von Schuld. Um das Problem der Schuldfrage zu behandeln, unterscheidet Karl Jaspers in seinem Werk zwischen vier Schuldbegriffen: krimineller, politischer, moralischer und metaphysischer Schuld. Mit diesen vierfachen Unterscheidung werden einfache Verallgemeinerungen vermieden und es wird ein theoretischer Rahmen geschaffen, den man braucht, um eine gründliche Verurteilung der Verbrecher und Komplizen des Dritten Reiches auf eine genauere und präzisere Weise zu begehen. Der erste Begriff von Schuld, den Jaspers vorschlägt, ist die kriminelle Schuld. Von allen Schuldarten ist diese wohl am offensichtlichsten. Dies könnte darin begründet sein, dass das Wort „kriminell“ schon ein begangenes Verbrechen impliziert. Die kriminelle Schuld, so behauptet Jaspers, sollte individuell auf Menschen angewendet werden, die einen Mord verübt haben. Es ist sehr wichtig, vor dem Richter die tatsächlich begangenen Verbrechen zu ermitteln, damit dem Gesetzesbrecher eine angemessene Strafe auferlegt werden kann. Jaspers betont: „für Verbrechen kann je nur der einzelne bestraft werden sei es, dass er es allein ist, oder dass er eine Reihe von Komplizen hat [...]“32. Außerdem können Verbrechen nur durch einen Richter bestraft werden, während die Vorwürfe von außen kommen. Im Gegensatz dazu wird das Gefühl der Schuld vom Individuum selbst empfunden und kommt aus dessen Innerem. Die Trennung zwischen Schuld und sich schuldig fühlen muss ebenso berücksichtigt werden: Jemand kann für etwas schuldig sein ohne sich schuldig zu fühlen, die Person hat also kein Bewusstsein dafür, dass die Tat gesetzeswidrig war und wird somit auch keine Reue zeigen.

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Vgl. Jaspers, 1946. S. 69. „Für jede Raserei ihrer Könige werden die Achaier bestraft. – Das Volk muss den Wahn der Regierenden büßen (Horaz, Epistolae II,14)“ Übersetzung aus der deutsche Version der Wikipedia, online unter dem Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_lateinischer_Phrasen/Q (aufgerufen am 03.06.2015) 31 Jaspers, 1946. S. 55. 32 Jaspers, 1946. S. 38.

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Die Aussage „Das ist eure Schuld“ liegt darin begründet, dass viele Nazis Verbrechen begingen oder daran beteiligt waren. Doch diese kann man nicht verallgemeinern und auf alle Deutschen beziehen, da die Mehrheit während des Dritten Reiches kein Verbrechen begangen hatte. Selbst wenn man annähme, dass die Deutschen für die Taten des Regimes haften würden, handelte es sich um eine andere Art von Schuld, jedoch nicht um eine Schuld im Sinne eines Gesetzesverstoßes. Während der Zeit des Dritten Reiches gab es keine Gesetze, anhand derer die Nazi-Täter nach dem Krieg wegen Mordes hätten verurteilt werden können. Das klingt paradox: Die Verbrecher werden wegen Verbrechen verurteilt, die zur Tatzeit – das heißt während des Dritten Reiches – nicht strafbar gewesen waren. Streng juristisch betrachtet verstießen sie also gegen kein Gesetz des Nazi-Regimes. Im Falle des Dritten Reiches wurde das Strafrecht an die Bedürfnisse des Regimes angepasst. Trotz alledem sollten solche Verbrecher entsprechend einem dem Strafrecht einzelner Länder übergeordneten Gesetzesrahmen bestraft werden können, wie es das Statut des Internationalen Militärgerichtshofes war. Die Verbrechen, für die dieses Tribunal zuständig ist, sind darin genau definiert: „Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu denen Straftaten wie „Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation, begangen an irgendeiner Zivilbevölkerung, [und] Verfolgung aus politischen, rassistischen oder religiösen Gründen“33 gehören. Die politische Schuld ist die zweite Art von Schuld, die Jaspers vorschlägt. Politisch Schuldige sind jene, die mittels ihrer Handlungen oder durch Unterlassen begünstigen, dass Verbrechen von den politischen Führern begangen werden können. Der Vorwurf von politischer Schuld kommt ebenfalls von außen, so wie jener der juristischen Schuld. Die Strafe für politisch Schuldige ist folgende: Haftung und als ihre Folge Wiedergutmachung und weiter Verlust oder Einschränkung politischer Macht und politischer Rechte. Steht die Schuld im Zusammenhang von Ereignissen, die durch Krieg ihre Entscheidung finden, so kann für die Besiegten die Folge sein: Vernichtung, Deportation, Ausrottung. Oder es kann der Sieger die Folgen in eine Form des Rechtes und damit des Maßes überführen, wenn er will.34

Moralische Schuld ist eine dritte Art, die Karl Jaspers beschreibt. Im Gegensatz zu den beiden vorherigen Arten, die von äußeren Instanzen verurteilt werden, werden die moralisch Schuldigen von ihrem eigenen Gewissen verurteilt. In Hinblick auf die Moral muss sich jeder vor sich selbst verantworten: „Für Handlungen, die ich doch immer als dieser ein!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 33 34

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Jaspers, 1946. S. 48. Jaspers, 1946. S. 35. 20!

zelne begehe, habe ich die moralische Verantwortung, und zwar für alle meine Handlungen auch für politische und militärische Handlungen, die ich vollziehe.“35 In diesem Fall liegt die Schuld in der Zugehörigkeit zum Regime oder dessen Tolerierung trotz der Verbrechen, die es beging. All diejenigen, die sich nach dem Motto „Befehl ist Befehl“ rechtfertigten, sind auch nicht unbedingt frei von moralischer Schuld. Das deutsche Volk war laut Jaspers nicht aktiv an den verübten Verbrechen beteiligt, sondern es war gehorsam und dem Nazi-Regime unterworfen, das die Verbrechen beging. Hätte sich das deutsche Volk in seiner Gesamtheit schuldig gemacht, dann würde es sich in diesem Fall um moralische Schuld handeln. Zur Befreiung von der moralischen Schuld notiert Jaspers: „der moralischen Schuld erwächst Einsicht, damit Buße und Erneuerung. Es ist ein innerer Prozeß, der dann auch reale Folgen in der Welt hat“36 Nach der Reue käme die Erlösung von der moralischen Schuld.

Trotzdem ist es nicht richtig, dass alle Deutschen moralisch schuldig gewesen sind. Die Naziregierung repräsentierte nicht die gesamte Bevölkerung. Adolf Hitler hatte in einer demokratischen Wahl die notwendige Mehrheit zum Regieren aber erlangte seine Beliebtheit ohne die Rückendeckung der Mehrheit. Man muss auch bedenken, dass nicht alle Deutschen tatenlos zusahen, wie die Nazis Verbrechen begangen. Es gab Aufständische sowohl in der Politik als auch im Militär, die sich mit den Befehlen der Nazis nicht einverstanden zeigten und versuchen zu verhindern, dass das Regime seine Ziele erreicht. Im auserwählten Kreise der Gefolgsleute Hitlers gab es mehrere Attentatsversuche auf den Führer. Ob diese den Sturz des Regimes zum Ziel hatten, oder lediglich Versuche waren, um Hitler die Macht zu entreißen, wäre Gegenstand einer tiefer gehenden Untersuchung. Nichtsdestotrotz zeigen diese Taten eine gewisse Ablehnung des Regimes, nicht zuletzt auch innerhalb des engsten Führungskreises. In den letzten Kriegsmonaten nahm die Zahl der Soldaten und höheren Militärs, die sich den Reihen des Widerstands anschlossen, in beeindruckender Weise zu. Viele ranghohe Militärs waren mit der verrückten Absicht Hitlers, den totalen Krieg zu führen, nicht einverstanden: Es war der letzte Versuch zu siegen, oder aber zu sterben, Menschen umzubringen und absolut alles zu vernichten. Außerdem muss man zusammenfassend sagen, dass Millionen Deutschen, die auswandern oder ins Exil gehen mussten, dabei dem Regime den Rücken kehrten. Es gab jedoch Arbeiter und einfache Bürger – aber auch Intellektuelle –, die sich weigerten, an dem !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 35 36

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Jaspers, 1946. S. 31. Jaspers, 1946. S. 35.! 21!

Größenwahn der Nazis teilzunehmen, und im In- wie im Ausland lebten. Das war das innere und das äußere Exil. Der Historiker Hagen Schulze bemerkt: Von vornherein im aktiven Kampf gegen das Regime standen die Kommunisten, die ihre Tätigkeit allerdings vorübergehend in der Zeit des Hitler-Stalin-Pakts eingestellt hatten; zu ihren namhaften Parteigängern gehörte die «Rote Kapelle» um den Oberregierungsrat Arvid Harnack und den Oberleutnant Harro Schulze-Boysen, die nach ihrer Enttarnung im August 1942 hingerichtet wurden. Der sozialdemokratische Widerstand war, wie die SPD-Organisation in den Jahren des Exils allgemein zersplittert und daher insgesamt weniger effektiv; Namen wie Julius Leber und Adolf Reichwein stehen für viele andere, die im Kampf gegen die Diktatur ihr Leben wagten und verloren.37

Es bleibt nur eine Art von Schuld: Die metaphysische Schuld ist die vierte und letzte die Jaspers nennt. Er definiert sie wie folgt: Es gibt eine Solidarität zwischen Menschen als Menschen, welche einen jeden mitverantwortlich macht für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt, insbesondere für Verbrechen, die in seiner Gegenwart oder mit seinem Wissen geschehen. Wenn ich nichts tue, was ich kann, um sie zu verhindern, so bin ich mitschuldig. Wenn ich mein Leben nicht eingesetzt habe zur Verhinderung der Ermordung anderer, sondern dabeigestanden bin, fühle ich mich auf eine Weise schuldig, die juristisch, politisch und moralisch angemessen begreiflich ist.38

Der Bruch mit diesem allgemeingültigen Prinzip der Solidarität verursacht die metaphysischer Schuld. Wir Menschen sollten einander helfen – diese Hilfe zu unterlassen oder zu verweigern kann Beihilfe zu einem Verbrechen sein. Die wahre Verantwortung steckt im Individuum, und die Tatsache, dass man lebt, während ein anderer Mensch stirbt, ist ein absoluter Verstoß gegen die Solidarität. Die Bezichtigung der metaphysischen Schuld sollte jeder mit sich selbst ausmachen, jeder sollte überdenken, ob er etwas mehr hätte tun können, um zu helfen, die Verbrechen zu verhindern. Von dem Vorwurf der metaphysischen Schuld kann man nur von Gott erlöst werden, behauptet Jaspers: „Instanz ist Gott allein“39. Im Januar 1945 erscheint in der US-amerikanischen Zeitschrift Jewish Frontier der Aufsatz „Organisierte Schuld“ von Hannah Arendt. In diesem Artikel über die aktuelle Situation in Deutschland berichtet die Autorin, wie die Nazi-Propaganda in den letzten Kriegsjahren zu behauptete, nachdem die Niederlage gegen Großbritannien deutlich wurde, dass es keinen Unterschied zwischen den Nazis und dem deutschen Volk gebe. Die NaziPropaganda zielte darauf ab, „dass [es] einen Unterschied zwischen Nazis und Deutschen

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Schulze, 1996: S. 225. Jaspers, 1946. S. 31-32. 39 Jaspers, 1946. S. 32. 38

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nicht gebe, dass das Volk geschlossen hinter seiner Regierung stehe“40. Als Folge dieser These, wurde in dem Moment, als die Schuldigen für die Gräueltaten des Dritten Reiches ausfindig gemacht und die entsprechenden juristischen Mittel angewandt wurden, keinen Unterschied zwischen den antifaschistischen Deutschen und den Nazis und deren Sympathisanten gemacht. Dieser Propagandastrategie zufolge gab es niemanden in Deutschland, der nicht Kriegsverbrecher gewesen wäre. Anfangs wurden die Verbrechen im Verborgenen begangen, oftmals in der Nacht. Die Konzentrationslager waren ein Monopol der SS und der Gestapo. Als die Niederlage Deutschlands nur noch eine Frage der Zeit war, und die Nazis bis zum letzten Moment wie besessen vom totalen Krieg oder der kompletten Vernichtung des Landes waren, gingen sie dazu über, die Verbrechen zu verstecken und diejenigen hinzurichten, die es wagten darüber zu sprechen. Ihnen wurde „Greuelmärchenpropaganda“ vorgeworfen. Die Strategie des Regimes wechselt: Was in den KZ gescheht wird von dem Regime bekannt gegeben. Die Vernichtungen in den KZ wurden als „Liquidierungsmaßnahmen“ bezeichnet, damit die Bevölkerung einen Teil der Schuld auf sich nahm und wenigstens Mitwisser war. Das Regime änderte seine Politik dahingehen, dass es unmöglich wurde zu wissen, wer Nazi war und wer nicht. Die Behauptung, dass das Nazi-Regime in den letzten Jahren nicht gegen die Alliierten kämpfte, sondern gegen die eigene Bevölkerung, wird hier am deutlichsten. Die NaziPropaganda nimmt hier eine anationale oder antinationale Position ein. Es geht darum, die Existenz des deutschen Volkes zu leugnen (oder es auszulöschen und genau zu sein), falls es nicht mehr einer Nationalsozialistischen Regierung unterstehen sollte: Dies sind die realen politischen Verhältnisse, die der Behauptung von einer Gesamtschuld des deutschen Volkes zugrunde liegen. Sie sind das Resultat einer Politik, die wirklich vaterlandslos, wirklich a- und antinational ist, die völlig konsequent daran festhält, dass es ein deutsches Volk nur geben soll, wenn es in der Macht der augenblicklich Regierenden ist.41

Der Nationalsozialismus trat dafür ein, dass die Vernichtung der Nazis auch in der Vernichtung des deutschen Volkes resultieren sollte, denn nach dieser Ideologie gab es keinen Unterschied zwischen Staat und Führer einerseits und der Bevölkerung andererseits. Veranschaulicht wird das im Film „Der Untergang“42. Hohe Dirigenten des Naziregimes– !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 40

Arendt, 2000. S. 35. Arendt, 2000. S. 39. 42 Der Untergang. 2004 Reg. Oliver Hirschbiegel. 41

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bevor sie sich selbst vergifteten – vergiften auch ihre Kinder, denn sie wollen nicht, dass ihre Kinder in einer Welt ohne Nationalsozialismus aufwachsen müssen. Hannah Arendt erinnert uns, dass der Nationalsozialismus es sich zum Ziel setzte, die natürliche und gewöhnliche Neutralität des deutschen Volkes zu vernichten, entweder indem sie Einzelne dazu zwangen, Verbrechen zu begehen oder indem sie diese zu Komplizen machten. Schon lange vor der Niederlage hatten die Nazis eine Strategie in diesem Sinne vorgesehen: die Grenze zwischen Kriminellen und normalen Bürgern wurde verwischt. Und dies, so sagt Hannah Arendt, macht es schwer zu definieren, was Schuld war. Wer war also wirklich schuldig? Hannah Arendt behauptet, dass die Schuldigen in einem weiteren Sinne folgende sind: jene, die mit Hitler sympathisierten; jene, die Hitler an die Macht verhalfen und jene – sowohl im In- als auch im Ausland –, die seinen Aufstieg bejubelten.43 Doch wie kann es sein, dass die Mehrheit des Bürgertums und der Adligen in die Verbrechen verwickelt war? Hannah Arendt argumentiert hier zum ersten Mal so: Mehrheiten vereinen sich mit totalitären Regimes, da sie nicht in der Lage sind, die zeitgenössische politischen Organisationen richtig einzuschätzen. Wer könnte sich in der Zeit vorstellen, was Hitler vorhatte, als er der Vertreter einer kleinen Partei Deutschlands war? Der Terror bringt die Leute dazu, dass sie sich organisieren und das Getriebe dieser Maschinerie des Massenmordes bilden. Eine frustrierte Gesellschaft wie die der 1930er Jahre, die erschöpft und bedrückt ist von den politischen Umbrüchen, die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes hat, wird jede Arbeit annehmen, um der Schmach der Arbeitslosigkeit zu entgehen – und zwar sogar wenn diese Arbeit Tötung anderer Menschen zum Inhalt hat. Hannah Arendt behauptet in diesem Aufsatz, dass jemand, der den Arbeitsplatz des Henkers bekommt, sich selbst nicht als Mörder sehen wird, sondern vielmehr als einen Arbeiter, der seinen Job zu tun hat: Befehl ist Befehl.

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Arendt, 2000. S. 40. 24!

IV. Wenn das Schreckliche die Normalität ist

I think that commitment can easily carry you to a point where you no longer think. Hannah Arendt44

In dem Chaos nach dem Zweiten Weltkrieg und mit dem Gefühl des Verlassenseins, das der Selbstmord Hitlers hervorgerufen hat, schaffen es viele ranghohe Nazis zu fliehen. Adolf Eichmann, der Bürokrat und Logistikplaner der KZs, kann auch nach Lateinamerika flüchten. Es war ein beliebtes Ziel der Nazis, hauptsächlich aus zwei Gründen. Der erste war, dass es in vielen lateinamerikanischen Ländern in jener Zeit faschistische Regierungen gab, die, obwohl sie keine direkte Verbindung mit dem Nationalsozialismus hatten, doch Sympathie für die totalitären Regime Europas empfanden. Der andere Grund war die relative Entfernung des amerikanischen Kontinents von Europa. 1961 wurde Adolf Eichmann von der israelischen Geheimpolizei in Argentinien aufgespürt. Schnell wurde er als Mechaniker getarnt und mit Hilfe eines Betäubungsmittels in einem Passagierflugzeug nach Jerusalem ausgeliefert. Hannah Arendt arbeitete in dieser Zeit als Journalistin für die Zeitschrift »The New Yorker« und sobald sie vom Fall Eichmann erfuhr, entschied sie, nach Israel zu fliegen, um als eine der vielen internationalen Beobachtern von dem Prozess zu berichten. Dieser Prozessbericht wurde zuerst in mehreren Teilen im »New Yorker« veröffentlicht. 1964 wurde daraus ein Buch, das eine Lawine von Kritik nach sich zog. Die deutsche Autorin war 1906 in Hannover geboren und studierte Griechisch, Theologie und Philosophie unter anderen bei Heidegger und bei Jaspers, mit dem Arendt lange Zeit einen Briefwechsel unterhielt. Nach der Machtergreifung Hitlers im Jahre 1933 wandert sie aus nach Paris und 1941 schließlich nach New York. 1963 wird sie Professorin für Politische Theorie in Chicago und später an der New School of Social Research in New York, wo sie die Vorlesungen gehalten hat, aus denen das Werk „Über das Böse, eine Vorlesung zu Fragen der Ethik“ entstanden ist.45 !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 44 45

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Hill, M. (Hg.) 1979: Hannah Arendt: The recovery of the Public World. St. Martin’s Press, New York. S. 308. Arendt, H. 2014 c: Über das Böse. Eine Vorlesung zur Frage der Ethik. Piper Verlag GmbH, München. 25!

Während des Eichmann-Prozesses schreibt Hannah Arendt einen langen und detaillierten Bericht über die Persönlichkeit des Angeklagten. Arendt fokussiert ihre Untersuchungen auf die Sprechweise Eichmanns, auf seinen Sprachgebrauch. Wie wir später sehen werden, wird das ein wichtiger Punkt ihrer Überlegungen, um die Theorie der Banalität des Bösen entwickeln zu können. Der strittige Begriff „Banalität des Bösen“ erscheint 1963 in dem Buch Arendts Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (1963). Die Behandlung des Themas ist nichts Neues bei Hannah Arendt. So untersucht sie in dem Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951, dt. 1955) die Beziehung zwischen dem radikal Bösen und den zu jener Zeit in Europa herrschenden totalitären Regimes. Eichmann in Jerusalem ist sozusagen die Fortsetzung von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Für Arendt hat das Böse keine teuflische Dimension. Die alte jüdisch-christliche Tradition assoziierte das Böse mit dem Teufel46. Im Eichmann-Prozess wurde davon ausgegangen, dass die Figur Eichmanns das Böse verkörperte. Er wird beschuldigt, „Hauptverantwortlicher für die Endlösung der Juden-Frage in Europa“ gewesen zu sein. Das israelische Gericht strebte danach, Eichmann zum Hauptverantwortlicher für die Gräuel des Holocausts zu machen: Die Psychiater, so hieß es auf einmal, hätten behauptet, daß Eichmann »ein Mann mit einem gefährlichen und unersättlichen Mordtrieb« gewesen sei, »eine perverse, sadistische Persönlichkeit«. Sollte dies stimmen, dann hätte er ins Irrenhaus gehört.47

Arendt störte die hohe Anzahl von Psychiatern und die vielen Versionen und möglichen Interpretationen der Persönlichkeit Eichmanns, was sie sarkastisch „die Komödie der Seelenexperten“48 nannte. Sie war davon überzeugt, dass der Angeklagte nicht fähig wäre, einen Menschen umzubringen. Eichmann selbst behauptete, dass er seinen eigenen Vater getötet hätte, wenn es ihm befohlen worden wäre49. Trotzdem versicherte er dem Gericht, dass er niemanden getötet hätte. „Doch niemand glaubte ihm.“50 Für Arendt hat das vom NaziRegime ausgeübte Böse gar nichts mit dem Teufel zu tun. Die Konzentrationslager sind für die Autorin nicht die Vertretung der Hölle auf Erden, sondern ein Zeichen der Fähigkeiten !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 46

Das wurde bereits in dem ersten Kapitel dieser Arbeit betrachtet. Arendt, 2014 b. S. 99 48 Ibidem 49 Arendt, 2014 b. S. 94. 50 Ibidem 47

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und der Macht der totalen Herrschaft. In den Konzentrationslagern wurde die Vernichtung der physischen Person begangen, aber was die Macht des Regimes wirklich zeigte, war die Vernichtung der Persönlichkeit der Häftlinge. Die totale Herrschaft reduziert die Menschen zu Sachen, erklärt Hannah Arendt. Der Nationalsozialismus schaffte es sogar, dass die Häftlinge in den Lagern keinen Ausbruchswillen hatten. Der italienische, jüdische Chemiker und Schriftsteller Primo Levi musste der Ausgabe von 1976 seines berühmten Buches Ist das ein Mensch? 51 (Si questo è un uomo, 1958) ein Nachwort hinzufügen. Darin beantwortet er die häufigsten Fragen zum Buch, die seine Leser ihm geschickt haben. Eine dieser Fragen lautet: Gab es eigentlich Häftlinge, die es geschafft haben, aus dem KZ auszubrechen? Warum gab es keinen Häftlingsaufruhr?52 Primo Levi sagt dazu, dass die Gefangenen grausam unterernährt und deswegen unfähig waren, sich zu organisieren. Die meisten hatten keine organisatorische oder militärische Erfahrung und die täglichen Routinen, die minuziös geplant waren, ließen keine Zeit, um einen Ausbruchsplan vorzubereiten. Außerdem schoss die SS auf jene Häftlinge, die zu fliehen versuchten, und wurde anschließend dafür belohnt. Schließlich behauptet Primo Levi: „Letzen Endes ist das Vorwerfen, dass es keinen Aufstand gewesen war, ein historisches Fehler: Das heißt, man erwartet von den Häftlingen ein politisches Bewusstsein, welches heute in Besitz von jedem ist, aber damals gehörte nur zu einer Elite.“ 53 Für Arendt wird dieses Verbrechen an der Moral eines jeden Individuums in einer totalen Herrschaft in drei Schritten begangen. Arendt schreibt über diese drei Schritte der Auflösung des Menschen: a) Willkürliche Verhaftung. Durch eine willkürliche Verhaftung der Bürger schafft man ein Klima der Unsicherheit und Angst. Man könnte keine Verbindung zwischen dem, was der Verhaftete getan hat, und dem Grund seiner Verhaftung herstellen. So könnte alles der Grund der Verhaftung gewesen sein. b) Auflösung der Moral. Das findet in den Konzentrationslagern statt. Die Tatsache, dass die Lager isoliert und somit von der Außenwelt abgeschnitten waren, half, die Häftlinge unsichtbar zu machen. Im Gegensatz zum Gefängnis ist das KZ hermetisch abgeriegelt. Das Gefängnis ist in die Gesellschaft integriert, es ist sichtbar. Das KZ unsichtbar, geheim gehalten. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 51

Levi, Primo. 2010: Si esto es un hombre. El Aleph, Barcelona. Levi, 2010. S. 199. Selbstübersetzung. 53 Levi, 2010. S. 203. Selbstübersetzung. 52

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c) Zerstörung der Individualität: In den Konzentrationslagern wurde den Häftlingen nur eine Nummer auf den Arm tätowiert und an der Brust an der Kleidung mussten sie einen David-Stern tragen, dessen Farbe über den Grund der Verhaftung informierte. Alles andere war gleich: die Kleidung, die Haare etc. Die Häftlinge waren eine gleich aussehende Menschenmasse, die nur fähig waren, auf eine immer gleiche und von der SS voraussehbaren Art und Weise zu reagieren. Die totale Herrschaft hindert die Leute daran, eigenständig zu denken. Sie verhindert sogar, dass die Leute Gefühle empfinden. Dem Individuum wird die Freiheit genommen, aber auch seine Fähigkeit dazu, konsequent aus seinen Gefühlen heraus zu handeln. Fühlten die SS-Mitglieder Mitleid, als sie Menschen in die Konzentrationslager führten? Die totale Herrschaft nimmt den Menschen ihre Spontaneität und schafft es so, die moralische Person noch vor der physischen Person umzubringen. Totalitarismus begeht vor allem ein Verbrechen an der Moral, und als Folge davon ebenso Verbrechen am Menschen. Andererseits bringt Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zum Ausdruck, dass die Juden Europas seit biblischen Zeiten Parias waren. In diesem Sinne: Welcher Staat könnte sich um einen Juden kümmern, wenn er das Individuum eines staatenlosen Volkes ist? Das jüdische Volk hatte in jener Zeit keinen eigenen Staat, keine politische Organisation, die die Interessen der Juden hätten vertreten können. Während des Eichmann-Prozesses in Jerusalem berichtet Arendt detailliert über die psychologischen und vor allem die sprachlichen Eigenschaften Adolf Eichmanns. Bezüglich seiner Persönlichkeit, betont Arendt, sei er unfähig gewesen, sich an konkrete Fakten zu erinnern. Wenn ihm das passierte, wiederholte Eichmann automatisch gelernte Ausdrücke und Devisen des Dritten Reiches. Er verwendete noch 15 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges dieselbe bürokratische Sprache. Anderseits erklärte er sich verantwortlich für Angelegenheiten, wie beispielsweise diverse Dokumente des Madagaskarplans zeigten, für die er nicht verantwortlich war. Arendt beschreibt Eichmann als Durchschnittsmenschen, als jemand Normales, gewöhnlich, banal. Es war weder verrückt, noch pervers. Er war kein Monster aber von empörender Dummheit. Eigentlich war er kein Idiot, konnte aber nicht kritisch denken. Er erkrankt !

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sozusagen am Unglück seiner Zeit: Mangel an kritischem Denken, um das Böse von dem Guten zu unterscheiden. Das ist die These Arendts: Unbedachtheit und Mangel an kritischem Denken führen dazu, dass die Massen schwachsinnigen Führern folgen, wenn diese nach der Macht streben. Unbedachtheit lässt die Tür offen für jede erdenkliche Bosheit. Eichmann erklärte, dass „er seinen eigenen Vater getötet hätte, wenn es ihm befohlen worden wäre”54, was seine völlige Treue dem Regime zeigte. Er erklärte ebenso, dass er nichts bereute und kein schlechtes Gewissen hatte. Er tat immer, was er tun sollte. Ganz im Gegenteil, er hätte Gewissensbisse, wenn er seine Befehle nicht ausgeführt hätte: Was meinem Volke nützt, ist für mich heiliges Gesetz. Jawohl. Und jetzt will ich Ihnen sagen, zum Abschluß dieser ganzen Platten, wir sind ja bald zu Ende, muß ich Ihnen erstens sagen: Mich reut gar nichts. [...] Ich war ein unzulänglicher Geist und wurde an eine Stelle gesetzt, wo ich in Wahrheit mehr hätte machen können und mehr hätte machen müssen.55

Der Sprachgebrauch Eichmanns beschäftigte Arendt am meisten. Nach jeder Anklage wiederholte er eine feste Wendung der hitlerschen Doktrin: Eichmann war der Blick auf die Realität verstellt, weil seine Wahrnehmungsweise und seine Sprache von Klischees, von gängigen Redensarten, konventionellen Ausdrucksweisen angeleitet bzw. durchgesetzt waren. Das hat nach Arendt eben die Funktion ‚gegen der Wirklichkeit abzuschirmen‘ 56

So fühlte er sich siegreich. An all das glaube er noch, als wäre nichts geschehen, als hätte sich nichts verändert. Seine letzten Worte zeigten das: „Es lebe Deutschland. Es lebe Argentinien. Es lebe Österreich. Das sind die drei Länder, mit denen ich am engsten verbunden war. Ich werde sie nicht vergessen.“57 Eichmann lebte selbstbetrogen, er lebt mit und in einer Lüge. Selbstbetrug war während des Nationalsozialismus nötig für das Überleben. Wie sonst könnte man weiterleben während nur wenige Kilometer entfernt von seinem Haus die bis zu der Zeit schlimmste Barbarei begangen wird? Für Arendt ist es nicht das Schlimmste, dass Eichmann die Regeln und Gesetze des Regimes gehorsam erfühlte. Das Schlimmste ist, dass sowohl die Menschen in den Kon!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 54

Arendt, 2014 b. S. 94. Wojak, 2001. S. 63 f. 56 Hoster, Detlef. Online bei: http://www.detlef-horster.de/texte/mainz.pdf (aufgerufen am 15.06.15) 57 Arendt, 2014 b. S. 371. 55

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zentrationslagern als auch die Mehrheit der Bevölkerung eines gemeinsam hatten: Ihr Geist wurde vernichtet. Arendt versteht unter Geist die Fähigkeit jedes Menschen kritisch zu denken, die Fähigkeit zwischen dem Guten und dem Bösen zu unterscheiden. Im Totalitarismus wird das Bewusstsein des Individuums zerstört, ohne dass es der Einzelne merkt und ohne die Notwendigkeit, einen Menschen physisch umzubringen. Sie vernichten sowohl das Bewusstsein der Opfer als auch das der Mörder, damit sie nicht das Böse erkennen und gegen das protestieren konnten, was ihnen passierte bzw. was ihnen befohlen wurde. Dies ist das größte Verbrechen der Nationalsozialisten: ein unmerkliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ein durch das Regime fortgesetztes Verbrechen, ohne dass eine physische Vernichtung stattfinden muss. Die Tatsache, dass die Juden zu Feinden des Regimes erklärt wurden, war – wenn man die geschichtlichen Tatsachen außen vor lässt – ein reiner Zufall. Jean-Paul Sartre wird der Satz zugeschrieben: „Wenn es Juden nicht gäbe, würde sie der Antisemit erfinden.“ Es traf die Juden; doch es hätte auch jede andere ethnische, religiöse oder soziale Gruppen treffen können. Aus diesem Grund handelt es sich um ein Verbrechen gegen die gesamte Menschheit. Im Ergebnis war das Fehlen von kritischem Denken, wie es in den Aussagen Eichmanns während seines Prozesses festzustellen war. Hier sieht Arendt eine weitere Art von Straftaten: der Verbrecher, die sich dessen nicht bewusst ist, dass er ein Verbrechen begeht. Die Umstände haben sich daraus ergeben, dass den Leuten nicht bewusst war, etwas Falsches oder eine Bosheit zu begehen. Und das ist die eigentlich Gefahr totalitärer und bürokratischer Regimes: Sie reduzieren Menschen zu Befehle ausführenden Individuen ohne kritisches Denken und Hinterfragen. Wenn die Person die begangenen Taten erklären soll, wird sie sich hinter der Aussage „Befehl ist Befehl“ verstecken. Und man delegiert die Verantwortung an andere, an Vorgesetzte, die sie ebenfalls an andere abgeben. Das Kapitel VIII von Eichmann in Jerusalem heißt, mit viel Ironie, Von den Pflichten eines gesetzestreuen Bürgers58. Hannah Arendt erklärt, dass Eichmann ein neuer Pontius Pilatus war. Er führte also die Befehle und Gesetze Hitlers aus, ohne deren Notwendigkeit oder Legitimität zu hinterfragen und ohne moralische oder emotionale Wertungen vorzunehmen: Eichmann hatte also reichlich Gelegenheit, sich wie Pontius Pilatus »bar jeder Schuld« zu fühlen, und wie die Monate und Jahre verstrichen, schwand sein Bedürfnis nach Gefühlen überhaupt. So und nicht anders waren die Dinge eben, erheischte es das

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 58!Arendt,

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2014 b. S. 231.! 30!

Gesetz des Landes, gegründet auf den Befehl des Führers. Was er getan hatte, hatte er 59 seinem eigenen Bewußtsein nach als gesetzestreuer Bürger getan.

Eichmann zitiert schließlich sogar den Kategorischen Imperativ Kants mit überraschender Genauigkeit und versucht so, seine Taten zu rechtfertigen. Im letzten Kapitel dieser Arbeit werden wir auf diesen Punkt zurückkommen. Zum Schluss macht Hannah Arendt auf eine unbequeme Wahrheit aufmerksam: Der Holocaust hätte nicht ohne die Kollaboration der Juden umgesetzt werden können. Die Autorin weist auf die sogenannten Judenräte und die Judenpolizei, die bei der Identifizierung der Juden und deren Deportation in die Konzentrationslager geholfen haben. Diese These spaltet die jüdische Gemeinschaft und ist bis heute die umstrittenste von Hannah Arendt. Verschiedene jüdische Organisationen werfen ihr vor, nicht nur ihr eigenes Volk nicht zu achten, sondern nicht einmal sich selbst, als Jüdin. Arendt stellt Jahre später in einem Interview mit Günter Gaus für die deutsche Fernsehsendung „Zur Person“ fest: „Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen“60 Damit meinte die Autorin die mangelhafte Organisation des jüdischen Volkes. Die Juden waren nicht vereint und verkauften sich in vielen Fällen selbst, wie hier im Folgenden erklärt werden wird. Und das begünstigte in gewisser Weise, dass die Nationalsozialisten es schafften, so viele Millionen von Juden, Homosexuellen Sozialisten, unter anderen, zu ermorden. In jener Zeit gab es noch keine politische Organisation von Juden. Und in den ersten Jahren des Nationalsozialismus dachte man nicht, dass Hitler die Absicht hätte, die Juden zu ermorden, sondern dieses Volk lediglich abzusondern. Viele jüdische Geschäftsführer von Fabriken überließen der SS und der Gestapo Listen ihrer jüdischen Angestellten, um sich selbst zu retten. Auch die Judenräte spielten eine wichtige Rolle bei der Deportation der Juden. Dies ist charakteristisch für totalitäre Regime: Sie schaffen es, dass auch die, die sie zu ihren Feinden erklärt haben, anfangs kollaborieren – sogar wenn es gegen sie selbst geht. Heimtückisch war die Ordnungsbesessenheit des Nazi-Regimes, das sowohl das gesamte jüdische Volk als auch seinen ganzen Besitz registrieren wollte. Die Judenräte repräsentierten die jüdischen Häftlinge eines Ghettos und hatten die Funktion einer Regierung. Die SS bestimmte eine wichtige jüdische Person aus einem !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 59

Arendt, 2014 b. S. 231. Das Gespräch findet man bei Youtube unter dem Link: https://www.youtube.com/watch?v=J9SyTEUi6Kw Dies fand am 28.10.1964 statt. (aufgerufen am 10.06.15).

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Ghetto (vor allem aus den polnischen Ghettos), zum Beispiel einen Rabbiner, zum Vorsteher des Judenrates und somit auch des Ghettos. Ausgewählt wurden Juden, dessen politische Ansichten nicht vollkommen denen des Regimes entgegenstanden; sie durften weder Kommunisten noch Orthodoxe sein. Diese von der SS ausgewählten Personen standen der jüdischen Bevölkerung in den Ghettos vor. Unterstützt wurden sie von der sogenannten Judenpolizei, die den Judenräten unterstand. Hannah Arendt weist auf die wichtige Rolle hin, die die Judenräte bei der Durchführung des Holocausts spielten. Die Vorsteher der jüdischen Gruppen in den Ghettos waren für die „Volkszählung“ der Juden zuständig, was die Verhaftungen und Deportationen in die Konzentrationslager erleichterte. Wenn die SS die Deportation eines Ghettos befahl, organisierte in vielen Fällen die Judenpolizei die Verladung auf die Züge und den Transport in die Lager. Die Judenräte führten die Aufträge der SS mit Genauigkeit aus, bezahlten mit ihrem Leben, wenn es einen Zwischenfall gab. Die jüdischen Ghetto-Vorsteher und Polizisten verfügten wegen ihrer Kollaboration mit der SS über ein gewisses Maß an Immunität in Hinblick auf die Deportationen. Trotz alledem wurden sogar viele Mitglieder der Judenräte und der Judenpolizei deportiert, nachdem 1942 auf der Wannsee-Konferenz die ,Endlösung der Judenfrage‘ beschlossen wurde. Hannah Arendt beschreibt die Beziehung Eichmanns zu den Judenräten so: Die Judenräte wurden von Eichmann oder seine Leuten darüber informiert, wie viele Juden für den jeweils bewilligten Züge benötigte, und sie stellte danach die Listen der zu Deportierenden auf. Und die Juden ließen sich deportieren, sie füllten zahllose Formulare aus, beantworteten zahllose Fragebogen über ihren Besitz, damit die Beschlagnahme ohne Komplikationen erfolgen konnte, und dann fanden sie pünktlich an de Sammelstellen ein und kletterten in den Güterwagen. Die Wenigen, die sich zu verbergen oder zu entfliehen suchten, wurden von besonderen jüdischen Polizeitruppen ausfindig gemacht. Eichmann sah nur, daß keiner protestierte, daß alles klappte, weil alle »zusammenarbeiten«. »Immerzu fahren hier die Leute zu ihrem eigenen Begräbnis«, schrieb eine Berliner Jüdin im Jahre 1943. Sie wußten alle Bescheid. 61

Aber auch das Tribunal, das Eichmann verurteilt, wurde auch von Arendt kritisiert: Die Richter erkennen nicht an, dass er Hitler bedingungslos und erbittert folgte und nicht fähig war, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. War er verrückt? Warum tötete man ihn anstatt ihn in die Psychiatrie einzuweisen? Auf Eichmann konzentrierte sich die gesamte Rache des Staates Israel. Nach dem Prozess wurde er gehängt und eingeäschert; seine Asche wurde ins Mittelmeer gestreut. Die Verbrechen der Nationalsozialisten wurden von normalen Menschen begangen. Und hier passt also die berühmte Formulierung von Hannah !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 61

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Arendt, 2014 b. S. 206 32!

Arendt: „Die Banalität des Bösen“. Dies bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass die begangenen Verbrechen banal gewesen wären. Banal waren die Motive, aus denen die Taten begangen wurden. Man hatte es Hannah Arendt übel genommen, dass sie den Holocaust mit den Worten „Banalität des Bösen“ in Verbindung brachte. Am stärksten wurde Arendt dafür kritisiert, dass sie in ihrem Werk die Nazi-Verbrechen verharmlost hätte. Doch genau das ist Arendts These: Das Böse erscheint nicht als etwas Monströses, das auf psychisch Kranke oder Menschen, die aus Mordlust töten, beschränkt wäre. Das Böse ist etwas Alltägliches, dem jeder (durchschnittliche) Mensch verfallen kann, sogar ohne dass er es ihm bewusst wäre. Hannah Arendts Bericht über den Eichmannprozess muss man richtig verstehen. Zu allererst handelt es um ein Buch über moralische Philosophie. Wolfgang Heuer, einer der bedeutendsten Arendt-Experten, behauptet: „Zu der Gedankenlosigkeit und Weltlosigkeit kommt als nächstes die Feststellung hinzu, dass das Böse keine Tiefe hat“62. Dies kann man sehr gut an der Person Eichmann sehen: „Die Gestalt Eichmanns vermittelt das faktische Bild eines ungewöhnlich beflissenen, gedanken- und phantasielosen und damit realitätsfernen oder auch realitätslosen Menschen“63 Hannah Arendt lässt in ihren Forschungen zur Ethik das Problem des Bösen niemals aus dem Blick, und thematisierte es auch immer wieder in ihren Vorlesungen und späteren Schriften. Sie war überzeugt, die „Ethik nach Auschwitz [kann] nur auf dem Denken und Erinnern gründen“. Auf der Grundlage ihrer Vorlesungen wurde im Jahr 2006 ein Buch herausgegeben, dass auf die Frage „Wie konnte dies geschehen?“ Antworten geben will.

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Heuer, 2006. S. 21 Ibidem 33!

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V. Epilog: Eine Ethik nach Auschwitz

Was Hannah Arendt in Jerusalem lernte, war eine neue Sicht auf das Böse, wie es sich in der Figur von Adolf Eichmann spiegelte. Eichmann war nur ein Glied im „Räderwerk aus Gedankenlosigkeit“64 der Ideologie Hitlers. Was geschehen ist, konnte sich nur mit der Hilfe oder mit der Zustimmung einer ganzen Gesellschaft durchsetzen. Die Taten der Nazis haben uns eine Lektion erteilt, was Habermas so auf den Punkt brachte: „Wir wissen nicht, wozu überhaupt Menschen fähig sind“65. Für Hannah Arendt ist folgendes eine der wichtigsten Eigenschaften des Terrors: Dem Terror gelingt es, Menschen zu organisieren als gäbe es sie nicht im Plural, sondern nur im Singular, als gäbe es nur einen gigantischen Menschen auf der Erde, dessen Bewegungen in den Marsch eines automatisch notwendigen Natur- und Geschichtsprozess mit absoluter Sicherheit und Berechenbarkeit einfallen.66

Diese Vernichtung der Pluralität wird durch einen Abbruch der Kommunikation erreicht. Der Terror trifft die Menschen in einer totalen Herrschaft willkürlich, das heißt also, dass kein Unterschied gemacht wird, wer sterben soll und wer nicht, wenn wir es aus der Perspektive der Moral betrachten. Der Terror verhält sich also wie eine Naturkatastrophe: Wer sterben oder leben muss, wird vom Zufall entschieden67. Der Terror ist als eine brutale Ablehnung der Kommunikation und der Pluralität zu verstehen. Das freie Denken und Handeln des Menschen, das sich auf den kategorischen Imperativ Kants bezieht, findet unter dem Terror keinen Platz. In einem Brief von Arendt an Jaspers schrieb sie: Was das radikal Böse nun wirklich ist, weiß ich nicht. [...] Die modernen Verbrechen sind im Dekalog nicht vorgesehen. Oder: Die abendländische Tradition krankt an dem Urteil, daß das Böseste, was der Mensch tun kann, aus den Lastern der Selbstsucht stammt; während wir wissen, daß das Böseste oder das radikal Böse mit solchen menschlich begreifbaren, sündigen Motiven gar nichts mehr zu tun hat.68

Die Moral sucht Antworten auf eine Frage: Was soll ich tun? Hier wirkt die Moral wie ein Widerspruch. Was für eine Person moralisch gut ist, kann für eine andere moralisch schlecht sein. Die Götter und die Heiligen sind tugendhaft und, wie wir im ersten Kapitel dieser Arbeit gesehen haben, sie sind die Personifizierung der absoluten Güte. Dafür brau!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 64

Hoster, Detlef. Online bei: http://www.detlef-horster.de/texte/mainz.pdf (aufgerufen am 15.06.15) S. 6. Habermas, 2001. S. 195. 66 Arendt, 1985. S. 714. 67 Vgl. Neiman, 2014. S. 412. 68 Arendt, 1985. S. 202. 65

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chen die Menschen die Moral als Orientierung dafür, was sie tun sollen, um die beste zwischen allen anderen Möglichkeiten auszuwählen. Wenn man das so verstehen mag, muss man auch die Vielfalt an Meinungen innerhalb eines rationalen Rahmens als eine Widerspiegelung der Pluralität und der Kommunikation zwischen Menschen betrachten. Der Nationalsozialismus hat es geschafft, mittels der Ideologie und des Terrors die Kommunikation zwischen den Menschen zu verhindern. Es konnte nur eine einzige Meinung geäußert werden. Die Machtlosen müssen schweigen und man hört nur die Meinung der Stärksten. Die ist aber mehr eine Ideologie als eine Meinung. Unter Meinung versteht man ein mehr oder weniger rational überlegtes Denken. Die Nazi-Ideologie ist eher eine meistens klischeehafte, unbegründete Sammlung von Slogans und falsch interpretierten Rassentheorien verstehen. Eichmann vertrat in diesem Sinne keine eigene Meinung, sondern eher eine Ideologie. Die Sünde Eichmanns war es folglich, dass er sich nicht getraut hat, selbst zu denken. Und dies musste er auch nicht, weil man in einem solchen Umfeld, wie dem Dritten Reich, nicht unbedingt denken muss, sondern nur Befehle befolgt. Eichmann war der Prototyp des selbstverschuldeten unmündigen Menschen. So definierte Immanuel Kant die Aufklärung, als der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Wer eine Ideologie hat, braucht nicht zu denken. Jemand hat es schon für ihn getan. Eine neutrale Bedeutung des Begriffes „Ideologie“ wäre „jedes System von Ideen, Meinungen und Werten [...], das Gruppen zur Legitimation ihrer eigenen Handlungen und zur Beurteilung der Handlungen Fremder benutzen.“69 Die Ideologie des Dritten Reiches glaubte daran, dass es in der Gegenwart einen Verfall oder eine Umkehrung der alten guten Werte gibt. Schuldig an dieser Umkehrung waren nach der nationalsozialistischen Ideologie die Juden. Die neodarwinistische Perspektive des Nationalsozialismus brachte mit sich, dass, um die alten Werte wiederherzustellen, die Juden vernichtet werden müssten; erstens weil diese eine niedere Rasse Europas seien und zweitens, weil sie die Hauptvertreter der schlechten aktuellen Werte seien. Außerdem meinte Nietzsche, dass das Abendland auf den Säulen einer falschen Moral basiert. Nach einer falschen Interpretation der Ideen Nietzsches durch die Nazis, war die Schlussfolgerung keine andere als die, dass es nötig gewesen wäre, die christlich-jüdische Tradition, allen voran die Juden als angeblich Hauptvertreter dieser Moral, !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 69

Aus dem UTB-Online-Wörterbuch unter dem Link: http://www.philosophie-woerterbuch.de/onlinewoerterbuch/?tx_gbwbphilosophie_main%5Bentry%5D=426&tx_gbwbphilosophie_main%5Baction%5D=show&tx_gb wbphilosophie_main%5Bcontroller%5D=Lexicon&cHash=0699b0f7a2bc8c81d9960451928c335c (Aufgerufen am 30.06.2015)

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zunichtezumachen. Hannah Arendt empört nicht, dass das Nazi-Regime eine „Negation der Moral“ verübte und damit alle möglichen Verbrechen beging. Was Arendt wirklich empört ist die Tatsache, dass nach dem Holocaust einfach die alte Moral, die es vor Hitler gab, zurückgestellt wurde, als hätten uns die Schandtaten des Dritten Reiches keine Lektion erteilt. In den 50er und 60er Jahren wurde bereits von der deutschen Gesellschaft akzeptiert, dass der Holocaust ein großer Fehler war, und darüber hinaus etwas war, das man besser vergessen soll. Die alten menschlichen Werte wurden nach der Machtergreifung Hitlers über Bord geworfen und dann in der Nachkriegszeit wieder hergestellt. Und wie wäre es, wenn ein neuer Hitler mit eine neuen Moral käme? Diese Frage stellt sich Hannah Arendt ebenfalls. Haben wir wirklich gelernt, wie wir so was verhindern können? Jaspers meinte, dass die Kollektivschuld immer eine Ungerechtigkeit ist. Arendt vertritt im Gegensatz zu Jaspers die These, dass es eine bestimmte Kollektivschuld geben soll, damit es sich nicht in der Zukunft eine solche radikale Negation des menschlichen wiederholen kann. Sie bezeichnet die Ideologie des Dritten Reiches als „eine Umkehrung der zehn Gebote“70. Es wäre im Nationalsozialismus aus dem „du sollst nicht töten“ ein neuer heiliger Befehl „du sollst töten“ geworden. Das erinnert an die Parabel Abrahams aus dem Alten Testament: Gott befahl Abraham, seinen eigenen Sohn zu opfern. Der gehorsame Stammvater Israels war bereit, den Befehl auszuführen, doch wurde er von einem von Gott geschickten Engel gestört und sein Sohn Isaak lebte weiter. Die Entscheidungen Hitlers glichen heiligen Befehlen, die gegen die Moral waren. Leider waren diese Ausrottungsbefehle eine Pflicht, die wirklich erfüllt werden musste. Im Gegensatz zu der Bibelerzählung gab es für die Opfern der KZs keine Rettung, keinen Weg zurück. Es kam kein Engel, der Erlösung brachte. Die Moral ist der Versuch, die Frage des ‚Was soll ich tun?‘ zu antworten, behauptet Arendt in der Vorlesung der Moral im Werk Über das Böse (2006). Was ist also, was man machen soll? Eichmann sollte machen, wie er behauptete, „was dem deutschen Volk nützt“71. Egal, ob das bedeutete, ein anderen Menschen umzubringen oder nicht. Das war das Rechtsverständnis unter Hitler. Heutzutage sind die Anweisungen der Moral nicht mehr auf eine Zehn-Gebote-Tafel geschrieben, weil das was gegen die Moral ist, sich ändert und an neue und unbekannte Gegebenheiten anpasst. Das Böse war niemals voraussehbar. Wussten die Einwohner Lissabons, dass ein Erdweben ihre Stadt zerstören würde? Mit Sicherheit nicht. Genauso wie Kant sich nach der Katastrophe auf das Vermeiden des Leidens und das !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 70 71

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Arendt, 2014 c. S. 16. Arendt, 2014 a. S. 618.!! 36!

Vorhersehen des Erdbebens konzentrierte, sollte uns Auschwitz ebenso eine Lektion erteilen, die Hannah Arendt noch einmal auf eine hervorragende und konzise Weise erfasst: Das hätte nie geschehen dürfen72.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 72 !Arendt, 2014 c. S. 45.! !

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Bibliographie

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Arendt, H. 2000: Die verborgene Tradition. Essays. Suhrkamp, Frankfurt am Main. Arendt, H. 2014 a. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus und totale Herrschaft. Piper Verlag GmbH, München. Arendt, H. 2014 b: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Piper Verlag GmbH, München. Arendt, H. 2014 c: Über das Böse. Eine Vorlesung zur Frage der Ethik. Piper Verlag GmbH, München. Bordat, J. 2007. “Kant und das Erbeben von Lissabon” Aurora Magazin < http://sammelpunkt.philo.at:8080/1545/> (aufgerufen am 10.02.15) Habermas, J. 2001: Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX. Frankfurt am Main. Heuer, W. 2006: Hannah Arendt und über das Böse im 20. Jahrhundert, in: Horster, D. (Hg): Das Böse neu denken. Weilerswist. Hill, M. (Hg.) 1979: Hannah Arendt: The recovery of the Public World. St. Martin’s Press, New York. Jaspers, K. 1946: Die Schuldfrage. Lambert Schneider, Heidelberg. Kant, I. 1785: Grundlegung der Metaphysik der Sitten. Korpora.org, Universität DuisburgEssen. Online unter: http://www.korpora.org/Kant/aa04/421.html (aufgerufen am 13.03.15) Levi, P. 2010: Si esto es un hombre. El Aleph, Barcelona.

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Neiman, S. 2004: Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie. Suhrkamp, Frankfurt am Main. Schulze, H. 1996: Kleine deutsche Geschichte. Mit Bildern aus dem Deutschen Historischen Museum. C. H. Beck, München. Villa, D. 1999: Politics, Philosophy, Terror. Essays on the thought of Hannah Arendt. Princeton University Press, Princeton, New Jersey. Voltaire. 1756: „Poème sur le désastre de Lisbonne“. Online bei: Wikisource. San Francisco: Wikimedia Foundation, September 2007. http://fr.wikisource.org/wiki/Poème_sur_le_désastre_de_Lisbonne Wojak , I. 2001: Eichmanns Memoiren – Ein kritischer Essay. Campus Verlag, Frankfurt am Main.

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