Die Aktualität von Karl Marx‘ Religionskritik Veröffentlicht in: MIZ - Politisches Magazin für Konfessionslose und AtheistInnen 3/14 (Marx reloaded – Zur Aktualität von Marxismus und Religionskritik)
„Marx ist tot, Jesus lebt!“ verkündete 1989 der damalige Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) triumphierend vor den polnischen Werftarbeitern in Danzig. Und in der Tat galt Marx in der Zeit nach dem Zusammenbruch des osteuropäischen Staatssozialismus allgemein als ‚toter Hund‘. Zu eng hatten die sozialistischen Staaten ihre politische Autorität an die wissenschaftliche Reputation seines Werkes geknüpft, so dass ihr Scheitern im Kalten Krieg als dessen Falsifikation erscheinen musste. Die sich anschließenden ‚Flitterwochen‘ von Kapitalismus und liberaler Demokratie tilgten jede Erinnerung an eine noch auf Marx bezugnehmende realistische Alternative aus dem öffentlichen Gedächtnis. Erst über eine Dekade später, als die Risse und Krisenerscheinungen im globalen Kapitalismus nicht mehr zu übersehen waren, erinnerte man sich wieder an dessen Kapitalismuskritik. Und tatsächlich, war es nicht schon Marx, der das Versprechen der ‚New Economy‘ auf ewig steigende Börsenkurse und krisenfreie wirtschaftliche Prosperität als eine kapitalistische Utopie kritisiert hatte? Da er das Kapitalverhältnis als einen antagonistischen Exzess analysierte, wusste er um die prinzipielle Beschränktheit auch der raffiniertesten Regulierungstechnik, obwohl er die Algorithmen des modernen Computer-Handels noch nicht kennen konnte. Schon die englische Bankreform von 1844 verfolgte, wie Marx 1857 kritisch anmerkte, das unmögliche Ziel ein „selbsttätiges Prinzip für die Papiergeldzirkulation einzuführen, wodurch sich diese genau wie nach den Gesetzen einer reinen Metallgeldzirkulation ausdehnen und zusammenziehen müßte; und alle Geldkrisen würden somit (…) für alle kommenden Zeiten abgewendet werden.“1 Was aber schon damals vergeblich geplant wurde, misslang 150 Jahre später - trotz aller computergenerierten Algorithmen - auch noch Alan Greenspan und Gordon Brown. Auch das neoliberale Phänomen des ‚Kasinokapitalismus‘, das auf die volkswirtschaftlichen Gesetze des Produktionsprozess zugunsten der ominösen ‚New Economy‘ verzichten zu können glaubt, war Marx nicht unbekannt. „Alle Nationen kapitalistischer Produktionsweise“, heißt es im 2. Band von ‚Das Kapital‘, „werden (…) periodisch von einem Schwindel ergriffen, worin sie ohne Vermittlung des Produktionsprozesses das Geldmachen vollziehen wollen.“ 2 Insofern liegt Marx‘ Aktualität darin, dass er das Kapitalverhältnis als einen ebenso kreativen wie destruktiven Exzess analysierte, dessen einzige Schranke in ihm selbst liegt. Gerade weil Marx sich nicht vulgärökonomisch allein mit den partikularen Oberflächenerscheinungen des Wirtschaftens zufrieden gab, sondern den kapitalistischen Wirtschaftsprozess in seiner Totalität aus der Perspektive seines dynamischen modus operandi zum Gegenstand seiner 1 2
Karl Marx: Der Bankakt von 1844 und die Geldkrise in England (MEW 12, S. 314). Karl Marx: Das Kapital. 2. Band (MEW 24, S. 62).
Analyse machte, sind ‚Neuer Markt‘ und ‚New Economy‘ heute längst Geschichte, während die Kritik der politischen Ökonomie höchst lebendig ist. Was ist nun aber mit Jesus und der Religionskritik? Obwohl sich Blüm im Vergleich zu seinen Nachfolgern als relativ ehrliche Haut herausgestellt hat, können wir ihm auch hier nicht recht geben. Die besondere Aktualität von Marx‘ kritischem Denken besteht heute gerade in der eigentümlichen Verbindung von Religions- und Kapitalismuskritik, die den dynamischen und prozessierenden Kern seiner materialistischen Ideologiekritik bildet. Und vielleicht ist dieses wissenschaftliche Projekt in seiner vollen dialektischen Dimension auch erst wieder in der heutigen Situation adäquat zu verstehen, wo sich Kapitalismus und Religion in einer ganz merkwürdigen und unheilvollen Allianz miteinander verschränkt haben. Beginnen wir mit der berühmt-berüchtigten Formel von der Religion als „Opium des Volks“, die der junge Marx 1844 bei der Kritik der Rechtsphilosophie Hegels benutzte. Kritisiert wird hier das „illusorische Glück“ des religiösen Versprechens auf das postmortale Jenseits vom materialistischen Standpunkt des „wirklichen Glücks“ im Diesseits.3 Es ist heute weitgehend vergessen, dass Marx damit, vermittelt über Ludwig Feuerbach, an eine philosophischpolitische Debatte anschloss, die bereits von der Aufklärung eröffnet und im zeitlichen Horizont der Französischen Revolution u. a. von Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder und Georg Forster forciert worden war. Bereits hier spielte der Zusammenhang von Religion und Kapitalismus oder, wie man im 18. Jahrhundert sagte, der Kommerzgesellschaft, eine gewisse Rolle. Während Kant dem eigennützigen Glücksstreben der Menschen unter den Bedingungen des Kommerzes aufgrund der allgegenwärtigen Korruption alle moralische Qualität absprach und die moralische Möglichkeit eines wirklichen, d. h. nicht-korrupten bzw. nicht-entfremdeten Glücks letztlich von der religiösen Annahme eines unendlichen Lebens nach dem Tode abhängig machte, übernahm Forster zwar Kants Kritik an der korrupt-utilitaristischen Glücksideologie, die nur zur Legitimation staatlicher und kommerzieller Herrschaft tauge, verlagerte die mögliche Realisierung wirklichen Glücks aber nicht ins Jenseits, sondern in die höchst reale Politik der Französischen Revolution. Das korrupte Glück wurde durch die menschliche Würde ersetzt. Für den jakobinischen Revolutionär und Repräsentanten der Mainzer Republik Forster bedeutete die revolutionäre Gründung einer demokratischen Republik den ersten und wichtigsten Schritt hin zur Umwandlung des illusorischen und entfremdeten Glücks von Staat, Markt und Religion in ein wirkliches und mit der menschlichen Würde kompatibles Glück der Menschheit.4 Auf dem Spiel stand in dieser Debatte das Verhältnis von kommerzieller Korruption, politischer Ethik und Kants Idee einer nicht-korrupten Religion der Vernunft. Kants Idee der Aufklärungsreligion wurde allerdings erst dann zu einem opiaten Surrogat, als sie die politisch-revolutionäre Realisierung des Glücks in die quasi-religiöse Unendlichkeit post mortem verlegte, was Hegel dann in den Spuren von Forster als ‚schlechte Unendlichkeit‘ 3
Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (MEW 1, S. 379f.). Vgl. dazu den von Forster 1793 im Pariser Exil geschriebenen Aufsatz „Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit“. 4
kritisierte. Letztlich, und das macht die Aktualität dieser Religionskritik aus, geht es hierbei um das Verhältnis von idealistischem Reformismus und dem Materialismus einer ‚revolutionären Realpolitik‘ (Rosa Luxemburg). Dabei trägt die reformistische Figur eines unerreichbaren Ideals, dem man sich nur ewig annähern kann, ohne es jemals zu erreichen, implizit die religiösen Züge einer zynischen Pathologie. Anstatt das Ideal nur in der Anschauung seiner reinen Form zu genießen, hat der Materialismus das Ideal durch eine entschlossene politische Praxis in den Genuss des wirklichen Lebens zu übersetzen und zum Antrieb desselben zu machen. Das ist das gemeinsame Credo, das Marx mit Forster verbindet. Wie eng Marx bei dem Versuch, dem Hegelschen Weltgeist 1844 auf die Sprünge zu helfen, an die ursprüngliche Fragestellung von Kant und Forster anknüpfte, zeigt seine revolutionäre Interpretation des kategorischen Imperativs an. „Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“5 Wenn sich Marx darüber bewusst war, dass Kants Vernunftreligion antikapitalistische Züge trug, könnte das ein Grund dafür gewesen sein, nicht für die pauschale Negation der Religion zu plädieren, sondern die Radikalität seiner Theorie gerade „von der entschiedenen positiven Aufhebung der Religion“ abhängig zu machen.6 Eine pauschale Ablehnung der Religion widerspricht daher nicht nur Marx‘ an Kant und Hegel geschulten Begriff der Kritik, sie birgt auch die Gefahr in sich, die von Kant und Forster geächtete kapitalistische Korruption in Moral und Politik unter der Hand wieder zu rehabilitieren. Wie sehr sich Marx dieser impliziten Gefahr materialistischer Religionskritik bewusst war, zeigt seine Warnung davor, die illusionäre Täuschung der Religion durch die asketisch-mechanische Phantasielosigkeit zu ersetzen. „Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche.“ 7 Die religiöse Sumpfblüte darf daher weder durch den akademischen Intellektualismus noch durch den deterministischen Materialismus ersetzt werden, die allesamt von den pathologischen Gespenstern der kapitalistischen Korruption verfolgt werden. Im Gegensatz zu Feuerbach und allen Spielarten des Sozialdarwinismus bis hin zu Richard Dawkins bietet Marx‘ dialektischer Materialismus Platz für sinnliche Freiheit, kreative Phantasie und politökonomische Emanzipation. Tatsächlich wird die Aktualität von Marx nirgends deutlicher als dort, wo er die Religionskritik mit der politischen Ökonomie verbindet. Wenn er 1844 davon sprach, dass „die Kritik der Religion […] die Voraussetzung aller Kritik (ist)“8, so trifft das auch noch auf die Kritik der politischen Ökonomie und sein Hauptwerk ‚Das Kapital‘ zu. Schließlich spürt er dort jenen „theologischen Mucken“ der Warenökonomie nach, die von gewöhnlichen 5
MEW 1, S. 385. Ebenda. 7 Ebd., S. 379. 8 Ebd., S. 378. 6
Ökonomen des common sense geflissentlich übersehen werden.9 In der Tat birgt die kapitalistische Warenökonomie für jene Ökonomie, die sich bis heute allein an den empirischen Gesetzen von Angebot und Nachfrage sowie dem Grenznutzen orientiert, keinerlei theologische Geheimnisse. Hieraus speist sich ihre Überzeugung, wonach die kapitalistische Wirtschaft prinzipiell steuer- und berechenbar sei, so dass ihre periodische Krisenhaftigkeit allein auf externe Gründe zurückgeführt werden kann, die mittels fortschreitender Deregulierung der Märkte und technisch verbesserten Hilfsmitteln (Big Data etc.) aus der Welt geschafft werden können. Da sie, wie Marx feststellt, „die Wertform als etwas ganz Gleichgültiges oder der Natur der Ware selbst Äußerliches“ behandeln, haftet auch der Geld- und Warenform hier nichts Mysteriöses an.10 Marx, der sich im Unterschied dazu für die „theologischen Mucken“ des Warenfetischismus interessiert, entdeckt hinter der empirisch-materialistischen Fassade der Ökonomen eine zutiefst religiöse Haltung. Er vergleicht diese mit der orthodoxen und rationalisierten Form einer institutionalisierten Religion, die den alten Wunderglauben als überwundenen Aberglauben abtut, der allein noch heidnische Religionen zugeschrieben wird. Exakt in diesem Sinne „gleichen“ die bürgerlichen Ökonomen denjenigen „Theologen, die auch zwei Arten von Religionen unterscheiden. Jede Religion, die nicht die ihre ist, ist eine Erfindung der Menschen, während ihre eigene Religion eine Offenbarung Gottes ist.“ 11 Freilich bringt eine institutionelle Religion neben Rationalisierungs- auch Naturalisierungseffekte hervor, die oberflächlich betrachtet auch als Säkularisierung erscheinen können. Hier liegt die eigentliche Schwelle von der Religions- zur Ideologiekritik. Eine solche säkulare Wahrnehmung wird zudem noch dadurch unterstützt, dass für ihren Vollzug der aktivindividuelle Glaubensakt nicht mehr unbedingt notwendig ist, insofern dieser bereits unbewusst im gedankenlos vollzogenen praktischen Ritual per opus operatum enthalten ist. Wenn etwa das Sakrament der Ehe schon in der alltäglichen Praxis (bspw. dem Steuerrecht) enthalten ist, bedarf es keiner bewusst religiösen Bestätigung desselben mehr. Nicht anders funktioniert das alltägliche ökonomische Ritual des Waren- und Geldtausches. Das Geheimnis der von Marx untersuchten Wertform - der magische Geld- und Warenfetischismus - bedarf keines bewussten Glaubens, da er unbewusst bereits im alltäglich-trivialen Tauschakt präsent ist. Obwohl dieser Fetischismus Voraussetzung für die höchst mysteriöse Verwertung des Werts und die darauf basierende „Verwandlung von Geld in Kapital“ ist, hat das Geld im bewusst wahrgenommenen Alltag gar nichts Magisches an sich. Dort sind die Menschen in der Regel ganz rationale Nutzenmaximierer. Deshalb kann der Kapitalismus hier auch als Marktwirtschaft erscheinen und als solche demonstriert werden. Gleichwohl reproduzieren die Tauschenden dabei dennoch unbewusst ein kapitalistisches Ritual, worin der sich selbstverwertende Wert „die okkulte Qualität erhalten (hat), Wert zu setzen, weil er Wert ist“.12 Die religiöse Dimension des Kapitalismus wurzelt
9
Karl Marx: Das Kapital. 1. Bd. (MEW 23, S. 85). Ebd., S. 95. 11 Ebd., S. 96. 12 Ebd., S. 169. 10
also im Unbewussten. Marx‘ Formel dafür lautet: „Sie wissen das nicht, aber sie tun es.“13 Die Verwertung des Werts und die Verwandlung von Geld in Kapital ist das Sakrament des Kapitalismus. Nur durch diese unbewusste Voraussetzung funktioniert der „absolute Bereicherungstrieb“ als „rastlose Bewegung des Gewinnens“, der sich ganz un-utilitaristisch „Selbstzweck“ ist und die maßlose Bewegung des Kapitals in den Exzess treibt.14 Aber erst dadurch, dass Marx den utilitaristischen Materialismus der Marktwirtschaft mit der religiös-okkulten Dimension der Kapitalzirkulation (G-W-G‘) konfrontiert, wird ersterer als orthodoxer Modus einer ökonomischen Theologie kenntlich. In der Realität geschieht dies im Moment der Krise, wo der magische Charakter der Geldform, der ‚richtiges‘ Geld von allen anderen Waren unterscheidet, offen zu Tage tritt. In diesem Moment verliert die orthodoxe Perspektive ihre ‚natürliche‘ Überzeugungskraft und zieht die fundamentalistische Kritik der Heterodoxie auf sich. So fordert der neoliberale Monetarismus dazu auf, den Geldfetischismus nicht nur unbewusst institutionell vorauszusetzen, sondern sich ausdrücklich dazu zu bekennen („Greed is good!“). Das bewusste und emotionale Bekenntnis zur obszönen Magie des Bereicherungstriebes als Selbstzweck befindet sich dabei in einer symmetrischen Analogie zum religiösen Fundamentalismus, der die säkularen Effekte des institutionalisierten Kapitalismus ebenfalls vom Standpunkt des subjektiven Glaubens bekämpft. Beide sind häretische Positionen, die vom orthodoxen Modus des Kapitalismus erst geschaffen wurden. Insofern besteht zwischen Gordon Gekko - dem Archetypus des neoliberalen Börsenspekulanten in Oliver Stones‘ ‚Wall Street‘ - und Osama bin Laden kein großer Unterschied. Wie weit beide Ideologien einander überlappen, zeigt sich etwa am Phänomen der ‚Tea-Party‘-Bewegung in den USA, die auf dem Gemisch von neoliberalem Marktradikalismus und evangelikalem Fundamentalismus basiert. Für eine marxistische Religions- und Ideologiekritik wäre es aber verfehlt, gegen beide Formen des häretischen Fundamentalismus allein die pseudo-säkulare Position der kapitalistischen Orthodoxie zu verteidigen. Eine positive Aufhebung der kapitalistischen Religion kann letztlich nur von der Überwindung des Zirkels aus Orthodoxie und Heterodoxie ausgehen. Und exakt in diesem Sinne ist Marx heute mehr als aktuell! Axel Rüdiger Universität Hildesheim, Institut für Philosophie
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Ebd., S. 88. Ebd., S. 167f.
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