Deutungsmacht als Machtschranke. Gewaltenkontrolle zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof

July 4, 2017 | Author: Steven Schäller | Category: Constitutional Law, Law and Politics, Comparative Constitutional Law, Judicial Politics, Constitutional Theory, Judicial Decision-Making, Judicial Power, Political Power, Law and Political Science, Bundesverfassungsgericht, Judicial Decision-Making, Judicial Power, Political Power, Law and Political Science, Bundesverfassungsgericht
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Leseprobe Deutungsmacht als Machtschranke Gewaltenkontrolle zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof Steven Schäller

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Deutungsmacht und Machtschranken

Der Europäische Gerichtshof ist ein mächtiges Gericht. Aber wie mächtig ist er? Er wurde als die treibende Kraft hinter dem Prozess der europäischen Integration identifiziert (Dehousse 1998, S. 75; Pollack 2003). Den Ursprung dieser Macht erklären neofunktionalistische Ansätze mit der wichtigen Rolle, die Gerichte spielen können, um ein Kooperationsdilemma zwischen exekutiven und legislativen Akteuren zu überwinden. Durch die Übernahme einer solchen Rolle im Konzert der europäischen Institutionen hat sich der Europäische Gerichtshof selbst in eine mächtige Position manövriert. So ist es vor allem seine Rechtsprechung, die der europäischen Rechtsordnung zur Anerkennung in den Mitgliedsstaaten verholfen hat. Umgekehrt produziert eine zunehmend relevante Rechtsordnung in und zwischen den Mitgliedsstaaten neue Konflikte um die angemessene Auslegung und Anwendung europäischen Rechts. Diese Konflikte werden dann vom Europäischen Gerichtshof entschieden (Höreth 2013, S. 48-50). Aus diesem Kreislauf ging bislang vor allem der Europäische Gerichtshof als Sieger hervor. Daher ist seine Macht unter Neofunktionalisten unbestritten. So ist weder die exekutive Nichtbefolgung, noch ein legislatives Überspielen der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes eine realistische Option für den Europäischen Rat, die Kommission oder das Parlament (Stone Sweet und Brunell 2012). In einer neofunktionalistischen Perspektive erscheint der Europäische Gerichtshof deswegen als nahezu unbeschränkt wirkende und damit mächtige Institution. Intergouvernementale Ansätze fokussieren auf einen anderen Aspekt des gleichen Problems. Der Europäische Gerichtshof mag vielleicht eine mächtige Institution unter den Institutionen der Europäischen Union sein. Er bleibt aber auch weiterhin in seiner Macht beschränkt, da die Mitgliedsstaaten nach wie vor Einfluss auf die Gestaltung des Sekundärrechts über den Europäischen Ministerrat nehmen könnten und sogar – als ultima ratio – in der Rolle der Herren der Verträge das Primärrecht abändern können, um so unliebsame Entscheidungen ungeschehen zu machen. Diese Machtposition der Mitgliedsstaaten ist so gewaltig, dass allein die Präsenz der Drohung ausreicht, um den Europäischen Gerichtshof in die, von den Mitgliedsstaaten gewünschten, Schranken zu

A. Brodocz et al. (Hrsg.), Die Verfassung des Politischen, DOI 10.1007/978-3-658-04784-9_13, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014

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weisen. Die Beschränkungen der Macht des Europäischen Gerichtshofes seien daher als Vorwirkungen auf das richterliche Handeln auch nicht empirisch ohne Weiteres nachweisbar, weswegen diese Perspektive allzu leicht aus dem Blickwinkel der Neofunktionalisten gerate (Carruba et al. 2008, 2012). Empirische Daten deuten jedoch darauf hin, dass dieser intergouvernementale Einwand kein faktischer, sondern ein normativer ist. Exekutive Ignoranz und legislatives Überspielen von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes sind ein kaum zu beobachtendes Phänomen in der europäischen Rechtsordnung. Daher tendieren Vertreter intergouvernementaler Ansätze auch zu einer kontrafaktischen Argumentation, wonach der Europäische Gerichtshof zwar weniger beschränkt ist, als er es sein sollte. Aber die Mitgliedsstaaten bleiben nach wie vor in der entscheidenden Position, den Europäischen Gerichtshof beschränken zu können, wenn sie denn nur wollen, gerade weil sie immer noch die Souveräne des Projekts der europäischen Integration sind. Beide Ansätze geben sich eher zurückhaltend, wenn es um die Analyse von Konflikten zwischen dem Europäischen Gerichtshof und den mitgliedsstaatlichen Verfassungsgerichten geht. Und dies, obwohl hier mit guten Gründen eine gewaltenbeschränkende, vertikale Gegenmacht in bundesstaatsähnlichen Strukturen vermutet werden kann. Neofunktionalistische Ansätze erklären primär die Macht des Europäischen Gerichtshofes innerhalb der Strukturen der Europäischen Union. Intergouvernementale Ansätze betonen dagegen die Souveränität der Mitgliedsstaaten, oder präziser: der Regierungen von Mitgliedsstaaten. Wie kann daher, so lautet die Frage, jenseits dieser beiden Ansätze der Konflikt zwischen dem Europäischen Gerichtshof und den mitgliedsstaatlichen Verfassungsgerichten angemessen beschrieben werden? Der Beitrag versucht eine Perspektive zu entwickeln, in der die Deutungsmacht von Verfassungsgerichten (Vorländer 2006a, 2006b) als Schlüssel für das Verständnis des Konflikts zwischen europäischer und mitgliedsstaatlicher Verfassungsgerichtsbarkeit herangezogen wird. Die Frage nach der Macht des Europäischen Gerichtshofes wird so mit dem Konzept der Deutungsmacht ausdifferenziert und jenseits einer neofunktionalistischen Unbeschränktheitsthese und einer intergouvernementalen These der Souveränität der Mitgliedsstaaten beantwortet. Die Machtschranke des Europäischen Gerichtshofes muss daher in einem System vertikaler checks and balances in der mitgliedsstaatlichen Verfassungsgerichtsbarkeit gesucht werden.

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Die Theorie der Deutungsmacht

Die Relevanz der Theorie der Deutungsmacht von Verfassungsgerichten lässt sich nicht zuletzt dann beobachten, wenn andere Ansätze mit ihren Modellen an die Grenzen der Erklärungskraft kommen. Der neofunktionalistische Ansatz ist ohne Zweifel ein sehr erfolgreicher Ansatz. Mit seinen Modellbildungen hat er das Verständnis institutioneller Akteure und ihrer Handlungsrationalitäten entscheidend vorangebracht. So kann beispielweise Marcus Höreth (2013) in einem jüngst veröffentlichten Beitrag einen Einblick in die Reichweite und Erklärungskraft des neofunktionalistischen Ansatzes geben, offenbart damit aber auch zugleich einige Schwächen. Im Vergleich zum intergouvernementalen Ansatz

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wird so der Neofunktionalismus als die überzeugendere Modellbildung mit Blick auf die Entwicklung der europäischen Integration und der Rolle des Europäischen Gerichtshofes gelesen. Höreth argumentiert von der Position eines historisch grundierten Institutionalismus aus. Er kann damit zeigen, dass die gegenwärtig zu beobachtende unbeschränkte Machtstellung des Europäischen Gerichtshofes innerhalb der Europäischen Union das nicht-intendierte Ergebnis des spezifischen Systems der Gewaltenkontrolle auf europäischer Ebene ist (Höreth 2013, S. 49). So sind in der Europäischen Union die exekutive und die legislative Gewalt auf vielfältige Weise miteinander verschränkt und zwischen verschiedenen institutionellen Akteuren so aufgeteilt, dass sich ein komplexes System horizontaler und vertikaler Gewaltenverschränkung ergibt. So muss sich beispielsweise die supranationale Europäische Kommission die exekutive Gewalt mit den intergouvernementalen Institutionen des Europäischen Rates der Regierungschefs und dem (Minister-)Rat der Europäischen Union teilen. Auch das Europäische Parlament übt die legislative Kompetenz auf europäischer Ebene nicht exklusiv aus. Als supranationales Machtgegengewicht tritt hier zunächst die Kommission auf. Aber auch die intergouvernementalen Institutionen des Europäischen Rates und des Ministerrates haben an den legislativen Kompetenzen einen Anteil. Allein der Europäische Gerichtshof ist, so Höreth (2013, S. 62-68), von diesem komplexen System der Gewaltenverschränkung und Kompetenzteilung ausgenommen. Daher könne eine neofunktionalistische Perspektive auf die Europäische Union bereits die Frage der überragenden Machtstellung des Europäischen Gerichtshofes hinreichend erklären. Die außergewöhnliche Entwicklung des Europäischen Gerichtshofes zu einer der mächtigsten Institutionen der Europäischen Union innerhalb der vergangenen Dekaden erklärt sich so mit der Abwesenheit supranationaler oder intergouvernementaler Gegenmacht. Diese Diagnose ist in ihrer Modellierung der Gewaltenverschränkungen in der Europäischen Union und den daraus zu ziehenden Schlüssen plausibel und dennoch verkürzt. Allein aus der Abwesenheit der klassischen Instrumente der Gewaltenschranken wird die Unbeschränktheit des Europäischen Gerichtshofes angenommen. Und für die supranationale Ebene der Europäischen Union mag dies auch zutreffen. Jedoch verkennt der Neofunktionalismus, auch in der Spielart des historischen Institutionalismus von Höreth, dass die Geltung einer Rechtsordnung mit der Deutungsmacht ihres Interpreten eng verknüpft ist, ja geradezu auf sie angewiesen ist. Die Legitimität einer Rechtsordnung ist nicht allein in ihrer positiven Grundlage zu suchen. Da sie als Verfassung einen politischen Geltungsanspruch formuliert, der mit der Hierarchisierung des Verfassungsrechts vor dem einfachen Recht beansprucht, instrumentelle Ordnungsvorstellungen und symbolische Leitideen einer politischen Gemeinschaft zum Ausdruck zu bringen, muss dieser auch politisch durchgesetzt und kulturell verankert werden. Verfassungsgerichte können diese Aufgabe übernehmen, sind dabei aber an spezifische Voraussetzungen und Bedingungen der Ausübung von verfassungsgerichtlicher Deutungsmacht gebunden. Daher mag der Europäische Gerichtshof in den Semantiken der Gewaltenverschränkung als unbeschränkte Institution der dritten Gewalt gelten. Er mag daher auch etwas anderes sein, als sich dies Montesquieu (1964, S. 588) mit seiner Sentenz von der „en quelque façon nulle“ vorgestellt hat. Ob aber der Europäische Gerichtshof ein deutungsmächtiges Gericht ist, das den politischen Geltungsanspruch der europäischen Rechtsordnung durchzusetzen

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in der Lage ist, bleibt zunächst eine offene Frage. Sie kann jedenfalls auch nicht aus der Perspektive des intergouvernementalen Ansatzes damit beantwortet werden, den Souverän im europäischen Integrationsprozess dingfest machen zu wollen. Das Konzept der Deutungsmacht von Verfassungsgerichten ist dagegen sehr wohl in der Lage, eine differenzierte Antwort auf diese Frage zu geben. Zunächst einmal ist die Annahme zurückzuweisen, dass der Europäische Gerichtshof nicht in eine vertikale Kontrolle der richterlichen Gewalt eingebunden ist.1 Er befindet sich daher auch nicht außerhalb eines Systems der checks and balances. Stattdessen wird der Europäische Gerichtshof von den mitgliedsstaatlichen Verfassungsgerichten in einen Dialog hineingezogen (Voßkuhle 2010), dessen Grundlage für die Selbstbehauptung der Akteure in symbolischen Voraussetzungen und instrumentellen Gelegenheitsstrukturen (Vorländer 2006a; Brodocz 2009, S. 116-133) zu suchen ist, die jedes Gericht für sich selbst begründen und ausgestalten muss. Ein solcher Dialog hat dann auch wenig mit einem simplen Machtspiel zwischen allein rational determinierten Akteuren zu tun. Die Frage nach der Deutungsmacht des Europäischen Gerichtshofes ist daher nur relational zu beantworten. Die Deutungsmacht des Europäischen Gerichtshofes ist so in ein Verhältnis zu der Deutungsmacht mitgliedsstaatlicher Verfassungsgerichte zu setzen, mit denen der Europäische Gerichtshof um den politischen Geltungsanspruch der jeweils eigenen Verfassungsordnung konkurriert.

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Symbolische Voraussetzungen der Deutungsmacht

Den ersten Aspekt der Deutungsmacht von Verfassungsgerichten bilden die symbolischen Voraussetzungen (Brodocz 2009, S. 116-123). Damit sind vor allem die politisch-kulturellen Voraussetzungen benannt, in die eine Verfassungsgerichtsbarkeit eingebettet ist. Diese Voraussetzungen können als notwendig dafür bezeichnet werden, ob ein Verfassungsgericht Deutungsmacht aufbauen kann. Dies ist dann gegeben, wenn erstens eine politische Gemeinschaft ihre Identitäts- und Einheitsvorstellungen einer Verfassung zuschreibt. Aus der Perspektive jedes einzelnen Bürgers symbolisiert die Verfassung daher die Werte der gesamten politischen Gemeinschaft, obwohl es keinen gesamtgesellschaftlichen Konsens darüber geben kann, was diese Werte im Einzelnen bedeuten. Daher ist zweitens die Verfassung als deutungsoffene Verfassung zu bezeichnen, die einen Interpreten benötigt. Dieser Interpret öffnet die symbolische Bedeutung der Verfassung, um sie auf einer höheren Ebene zugleich wieder zu schließen: Denn einerseits entsteht so ein permanenter Diskurs über die essentiellen Sinngehalte der Verfassung. Andererseits aber gibt es keinen Zweifel darüber, dass die Verfassung die gemeinsamen Werte der politischen Gemeinschaft symbolisiert. Ein Verfassungsgericht hat sich daher dann Autorität erarbeitet, wenn es als alleiniger und anerkannter Interpret der Verfassung gilt. Diese Autorität muss drittens 1

In Montesquieus Semantiken der Gewaltenkontrolle war im Übrigen allein der Judikative das Wort séparé vorbehalten (Riklin 1989, S. 432). Exekutive und Judikative dagegen wurden durch Teilung und Verschränkung in ein System der checks and balances gezwungen. Daher kann die Diagnose Höreths aus einer ideengeschichtlichen Perspektive keineswegs überraschen.



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