SANDEEP BHAGWATI _ INTERVIEW ZUR UTOPIE CHORKLANG [Fragen:Dorothea Bossert] SWR 2005 Gesang, wird immer gesagt, sei die natürlichste Art der Musikerzeugung. Stimmt das? Was ist „Natürlichkeit“? Warum singt der Mensch? Man muß ganz klar sehen, dass „die Natürlichkeit des Gesanges“ ein Mythos ist, der kulturell und soziologisch oder sogar ideologisch gefärbt ist - und der bei weitem nicht in allen Kulturen gilt. In der islamischen Welt zum Beispiel gibt es Tendenzen, die den gesanglichen Ausdruck an sich als unterwünscht oder sogar gefährlich betrachten, wie es ja auch in der platonischen Musiktheorie der Fall ist. „Gesang“ machen Menschen - und Menschen sind nie abstrakte Wesen, die ohne Frühstück und Abendbrot und ohne politisches System in der Welt existieren. Sie sind eingebunden in einen Kontext, der dieses Tun ganz stark mitformt. Was heißt das konkret ? Gerade die europäische Gesangskultur ist sehr stark mit ihrer soziologischen Funktion verknüpft: sie wurde entwickelt für Konzertsäle oder Opernhäuser, also für Räume, in denen sich viele Menschen aufhalten (die in diesen Räumen schon per se einen gewissen Geräuschpegel erzeugen) und in denen dazu noch gleichzeitig viele Instrumente erklingen. Um unter diesen Bedingungen gut hörbar zu sein, hat sich unsere „klassische“ Gesangstechnik also zunehmend darauf spezialisiert, die Energie auf ganz wenige spezifische Frequenzen zu konzentrieren und so eine ganz klar umrissene Kontur der Stimme zu kultivieren. Und wie sieht das aus, wenn man den Blick einmal über den europäischen Gartenzaun wagt? Wie ist das zum Beispiel in Ihrer anderen Heimat Indien? In anderen Ländern gibt es andere Techniken. Die indische Gesangtechnik ist für offene Räume konzipiert, für eine sehr kleine Zuhörerschaft und oder sogar für das In-sich-selbstHineinsingen. In Indien ist Gesangstechnik kein Thema. Dort wird über die Kompositionsoder Improvisationstechnik nachgedacht und diskutiert - darüber, wie gut oder wie kreativ ein Musiker die Regeln der Musik erfüllt - aber wie seine Stimme klingt, ist indischen Hörern eigentlich egal. Dementsprechend weit ist auch das Spektrum an Klangmöglichkeiten, von Stimmen, die nach europäischem Verständnis sehr schön klingen, bis hin zu Stimmen, die nach europäischem Verständnis an der Grenze zur Hässlichkeit sind, an der Grenze zum Schrei. Diese Indifferenz gegenüber der Klangqualität der Stimme fand ich in der indischen Musik schon immer sehr spannend, vor allem im Gegensatz zur europäischen Kunstmusik, wo der kontrollierte „schöne“ Stimmklang ja jahrhundertelang im Zentrum stand. Auch in der indischen Tradition haben die Sänger früher bei größeren Versammlungen, also bei mehr als ein oder zwei Zuhörern, ungefähr eine Terz bis eine Quarte höher und sehr forciert gesungen, um zu dieser Versammlung durchzudringen - aus den gleichen physikalischen Gründen wie im Westen. Seit der Erfindung des Mikrophons ist das nicht mehr nötig und die indischen Sänger können durch die Möglichkeiten der Technik bei einer intimen Ausdrucksweise bleiben. Hier im Westen kann man dieses Phänomen ja in der Popmusik ganz analog beobachten. Wenn Gesang vor allem von kulturellen Traditionen geformt ist, hieße das ja, daß jeder Mensch mit der entsprechenden Übung jede Gesangästhetik weltweit nachahmen und erlernen könnte. Nun ja, ich glaube, dass grundsätzlich die Streubreite des Körperlichen innerhalb einer Kultur stets größer sein wird, als die Streubreite zwischen zwei kulturellen Mittelwerten. Natürlich ist
ein finnischer Bassist, der 2,20m groß ist, von seinem Körper her prädestiniert für bestimmte Arten des Stimmklangs, und natürlich werden diese anders sein als die eines Aka-Pygmäen aus Zentralafrika. Aber wenn man den Gesangsbegriff abstrahiert von dem stimmlichen „Material“ und nur die Stimmtechnik betrachtet, glaube ich nicht, dass es da gravierende interkulturelle Unterschiede gibt. Was es allerdings gibt, ist eine Vorformung durch die Muttersprache. Man weiß aus Untersuchungen, dass schon relativ früh in der kindlichen Entwicklung die Fähigkeit, bestimmte Vokale überhaupt voneinander zu unterscheiden, von der Sprache abhängt, die in der Umgebung des Kindes gesprochen wird. Mit dem Erlernen der Muttersprache gewöhnt sich ein Kind dann einen bestimmten Gebrauch des Kehlkopfes, der Zunge, der Lippen und der Mundraummodulationen an, der lebenslang prägt. Dieses frühkindlich Erlernte ist später modifizierbar - neu erlernbar aber ist es nur mit großer Mühe und in Grenzen. Ein Beispiel aus meiner Familie: Im Indischen zum Beispiel gibt es den Konsonanten „ñ“, wie in dem Wort „pañi“=„Wasser“ - aber diesen Klang kann nur bilden, wer ihn sehr früh als Kind gelernt hat. Ich kann ihn aussprechen, weil ich in Indien geboren bin - meine Schwester ist 11 Jahre jünger und in Deutschland groß geworden - ihr ist es nicht möglich, diesen Klang richtig aussprechen, obwohl sie ja genetisch nicht sehr unterschiedliche Anlagen hat. Ein solcher sprachspezifischer Gebrauch von Kehlkopf, Zunge, Lippen und Mundraum aber muß sich auf das Singen auswirken, das kann ich mir nicht anders vorstellen: denn Sprachund Stimmapparat sind ja ein- und dasselbe. Im Jazz, in der Weltmusik gibt es längst eine Vermischung und gegenseitige Befruchtung der einzelnen musikalischen Kulturen. In der Vokalmusik gibt es das fast nicht. Liegt darin ein unausgeschöpfter Vorrat an Techniken, der die Entwicklung der Vokalmusik bereichern könnte? Möglicherweise - aber dazu braucht es bestimmte Rahmenbedingungen, die im Moment nicht gegeben sind. In einigen Musikhochschulen in Holland und Amerika gibt es die Möglichkeit, „Belcanto“ (um diesen Gesangsstil mal stellvertretend für den europäischen Kunstgesang zu nennen) und gleichzeitig eine nichteuropäische Art des Singens zu studieren. Leute, die so ausgebildet sind, könnten vielleicht die Entwicklung der Chormusik in eine andere Richtung bringen - wenn es genug davon gäbe. Ob das aber der Trend der Zukunft ist oder nur eine vorübergehende Modeerscheinung... Von meinen persönlichen Erfahrungen her, die ich mit Musikern aus den verschiedenen Teilen der Welt in den letzten Jahren gemacht habe, glaube ich nicht, dass eine solche Bewegung von Europa ausgehen wird, denn in Europa ist die eigene Musikkultur sehr stark und autark. In Ländern wie China dagegen, wo es zwar eine eigene starke Musikkultur gibt, man sich aber eher am Westen orientiert, wachsen viele Musiker völlig selbstverständlich polyästhetisch, polyvokal, polyglott auf, weil sie das chinesische und das westliche Musiksystem von Kindesbeinen an kennen. Wenn überhaupt, wird eine Weiterentwicklung der Vokalmusik aus diesen Ecken der Welt kommen, weil es dort genug individuelle Menschen gibt, die diesen Umschwung auch mit ihrer ganzen Persönlichkeit stützen können. Aber daß ein erwachsener europäischen Sänger eine ihm völlig fremde Ästhetik nachträglich zwischen dem 20. bis 50. Lebensjahr erlernt - das halte ich eher für unrealistisch. Sie hätten die utopische Chance einen Kompositionsauftrag zu bekommen, nämlich entweder für das SWR Vokalensemble Stuttgart oder für ein solches musikalisch polyglottes Ensemble von dem Sie eben gesprochen haben. Welches der beiden würden Sie favorisieren und warum? Das SWR Vokalensemble hat den unschätzbaren Vorteil, das es eine Geschichte und eine gewachsene Struktur hat und dass die Menschen, die in diesem Ensemble
zusammenarbeiten, sich kennen. Wenn das Ensemble, was Sie mir als Alternative geschildert haben, ebenfalls 30, 40 oder 50 Jahre auf dem Buckel hätte (d.h. ich selber müßte mich dann schon der 100 nähern), dann stünde es wirklich pari und hinge nur von der momentanen Stimmung ab. Heute aber würde ich mich auf jeden Fall für das SWR Vokalensemble entscheiden, weil die Geschichte dieses Chores, der gemeinsame Erfahrungsraum der Sänger mir als Komponist a priori eine gewisse Tiefe garantiert. Außerdem hat so eine Entscheidung auch eine realökonomische Seite: ein gewachsenes Ensemble hat eine hohe Effizienz, ich komme also innerhalb der zur Verfügung stehenden Probenzeit meiner kompositorischen Idee so nahe wie möglich. Bis ein neu gegründetes Ensemble zu einem vergleichbaren künstlerischen Ergebnis käme: diese Probenarbeit wäre unbezahlbar. Ich möchte gerne noch einmal zurückkommen auf die Bedeutung, die sie der Geschichte eines Chores zumessen - was macht diese gemeinsame Erfahrung für Sie so wichtig? Das hat generell mit meiner Sicht auf die Musik zu tun, die ich ganz grob skizzieren könnte in einer Umschreibung eines berühmten Satzes von Nietzsche: „Die Partitur ist ein Übergang zwischen der Improvisation alleine und der Improvisation zu vielen“. d. h. ich sehe die Zukunft des Musizierens und Musikmachens in der kollektiven Improvisation. Die 1000jährige Geschichte der Partitur sehe ich als eine Vorphase, (die sicherlich auch noch sehr lange anhalten wird) in der unter „kontrollierten Laborbedingungen“ verschiedene Möglichkeiten des Miteinander-Musizierens getestet werden: die Fähigkeit des AufeinanderHörens, der gemeinsamen Arbeit an einer Interpretation etc. alles das was die Partitur eben ermöglicht im Gegensatz zur Improvisation. Wie funktioniert dann eine solche kollektive Improvisation? Die Sänger in einem solchen „utopischen Chor“ sind dann durch eine tausendjährige Geschichte gegangen und werden wissen, wie man Kontrapunkte improvisiert, wie man Harmonien improvisiert, was gut klingt und was nicht so gut klingt. Und Sie als Komponist sind zu diesem Zeitpunkt X nicht mehr notwendig, sondern einer dieser Singenden? Ich bin sicherlich stark geprägt von der Tatsache, daß in Indien die meisten Musiker Komponisteninterpreten sind. Dort ist es einfach dasselbe, Komponist oder Interpret zu sein und ich bedauere es immer sehr, dass ich es in meinem Leben nicht geschafft habe, beides parallel zu verfolgen. Ich denke aber, dass es möglich sein müsste, eine Kultur zu entwickeln, in der es wieder der Normalfall ist, dass jeder, der Musik macht, sie auch geistig d.h. komponierend - durchdringt. Das geistige Durchdringen der Musik ist eine Sache und funktioniert, sobald es sich um wenige Solisten handelt oder um klar definierte Formen oder Hierarchien. Aber wie soll das mit einem Chor funktionieren? Als Menschen trainieren wir schon sehr lange die Fähigkeit, in einem kollektiven Miteinander zu leben. Ein Chor ist ja eigentlich ein Sinnbild für ein solches Kollektiv und in vieler Hinsicht auch ein Ideal für ein solches Kollektiv. Aber in einer Hinsicht eben nicht: dass er sich noch immer auf eine zentrale Vermittlungsinstanz, den Dirigenten stützt. Meine Idee wäre, dass daraus ein Kollektiv wird, in dem die Verantwortung für das gemeinsame musikalische Erlebnis zwischen allen geteilt wird. Es geht dann in dieser Musik nicht um die Improvisation Einzelner, sondern darum, dass Gruppen von gleichrangigen Menschen sich bewußt auf etwas einigen können, was sie gemeinsam gestalten wollen. Dahinter steht natürlich ein gesellschaftlicher Entwurf: Wir Menschen müssen lernen, auf nichthierarchischer Ebene miteinander umzugehen, anstatt uns auf zentrale Autoritäten und zentrale Vermittlungsinstanzen zu verlassen.
Und was bedeutet das für Ihr eigenes Komponieren? Wie gesagt, mein Utopiehorizont bewegt sich in einer Größenordnung von 500 oder 1000 Jahren. Für mich selbst muß ich mich da mit dem gegenwärtigen Stand der Möglichkeiten begnügen. Um Partituren komme ich also nicht herum. Meine Grundidee kann ich am besten an einem Beispiel aus der indischen Musik erläutern: Dort gibt es die sogenannten „Bols“, das sind Sprachsilben, die dem Schlagzeuger sagen, wie er spielen soll. Das sind Wörter wie „Dha dhin ghete tin“, bei denen jede Silbe für eine bestimmte Aktion steht. Eine Silbe kann z. B. bedeuten: mit zwei Fingern am Rand der Trommel heftig schlagen, oder: mit beiden Händen flach in die Mitte schlagen, den Handballen aufdrücken usw. Jede dieser Silben hat also eine bestimmte Aktion zur Folge, die einen spezifischen Klang hervorruft, denn grundsätzlich gelten diese Bols nur für ein bestimmtes Instrument. Wenn aber – was zuweilen geschieht - derselbe Schlagzeuger solche Bols auf einer ganz anderen Schlagfläche anwendet, erhält er völlig andere Klänge. So sehe ich meine Partiturarbeit der Zukunft: ich will offene Partituren entwerfen, die in dieser Weise hochpräzise sind, die auf der anderen Seite aber den Klang momentanen Begebenheiten überlassen: Welche Sänger machen da mit, welche Hintergründe haben sie und wie formen sie dann diese Vorgaben um, in ihrer Tradition, aus ihrem Klang, aus ihrem persönlichen Background? Und so wäre der Klang beides, einerseits definiert in seiner Abfolge, definiert auch in seiner abstrakten Gestalt - aber eben nicht in seiner konkreten Erscheinungsform. Das erscheint mir eine vielversprechende Methode, mit Kollektiven zu arbeiten. Ich sehe ein solches Kollektiv als ein Bündel von Individuen, als Netzwerk, in dem jedes Individuum ein Knoten ist. Und wenn sich das Netz bewegt, bewegt sich der Knoten mit - trotzdem bleibt er ein Knotenpunkt, in dem verdichtete Prozesse stattfinden, die außerhalb des Knotens nicht stattfinden und die nur an dieser Stelle des Netzes sinnvoll sind - und ein anderer Knoten hat eine andere Funktion. In diesem Netz, das die Musik dann knüpft, ist jeder für die Realisation dieser Partitur gleich verantwortlich. Brauchen Sie dafür Profi-Chöre? Ja. Profi-Chöre haben ja mehrere interessante Eigenschaften: zum einen ist da die feste Besetzung, die gemeinsame Geschichte und die gemeinsam gewachsenen Erfahrungen, das habe ich ja schon gesagt. Dann ist es eine konstituierende Eigenschaft des Professionellen, dass man sich auf Unvertrautes erst einmal einlässt, dass niemand von vornherein sagt, „diese Musik mache ich nicht, die gefällt mir nicht“. Das ist eine sehr wertvolle Qualität für uns Komponisten, die in einem Laienchor nicht immer gegeben ist. Aber das wichtigste ist: In einem Profichor finde ich das notwendige geistige Verständnis für die Musik sehr viel eher als in einem Laienchor, der sich naturgemäß vor allem auf das Sinnliche, Physische, Körperliche konzentriert. Und es sind eben vor allem geistige Herausforderungen, die ich in meine offenen Partituren schreibe - auch wenn diese dann bedeuten, dass jeder Einzelne aus seinem lokalen Kontext agiert, sich mit seinem Körper, mit seiner eigenen Existenz als Mensch und Stimme befassen muss.