Der „Volkstod“ und die Übriggebliebenen Rechtsradikale Angebote und Machtgewinne in abdriftenden und dörflichen Regionen. In: Berliner Debatte Initial 25 (1), 2014, S. 40-53.
Der „Volkstod“ und die Übriggebliebenen Rechtsradikale Angebote und Machtgewinne in abdriftenden und dörflichen Regionen
Kaum ein Tag vergeht, an dem Demoskopen, Politiker oder Medien nicht auf die Herausforderung der Folgen des demografischen Wandels verweisen: Vergreisung, Abwanderung, Fachkräftemangel und Deinfrastrukturalisierung sind nur einige der populären Schlagworte, mit denen die Auswirkungen gesunkener Fertilität und des wachsenden Anteils älterer Mitmenschen thematisiert werden. Begriffe wie „Altenrepublik Deutschland“ oder „Schrumpfrepublik“ sind noch die harmloseren Beschreibungen. Von dem medialen Hype profitieren Populisten, die die Abschaffung Deutschlands prognostizieren, ebenso wie Rechtsradikale, die durch den „schleichenden Volkstod“ um den Bestand der „deutschen Rasse“ fürchten. Die Debatte um den demografischen Wandel hat sich geradezu sprunghaft entwickelt und spart nicht mit Krisen- und Katastrophenszenarios. Diese „Demographisierung des Gesellschaftlichen“ (Barlösius/Schiek 2007) dient vor allem der diskursiven Konservierung des Bestehenden, denn die „aktuelle Debatte über den demographischen Wandel wird beinahe ausschließlich auf die gegenwärtige Verfasstheit der Gesellschaft bezogen. Wenn von einer ausreichenden Kinderzahl und einer ‚alternden Gesellschaft’ die Rede ist, dann ist der Maßstab für ‚ausreichend’ wie für ‚altersideal zusammengesetzt’ die Demographie der Nachkriegsgesellschaft mit ihrer industriellen Produktion und ihrer Form der sozialen Sicherung“ (Barlösius 2007: 30f.). Da sich populärwissenschaftlicher Bevölkerungsstatistiken überwiegend auf die gegenwärtige gesellschaftliche Verfasstheit beziehen, implizieren sie den „Wunsch nach Erhalt des
Überkommenen und fördern im Gegenzug die Angst vor Veränderungen“ (ebd.). So wenig die Landflucht im 19. Jahrhundert ohne Kenntnis der Errungenschaften der industriellen Revolution vorauszusagen gewesen wäre, so wenig lässt sich die zukünftige Bevölkerungsentwicklung der „globalisierten Wissensgesellschaft“ prognostizieren, ohne technisch-ökonomischen Veränderungen Rechnung zu tragen. Es ist angebracht, den aktuellen demografischen Wandel im Kontext tiefgreifender gesellschaftlicher Transformationsprozesse zu analysieren. Gleichzeitig ist es notwendig, gesellschaftliche Entwicklungen und Phänomene auch vor dem sozialstrukturellen und diskursiven Hintergrund demografischer Wandlungsprozesse zu diskutieren. Die Genese des modernen Rechtsradikalismus zeigt auf mehreren Ebenen direkte Zusammenhänge mit den ökonomischen und demografischen Transformationsprozessen: Auf kontextueller Ebene verändern sich Bevölkerungszahl und -struktur durch Abwanderung und Vergreisung. Zurück bleiben in den von negativen Trends betroffenen Regionen vor allem desintegrationsgefährdete Personen mit erhöhter Affinität zu rechtsextremen Orientierungen. Durch Deinfrastrukturalisierung und kommunale Finanznot nehmen zudem staatliche Einflussmöglichkeiten zur Prävention rechtsradikaler Erscheinungen, bspw. durch konkurrierende Angebote der Jugendarbeit, ab. Auf der Ebene „objektivierbarer Machtgewinne“ (Borstel 2009) werden spezifische Erfolge Rechtsradikaler in abdriftenden, oft ländlichen Regionen beobachtet. In den peripherisierten Landstrichen finden bspw. fremdenfeindliche und rechtsextreme Einstellungen
Der „Volkstod“ und die Übriggebliebenen höhere Zustimmung als in sozioökonomisch prosperierenden Gegenden (Quent 2012; Marth u. a. 2010; Hüpping/Reinecke 2007). In Dörfern in Ost- wie Westdeutschland bestehen alltägliche Dominanzräume rechtsradikaler Jugend- und Subkultur (Hafeneger/Becker 2007). Geländegewinne dieser Art werden durch rechtsradikale Bewegungsakteure zunehmend programmatisch unterfüttert und besetzt. Auf der Ebene strategischer und richtungsweisender Politikangebote gewinnt die „Anti-VolkstodKampagne“ in der rechtsradikalen Szene seit einigen Jahren an Bedeutung. Darauf verweisen u. a. Befunde der in den Thüringer Städten Jena und Saalfeld realisierten Untersuchung „Rechtsextremismus im lokalen Kontext“, die in diesem Beitrag referiert werden.1 Intention des lokalen Untersuchungsansatzes ist nicht primär die sozialräumliche Lokalisierung rechtsradikaler Phänomene. Es sollen Erkenntnisse darüber gewonnen werden, welche vor Ort wahrnehmbaren rechten Angebotsstrukturen und sozialen Wandlungsprozesse Machtgewinne vor allem des organisierten Rechtsradikalismus begünstigen oder mäßigen, um somit Ansatzpunkte für die Prävention und Intervention zu identifizieren. Im Rahmen des Forschungsprojektes wurden 2012 31 leitfadengestützte und/oder narrative Experteninterviews u. a. mit Akteuren der Jugend- und Vereinsarbeit, Polizeibeamten, szenekundigen Kommunalabgeordneten und Verwaltungsmitarbeitern realisiert, um Erkenntnisse über rechtsextreme Strategien, sozio-politische, sozio-kulturelle und sozio-ökonomische Rahmenbedingungen und Empfehlungen zur Analyse und Bekämpfung des Rechtsextremismus vor Ort bereitstellen zu können. Seit 2013 wird darüber hinaus eine Untersuchung in der Kleinstadt Kahla durchgeführt. Zuletzt ist im Projektkontext eine Lokalstudie zu Rechtsextremismus und Zivilgesellschaft in der Thüringer Landeshauptstadt Erfurt erschienen (Quent 2013). Aus dem empirischen Material der Untersuchung zum Rechtsextremismus in ländlichen Regionen, welches im Folgenden beispielhaft und auszugsweise zitiert wird, lassen sich zunächst zwei Thesen ableiten: 1. Abdriftende, meist ländliche Regionen sind von einem Akteursmangel geprägt, der dazu beiträgt, dass neue
41 Integrationsräume für die Übriggebliebenen entstehen. 2. Die rechtsradikalen Deutungs- und Lösungsangebote für Folgen des demografischen Wandels basieren trotz modernisierten Auftretens auf der Revitalisierung althergebrachter nationalsozialistischer Diskurse. Zur Annäherung an die Thesen wird zunächst die rechtsradikale „Anti-VolkstodKampagne“ beschrieben und in die Entwicklung des Rechtsradikalismus sowie in historische und zeitgenössische Diskurse eingeordnet. Dabei wird auch deutlich, warum die Kampagne für den organisierten Rechtsradikalismus so attraktiv ist. Anhand der Darstellung rechtsradikaler Erfolgsfaktoren in ländlichen Regionen wird sodann dargestellt, durch welche Dynamiken die Rechtsradikalen von den als „Volkstod“ bezeichneten Wandlungsprozessen derzeit profitieren. Abschließend folgt ein Ausblick auf Perspektiven, Potenziale und Gefahren des demografischen Wandels für die demokratische Kultur.
„Die Demokraten bringen uns den Volkstod – stoppen wir sie!“2 Das aktionistische Vorbild der „Anti-VolkstodKampagne“ lieferten die meist abendlichen Aufmärsche der neonazistischen „Unsterblichen“. Sie ähneln ihrer Erscheinungsform nach Aktionen der linken „Überflüssigen“ oder Demonstrationen der „Anonymous-Bewegung“. Die Überflüssigen tragen bei ihren Aktionen meist weiße Theatermasken und rote Kapuzenpullover, die Anonymous-Akteure das auf weiße Masken gedruckte Konterfei Guy Fawkes’. Auch die Unsterblichen verdecken ihre Gesichter mit ausdruckslosen weißen Theatermasken, tragen dazu jedoch Fackeln und skandieren unmissverständliche Parolen wie „Frei, sozial und national“. Mit den Fackelmärschen stellen sich die Rechtsradikalen bewusst in eine Traditionslinie mit den Nationalsozialisten. Sie sind Teil der Inszenierung der rechtsradikalen Bewegung als Verteidiger des vermeintlich vom Aussterben bedrohten, rassistisch definierten deutschen Volkes. Sie inszenieren martialische Aufmärsche durch kleine Ortschaften, die nach professioneller Videobearbeitung – die
42 nicht selten über eine tatsächlich geringere Teilnehmerzahl hinwegtäuscht – im Internet verbreitet werden. „Die Demokraten bringen uns den Volkstod“ – mit diesem, immer noch beliebten Slogan begann 2006 die rechtsradikale „Anti-Volkstod-Kampagne“ (AIB 2011). Seit ca. 2008 nutzt die radikale Rechte den Begriff „Volkstod“ zunehmend, um soziodemografische Wandlungsprozesse sowie deren vermeintliche Ursachen und Folgen zu kritisieren. Die Ursprünge der Kampagne liegen im ländlich geprägten Südbrandenburg, wo sich viele Dörfer durch den demografischen Wandel tiefgreifend verändern. Als Urheber gilt die Neonazigruppierung „Spreelichter“, die als Teil der „Widerstandsbewegung in Südbrandenburg“ 2012 durch den brandenburgischen Innenminister wegen „Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus“ und „aktiv-kämpferischem Vorgehen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung“ verboten wurde (Ministerium des Innern Brandenburg 2012). In erster Linie richtet sich die „Anti-Volkstod-Kampagne“ an Jugendliche und spricht alterstypische Fragen, Ängste und Alltagserfahrungen an, die insbesondere in abdriftenden und peripheren Regionen virulent sind: „Wie viele Deiner Freunde und Bekannten aus der Schule, aus dem Sportverein, aus der Feuerwehr oder aus dem Jugendclub wohnen inzwischen nicht mehr in Deiner Gegend, weil sie nur weit weg von zu Hause Arbeit finden konnten? Wie viele derer, die noch da sind, werden in nächster Zeit fortziehen?“ (Die Unsterblichen 2013). Die Aktionsform, vor allem aber das Motiv des „Volkstodes“ wurde in der rechten Szene bundesweit aufgenommen. Den zunächst NPDkritischen Aktivisten der „Spreelichter“ folgten bald Anti-Volkstod-Aktivitäten der NPD-Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“ (JN) und der Partei selbst. Inhaltsanalysen von Beiträgen in den seit 2009 erscheinenden so genannten „Regionalzeitungen“ der NPD in Thüringen, die im Rahmen des oben erwähnten Forschungsprojektes durchgeführt wurden, zeigen, dass sich das „Volkstod“-Motiv seit 2011 zum wichtigsten inhaltlichen Paradigma rechtsradikaler Graswurzelarbeit entwickelt hat. In den nächsten Abschnitten wird beleuchtet, welche politischen Themenfelder in
Matthias Quent der Agitation mit dieser Kampagne verbunden werden, warum diese Kampagne in der rechtsradikalen Bewegung so eine hohe Bedeutung gewinnen konnte und welche Übergänge zu demokratischen Diskursen bestehen.
Kampagnen der Rechtsradikalen „Um Anhänger/innen zu mobilisieren und Sympathisanten zu gewinnen, führte der Rechtsextremismus eine Reihe von Kampagnen durch, die darauf zielten, die Legitimität der bestehenden Ordnung in Frage zu stellen, ihre Eliten und Institutionen verächtlich zu machen und den Nachweis zu erbringen, dass es ihnen nicht um deutsche Interessen zu tun sei.“ (Stöss 2010: 31). Diesen Zielen dient auch die „Volkstod-Kampagne“, die der Revisionismuskampagne, der Überfremdungskampagne, der Antiglobalisierungskampagne und der Antiislamkampagne folgt (ebd.). Die Übergänge zwischen den programmatischen Schwerpunkten sind in der Regel fließend. Die „Volkstod-Kampagne“ leistet eine besondere Synthetisierung der vorherigen Kampagnen. Sie ist für unterschiedliche Strömungen der rechtsradikalen Bewegung attraktiv, weil sie die Möglichkeit bietet, sich identitäts- und anlassbezogen spezifischen Aspekten der unter dem Label „Volkstod“ subsumierten Themen zu widmen. Das kann – mit den entsprechenden rhetorischen Verrenkungen – fast alles sein. In klassisch-revisionistischer Manier wird beispielsweise behauptet, der „Volkstod“ sei nach der Kapitulation Deutschlands 1945 das Ziel der Alliierten gewesen, „gewissermaßen eine ‚Endlösung‘, die das deutsche Volk auslöscht oder zumindest die organisch gewachsene Volksgemeinschaft so zerstört“ (Freies Netz Saalfeld 2012). Durch häufige Verwendung konkreter sozialräumlicher Bezüge in der Argumentation dient das „Volkstod-Motiv“ bei der Ansprache der Bevölkerung und den Mobilisierungsbestrebungen von Rechtsradikalen als diskursiver Prozess des frame bridging, der völkische Botschaften mit Fragen des sozialen Wandels wie Abwanderung, Alterung und Schrumpfung verbindet. Im Allgemeinen müssen erfolgreiche
Der „Volkstod“ und die Übriggebliebenen Frames drei Funktionen erfüllen: Erstens bedarf es einer glaubhaften Diagnose der Situation, zweitens Handlungsmotiven und drittens möglicher Lösungen oder Prognosen. Wie bereits das „Ausländerthema“ kann das Volkstodmotiv alle drei Funktionen erfüllen (Bergmann/Erb 1994: 88). In der Problembeschreibung werden zunächst Phänomene dargestellt, die im nahen Sozialraum der Adressaten wahrgenommen werden können (Kinder- und Jugendmangel, regionale Entleerung, Abwanderung von Arbeitsplätzen etc.). Diese werden durch bevölkerungswissenschaftliche Statistiken, die meist der Tagespresse entnommen sind, unterlegt und dramatisiert. „Während deutsche Frauen viel zu wenige Kinder zur Welt bringen und das deutsche Volk somit weiter vergreist, wandern jährlich mehrere tausend nichteuropäische Ausländer ein. Ausländische Frauen gebären im Durchschnitt doppelt so viele Kinder wie deutsche Frauen. Wenn diese Entwicklung weiterhin anhält, sind wir bereits im Jahre 2040 eine Minderheit in unserem Land. […] Das deutsche Volk ist wie kaum jemals in seiner Geschichte gefährdet. Diese Gefährdung ergibt sich aufgrund des seit Jahrzehnten anhaltenden Geburtenmangels und der Duldung, ja sogar Förderung einer multiethnischen Gesellschaft.“ (Aktionsgruppe Rheinland 2010) Apokalyptische Bildsprache spiegelt die Kontinuität und Parallelität zur Überfremdungskampagne, in der diese vermeintlich existenzbedrohende Situation „die Dringlichkeit von Gegenmaßnahmen [begründet] und die Anwendung von Gewalt sowie das Außerkraftsetzen demokratischer Verfahren [rechtfertigt]“ (Bergmann/ Erb 1994: 90). Diese „Angstkommunikation ist auch für (andere) neue soziale Bewegungen typisch“ (ebd.). Dennoch ist die „AntiVolkstod-Kampagne“ mehr als ein Rückfall in die Überfremdungskampagne, da weitere diskursive Entwicklungen des modernen Rechtsradikalismus implementiert werden, die dominante soziale Wandlungserscheinungen thematisieren: „Die Kapitalisten […] versuchen ihre Kosten zu minimieren, um ihren Profit zu maximieren. Kosten minimieren bedeutet dabei, dass Produktionsstandorte und damit Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden. Die Folge davon ist, dass für viele deutsche
43 Menschen, die früher ihr Auskommen hatten, heute nur die Wahl zwischen Hungerlohn oder Arbeitslosigkeit bleibt!“ (Aktionsgruppe Rheinland 2010) Veränderungen der Arbeits- und Wirtschaftssphäre sind aus dieser Sicht Bestandteil des master frame „Volkstod“. Die auf einer zunächst glaubhaften Diagnose – der lokal wahrnehmbaren Abwanderung von Produktionsstandorten – aufbauende „Kapitalismuskritik“ bleibt auf antimoderne und völkische Denkmuster beschränkt. Im Beitrag „Grundlegendes zum Thema Volkstod“ leiten Rechtsradikale die nationalistischen Deutungsund Handlungskontexte ab: „Demnach sollten wir den Nationalstaat als einen Bezugsrahmen verstehen, mit dem die Gemeinschaften erst ihren Schutz finden können. Hier denken wir an Familien, Dorfgemeinschaften, Ehen und Freundeskreise. Wir sind der Auffassung, dass ein souveränes Gemeinschaftskonzept nur im Bezugsrahmen eines Nationalstaates funktionieren kann. In Zeiten der Globalisierung ist der starke Nationalstaat der einzigste Hebel gegen die Entwurzelung der Menschen“ (Aktionsgruppe Rheinland 2011, 2010). Sozialdarwinistische und rassistische Ideologieelemente gehören auch im 21. Jahrhundert zur Grundausstattung des zeitgemäß auftretenden Rechtsradikalismus, dessen Protagonisten sich als Krieger im „Kampf der Rassen“ verstehen. Dieser inszenierte Konflikt bestimmt das Weltbild der rechtsradikalen Akteure, die sich selbst als „Nationale Sozialisten“ bezeichnen: „Wir National(e) Sozialisten kämpfen selbstverständlich gegen den Volkstod. Denn wir sind der Auffassung das man die ‚deutsche’ Rasse welche die Natur hervorgebracht hat schützen muss. Denn diese ist der Lebensquell unseres Volkes. Deswegen werden wir nicht ruhen bis unser Volk befreit und genesen ist von dem Virus von dem es befallen ist. […] Seit Beginn der Zeitrechnung kämpfen die verschiedenen Völker oder gar Arten (welche Existenz man nicht leugnen kann) den Kampf ums Dasein. Dieser Kampf dauert bis in die Gegenwart an und läuft zur Zeit immer noch. Die verschiedenen Rassen kämpfen um ihren Erhalt. Sie schützen sich z.B. vor fremdartigem Einfluss etc. Wir national(e) Sozialisten stehen
44 heute immer noch für diesen Kampf ein. Wir möchten das unsere Art nicht zugrunde geht oder überfremdet wird. […] Man sollte sich bewusst machen das der Mensch ohne sein Volk seine Rasse nicht leben kann da ihm die Identität fehlt, welche ihn zu einem Teil von etwas großen nämlich zu einem Teil des Volkes macht“ (Aktionsgruppe Rheinland 2011). Das Bekenntnis zum ewigen Rassenkampf ist zugleich Handlungsaufforderung, den „Volkstod“ abzuwenden. Darüber hinaus werden antipluralistische und antidemokratische Forderungen erhoben, die bestehende Gesellschaftsordnung zu verändern („Volksgemeinschaft statt Ellenbogengesellschaft“) und für eine starke deutsche Nation einzutreten.
Revitalisierung nationalsozialistischer Diskurse Für die postnazistischen Rechtsradikalen ist die sprachliche Wiederaneignung des VolkstodTerminus nicht zuletzt wegen der impliziten Revitalisierung nationalsozialistischer Diskurse der Bevölkerungspolitik attraktiv. Über den populären Verweis auf den demographischen Wandel kann mit eingängiger Parole die Verbindung zum völkisch-rassistischen Weltbild der Nationalsozialisten hergestellt werden. Parallel zum „Volk ohne Raum“-Paradigma der Nationalsozialisten prognostizierte ein zweiter, antagonistischer Diskurs der angeblichen Unterbevölkerung den „Volkstod“ durch Kinderarmut und Überalterung.3 Der Bevölkerungswissenschaftler Friedrich Burgdörfer, der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einen Lehrauftrag an der Universität München erhielt und 1960 als Ehrenmitglied der Deutschen Statistischen Gesellschaft aufgenommen wurde, war nicht der Erste, der den demografischen Wandel in Deutschland thematisierte (Bryant 2011), aber in den 1930er Jahren der publizistisch Erfolgreichste. Insbesondere sein 1932 erstmals veröffentlichte Werk „Volk ohne Jugend“ verhalf dem nationalsozialistischen bevölkerungspolitischen Diskurs zu erheblicher Aufmerksamkeit. Burgdörfer argumentiert später, dass die „weiße Rasse“ bislang wesentlich stärker in der Zahl gewachsen sei als die
Matthias Quent biologisch unterlegenen Farbigen. Die Weißen seien jedoch bequem, müde und irre an sich selbst geworden, drosselten ihre Vitalität und begingen somit Rassenselbstmord, während die Bevölkerung der „anderer Rassen“ prosperiere. Die Globalisierung verschärfe diesen Prozess, weil die Wirtschaft keine Rassen- und Volkstumsunterschiede, sondern nur Arbeitskräfte und Konsumenten kenne, billige Arbeiter aus fremden Völkern bevorzuge und somit der „Überfremdung“ Vorschub leiste. Das Hauptproblem, so Burgdörfer, „es sind einfach nicht genug Weiße da, um so die leeren Räume der Erde zu besiedeln und vor der Expansion der Farbigen zu bewahren“ (zitiert in: Vienne 2010: 268f.). Führt er die Ursachen für den Geburtenrückgang der Deutschen im Besonderen und der Weißen im Allgemeinen zunächst vor allem auf den Individualismus zurück, gibt Burgdörfer 1938 den „Juden“ und deren „destruktiven geistig-seelischen Einflüsse[n]“ die Schuld am Bevölkerungsschwund (ebd.). In der dritten Auflage von „Volk ohne Jugend“ (1935) betont der Autor an verschiedenen Stellen den aus seiner Sicht begrüßenswerten Einfluss der nationalsozialistischen Herrschaft und Rassengesetzgebung für die Bevölkerungsentwicklung: „Selbstverständlich hat die Erneuerung unserer politischen, wirtschaftlichen, sozialen Lebensverhältnisse wie für alle Gebiete des öffentlichen Lebens auch für die Bevölkerungsfrage ganz grundlegende Bedeutung. Das läßt sich schon heute – zehn Monate nach der Machtübernahme durch die nationalsozialistische Bewegung – auch zahlenmäßig feststellen. Seit der Machtergreifung hat auch sofort der Kampf gegen Volksnot und Volkstod begonnen, und schon zeigen sich die ersten Früchte dieses Kampfes. […] Die erste Tat war das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Dadurch soll die Fortpflanzung erbkranker, asozialer, minderwertiger Elemente, die – im Gegensatz zu der völlig unzulänglichen Fortpflanzung der Hochwertigen – infolge geradezu hemmungsloser Fortpflanzung das Volk zu überwuchern und rassisch zu verschlechtern drohte, hintangehalten werden. Das minderwertige und erbkranke Blut soll durch Unfruchtbarmachung der Erbkranken allmählich aus dem Erbstrom des Volkes ausgeschieden und ausgemerzt wer-
Der „Volkstod“ und die Übriggebliebenen den“ (Burgdörfer 1935: 453f.). Bis 1945 kamen durch die Umsetzung des Gesetzes tausende Menschen ums Leben, mindestens 400.000 wurden zwangssterilisiert (Bock 1986). Dank der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik, so Burgdörfer 1940, seien zwischen 1934 und 1939 2,25 Millionen „Kinder des Vertrauens“ zur Welt gekommen. Dadurch sei Deutschland kein „Volk ohne Jugend mehr“; stattdessen gehöre es nun mit Italien zu den „fruchtbaren und jungen Völkern“ Europas (ebd.). Die bei Burgdörfer aufgeführte, detaillierte Kalkulation über die erwartbaren finanziellen Folgen der „Überalterung des Volkskörpers“ für das deutsche Sozial- und Krankensystem sind frühe Vorboten aktueller Debatten und Statistiken über die Kosten des demografischen Wandels. Im nationalsozialistischen Deutschland manifestierte sich dies „in alltäglicher Altersdiskriminierung bis hin zu Gerontoziden in Alters- und Pflegeheimen“ (Bryant 2011). Auch im Kontext von Facharbeitermangel und Arbeitsmigration sind diskursive Kontinuitäten von Alt- zu Neonazis festzustellen: Weil die Kinderarmut des eigenen Volkes Lücken in der Wirtschaft hinterlasse, so Burgdörfer (1935: 220), „rücken volksfremde Elemente mit primitiveren Lebensverhältnissen und bescheideneren Lebensansprüchen ein“. Durch die „Unterwanderung durch volksfremde Elemente […] ergeben sich […] schwere Gefahren für die Behauptung des deutschen Volkstums, besonders im Osten unseres Vaterlandes, wo die Gefahr durch die Landflucht noch verstärkt wird“ (ebd.). Burgdörfer gilt die Wanderungsbewegung der Landbevölkerung in die Städte als wichtige Ursache für den „Volkstod“, weil, wie er statistisch nachweist, die Geburtenrate in den Städte besonders niedrig ist. Dagegen steht für ihn das ländliche Bevölkerungswachstum als letzter, jedoch durch die urbanen Zentren bedrohter Aktivposten. Denn die Großstädte, so Burgdörfer, ziehen „[w]ie gewaltige Saugpumpen […] die besten Kräfte des Volkes, Männer und Frauen im zeugungs- und gebärfähigsten Alter an sich und das Ende all der Blut-, Kraft-, und Lebensfülle der Großstadt ist mehr oder weniger freiwillige Unfruchtbarkeit, Aussterben der vom Boden gelösten Familien und Familienzweige […]. Volksbiologisch betrachtet ein
45 gewaltiger Leerlauf und eine ungeheure Gefahr für unser ganzes Volkstum! Die Städte leben und wachsen nur noch aus dem lebendigen Blutstrom, der ihnen vom Land zufließt. Wie lange wird aber das Land noch zu solcher Blutabgabe in der Lage sein?“ (ebd.: 38)
„Landflucht ist Volkstod“ Aus ideologischen wie kriegstaktischen Gründen betonte die NS-Führung die Bedeutung des Lebens auf dem Lande als natürlichen und volkstumsfördernden Lebensstil. Gegen Urbanisierung und Industrialisierung wurde die Bedeutung der Landbevölkerung, insbesondere des Bauernstandes, hervorgehoben. Die Dorfjugend sollte den Verlockungen der Städte widerstehen und stattdessen die „Ernährung im Kriege“ und die Bestellung von „Bauernland im deutschen Osten“ gewährleisten. Dies der Jugend nahezulegen, oblag vor allem den Landlehrern. In der Schrift „Landflucht ist Volkstod. Ein Wort an die Lehrer zur Schulentlassung der Landjugend“ des völkischen Schriftstellers Heinrich Sohnrey (1939) wurde an die Lehrer appelliert, ihre Schülern für Berufe in der Landwirtschaft zu begeistern. Auf dem Lande, so heißt es, sprudele „der Quell des nordischen Blutes“. Die „Scholle“ als natürliche Verbindung zwischen deutschem Boden und dem „deutschen Blut“ fungierte als Gegenentwurf zum Leben in der modernen Großstadt. Zudem wurde ein Zusammenhang zwischen Landflucht und natürlicher Fruchtbarkeit konstruiert. Die individuelle, häufig wirtschaftlich begründete Entscheidung für eine geringere Kinderzahl der Stadtbevölkerung galt Sohnrey – im Gegensatz zur vergleichsweise prosperierenden Bevölkerungsentwicklung auf dem Lande – als „Volkstod“: „Der naturgeborene Antrieb zur Sicherung der eigenen Arterhaltung auf dem Sippenerbe verfliegt mit der Loslösung von der tragenden Scholle. Und wo man gesunde und tüchtige Landarbeiterfamilien in die Stadt verpflanzte, schwand in der nächsten Generation schon die bekannte natürliche Fruchtbarkeit, die einst die Familien auszeichnete. Wo rein wirtschaftliche Erwägungen zwangsläufig
46 den Ausschlag geben, schleicht sich der Geist des Materialismus ein. Materialismus aber in seiner straffen Form bedeutet Volkstod“ (Sohnrey 1939: 13).
„Volkstod“ als Brücke in die Mitte Burgdörfer beschreibt im ersten Teil von „Volk ohne Jugend“ sowohl einen quantitativen Bevölkerungsrückgang als auch einen „qualitativen Bevölkerungsabstieg bei zu schwacher Fortpflanzung der Höherwertigen“, der die Zunahme des Anteils der „Minderwertigen“ gegenübersteht. Dabei sei, so der von ihm zitierte Rassehygieniker F. Lenz, „ein rascher Rückgang der Begabung unserer Bevölkerung eine unentrinnbare Folge“ (Burgdörfer 1935: 71). Immerhin 80 Jahre und einige historische Lehren später wird in einem zeitgenössischen Bestseller behauptet, dass „wir die Grundlagen künftiger Wohlstandssteigerungen aufzehren, […] quantitativ und qualitativ: quantitativ, weil seit 45 Jahren jede neue Generation etwa ein Drittel kleiner ist als die vorhergehende, während gleichzeitig die Lebenserwartung steigt, qualitativ, weil sich die Bildungsfähigkeit und die Bildungsvoraussetzungen der Neugeborenen kontinuierlich verschlechtern und die Mentalität zu verkümmern scheint, die die Grundlage jeden produktiven Aufbruchs ist“ (Sarrazin 2010: 5). Wenngleich Sarrazin auf eine Quellenangabe verzichtet, liegen die Wurzeln seiner bevölkerungspolitischen Grundthesen in der nationalsozialistischen Bevölkerungswissenschaft. Während bei Burgdörfer der biologischen „Wertigkeit“ des Volkskörpers zum Zweck der Besiedlungsfähigkeit von „Raum“ die zentrale Bedeutung zukommt, ist bei Sarrazin die Fähigkeit zur nationalen „Wohlstandssteigerung“ im globalen Wettbewerb der positive Bezugspunkt. Die vermeintliche Gefährdung der deutschen Bevölkerungsqualität suchen beide Autoren in erster Linie im Fremden und sodann in der vergleichsweise geringeren Fertilität der Deutschen. Dramatisierende Bevölkerungsdiskurse ziehen sich wie ein roter Faden durch das Deutschland des 20. Jahrhunderts (Etzemüller 2007: 12). Schon bevor Sarrazin die
Matthias Quent demografische Debatte mit dem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ populistisch interpretierte, war die Debatte um die geringere Fertilitätsrate der Abstammungsdeutschen und das Konfliktpotenzial in einer politisch konstruierten Konkurrenzsituation mit Migrantencommunities in deutschen Medien seit der Jahrtausendwende verstärkt präsent. Der Erfolg seines Buches, das der Debatte keine neuen Argumente oder Informationen hinzufügte, indiziert die große emotionale Begeisterungsfähigkeit für apokalyptische Perspektiven nationaler Bevölkerungspolitik und -entwicklung sowie die verbreitete Angst vor dem Verlust der nationalen Identität. Während die neonazistische „Anti-Volkstod-Kampagne“ auf die „Reinheit der Abstammung“ und die „deutsche Rasse“ referiert, betont Sarrazin „das Deutsche“ explizit durch „seine Bewohner und deren lebendige geistige sowie kulturelle Tradition“ und ex negativo in Abgrenzung gegenüber „Fremden“, insbesondere Muslimen. Die Fragen: „Wieso leben wir eigentlich noch? Wieso sind wir nicht von der Bildfläche verschwunden und die Afrikaner, Asiaten und Slawen besiedeln unsere Heimat?“ (Etzemüller 2007: 10) werden durch die historische Kontinuität der demografischen Untergangsdebatte beantwortet: Der apokalyptische Diskurs war schon immer ahistorisch und konstruiert. Zu Recht merkt Foroutan (2010: 70) an, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit jenseits von Untergangsszenarien längst die sozialen, generationalen und ethnischen Konflikte austrägt, hinter denen manche den Untergang wittern. Einig sind sich alte und neue Nazis mit Sarrazin in der sozialen Hierarchisierung der Gesellschaft. (Haller/Niggeschmidt 2012: 181).
Machtgewinne des Rechtsradikalismus Tatsächlich profitieren die Rechtsradikalen derzeit von dem, was sie unter „Volkstod“ verstehen. In ländlichen, ökonomisch abdriftenden und soziodemografisch alternden Regionen finden Rechtsextreme leichter Akzeptanz, die sich derzeit vor allem in jugendkultureller Hegemonie, lokalen Wahlerfolgen rechtsradikaler Parteien und der stärkeren Affinität zu abwertenden und
Der „Volkstod“ und die Übriggebliebenen rechtsextremen Orientierungen äußert.4 Die wahrgenommene soziale Bedrohung sowie die Angst vor sozialem Abstieg sind in abdriftenden Regionen weiter verbreitet als in besser gestellten Regionen. Die subjektiv Abstiegsbedrohten reagieren verstärkt mit der Abwertung sozialer (Außen)Gruppen (Hüpping/Reinecke 2007). In sozioökonomisch abdriftenden Regionen Thüringens ist die Zahl rechtsextremer Eingestellter fast doppelt so hoch wie in besser situierten Regionen desselben Bundeslandes (Quent 2012). Wie in städtischen Unterschichtenvierteln wachsen auch in peripherisierten Regionen „Kreise kollektiver Identität“ (Castel 2000: 360), deren interne Integrations- und Desintegrationsmechanismen kaum erforscht sind. Weil Wandlungsprozesse der Bevölkerungs- und Infrastruktur sowie deren direkte und indirekte Folgen auf die Qualität und Kultur des Zusammenlebens in peripheren, ruralen und abdriftenden Regionen ohne die Zusammenhänge der Veränderung der Arbeitswelt nicht zu verstehen sind,5 bietet sich eine räumliche Interpretation des Zonenmodells der Integration von Castel an, um jene räumlichen Reproduktionsprozesse der Komplementarität zwischen Integration durch Arbeit und der Dichte der Integration in Beziehungsnetzwerken der Familie und der Gemeinschaft zu beschreiben. In abdriftenden Regionen ist durch Abwanderung, fehlende Arbeitsplätze und Bezugspersonen für relevante Teile der Bevölkerung die Integration durch Arbeit wie auch die Integration durch das Gemeinwesen gefährdet. Wenn durch soziale Segregationsprozesse zunehmend nicht nur Individuen, sondern die Wohnbevölkerungen ganzer Stadtteile und Regionen Statusbedrohungen erfahren, ist anzunehmen, dass die Wahrnehmung und Beobachtung von Abstiegsprozessen und -ängsten in der nahen sozialen Umwelt auch die Entwicklung der Identität und Mentalität von Personen prägen, die selbst nicht unmittelbar objektiv bedroht sind. Fraternale Deprivationsgefühle, die auch unabhängig von individueller Deprivation bestehen, haben eine dominante Bedeutung für gruppenbezogene Einstellungen (Ethnozentrismus) (Rippl/Baier 2005: 662f.). Wichtiger als die Befriedigung des Eigen-
47 interesses von Individuen ist die Bedeutung der Eigengruppe für die Definition des Selbst. Reale Konkurrenzsituationen vermischen sich mit Wahrnehmungen der Eigengruppe, die dann in kompensatorischer Weise auf Fremde projiziert werden (ebd.). Zonen der Entkopplung und Vulnerabilität (Castel 2000: 360f.) wachsen in abdriftenden Regionen, in denen sich nicht nur objektiv Betroffene, sondern ganze Bevölkerungsgruppen als sozial verwundbar erfahren und definieren. Rechtspopulismus ist dabei ein „politischer Ausdruck“ (ebd.: 357) der Verunsicherung der Arbeiter- und Mittelklasse. Weil die soziale Frage nicht mehr nur den exklusionsbedrohten gesellschaftlichen Rand betrifft, ist mit Machtgewinnen populistischer Erscheinungen aus und in den Zwischenklassen zu rechnen, die sich in kleinräumlichen und deprivierten Kontexten u. a. in den vergleichsweise hohen Wahlergebnissen für rechtsradikale Parteien bemerkbar machen. Diese Bedrohung ist vor allem dort virulent, wo rechtsradikale Akteure erfolgreich Nischen besetzen können. Solche existieren in verdichteten Wohngebieten kaum. Während insbesondere in städtischen Milieus ein „Platzmangel in der Sozialstruktur“ (ebd.: 359) sichtbar wird, der sich im Fehlen von Positionen gesellschaftlicher Nützlichkeit und öffentlicher Anerkennung äußert, sind Räume der Entleerung, Vergreisung und Schrumpfung von einem dazu antagonistischen Mangel an Positionsinhabern und Jungen geprägt, die lokale Betriebe weiterführen, Facharbeiterstellen übernehmen oder das Vereins-, Verbands- und Freizeitleben pflegen. Dies führt dazu, dass in diesen Regionen zunehmend Angehörige der unteren Bildungsmilieus an Positionierung, Anerkennung und Einfluss gewinnen. In der Gemeinschaft der Unterzähligen entstehen neue Integrationsräume für die Übriggebliebenen. Diese Segregation der Anerkennungsräume eröffnet neue Perspektiven und Chancen für das Zusammenleben in Regionen der Entleerung. Sie impliziert aber auch Gefährdungen der demokratischen Kultur vor Ort. Wo staatliche, demokratische und öffentliche Strukturangebote im Zuge der Entleerung von Landstrichen und kommunaler
48 Haushaltskrisen zurückgefahren werden, entstehen Vakua, in denen sich extreme Rechte erfolgreich als Kümmerer präsentieren können, etwa indem sie den Winterdienst übernehmen oder die letzte Gaststätte im Ort betreiben. Übriggebliebene, häufig überdurchschnittlich desintegrationsgefährdete und unterdurchschnittlich gebildete Personen gewinnen an Einfluss auf das Gemeinwesen vor Ort. Die zum Teil als Kümmererstrategie der Rechtsradikalen bezeichnete Erscheinung kommunaler Etablierung ist eine Folge der zunehmenden sozialen Anerkennung der Übriggebliebenen in der etablierten lokalen (Erwachsenen-)Gesellschaft. Eine leitende Verwaltungsangestellte der Jugendarbeit in Saalfeld erläutert: „Da gibt es eine gewisse Unsicherheit auf den Dörfern. Jeder hat sowieso Angst, dass die Jugend weggeht und dann sind sie [die Rechtsradikalen, MQ] halt noch da und die machen ja ihr Zeug und die organisieren mit und sind ja fleißig. Also das Bild stimmt ja so für manche. Und ich glaube, hier in Saalfeld ist mehr Reibung da und sehr viel mehr Wachsamkeit für solche Dinge und dass man auch hinterfragt: ‚Was macht ihr denn eigentlich, wie denkt ihr, wie tickt ihr?‘ – und dass dort eher Grenzen gezogen werden, dass gesagt wird: ‚Nein, hier nicht‘“ (Interview 6: 612-618). Ideologisierte Rechtsradikale, die in einigen Stadtgesellschaften weitgehend aus dem öffentlichen Leben verdrängt werden (bspw. aus Jugendeinrichtungen, von öffentlichen Plätzen usw.), finden in solchen dörflichen Kontexten Anerkennung, wenn sie sich vor Ort engagieren. Demokratische Grundsätze verlieren in der Bevölkerung durch Erfahrungen vermeintlicher oder tatsächlicher fraternaler Abgehängtheit und regionaler Deinfrastrukturalisierung zugunsten rechtradikaler Kümmerer an Wert. Organisierte und jugendkulturelle Angebote von Neonazis treten in relevanten Teilen peripherer Regionen als alltagskonformes Engagement in Erscheinung, welches vor dem Hintergrund infrastruktureller Erosion dankend angenommen oder zumindest nicht problematisiert wird. Nicht nur als mentale Reaktion auf individuelle Desintegration, sondern auch als politischer Konter auf Wachstumsversagungen und zunehmende regionale Strukturdefizite
Matthias Quent können sich Facetten des Rechtsradikalismus lokal etablieren. Dass diese Verankerung in der Regel nicht im Sinne einer organisierten Unterwanderung abläuft, wie gelegentlich angedeutet wird, sondern Merkmale lokaler Innovationsprozesse im Sinne einer Stabilisierungsfunktion der gewohnten Lebensbedingungen in abdriftenden Regionen trägt, erschwert die Präventions- und Interventionsarbeit. Im kleinen Thüringer Ort Schmiedefeld bei Saalfeld führte der Rückzug öffentlicher Angebote im Ort, vor allem die Beendigung der AWO-Trägerschaft des örtlichen Jugendtreffs, zu einem Leerraum, der erfolgreich von Rechtsextremen besetzt werden konnte, indem ein Szeneangehöriger die Einrichtung seit 2005 privat weiterbetrieb und zu einem Szenetreffpunkt mit Gastbetrieb, Partys, Versammlungen und Rechtsrockkonzerten umfunktionierte. Seitdem hat die rechte Szene im Ort enorm an Einfluss gewonnen. Ohne einen politischen Wahlkampf zu führen, hat die NPD ihr Wahlergebnis bei den Landtagswahlen 2009 bei leicht gestiegener Wahlbeteiligung innerhalb von fünf Jahren von 2,7 Prozent auf 18,6 Prozent erhöht. Die Ursache für ein „Klima der Akzeptanz für rechtextremistische Gesinnungen“, das insbesondere in ländlichen Regionen der neuen Bundesländer herrscht, vermuten Petzke u. a. (2007) in selektiven Abwanderungsprozessen dieser Regionen. In ländlichen Räumen ist die Gefahr der lokalen Monopolsituation einer Gruppe und der „undialektischen Bewegungslosigkeit in der ‚Weltauslegung‘ der kommunalen Öffentlichkeit“ (ebd.) besonders virulent. Ein „drastischer Abwanderungsprozess und damit die systematische Bewegung von spezifischen Personengruppen“ kann zu einem Übergewicht von geringer Gebildeten und Desintegrierten sowie gruppenbezogenen Feindseligen innerhalb der Gemeinden führen, in denen ein hohes Maß an Konformitätsdruck es sanktioniert, wenn Einzelne von der Mehrheitsmeinung abweichen (Petzke u. a. 2007). Dieser Druck führt zu einer verhinderten Zivilgesellschaft. Bewohner, die sich an rechtsextremen Entwicklungen in ihrer Gemeinde stören, haben Angst, vor Ort keinen Rückhalt für antinazistisches Engagement zu finden oder sogar selbst
Der „Volkstod“ und die Übriggebliebenen ausgegrenzt zu werden. Im engen Korsett der Dorfgemeinschaft ist die Befürchtung, aufund herauszufallen, groß. Die Entwicklung demokratiefördernder zivilgesellschaftlicher Strukturen erscheint den Akteuren zu kostenund risikoreich. In der untersuchten Region schließt der Mantel des Schweigens auch deutungsmächtige Akteure vor Ort mit ein. Bewohner sehen gerade die Akteure in Politik und Verwaltung in der Verantwortung, auf das Erstarken rechtsradikaler Erscheinungen vor Ort zu reagieren. Weil sie von lokalen Eliten und dem Landkreis keine Unterstützung erfahren, bleiben sie untätig, wie eine kritische Bewohnerin des Ortes Schmiedefeld ausführt: „Ich denke, wenn es von oberster Ebene einfach so hingenommen wird, wer soll das unten dann lösen?“ (Interview 15: 194-195) Statt einer kritischen Auseinandersetzung findet eine egalisierende Akzeptanz des Rechtsradikalismus statt. In dem Dorf, in dem Neonazis den Jugendclub dominieren und die NPD hohe Wahlergebnisse erzielt, wird der Rechtsradikalismus als gleichberechtigtes politisches Modell neben anderen toleriert, meint der Kreiszuständige für Jugendarbeit im ländlichen Raum: „Es ist auf jeden Fall bekannt und man sagt so ‚Na ja, Herrgott, den ihre Meinung, die kann man ihnen ja nicht absprechen beziehungsweise die müssen wir akzeptieren‘. […] So wird es mehr oder weniger so hingenommen als wahrscheinlich nicht zu ändern“ (Interview 2: 657-665). Gerade in kleinen Dörfern findet sich häufig eine hegemoniale jugend- bzw. subkulturelle Prägung: Dorf A ist fest in der Hand der Rechten, in Dorf B sind die Linken, Dorf C ist unauffällig. Bei dieser jugend- und subkulturellen Polarisierung zwischen Gemeinden stellt der organisierte Rechtsradikalismus zunächst keinen Sonderfall dar. Weder die Ideologie noch bestimmte äußere Merkmale rechtsradikalen Lebensstils scheinen für sich eine bestimmende Anziehungskraft auf die Jugend zu haben. Vielmehr sind es die Distinktion gegenüber Fremdgruppen („die aus Dorf X“) sowie die Weitergabe bestimmter Attitüden und Habitus, die sich über Kohorten von Jugendlichen halten und somit als spezifische sozialisierende Gelegenheitsinstanz zunächst
49 scheinbar zufällig einen vorpolitischen Zugang zu einer bestimmten Szene erhalten. Die Ursachen für diese Polarisierung zwischen Kommunen sind vor allem in der vergleichsweise homogenen kulturellen Lebenswelt, geringen Wahlmöglichkeiten und dichten Bekanntschaftsnetzen zu suchen. Die soziale Dichte dörflicher Regionen birgt Gefahren und Chancen zugleich: Die in sich geschlossene Hegemonie rechtsradikaler Lebensentwürfe und Weltbilder schirmt die Rechtsradikalen gleich einer sozialen und mentalen Membran gegenüber abweichenden Vorstellungen und Einflüssen ab und leistet der Reproduktion und Radikalisierung rechtsextremer Weltbilder Vorschub. Gleichzeitig entwickeln sich Jugendcliquen in konträr polarisierten Cliquen zum stabilsten Gegenpol rechtsradikaler Bestrebungen. Gezielte Prävention, Intervention und Repression können die jeweiligen Akteure stärken oder schwächen. Weil zumindest in der Einstiegsphase meistens nicht ideologische Motive ausschlaggebend sind, können Jugendliche, die noch keinen etablierten Platz in der Clique einnehmen, erreicht werden. Dabei ist ein hohes situatives Feingefühl vonnöten, um die Gemeinschaft nicht noch stärker gegen abweichende Einflüsse zusammenzuschweißen. Umso wichtiger ist die unmissverständliche Positionierung einflussreicher Persönlichkeiten in kleinen Gemeinschaften: Interventionen von anerkannten Akteuren des lokalen politischen und zivilgesellschaftlichen Lebens können von innen risikofreier und erfolgreicher Risse in geschlossenen Deutungssystemen hervorrufen als Akteure mit einem Außenseiterimage. Insbesondere Jugendliche und Einkommensschwache sind von den hohen Mobilitätserfordernissen in ländlichen Regionen betroffen – nicht nur in Bezug auf den Arbeits- und Schulalltag. Während letzterer weitgehend noch durch öffentlichen Personennahverkehr gewährleistet ist, sind die Gelegenheiten zur Freizeitgestaltung und die Wahlmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen jugendkulturellen Angeboten in der Peripherie eng begrenzt. Am Abend und am Wochenende werden die meisten Dörfer kaum von Bussen angesteuert. Wer die Kultur- und Freizeitangebote der nahen Städte wahrnehmen möchte, ist auf ein
50 eigenes Fahrzeug oder die Fahrbereitschaft der Eltern angewiesen. Die Breite jugendlicher Freizeitbedürfnisse kann vor Ort nicht befriedigt werden und dort, wo Rechtsradikale diese Angebotslücke ausfüllen können, ist die Genese einer rechtsradikalen jugendkulturellen Dominanz – wie sie bereits in zahlreichen Dörfern der Bundesrepublik zu beobachten ist – quasi vorprogrammiert. Diese Hegemonie führt schnell zur Einschüchterung von Andersdenkenden. Wo die rechtsextreme Szene auftritt, wirkt sie schon aufgrund ihres äußeren Habitus bedrohlich. Nachbarn fürchten „offene Angriffe oder Drohungen“ (Interview 15: 281) gegen Familie und Eigentum, wenn sie sich öffentlich gegen die rechte Vormachtstellung in ihrer Gemeinde positionieren. Erschwerend kommt die in dörflichen Regionen geringe Präsenz der Polizei hinzu. Schon aus strukturellen Gründen ist es in der Peripherie schwieriger als in urbanen Regionen, frühzeitig Straftaten registrieren zu können oder Menschen vor möglichen Übergriffen zu schützen. Ein führender Polizeibeamter der Landespolizeiinspektion Jena beschreibt, dass die Sensibilität gegenüber rechtsradikalen Erscheinungen in ländlichen Regionen im Vergleich zu städtischen geringer ausgeprägt ist – ebenso wie die Möglichkeiten zu kriminalitätspräventiven und repressiven Aktivitäten durch die Polizei: „Grade auf dem Land, also die glauben immer noch, dass da eben alles in aller Ruhe läuft und dass da Hase und Fuchs sich in Ruhe ‚Gute Nacht‘ sagen. Obwohl man wirklich feststellt: Okay, die [Rechtsradikalen, MQ] ziehen sich raus in die Fläche und dort ist natürlich die Wahrnehmung ne ganz andere. Ehe dann mal einer dort reagiert und sagt ‚Oh, das sind aber jetzt ein paar viele dunkle Autos mit dunklen Personen drin und wer weiß, was die da machen und wir melden das mal‘, da ist es dann meistens schon zu spät. Das zeichnet sich ganz deutlich ab, weil sie eben auch merken, dass es für uns schwierig ist, dort das anzubieten, was wir hier im Ballungsraum anbieten können […] – ne große Fläche bleibt ne große Fläche. Und da kann ich eben nicht so oft immer wieder präsent sein, wie das hier in der Jenaischen Straße der Fall ist, wo ich eben einfach bei einer normalen Fahrt raus ins
Matthias Quent Klinikum zu einer Blutentnahme dann eben rückwärts nicht über die Stadtrodaer Straße fahr, sondern fahr eben durch die Jenaische Straße – und zack war ich wieder präsent. Ja, das krieg ich im ländlichen Raum nicht hin. Und wenn da irgendwo einer mit dem Funkwagen aufkreuzt, ist das ja auch lange vorher schon gesehen. Oftmals kann man sich ja so, wenn man sich am Ortseingang hinstellt, und mal so in die Ferne schaut, hat man ja dann relativ schnell: ‚Achtung, Polizei kommt!‘. Und dann wissen die Bescheid. Und das ist schwierig und dort brauchen wir die Sensibilität von den Menschen in diesen Regionen“ (Interview 19: 390-432). Bei sensibilisierten Menschen fehlt wiederum mitunter das Vertrauen in die Polizei. Eine Befragte aus Schmiedefeld konnte in der Vergangenheit nicht feststellen, dass Polizeikräfte bei Veranstaltungen am rechtsradikalen Treffpunkt des Dorfes Präsenz zeigten. Als es bei einem Dorffest zu einer Schlägerei unter Beteiligung der Rechtsradikalen gekommen sei, habe anschließend sogar einer der herbeigerufenen Beamten mit einem der Gewalttäter „abgeklatscht“, zu Konsequenzen für die Schläger sei es nicht gekommen. Das Problem sei, dass sich „hier halt alle zumindest von früher kennen“ (Interview 15: 303). Insgesamt fehlt denjenigen, die nicht mit der Hegemonie der Rechtsradikalen einverstanden sind, Kenntnis über die lokale rechte Szene und deren Reichweite, vor allem wenn die Rechten vor Ort wie in Schmiedefeld nicht formell organisiert und nicht mit klassischen politischen Mitteln (Wahlplakaten etc.) in Erscheinung treten. Dass die Szene dennoch spür- und beobachtbare Machtgewinne erzielt, trägt zu ihrer Mystifizierung bei. In der Folge wirkt die lokale rechte Szene für Außenstehende unantastbar. Bewohner halten es für „undurchsichtig, wie groß dieses Netz ist und wie das vielleicht auch in anderen Schichten schon durchwoben ist. Manchmal denke ich, es ist auch besser, ich weiß es nicht. Es ist wirklich schwierig einzuschätzen“ (ebd.: 92-93). Kaum zu überschätzen sind Effekte der persönlichen Verankerung einzelner Rechtsradikaler in einer lokalen Gemeinschaft für das Ausmaß der Toleranz gegenüber sowie den Machtgewinnen durch den Rechtsradikalismus.
Der „Volkstod“ und die Übriggebliebenen Zum statussichernden Kapital des rechten Gaststättenbetreibers in Schmiedefeld gehört sein umfangreiches Beziehungsnetzwerk, das er als Einheimischer mittels Kontakten zu früheren Schulbekannten und weiten Teilen der Dorfgemeinschaft pflegt. Die Verstetigung der infrastrukturellen Gelegenheitsstrukturen, die eine rechtsradikale Bewegungskultur alltäglich erscheinen lassen, ist notwendig, um sich über konjunkturelle Hochphasen hinausnach nicht aufzulösen (Bergmann/Erb 1994: 90f.). Dazu gehören u. a. Treffpunkte und regelmäßige Veranstaltungen. Sind rechtsradikale Bezugspunkte im lokalen Umfeld vorhanden, tragen diese bei zur Reproduktion und Radikalisierung entsprechender Einstellungs- und Handlungsorientierungen bei rechtsaffinen Dritten. Dies berichtet ein ehemaliger Neonazi aus biografischer Erfahrung. Alltäglicher Rechtsradikalismus ohne formell-politische Ausrichtung ist demnach in einigen dörflichen Kontexten allgegenwärtig. Gerade diese Alltäglichkeit ist dem Rechtsradikalismus besonders förderlich, weil sie jenseits von politisch stigmatisierten Aktivitäten der Weitergabe tief sitzender Mentalitäten der Abwertung dient: „Ich kenn z. B. ein Dorf. Da haben einfach auch ältere Leute, so mittleres Alter, um die 40, 50, haben dort in ihrem, wenn sie sich nachmittags irgendwo hinsetzen, grillen, und da haben sie dann eben an diesen Fleckchen. Das heißt arisches Fleck. […] Die haben sich einfach irgendwann mal ein Schild sich machen lassen und haben das da ran gehangen. Also das ist auf privatem Grund. Und da ist das eben so, dass sich dann diese Leute dort zusammensetzen und gucken Fußball oder machen einfach da ihre Nachmittagsgestaltung – also nicht politisch zusammen. Aber das ist eben da ständig präsent sowas.“ (Interview 23: 137-153).
Ausblick Ländliche und abdriftende Regionen der gesamten Bundesrepublik sind der neue Osten – so könnte ein pointiertes Zwischenfazit der Diskussion des Verhältnisses von Rechtsradikalismus und Peripherisierung in vergleichender
51 Perspektive lauten. Transformationsprozesse der Modernisierung, welche Anomie, Desintegrations- und Deprivationswahrnehmungen und in der Folge bei relevanten Bevölkerungsgruppen die Affinität zu rechtsextremen Einstellungen und Handlungen bestärken, konzentrieren sich sozialräumlich in abgehängten, homogenen und meist dörflichen bzw. kleinstädtischen Kontexten. Für die Übriggebliebenen als Modernisierungsverlierer neuen Typs eröffnen sich in der lokalen (objektiven oder subjektiven) Mangelgemeinschaft neue Anerkennungs- und Integrationsräume. Im Beitrag wurde gezeigt, wie Rechtsradikale entstehende Lücken besetzen und nutzen können. Dem Zugang aus der Perspektive lokaler Rechtsextremismusforschung ist es geschuldet, dass Chancen, Perspektiven und positive Beispiele demografischer Transformation an dieser Stelle vernachlässigt wurden. Auch ohne in einen apokalyptischen Duktus zu verfallen, können Herausforderungen und Folgen sozialer und demografischer Wandlungsprozesse beschrieben werden. Abwanderung, Fachkräftemängel, Überalterung, Homogenität, Entkernung, Jugendmangel, Deinfrastrukturalisierung etc. sind für die Bewohner vieler Regionen längst sicht- und spürbar, werden aber bspw. im Zuge von Schulschließungen ausschließlich auf Sach- und Verwaltungsebene diskutiert. Eine demokratiezentrierte Auseinandersetzung mit dem demografischen Wandel findet kaum statt – so als wolle man neben der demografischen nicht auch noch die demokratische Krise prognostizieren. Im Vergleich zur ausdifferenzierten Stadtsoziologie steht die Debatte um die Auswirkungen bevölkerungspolitischer Veränderungen im Allgemeinen und deren Folgen für die Konzipierung und Qualität von Demokratie in ländlichen Räumen am Anfang.6 Es ist längst nicht gesagt, dass demografische, strukturelle und ökonomische Schrumpfungsprozesse unumkehrbar sind – dies zeigt die Geschichte der Bevölkerungsbewegungen. Vor allem aber ist die überwiegend negative Konnotierung der Schrumpfungsprozesse aus demokratietheoretischer Perspektive kritisch zu betrachten. Neue Anerkennungsräume in schrumpfenden Regionen könnten konkrete Ansatzpunkte für
52 Integrations- und Partizipationsstrategien liefern, schrumpfende Regionen könnten als Modelle für praktische Postwachstumspolitik fungieren. Denkbar ist etwa, dass Wind- und Solarparks in weitgehend entvölkerten Regionen einen Beitrag dazu leisten, die ökologische Krise zu bewältigen. Nötig wären dafür eine enge Verzahnung mit urbanen und prosperierenden Zentren und eine Abkehr vom Paradigma der Standortkonkurrenz. Mit eigenen Präventionsprogrammen und trickreichen Maßnahmen wehren sich immer mehr größere Städte gegen rechtsradikale Umtriebe. Damit nehmen sie zumindest in Kauf, dass sich die Rechtsradikalen sozialräumlich in ländliche Regionen verlagern, in denen sie eher Geländegewinne erzielen können. Kleineren und ärmeren Kommunen fehlen oft Wissen, Sensibilität, Netzwerke und finanzielle Mittel, um angemessen gegen rechts agieren zu können. Die Entwicklung in ländlichen Räumen darf nicht vernachlässigt oder gar durch staatlichen Rückzug sich selbst überlassen werden.
Anmerkungen 1 Gefördert vom Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur. 2 Freies Netz Jena 2010. 3 Diese Janusköpfigkeit hat sich die radikale Rechte beibehalten, rechtfertigen führende Vertreter der Szene ihren Rassismus doch auch damit, dass der deutsche Boden nicht mehr Menschen ernähren könnte: „Deutschland war immer, seit Jahrtausenden, seit den Kimbern und Teutonen Auswanderungsland, weil dieser Boden nicht genug her gibt zur Ernährung der eigenen Bevölkerung. Es ist Völkermord, Fremde hierher zu bringen, weil kein Platz ist.“ (Manfred Röder im ARD-Politmagazin Kontraste, 03.12.1998) 4 Das bedeutet mitnichten, dass wirtschaftliche Prosperität vor speziellen Facetten des Rechtsradikalismus schützt. So kann bspw. auch eine besonders florierende wirtschaftlicher Entwicklung einer Region zu Effekten der Ab- und Ausgrenzung, Entsolidarisierung, chauvinistischer Regionalisierung und rechtspopulistischer Formierung beitragen, wie u.a. die regionalen Wahlerfolge der italienischen „Lega Nord“ zeigen. 5 Prekäre oder fehlende Arbeitsplätze führen bspw. zu Abwanderung, Prekarisierung verhindert eine langfristige Familienplanung usw. 6 Einen ersten Zugang bieten Kersten et al. 2012.
Matthias Quent
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