Der ästhetische Ansatz in der Organisationsforschung, in Marc Markowski e Hergen Wöbken (eds.), Oeconomenta: “Wechselspiele zwischen Kunst und Wirtschaft”, Berlin, 2007
Der Ästhetische Ansatz Prof. Dr. Antonio Strati in Markowski / Wökben: Oeconomenta: „Wechselspiele zwischen Kunst und Wirtschaft“
This is the author’s final draft as submitted for publication. The final version was published in Marc Markowski e Hergen Wöbken (eds.), Oeconomenta: “Wechselspiele zwischen Kunst und Wirtschaft”, Berlin, 2007.
Der ästhetische Ansatz in der Organisationsforschung Antonio Strati Dem ästhetischen Ansatz liegt in der Organisationsforschung die Annahme zugrunde, dass eine Organisation, obgleich diese natürlich ein soziales und kollektives Konstrukt darstellt (Knorr Cetina, 1981; Schütz, 1962-1964), kein ausschließlich kognitives Konstrukt ist, sondern vielmehr aus dem Vermögen aller menschlichen Sinne, Wissen zu produzieren, resultiert. (Strati, 2000). Diese Annahme hat mehrere Konsequenzen zur Folge. Einerseits wird die Organisation als das Ergebnis spezifischer Prozesse betrachtet, im Zuge derer diese erfunden, verhandelt und neu definiert wird. Dabei wird die Gesamtheit der Fähigkeiten, Wissen zu produzieren, sowohl der Organisationsakteure als auch der Organisationsforscher,
berücksichtigt.
Andererseits
gedeihen
innerhalb
der
Organisation persönliche Idiosynkrasien, spezifische Interpretationsmuster von Ereignissen und unterschiedliche Sichtweisen darüber, welche Aufgaben und wann diese erledigt werden müssen. Hinzu kommt die unaufhörliche Verhandlung von Werten, Symbolen und Organisationspraktiken: All dies hat ebenfalls mit Ästhetik zu tun. Für den ästhetischen Ansatz gilt demnach folgendes (Strati, 1999): 1. Der ästhetische Ansatz verlagert den Schwerpunkt der Organisationsanalyse von den Prozessen, welche erklärt werden können bzw. für welche zumindest die Grundprinzipien der Akteure a posteriori rekonstruiert werden können, hin zu den Prozessen, die eher mit verschiedenen Formen des April 2006
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Der Ästhetische Ansatz Prof. Dr. Antonio Strati in Markowski / Wökben: Oeconomenta: „Wechselspiele zwischen Kunst und Wirtschaft“ impliziten Wissens zusammenhängen (Polanyi, 1962). Aus der Verknüpfung des
geistigen
und
sinnlichen
Wahrnehmungsvermögens
der
Organisationsakteure und der Organisationsforscher entsteht neues Wissen, das weder gänzlich verbal noch völlig aussprechbar ist. Es greifen andere, von visuellen bis hin zu gestischen Sprachen ein, sowie andere Prozesse, die Wissen hervorbringen und von intuitiv bis evokativ reichen. 2. Der ästhetische Ansatz ändert die Regeln der Aufmerksamkeit des Wissenschaftlers
beim
Durchführen
empirischer
und
theoretischer
Fragestellungen. Neben der Befähigung der Subjekte, die sich mit der Organisation
identifizieren,
zum
abstrahierenden
und
reflektierenden
Denken, zieht der ästhetische Ansatz auch deren Fähigkeit in Betracht, zu sehen, zu hören, zu riechen, zu tasten und zu schmecken. Auch diese menschlichen Fähigkeiten nehmen Einfluss auf das Organisationsleben und beeinflussen sowohl die Verhandlung von „day-to-day“ Praktiken innerhalb einer Organisation als auch deren finalen Sinngehalt. Das Augenmerk des Wissenschaftlers richtet sich auf die Kraft sämtlicher menschlicher Sinne, organisatorisches Wissen zu schaffen, wobei er/sie bei seinem eigenen Sinnes- und Wahrnehmungsvermögen beginnt. 3. Der ästhetische Ansatz hebt die heuristischen Schwächen dieser Studien und Organisationstheorien hervor, die auf der kausalen Begründung von Organisationsphänomenen und auf dem Mythos der Rationalität von Organisationen beruhen, und die ein Ziel und einen universalen Interpretationsschlüssel für Organisationsleben vorlegen. Dies sind die Themen, die ich in diesem Kapitel untersuchen werde. Zu Beginn möchte ich betonen, dass diesem Ansatz das Kriterium „ästhetisch“ anhängt, das die Verschiedenheit gegenüber Ansätzen, die auf Kognitivismus und Rationalismus basieren, hervorhebt. Anschließend soll der besondere Beitrag des ästhetischen April 2006
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Der Ästhetische Ansatz Prof. Dr. Antonio Strati in Markowski / Wökben: Oeconomenta: „Wechselspiele zwischen Kunst und Wirtschaft“ Ansatzes erläutert werden, den dieser für empirische und theoretische Organisationsstudien geleistet hat.
Ästhetik als ars analogi rationis Die Anfänge der Ästhetiktheorie können auf die philosophischen Arbeiten von Alexander Gottlieb Baumgarten (1750-1758) und Giambattista Vico (1725) zurückgeführt werden. Obwohl die Idee der modernen Ästhetik von Vico und Baumgarten stammt, sollte der Genauigkeit halber auch die beträchtliche Bedeutung von Joseph Addisons Essay Pleasure of Imagination erwähnt werden, der in elf Teilen im Juni und Juli 1712 im Londoner Zeitschrift The Spectator veröffentlicht wurde. Baumgartens und Vicos Ideen gaben einmaligen Aufschluss über die Bedeutung des Begriffs „ästhetisch“, der im Mittelpunkt dieses Ansatzes in der
Organisationsforschung
steht,
und
der
ihn
von
anderen
Ansätzen
unterscheidet. Für Baumgarten und Vico ist Ästhetik eine spezielle Art des Wissens, anders als die des intellektuellen und rationalen Wissens. Seit ihrem Ursprung ist die Ästhetik daher besonders heuristisch geprägt. Dies begründet den theoretischen Ausgangspunkt des ästhetischen Verstehens von Organisationsleben. Doch genau welche Art des Wissens ist ästhetisches Wissen? Baumgarten (1750-1758) schreibt, Ästhetik sei die Wissenschaft vernünftigen Wissens, das sich vom intellektuellen und wissenschaftlichen Wissen unterscheidet. Eine Modalität des Wissens, die, obgleich geringwertiger, dennoch autonom und unvermeidlich ist. Ästhetik agiert alternativ und analog zu höherer Gnoseologie (Erkenntnislehre). Sie ist ars analogi rationis. Als solche, also als die Kunst analog zur Vernunft fordert sie metaphysisch-barock die nach Wahrheit strebende, analytische Rationalität heraus. April 2006
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Der Ästhetische Ansatz Prof. Dr. Antonio Strati in Markowski / Wökben: Oeconomenta: „Wechselspiele zwischen Kunst und Wirtschaft“ Diese Herausforderung ist von Ausschlag gebender Bedeutung für den ästhetischen Ansatz zur Organisationswissenschaft. Und sie wird noch nachdrücklicher von Giambattista Vico postuliert. Der ästhetische Ansatz findet seine Existenzberechtigung in Vicos Antithese zwischen ästhetischem und rationalem Denken. Mit seinem Projekt für eine neue Wissenschaft (1725) gerät Vico willentlich in Konflikt mit der Kartesischen Philosophie. Es gibt Weisheit, die nicht rational sondern poetisch ist, so schreibt er, und sie wurzelt in den Beziehungen, die nicht logisch erfassbar sind, uns aber dennoch an die uns umgebende Wirklichkeit bindet. Dies sind solche Beziehungen, auf die Vico anspielt, die sinnlich wahrnehmbar und vorstellbar sind. Wie kann diesen Ausdruck verliehen werden? Mittels der logischen Poesie. Dies impliziert, dass Logik nicht gänzlich durch logos verkörpert wird, und dass sie nicht ausschließlich aus der Kartesischen Rationalität resultiert. Logik, so beobachtet Vico, betrifft auch das mythische Denken, d.h., dass die poetische Fabel, wie die mythische Erzählung oder die stumme Geste, auch der Ausdruck der Logik sind, also der poetischen Logik. Diese Logik gründet nicht in der Kartesischen rationalen Ordnung, kommuniziert jedoch dennoch intellektuelle Bedeutungen, deren Wissensformen Hieroglyphen, Gestik, Mythos und Metapher sind. Durch diese poetischen Handlungen können wir die Konkretheit unserer Beziehung zu Dingen und zu der ursprünglichen Bedeutung der Welt erhalten: eine Beziehung, die Kartesische Rationalität nicht aufrechterhalten kann. Wenn wir diesen Kontakt zu der Welt nicht verlieren wollen, d.h. diesen festen Bezug zu der Wirklichkeit, ist es für das ästhetische Wissen nicht ausreichend, außerhalb des Kartesischen rationalen Gedankengutes zu stehen. An dieser Stelle gehen die Meinungen von Vico und Baumgarten auseinander, da ersterer glaubt, dass es keine zwei verschiedenen, voneinander unabhängigen Wissensformen gibt, die koexistieren, weil sie unterschiedliche Handlungsbereiche betreffen. Es besteht April 2006
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Der Ästhetische Ansatz Prof. Dr. Antonio Strati in Markowski / Wökben: Oeconomenta: „Wechselspiele zwischen Kunst und Wirtschaft“ ein Konflikt zwischen den beiden Gnoseologien, wodurch die Kraft des Mythos und der poetischen Logik auf logos wirkt. Demnach besteht zwischen dem ästhetischen Verständnis der Organisation und dem aus Erkenntnis resultierenden Wissen nicht nur ein Unterschied, sondern sie stehen
im Widerspruch zueinander: Der ästhetische Ansatz zweifelt solches
Wissen an und versucht, es mit seiner eigenen Weisheit zu besetzen. Der ästhetische Ansatz weist darauf hin, dass die rationale Analyse unangemessene Interpretationen produziert, denn diese destillieren, sterilisieren, verschleiern und entfremden den Großteil des Organisationsprozesses wie menschliche Erfahrungen, die
sich
aus
Wohlgefallen,
Emotionen,
Bewegung
und
Geräuschen
zusammensetzen, sowie der Ausdruck der persönlichen Lebensdynamik. Dies sind Über-Interpretationen, die durch das theoretische Paradigma von Rationalität und positivistischem Wissen gerechtfertigt werden. Diese sind vor allem das Ergebnis einer epistemologischen Wahl, die durch eine Vielzahl von Modalitäten „wissender“ Organisationen bedingt ist. Offensichtlich fällt die Antithese radikal aus, sie unterstellt jedoch nicht, dass der ästhetische Ansatz eine authentischere oder eine vollständigere Interpretation des Organisationslebens bietet. Das auf diese Weise erworbene Organisationswissen ist vielmehr partiell, fragmentarisch und bescheiden. Es hat keine Ähnlichkeit mit generalisierbarem, universellem und objektivem Wissen, welches jene Ansätze hervorbringen, die sich analytischer Methoden bedienen. Es hat auch nicht den Anspruch, Teil eines Paradigmas zu sein, das anderen Organisationstheorien überlegen sein will. Diesen Ansatz zu übernehmen, bedeutet hingegen, in Opposition zu gehen bzw. Widerstand gegen die Überlegenheit jeder spezifischen Tradition in der Organisationsforschung gegenüber anderen zu leisten und die Dominanz der rationalen Kognition in der Organisationstheorie anzugreifen, indem der Akzent in der Organisationsanalyse auf solche Aspekte gesetzt wird, deren April 2006
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Der Ästhetische Ansatz Prof. Dr. Antonio Strati in Markowski / Wökben: Oeconomenta: „Wechselspiele zwischen Kunst und Wirtschaft“ Verständnis durch die Beachtung des heuristischen Vermögens aller Sinne erreicht werden kann und nicht durch die des intellektuellen Verstands allein. Alle daraus resultierenden Implikationen werden in den folgenden Abschnitten untersucht. Zunächst werde ich die ästhetischen Charakteristiken des Ansatzes überprüfen und dann überlegen, ob dieser Kunst, Emotionen oder die passive Betrachtung des Organisationsgeschehens bezeichnet. Ästhetik und Kontemplation Etymologisch
betrachtet
liegt
der
lexikalische
Ursprung
von
aisth
im
Altgriechischen. Dabei drückt das Verb aisthánomai am deutlichsten den heuristischen Prozess in der Ästhetik aus: Demnach wird die Sinnesempfindung durch die physische Wahrnehmung ausgelöst. Ästhetik ist allerdings nicht nur rezeptiv, d.h. sie impliziert keinen Prozess, der von einem erkennenden Subjekt ausgelöst wird, denn dieses steht der es umgebenden Wirklichkeit vorwiegend passiv gegenüber. Das Verb aisthánomai beschreibt faktisch die Stimulation der Fähigkeiten, welche die Sinnesempfindungen betreffen. Dies ist ein wichtiges Merkmal, denn es zeigt, dass der ästhetische Ansatz und die passive Wahrnehmung des Organisationslebens nicht gleich bedeutend sind. Ästhetik dient als Hilfsmittel für die Betrachtung und ist deshalb der Gegensatz von anaesthetica. Forscher, die das Organisationsleben anhand des ästhetischen Ansatzes analysieren, müssen deshalb zunächst ihr eigenes Sinnes- und Wahrnehmungsvermögen erwecken und hinterfragen. Dies vor allem deshalb, weil die Ästhetisierung der Arbeitserfahrungen und der Organisationsroutinen zur Abstumpfung
der
menschlichen
Empfindlichkeiten
führen
kann
und
alles
verschleiern, ausblenden oder zerstreuen, was als hässlich und unangenehm an unserer Arbeit und unserer Mitwirkung an der Konstruktion und Rekonstruktion unseres alltäglichen Organisationslebens empfunden wird. Dieses Phänomen ist weiter verbreitet und tief greifender als zunächst angenommen, da es bei vielen April 2006
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Der Ästhetische Ansatz Prof. Dr. Antonio Strati in Markowski / Wökben: Oeconomenta: „Wechselspiele zwischen Kunst und Wirtschaft“ organisatorischen Praktiken beobachtet werden kann. Es sei beunruhigend, schreibt Odo Marquard (1989), dass diese Ästhetisierung der Wirklichkeit nicht zu „ästhetischer Erfahrung“ oder zu persönlicher Selbsterlösung, sondern zu einer narkotischen Verdrängung von Erfahrungen, d.h. zu einer Betäubung des Individuums, führt. Ästhetik und Kunst Ästhetisches Verständnis sollte nicht mit künstlerischem Verständnis verwechselt werden. Eine solche Verwechslung entsteht allerdings leicht, weil Ästhetik auch in der Kunst und nicht nur in der Philosophie verankert ist. Ein Beispiel soll diese feine aber bedeutende Grenze zwischen dem ästhetischen Ansatz und dem künstlerischen Verständnis verdeutlichen. Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einer Werkstatt und finden die Gerüche darin abstoßend. Dies ist ein qualitativer Messwert in der Organisationsanalyse, der mittels des sensorischen Wahrnehmungsvermögens erfasst wurde, d.h. dies ist ein Messwert, der für den ästhetischen Ansatz geeignet ist. Der Geruch gibt Aufschluss über einen Aspekt, den die Organisationsliteratur gewöhnlich nicht beachtet, da diese die Gerüche nur insofern berücksichtigt, als diese Gesundheitsrisiken im Arbeitsumfeld signalisieren oder die Beschreibung einer Werkstatt um ein malerisches Detail ergänzen. Für den ästhetischen Ansatz stellt hingegen der Ekel, der durch die Gerüche in der Werkstatt hervorgerufen wird, einen Forschungsgegenstand dar. Wird der Ekel seitens des Forschers auch von denjenigen empfunden, die dort arbeiten? Oder haben sie sich daran gewöhnt? Beschreiben die Gerüche für sie die Werkstatt, ihre Arbeitsbedingungen und ihren Arbeitsinhalt? Stellen die Gerüche einen Initialisierungstest für Neuankömmlinge dar? Rufen Sie Wehmut bei Menschen hervor, die nicht mehr dort
arbeiten?
Unterscheiden
sie
die
Werkstattbelegschaft
von
anderen
Organisationsmitgliedern ab? April 2006
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Der Ästhetische Ansatz Prof. Dr. Antonio Strati in Markowski / Wökben: Oeconomenta: „Wechselspiele zwischen Kunst und Wirtschaft“ Für die Forschung erschließen sich zahlreiche und mannigfaltige Pfade, von denen alle Wissen über die alltäglichen Aktivitäten der Organisation liefern. Es wird deutlich,
dass
keiner
von
ihnen
ein
künstlerisches
Verständnis
des
Organisationslebens aufweist. Wenn die Abneigung gegen diese Gerüche körperlich, also sinnlich, oder im Zuge der Forschungsarbeit erfahren wird, hat dies folgende Bedeutung: 1. Ein bestimmtes Sinnes- und Wahrnehmungsvermögen wurde aktiviert, um die Organisation ästhetisch zu erfahren. 2. Die Aufmerksamkeit des/r Forschers/in war auf die Problematik des alltäglichen
Organisationslebens
und
insbesondere
auf
die
Organisationsphänomene gerichtet, die das Gefühl des Ekels hervorrufen. 3. Er oder sie bediente sich des ästhetischen und nicht des künstlerischen Empfindungsvermögens. Das ästhetische Empfindungsvermögen, welches mit den Gerüchen in der Werkstatt konfrontiert wurde, setzte bei dem/der Forscher/in kein künstlerisches Können voraus. Auch brauchte er/sie keine Kunst- oder Philosophiekenntnisse, über die ein Kunstkritiker oder ein Philosoph verfügt, um den Ekel zu empfinden. 4. Der Forscher bediente sich einer ästhetischen Kategorie - wie wir weiter sehen werden -, da das Empfinden der Abscheu eine solche Kategorie, nämlich die Kategorie der Hässlichkeit, ist. Die etymologische Bedeutung der Begriffe „Ästhetik“ und „Kunst“ verdeutlichen ferner die Nichtübereinstimmung der beiden Konzepte. Der englische Begriff für die Kunst - „art“ - stammt aus dem Lateinischen „ars“. „Kunst“ bedeutet im Altgriechischen techne und nicht aisth. Etymologisch bezeichnet „Kunst“ “die Verarbeitung von Rohmaterialien unter Einsatz von Fähigkeiten und Intelligenz“. Dies unterscheidet sich aber deutlich von dem „Wissen als Folge der sinnlichen Wahrnehmung“, was auch die Bedeutung von „Ästhetik“ ist. April 2006
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Der Ästhetische Ansatz Prof. Dr. Antonio Strati in Markowski / Wökben: Oeconomenta: „Wechselspiele zwischen Kunst und Wirtschaft“ Ästhetik und Emotionen Wesentlich subtiler als die falsch aufgefasste Äquivalenz von Ästhetik und Kunst gestaltet sich das Verhältnis zwischen Ästhetik und Emotionen. Emotionen bringen Wissen über das Organisationsleben hervor. Ärger und Verbitterung, Langeweile, Enttäuschung, Angst, Besorgnis, Freude, Begeisterung und Leidenschaft sind alles Emotionen, die mit den ethischen Codes, Rechten, Pflichten
und
Werten,
welche
für
Gemeinschaften
innerhalb
eines
Organisationskontextes kennzeichnend sind, verbunden sind. (Gabriel, Fineman und Sims, 2000). Für den/die Forscher/in bestimmen die Emotionen einen möglichen Verlauf der Recherche. Mündliche und schriftliche Überbetonung, Peinlichkeit, Zornausbrüche sowie Zuversicht als auch die Unterbrechungen, ausweichendes Verhalten und überraschender Themenwechsel sind Formen des emotionalen Verhaltens, welche die organisatorischen Gegebenheiten, persönliche Erfahrungen und Fantasien ausdrücken und welche dem/r Forscher/in empirisches Material für seine/ihre Arbeit bieten. Darüber hinaus stehen die Emotionen in Konflikt sowohl mit dem Mythos der Rationalität in der Organisationsanalyse als auch mit dem kognitivistischen Paradigma in der Organisationsforschung. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass die ästhetische Empfindung weniger das Herz oder Gefühle als vielmehr die Sinne, d.h. das Geflecht aus physischen Wahrnehmungen, betrifft. Sehen, Hören, Tasten, Schmecken und Riechen sind alles Vorgänge, die Emotionen sowohl bei den Organisationsakteuren als auch bei den Forschern hervorrufen. Denn Michael Henry (1963) zufolge gibt es keine sensorischen Vorgänge, die neutral und wirkungslos sind. Ein sensorischer Vorgang beinhaltet immer Leidenschaft, und jede Sinnesempfindung wird von Emotionen begleitet Die Prinzipien und Bereiche des ästhetischen Ansatzes ruhen auf dieser großen Bandbreite
von
Wahrnehmung
hervorbringenden
Wahrnehmungen.
Die
Emotionen, die aus dem Sinnes- und Wahrnehmungsvermögen hervorgehen, April 2006
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Der Ästhetische Ansatz Prof. Dr. Antonio Strati in Markowski / Wökben: Oeconomenta: „Wechselspiele zwischen Kunst und Wirtschaft“ bieten dem ästhetischen Ansatz wichtiges Material für empirische und theoretische Untersuchungen.
Worin
besteht
folglich
der
Unterschied
zwischen
dem
ästhetischen Wissen und der durch die Emotionen ausgelösten Handlung? Die Betonung
liegt
auf
der
Sinneswahrnehmung
und
auf
dem
ästhetischen
Urteilsvermögen. Dies resümiert meine einführenden Bemerkungen über die Bedeutung des Begriffs „ästhetisch“, mit dem sich dieser Ansatz in der Organisationsforschung befasst. Es wurde gezeigt, dass ein Widerspruch zwischen den epistemologischen Optionen besteht, derer sich diejenigen bedienen können, die Organisationstheorien konstruieren.
Organisationsästhetik Die Untersuchung der Ästhetik in Organisationen stellt einen neuen Ansatz in der Organisationsforschung dar, der sich Mitte der 1980er Jahre etablierte (Carr und Hancock, 2003; Gagliardi, 1996; Guillet de Monthoux, 2004; Human Relations, 2002; Linstead und Höpfl, 2000). Dieser entstand als Teil der damaligen Offensive gegen das positivistische und rationale Paradigma, das zu der Zeit in der Organisationstheorie und –forschung vorherrschte. Dieser hatte die gleiche Ziele, die gleiche Methodologie sowie den gleichen Untersuchungsgegenstand wie diese radikalen Ansätze: Ihre Ziele wurden geteilt, weil dies die Organisation war, die der ästhetischen Ansatz zu verstehen versuchte; ihre Methodologie wurde geteilt, weil sie
eine
qualitative
Analyse
der
Organisation
vornahm;
ihr
Untersuchungsgegenstand wurde geteilt, weil dieser Nuancen und unsichtbare Elemente anstelle von stark kausalen Beziehungen analysierte. In letzterer Hinsicht war die Offensive hauptsächlich gegen die Verbreitung des Kognitivismus in der Organisationswissenschaft gerichtet sowie gegen die rationale Erklärung „um jeden Preis“. April 2006
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Das ästhetische Verständnis von Organisationsleben Der ästhetische Ansatz (Strati, 1999) entstand durch eine empirische Studie über Organisationskulturen und –symbole dreier Abteilungen italienischer Universitäten, die Mitte der 1980er durchgeführt wurden. Weitere Studien folgten, die auf Forschungen
in
den
Bereichen
Herstellende
Industrie
und
Künstlerischer
Produktion basierten. Auf Feldstudien gestützt handeln die Studien (i) vom Wissen über eine Organisation, das durch ihre Artefakte und materiellen Kulturen erbracht wird; (ii) über den Beitrag visueller Kulturen zur Erstellung von Metaphern für die Organisation; (iii) über qualitative Methoden inspiriert durch Performance und Kunst. Diese verschiedenen Arbeiten haben einige Charakteristika gemeinsam: a. Sie betonen die Komplexität der ästhetischen Seite des Organisationslebens, indem sie sich auf eine Mehrzahl von ästhetischen Kategorien konzentrieren. Vorrangig war die ästhetische Kategorie „Schönheit“: die Schönheit der Organisation tout court; die Schönheit der nicht mehr existierenden Organisation, wodurch Nostalgie und Mythos verstärkt werden; die Schönheit von Materialien und das Gefühl tiefer Freude derer, die damit arbeiten; die Schönheit, von der Pflicht befreit zu sein, nützliche Arbeit zu vollbringen und zu schaffen. Schönheit ist jedoch nicht die einzige Kategorie, die bei der Analyse von Organisationsphänomenen eingesetzt wird. Die übliche Gleichsetzung von Schönheit und Ästhetik wurde hier vermieden. Die empirischen Studien machten deutlich, dass Menschen beim Sprachgebrauch in den analysierten Organisationsschauplätzen einige unterschiedliche,
ästhetische
Kategorien
verwendeten,
die
in
der
philosophischen Ästhetik diskutiert werden, Begriffe wie „heilig“, „pittoresk“, „hässlich“, „agogische Kategorien“, die z.B. den Rhythmus, „Komisches“, „Unterschwelliges“ und „Sublimes“ betrachten. April 2006
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Der Ästhetische Ansatz Prof. Dr. Antonio Strati in Markowski / Wökben: Oeconomenta: „Wechselspiele zwischen Kunst und Wirtschaft“ b. Sie
erfüllen
denselben
empirischen
und
theoretischen
Zweck:
Der
ästhetische Ansatz ist dann gültig, wenn er neues Organisationswissen hervorbringen und neue Organisationskonzepte erstellen kann. Beispiele hierfür sind die Schlussfolgerungen, dass der physische Raum einer Organisation kein leerer Behälter ist; dass die ästhetische Erfahrung der Leim ist, der eine Organisation „ohne Mauern“ zusammenhält, sie absteckt und definiert; dass die Organisationsmetapher als ästhetischer Hypertext das partikularistische und heidnische Organisationswissen hervorhebt, welches stets über ein hervorbringendes Subjekt verfügt, auch innerhalb einer Organisation; dass die Photographie als Metapher im Gegensatz dazu Organisationswissen vermittelt, welches die Organisation sieht und mit der Realität konfrontiert, die subjektlos, inkrementell und von Heiligkeit inspiriert ist; dass Ästhetik den Begriff von „Übung“ in der Studie von Wissensbildung und Lernen in Organisationen hervorhebt (Nicolini, Gherardi und
Yanow,
2003);
dass
Ästhetik
eine
Sprache
bereitstellt,
um
stillschweigendes Wissen von Organisationsmitglied und Forscher/in zum Ausdruck zu bringen, ohne dabei die Eigenschaft des Stillschweigens derartigen Wissens zu verletzen. c. Sie glauben, dass die ästhetische Erfahrung von Leben in Organisationen auf dem Konzept von Undefinierbarkeit des Gegenstands des Wissens gründet. Dies bedeutet, dass der ästhetische Messwert nicht von seinem Pathos für Organisationsakteure und Forscher getrennt werden kann, und auch, dass der ästhetische Charakter organisatorischer Erfahrung nicht durch eine objektive Beobachtung erfasst werden kann. Es bezeichnet vielmehr, dass eine Organisation kein künstlerisches Objekt ist, das sich mit Hilfe von Kunststudien ad infinitum analysieren lässt. Eine Organisation ist vielmehr ein andauerndes Phänomen, das nicht in dualistische und statische Formen, oder in abstrakte theoretische Formen kristallisiert werden kann, April 2006
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Der Ästhetische Ansatz Prof. Dr. Antonio Strati in Markowski / Wökben: Oeconomenta: „Wechselspiele zwischen Kunst und Wirtschaft“ die ihre besonderen Eigenschaften von Zeitweiligkeit, Veränderlichkeit und Unsicherheit außer Acht lassen. d. Sie verlangen dem Leser empathisches Verständnis ab. Indem Wissen hervorgerufen wird und indem auf das Konzept von Plausibilität Verlass genommen wird, binden sie den Leser in einen Prozess des Sehens und Nicht-Sehens der untersuchten Organisation mit ein und platzieren ihn/sie in eine Situation, die er/sie als plausibel erachtet.
Schlussfolgerung Der ästhetische Ansatz, ähnlich wie andere Studienstränge der Organisationsästhetik, betont die Wichtigkeit des Sinnes- und Wahrnehmungsvermögens von Menschen bei der Analyse von Organisationsphänomenen, die sie hervorbringen. Infolgedessen insistiert der Ansatz auf der Feststellung der Unzulänglichkeit der Organisationstheorien,
die
ausschließlich
auf
analytischen
Methoden
und
insbesondere auf Kognitivismus und Rationalität basieren. Durch das Kriterium „ästhetisch“ wird deutlich gemacht, dass der Ansatz alle menschlichen Sinne mit einbezieht. Mit anderen Worten, es zeigt an, ob eine Organisation schön oder hässlich ist; dass schöne oder hässliche Arbeit darin stattfindet, dass einige Kollegen schöne Persönlichkeiten haben und andere nicht; dass die Mitglieder der Organisation mit Eleganz und Freude arbeiten. Es bezeichnet außerdem die gerochenen Gerüche, die gehörten Geräusche und die berührten Oberflächen in einer Organisation. All diese Phänomene sind für eine Organisationsanalyse wertvoll: sie drücken in einer noch nicht rationalisierten, sondern sensorischen Form die Kultur und Symbole eines Organisationsalltags aus und liefern dadurch reichhaltige und ungewöhnlich wertvolle Daten. Der ästhetische Ansatz basiert auf einer zu Grunde liegenden epistemologischen Option, von der ich in diesem Kapitel bereits mehrmals während der Erörterung April 2006
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Der Ästhetische Ansatz Prof. Dr. Antonio Strati in Markowski / Wökben: Oeconomenta: „Wechselspiele zwischen Kunst und Wirtschaft“ gesprochen habe, nämlich von der Bedeutung von Wissen in Verbindung mit mythischem Denken anstelle von analytisch-intellektueller Vorgehensweise, von dem essentiellen Wissenscharakter, der durch Intuition und Erinnerungen entsteht und von der Tatsache, dass der ästhetische Ansatz durch analytische Methoden erlangtes Organisationswissen problematisiert. Ein jedoch noch wichtigerer Punkt sollte dabei nicht vergessen werden: Auch epistemologische Optionen wurzeln in der Ästhetik. Wie Thomas Kuhn (1962) schreibt, basiert die Wahl des Paradigmas nicht immer auf Argumenten dafür oder dagegen, da die ästhetische Qualität eine maßgebliche Auswirkung auf seine Auswahl haben kann.
Bibliographische Angaben Baumgarten, Alexander Gottlieb (1750-8) Aesthetica I-II. Frankfurt am Oder: Kleyb (photostat: Olms: Hildesheim, 1986). Carr, Adrian and Philip Hancock (eds) (2003) Art and Aesthetics at Work. Basingstoke: Palgrave Macmillan. Gabriel, Yiannis, Fineman, Stephen and David Sims (2000) Organizing and organizations, London: Sage. (1993). Gagliardi, Pasquale (1996) ‘Exploring the Aesthetic Side of Organizational Life’, in S. R. Clegg, C. Hardy and W. R. Nord (eds), Handbook of Organization Studies. London: Sage pp 565-80. Guillet de Monthoux, Pierre (2004) The Art Firm. Aesthetic Management and Metaphysical Marketing. Stanford University Press: Stanford. Henry, Michel (1963) L’Essence de la manifestation. Paris: PUF.
Human Relations (2002) Special Issue on ‘Organizing Aesthetics’, 55 (7). Knorr Cetina, Karin (1981) The Manufacture of Knowledge: An Essay on the Constructivist and Contextual Nature of Science. Oxford: Pergamon Press. April 2006
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Kuhn, Thomas (1962) The Structure of Scientific Revolutions. Chicago: University of Chicago Press. Linstead, Stephen and Heather Höpfl (eds) (2000) The Aesthetics of Organization. Sage: London. Marquard, Odo (1989) Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Uberlegungen. Paderborn: Schoningh. Nicolini, Davide, Gherardi, Silvia and Dvora Yanow (eds) (2003) Knowing in Organizations: A Practice-Based Approach. Armonk, New York: M.E. Sharpe. Polanyi, Michael (1962) Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy. London: Routledge & Kegan Paul. (1958). Schütz, Alfred (1962-1964) Collected Papers I-II. The Hague: Nijhoff. Strati, Antonio (1999) Organization and Aesthetics. London: Sage. Strati, Antonio (2000) Theory and Method in Organization Studies. Paradigms and Choices. London: Sage. Vico, Giambattista (1725) Principi di una scienza nuova. Napoli: Mosca. 1
This chapter is based on my previous work “The Aesthetic Approach in
Organization Studies”, in S. Linstead and H. Hopfl (eds), The Aesthetic of
Organization, London, Sage, 2000, pp. 13-34.
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