DER NARRATIVE ZEIGARNIK-EFFEKT: ZU EINEM WIRKUNGSPRINZIP FRÜHROMANTISCHER KUNSTMÄRCHEN

June 6, 2017 | Author: B. Meyer-Sickendiek | Category: German Romanticism, Ludwig Tieck, Novalis, Novelle
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BURKHARD MEYER-SICKENDIEK

DER NARRATIVE ZEIGARNIK-EFFEKT: ZU EINEM WIRKUNGSPRINZIP FRÜHROMANTISCHER KUNSTMÄRCHEN

Die Abyme beziehungsweise abîme ist ein Terminus technicus aus der Wappenkunde, also ein Wappenfeld im Wappen. Als ‚Abime‘ bedeutet es zudem ‚Abgrund‘, mise en abyme meint also so viel wie ‚in den Abgrund werfen‘. In der Kunst- und Erzähltheorie bezeichnet ein solcher Abgrund die unendliche Wiederholung eines sich spiegelnden Motivs. Als spezifisches Wiederholungsverfahren ist die mise en abyme ein narratives Verfahren, das in diversen Novellen der Romantik genutzt wird und der sogenannten Metalepse vergleichbar ist.1 Werner Wolf begriff die mise en abyme entsprechend als Spiegelung der Makrostruktur eines literarischen Textes in einer Mikrostruktur innerhalb desselben Textes. Gespiegelt werden können Elemente der fiktiven histoire, Elemente der Narration, sprich Elemente der Vermittlungs- und Erzählsituation selbst, aber auch poetologische Elemente wie etwa ein allgemeiner über die Erzählsituation hinausweisender Diskurs.2 Voraussetzung für die mise en abyme ist demnach, dass die Wiederholung sich auf einer anderen Ebene konstituiert als der ursprünglich gegebenen, weshalb es im Text also eine Hierarchie von Erzählebenen geben muss. Darum ist die romantische Novelle in ihrem spezifischen Zusammenspiel von Rahmen- und Binnenerzählung für diesen Effekt so sehr geeignet. Michael Scheffel unterschied mit Blick auf die Poetologie der Romantik zwischen einer einfachen und einer unendlichen Wiederholung bzw. Spiegelung, welche etwa aus der wörtlichen Wiederholung der Rahmen- in der Binnengeschichte hervorgehen kann. Einen ähnlichen Effekt stellt das Buch im Buch dar, also etwa eine Figur, die ihre eigene Geschichte liest bzw. ein Buch, das Elemente der Rahmenerzählung wiederholt. Oft sind die Figuren innerhalb einer solchen Konstruktion Schriftsteller, die zugleich als erzählte und als erzählende Figur verstanden werden. Scheffels Beispiel ist Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen: Im fünften Kapitel findet Heinrich bei einem Einsiedler ein Buch, das – wie Heinrich nur aus den Illustrationen des in einer 1

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Gero von Wilpert bezog sich hingegen in seiner Definition auf Andre Gide, der den Begriff im Journal von 1893 einführte und in dem Roman Les faux-monnayeurs von 1925 umsetzte. Gide meinte damit eine dem Spiel im Spiel des Dramas entsprechende Technik der Rahmenerzählung, bei der eine bzw. die gerahmte Binnenerzählung selbstreflexiv Widerspiegelung der (Rahmen-)Haupthandlung oder eines Teils derselben ist und diese wie zwischen zwei Spiegeln stehend unendlich fortsetzen kann. Vgl. Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst, Tübingen: Niemeyer 1993.

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ihm fremden Sprache geschriebenen Textes schließen kann – offensichtlich seine eigene Geschichte erzählt.3 Ein solches Erzählverfahren suggeriert nicht nur unendliche Wiederholungsschleifen, sondern auch eine Brechung der Fiktion. Solche Durchbrechungen der Fiktion bezeichnete Scheffel als narrative Metalepse, womit eine Grenzüberschreitung zwischen dem Erzählen und dem Erzählten gemeint ist. Dies zeige neben Novalis’ Heinrich von Ofterdingen auch E. T. A. Hoffmanns Capriccio Prinzessin Brambilla, in welchem der Fürst von Pistoja den anderen Figuren von einem „Capriccio“ erzählt, „Prinzessin Brambilla geheißen, einer Geschichte, in der wir selbst vorkommen und mitspielen.“4 Hier liegt eine Reflexionsschleife vor, die als Selbstentlarvung der Fiktion fungiert, aber eben im Modus des Erzählens.5 Ich möchte im Folgenden diese erzähltheoretische Figur der Metalepse um ein wirkungsästhetisches Prinzip ergänzen, welches ich mit dem Begriff des novellistischen Zeigarnik-Effektes umschreiben möchte. Ich beziehe mich dabei auf Arbeiten der Gestaltpsychologin Bljuma Wulfowna Zeigarnik, die in Berlin u. a. bei Kurt Lewin studierte. Sie fand bei Experimenten im Bereich der gestaltpsychologischen Handlungstheorie im Jahre 1927 heraus, dass unter bestimmten Bedingungen unerledigte Handlungen besser als erledigte im Gedächtnis behalten werden. Dieses Phänomen nennt man den „ZeigarnikEffekt“.6 Als dessen Ursachen gelten ‚Restspannungen‘ im Erinnerungsvermögen und eine nicht eingetretene Wunscherfüllung.7 Der Kernsatz – „Unerledigte Handlungen bleiben besser im Gedächtnis haften als erledigte Handlungen!“ – besagt zudem, dass unerledigte einen viel stärkeren Handlungszwang als erledigte Handlungen auslösen.8 Der vorliegende Essay macht den 3 4

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Vgl. Michael Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen, Tübingen: Niemeyer 1997, S. 75−85. E. T. A. Hoffmann: Prinzessin Brambilla, in: Ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden, hg. v. Wulf Segebrecht/Hartmut Steinecke, Bd. 3, Nachtstücke, Klein Zackes, Prinzessin Brambilla. Werke 1816−1820, hg. v. Hartmut Steinecke, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985 (Bibliothek deutscher Klassiker 7), S. 892. Dazu heißt es bei Werner Wolf: „Die mise en abyme ist eine Technik, die auf histoire-Ebene zu empfindlichen Störungen der Illusion führen kann, aber nicht muss. Sie wirkt vor allem dann illusionsgefährdend, wenn sie einen sichtlichen Überschuss an Sinn und Ordnung innerhalb der histoire produziert, der aufgrund seiner Unwahrscheinlichkeit die Geschichte als glaubwürdige Wiedergabe einer Wirklichkeit und damit als illusionistisches Zentrum eines Textes entwertet.“ Wolf, Ästhetische Illusion, S. 305. Bljuma Zeigarnik: Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen, in: Dies.: Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie, hg. v. Kurt Lewin, Bd. 9, Berlin 1927, S. 1– 85. Vgl. auch: Dies.: On finished and unfinished tasks, in: Willis D. Ellis (ed.): A sourcebook of Gestalt psychology, London: Routledge & Regan, S. 300−314. Der Fachjargon nennt den Zeigarnik-Effekt auch ‚Cliffhanger-Effekt‘ (von Englisch ‚an einer Klippe hängen‘) – was den ‚hängenden‘ ‚schwebenden‘ Charakter einer unerledigten Aufgabe verdeutlicht. Auch die Entdeckung dieses Drangs zur Wiederaufnahme unterbrochener Handlungen (sofern sie ich-nah sind) geht auf das gestaltpsychologische Berliner Experimentalprogramm unter Leitung von Kurt Lewin zurück; insbesondere auf die Forschungsarbeit von Maria Ovsiankina.

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Vorschlag, die romantische Novelle auf das wirkungsästhetische Prinzip des Grübelns bzw. des damit zusammenhängenden Zeigarnik-Effektes zurückzuführen. Anhaltspunkt dieser Überlegung ist die Poetik Friedrich Schlegels, der in seiner 1801 entstandenen Nachricht von den poetischen Jugendwerken des Johannes Boccaccio die Novelle als Ausdrucksform tief sitzender Stimmungen diskutierte: Ich behaupte, die Novelle ist sehr geeignet, eine subjective Stimmung und Ansicht, und zwar die tiefsten und eigenthümlichsten derselben indirect und gleichsam sinnbildlich darzustellen. Warum sind unter den Novellen des Cervantes, obgleich alle schön sind, einige dennoch so entschieden schöner? Durch welchen Zauber erregen sie unser Innerstes und ergreifen es mit göttlicher Schönheit, als durch den, dass überall das Gefühl des Dichters, und zwar die innerste Tiefe seiner eigensten Eigenthümlichkeit sichtbar unsichtbar durchschimmert, oder weil er wie im Curioso impertinente Ansichten darin ausgedrückt hat, die eben ihrer Eigenthümlichkeit und Tiefe wegen entweder gar nicht oder nur so ausgesprochen werden können?9

„Indirect und gleichsam sinnbildlich“ wird in der Romantik freilich vieles dargestellt: Der Witz, das Fragment, die Ironie oder die Allegorie sind ja ihrerseits stets Beispiele einer indirekten Darstellung einer anders nicht greifbaren Stimmung.10 Meist richtet sich diese Stimmung auf das Unendliche als dem großen Phantasma der Romantik: Die Stimmung ahnt das Unendliche, ohne es explizit aussagen zu können. Diese Grundfigur der Frühromantik scheint also auch in der Novelle angelegt zu sein. Dieser These entspricht die Tatsache, dass Schlegel zwischen dem Witz und der Novelle eine Gemeinsamkeit sah, die eben in der indirekten Darstellung lag. In einem AthenäumsFragment betonte Schlegel, dass der Witz einer Novelle deshalb entstehe, weil in dieser „bei aller Vollständigkeit […] dennoch etwas zu fehlen schein[t], wie abgerissen.“ Genauer heißt es dort: Es gibt eine Art von Witz, den man wegen seiner Gediegenheit, Ausführlichkeit und Symmetrie den architektonischen nennen möchte. […] Er muß ordentlich systematisch sein, und doch auch wieder nicht; bei aller Vollständigkeit muß dennoch etwas zu fehlen scheinen, wie abgerissen. Dieses Barocke dürfte wohl eigentlich den großen Styl im Witz erzeugen. Es spielt eine wichtige Rolle in der

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Friedrich Schlegel: Nachricht von den poetischen Werken des Johannes Boccaccio (1801), in: Ders.: Friedrich Schlegel, 1794−1802, Seine prosaischen Jugendschriften, hg. v. J. Minor, Bd. 2, Zur deutschen Literatur und Philosophie, Wien 2. Aufl. 1906, S. 396−414 (daraus S. 409−414). Zitiert nach: Novelle, hg. v. Josef Kunz, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2. Aufl. 1973 (Wege der Forschung 55), S. 40−41. Vgl. Manfred Frank: Allegorie, Witz, Fragment, Ironie. Friedrich Schlegel und die Idee des zerrissenen Selbst, in: Willem van Reijen (Hg.): Allegorie und Melancholie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 124−146; Ders.: Das „fragmentarische Universum“ der Romantik, in: Lucien Dällenbach/Christiaan L. Hart Nibbrig (Hgg.): Fragment und Totalität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp1984, S. 212−224.

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Novelle: denn eine Geschichte kann doch nur durch eine solche einzig schöne Seltsamkeit ewig neu bleiben.11

Wir kennen diese Figur des Mangels aus der romantischen Stimmungsmalerei, denn schon in der Diskussion um Caspar David Friedrichs berühmten Mönch am Meer stand ein solches Fehlen im Mittelpunkt: „Das aber, wo hinaus ich mit Sehnsucht blicken sollte, die See, fehlte ganz“,12 so erklärte Brentano seine Empfindungen vor einer Seelandschaft von Friedrich, worauf ein Kapuziner. Hat die romantische Novellistik ein vergleichbares Wirkungsprinzip? Ist es ein Fehlen, welches die Novelle charakterisiert, und welches die „schöne Seltsamkeit“ der novellistischen Erzählung prägt? Wir werden im Folgenden die These vertreten, dass das Grübeln für diese Gattung insofern eine konstitutive Funktion hat, als dass deren ästhetische Wirkkraft fast immer mit dem Umkreisen einer „schönen Seltsamkeit“ zu tun hat. Ziel der Novelle ist es, durch die erzählte Geschichte und deren genauer zu erörternde Merkwürdigkeit, aber auch durch weitere formale Aspekte novellistischen Erzählens den Leser selbst ins Grübeln zu bringen. Dieser Effekt basiert auf einer gestaltpsychologischen Einsicht, nämlich der Tendenz des menschlichen Bewusstseins, unvollständige Figurationen auszugestalten, unerledigte Fragen zu ‚erledigen‘.

Das verschleierte Denken der ‚grübelnden Köpfe‘: Novalis und die Chiffrenschrift der Natur Friedrich von Hardenberg alias Novalis ist derjenige Romantiker, der erstmals das Grübeln aus dem Medium des Briefromans in die genuin romantische Form der Novelle überführte. Damit wird es möglich, den Grübler als Figur zu perspektivieren und – durch die Struktur von Rahmen- und Binnenerzählung – auf eine Fährte der Heilung zu bringen, wie dies im Romanfragment Die Lehrlinge zu Sais geschehen wird. Vor allem aber hat Novalis durch diese formale Innovation die Möglichkeit eröffnet, mit dem Zusammenspiel von Rahmenund Binnenerzählung auch den Leser selbst in diesen Prozess des Grübelns zu verstricken. Dies geschieht durch die Erzählfiguren, welche dem Briefroman fehlten, wenngleich dieser schon mit deren Prinzipien zu arbeiten versuchte: der Metalepse und deren Verwandte, der mise en abyme. Sie ist in den Lehrlingen insofern angelegt, als dass das im Text erzählte Märchen von Hyazinth und Rosenblüte das Geschehen der Rahmenerzählung spiegelt, indem es den 11

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Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragment Nr. 383, in: Ders.: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe, hg. v. Ernst Behler, Bd. 2, Charakteristiken und Kritiken I (1796−1801), hg. v. Hans Eichner, Paderborn: Schöningh 1967, S. 236. Clemens Brentano: Verschiedene Empfindungen vor einer Seelandschaft von Friedrich, worauf ein Kapuziner, in: Ders.: Werke, hg. v. Friedhelm Kemp, Bd. 2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963, S. 1034−1035.

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Helden letztlich von seiner grübelnden Neigung befreien und ihm die Erkenntnisperspektive der Liebe eröffnen soll. Naturerkenntnis, das zentrale Thema des Textes, wird also zunächst als ein „Streben nach Ergründung jenes riesenmäßigen Triebwerks“ namens Natur verstanden, dem „ein Zug in die Tiefe, ein beginnender Schwindel“ innewohnt, der auch und gerade den Grübelnden „durch eine schreckenvolle Nacht mit sich fortreiße.“13 Dass und wie dies nicht geschehe, expliziert der Binnentext der Lehrlinge zu Sais, also das Märchen. In diesem sind zentrale Elemente vorbereitet, die in den großen Tiefe-Texte der Romantik, Tiecks Runenberg von 1804 und Hoffmanns Bergwerke zu Falun von 1819, wiederkehren werden: Das sich liebende Paar, der fremde alte Mann, der den Geliebten in ‚„tiefe Schachten“‘ führt und somit einen fundamentalen Gemütswandel in ihm auslöst, die Trennung von der Geliebten und die Suche des Helden nach dem Geheimnis einer in der Tiefe verborgenen rätselhaften Frau. Bei Novalis ist diese verschleierte Frau jedoch – anders als bei Tieck oder Hoffmann – am Ende identisch mit der Geliebten: „Er stand vor der himmlischen Jungfrau, da hob er den leichten glänzenden Schleier, und Rosenblütchen sank in seine Arme.“14 Aber auch andere der in der Einleitung genannten Voraussetzungen des romantischen Tiefsinns sind in Novalis’ Lehrlingen erstmals angelegt: Der Text will Goethes Wilhelm Meister an Tiefsinn überbieten, die geologischen Kontroversen bezüglich der Tiefenzeit auflösen und die neutestamentliche Botschaft in eine utopische Vision eines neuen Jerusalems überführen. Allerdings ist die Rolle des Novalis hinsichtlich der ihm folgenden Romantiker eher die eines zu ergänzenden Vorläufers. Zum einen sind Die Lehrlinge zu Sais ein Romanfragment und keine geschlossene Novelle. Und zum anderen definierte Novalis zwar ganz eindeutig, was den Grübler in seine tiefsinnigen Überlegungen versinken lässt: Die utopische Gleichsetzung von Naturerkenntnis und Selbsterkenntnis.15 Eben diese Natur-Utopie aber wird von Autoren wie Tieck oder Hoffmann als Illusion entlarvt: Die Chiffrenschrift der Natur, in der sich der Jüngling des Novalis selbst erkennt, ist später nicht mehr denn ein leeres Phantasma. Die auf Novalis folgenden Romantiker werden also die novellistische Fragmentarizität der Lehrlinge zu Sais erzählerisch ausgestalten und zugleich deren utopische Vision verabschieden. Bevor man Novalis dennoch oder gerade deshalb als den eigentlichen Initiator des grübelnden Tiefsinns der Romantiker identifiziert, ist freilich an Johann Gottlieb Fichte zu erinnern, ohne dessen Ich-Philosophie Novalisʼ Entdeckung der „Tiefen des Gemüts“ nicht denkbar wäre. Das in Die Lehrlinge zu Sais so intensiv erörterte Zusammenspiel von Selbst- und Naturerkenntnis ist ohne den Einfluss Fichtes kaum vorstellbar. Die Frage nach dem Zusammen13 14 15

Novalis: Die Lehrlinge zu Sais, in Ders.: Werke, hg. v. Gerhard Schulz, München: Beck. 4. Aufl. 2001, S. 95−128, hier S. 105. Ebd., S. 112. Vgl. Maximilian Bergengruen: Signatur, Hieroglyphe, Wechselrepräsentation: zur Metaphysik der Schrift in Novalis’ ‚Lehrlingen‘, in: Athenäum 14 (2004), S. 43−67.

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hang bzw. der möglichen Identität von Naturerkenntnis und Selbsterkenntnis ist also ursprünglich eine idealistische Frage, die im Kontext der sogenannten ‚intellektualen Anschauung‘ steht. Eine intellektuelle bzw. ‚intellektuale Anschauung‘ bedeutet bei den idealistischen Philosophen Fichte und Schelling zunächst einmal nichts weiter als den Akt, in dem das Ich auf sich selbst reflektiert.16 Für Fichte und Schelling wird im Akt der Anschauung eines Gegenstandes das Ich jedoch nicht nur auf sich aufmerksam. Vielmehr erzeugt es sich selbst, was wiederum zum Ausgangspunkt der transzendentalidealistischen Systeme wird, zu denen eben wiederum die Ideen zu einer Philosophie der Natur zählen, wie Lessing diese 1797 entwickelt.17 All dies findet seinen Niederschlag in jenem wichtigen Text, der die Figur des Grüblers in die romantische und nachromantische Novellistik überführt: dem Fragment Die Lehrlinge zu Sais. Die Lehre von der ‚intellektualen Anschauung‘ ist sogar entscheidend für Novalis’ Neudeutung der grübelnden Gestalt. Denn vor dem Hintergrund der Fichte-Studien wird der Grübler nunmehr kontrastiert durch die dem Grübeln vergleichbare und doch so andere Idee der intellektualen Anschauung. Das Grübeln können wir entsprechend als eben denjenigen kognitiven Mechanismus begreifen, welcher das in diesem neuen Kontext entstehende Gefühl menschlicher Begrenzung im Erkennen repräsentiert. Grübeln ist gewissermaßen Ausdruck des Scheiterns einer gelungenen intellektualen Anschauung. Dies hat mit der Tatsache zu tun, dass das Kreisen um die Essenz dieser neuen Tiefe des Wissens von nun an als aussichtslos, ja gar als Zwang empfunden wird. Schon Karl Philipp Moritz hatte dies in seinem Magazin der Erfahrungsseelenkunde angedeutet18, Novalis aber kommt das Verdienst zu, diesem Problem eine neue und überaus einflussreiche Form gegeben zu haben. Fichtes Idealismus hat daher im Grunde zwei Perspektiven vorbereitet. Neben dem Begriff der ‚intellektualen Anschauung‘ ist es vor allem seine Kritik an der Figur des Gelehrten, die Novalisʼ Lehrlinge nachhaltig beeinflusste. Denn schon in dieser – entstanden in Fichtes Jenaer Vorlesungen vom Wintersemester 1794/95 – spielt die Diskussion ums Grübeln eine wichtige Rolle. Es geht Fichte um die Frage nach dem Verhältnis von „Geist und Buchstabe“, in dessen Kontext das Grübeln einer grundlegenden Kritik ausgesetzt wird. Diese Kritik hängt ihrerseits mit der Unterscheidung von Geist und Buchstabe deshalb zusammen, weil der Grübler in gewisser Hinsicht an die von Fichte entwickelte Figur des sogenannten „Buchstäblers“ erinnert. Der Buchstäbler fixiere sich auf das „Auswendiglernen“ und „Nachsagen“ der Philosophie, d. h. 16

Vgl.: Ulrich Dierse/Rainer Kuhlen: Anschauung, intellektuelle, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel: Schwabe/Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, S. 351. 17 Vgl. Manfred Frank: ‚Intellektuale Anschauung’. Drei Stellungnahmen zu einem Deutungsversuch von Selbstbewußtsein: Kant, Fichte, Hölderlin/Novalis, in: Ernst Behler/Jochen Hörisch (Hgg.): Die Aktualität der Frühromantik, Paderborn: Schöningh 1987, S. 96–126. 18 Vgl. Fritz Wüstling: Tiecks William Lovell: Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts, Halle/Saale: Niemeyer 1912, S. 157−159.

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„er fasst nichts mit der Einbildungskraft und dem Verstande, sondern allein mit dem Gedächtnisse.“19 Dies ist geistlos, und zwar – nach Fichte – ebenso wie das Grübeln. Allein die Unterschiede sind andere, denn der Grübler verfehlt den Geist, weil er die „Hauptregel alles zwekmäßigen Philosophirens“ missachte: „dass uns das Ganze stets gegenwärtig sey.“20 Nicht also „durch die Tiefe der Speculation ist der Grübler vom wahren Philosophen unterschieden“, wenngleich Fichte sogleich betont, dass der Grübler „oberflächlich“ im Vergleich zum „wahren Philosophen“ sei. Aber der entscheidende Unterschied ist nach Fichte ein anderer: „[D]er Grübler philosophirt ohne, der wahre Forscher mit dem Gefühl des Ganzen.“21 Der Grübler sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht, er kommt vom Hundertsten ins Tausendste, oder, in den Worten Fichtes: Der Grübler stürzt sich in Untersuchungen einzelner Fragen, als ob alles auf sie ankomme, alles von ihnen abhange, als ob sie ein für sich bestehendes Ganze wären. Während er mit ihrer Untersuchung beschäftigt ist, sieht er nichts weiter, als sie, und sie sind ihm seine Welt. Der wahre Philosoph bezieht alles auf das Ganze; u. alles ist ihm, was es wirklich ist, Theil des Ganzen. Daher bringt jener spitzfindige, nüchterne, kleine Gedanken hervor, die man nicht behandeln kann, ohne sie zu zerbrechen, die keine Festigkeit, keine Haltung und Kraft in sich haben; dieser giebt seiner feinsten Unterscheidung Haltung und Festigkeit dadurch, dass er sie an das Ganze anschließt, u. mit demselben innigst verbindet. Daher geht jener in Abgründe hinein, wo nichts ihn hinzieht, u. wo er keine Geistesnahrung findet; diesem wird durch das Verhältniß zum Ganzen stets vorgeschrieben, wie tief er gehen solle; und er unternimmt nichts überflüssiges.22

Welche Rolle spielt dieser Hinweis auf das dem Grübler fehlende „Verhältniß zum Ganzen“23 in jenem Text, der laut E. T. A. Hoffmann die romantische ‚Mode des Nachgrübelns‘ eröffnete? Welche Rolle also spielt diese Vorlesung Fichtes für das Romanfragment Die Lehrlinge zu Sais, das Novalis 1798 begann und 1802 veröffentlichte? Ich gehe davon aus, dass die Vorlesung Fichtes für Novalis die Möglichkeit eröffnete, speziell die eigene Neigung zur Grübelei neu zu perspektivieren. Novalis hat sich in den Lehrlingen also auch mit seiner eigenen Neigung zum Grübeln auseinandergesetzt, was die Tatsache erklärt, dass der Roman unvollendetes Fragment blieb. Denn dies lag nicht allein an der intensiven Arbeit am Heinrich von Ofterdingen, und auch nicht am frühen Tod des Dichters Novalis. Der Fragmentcharakter der Lehrlinge zu Sais erklärt sich auch aus den umfangreichen Lektüren des Novalis, deren verwirrende Effekte im Text selbst verarbeitet und mit dem Grübeln aufs Engste verbunden sind. Zum einen haben bekanntlich die Schriften Jakob 19 20 21 22 23

Johann Gottlieb Fichte: Von den Pflichten der Gelehrten. Jenaer Vorlesungen 1794/95, hg. v. Reinhard Lauth/Hans Jacob/Peter Schneider, Hamburg: Meiner 1971, S. 84. Ebd. Ebd., S. 85. Ebd. Ebd.

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Böhmes neue naturmystische Gedankengänge in Novalis entfacht.24 Zum anderen trägt das Werk deutliche Einflüsse aus der Zeit des Novalis an der Freiberger Bergakademie, wird doch vor allem der Freiberger Professor Abraham Gottlob Werner (1750–1817) im Roman selbst – im ersten Teil mit der Überschrift Der Lehrling – porträtiert. Werner war ein deutscher Mineraloge, Begründer der sogenannten Geognosie und Vertreter des Neptunismus, jener Lehre, dergemäß der Ursprung der Bildung von Mineralien und der Veränderung der Erdoberfläche im Wasser zu suchen sei. Das Verhältnis zwischen Lehrer Werner und Schüler Novalis ist Thema eines Selbstgesprächs; am Ende dieses ersten Teils verleiht der Schüler seinem vom Lehrer geweckten Drang nach absoluter Erkenntnis Ausdruck: Auch ich will also meine Figur beschreiben, und wenn kein Sterblicher, nach jener Inschrift dort, den Schleier hebt, so müssen wir Unsterbliche zu werden suchen; wer ihn nicht heben will, ist kein echter Lehrling zu Sais.25

Das Grübeln, vor welchem Fichte in seiner Vorlesung warnte, beginnt dann im zweiten, Die Natur überschriebenen und wesentlich umfangreicheren Teil. Es ist zunächst konkret bezogen auf den „grübelnden Kopf“26 Demokrit, jenen griechischen Naturphilosophen, der wie sein Lehrer Leukipp postulierte, dass die gesamte Natur aus kleinsten, unteilbaren Einheiten, den Atomen, zusammengesetzt sei. Das Grübeln ist also eingebunden in die unterschiedlichen Arten möglicher Beziehungen zwischen Mensch und Natur, wie diese in den Gesprächen der Lehrlinge aufgezeigt werden. So ist dem einen die Natur Genuss, dem anderen Religion, ein dritter will die verwilderte Natur veredeln; alle jedoch verfolgen das Ziel, die Natur in ihren Zusammenhängen zu verstehen, den gestörten Kontakt zwischen ihr und dem Menschen zu überwinden und die goldene Zeit, „in der sie dem Menschen Freundin, Trösterin, Priesterin und Wundertäterin war“,27 wiederherzustellen. Der Lehrling, leicht erkennbar als alter ego des Novalis selbst, vermag sich für keine der geäußerten Meinungen zu entscheiden; er „hört mit Bangigkeit die sich kreuzenden Stimmen. Es scheint ihm jede recht zu haben, und eine sonderbare Verwirrung bemächtigt sich seines Gemüts.“28 Wir erkennen darin auch seine eigene grüblerische Natur, eine Verwirrung, die sich erst dann löst, als „ein muntrer Gespiele, dem

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„Jacob Böhm les ich jezt im Zusammenhange, und fange ihn an zu verstehn, wie er verstanden werden muß. [...] Um so besser ist es, daß die Lehrlinge ruhn – die jezt auf eine ganz andre Art erscheinen sollen […].“ Novalis: Brief vom 23.02.1800 an Ludwig Tieck, in: Ders.: Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Bd. 4, Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse, hg. v. Richard Samuel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975, S. 321−323, hier S. 322 und 323. Novalis, Lehrlinge, S. 98. Ebd., S. 100. Ebd., S. 103. Ebd., S. 108.

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Rosen und Winden die Schläfe zierten“,29 erscheint und des Lehrlings falsche Grübelei durch eine Geschichte korrigiert. Dieser Gespiele erzählt demnach aus Gründen der Korrektur das Märchen von Hyazinth und Rosenblütchen: Die beiden lieben einander, bis von weither ein wunderlicher Mann kommt, der durch seine Erzählungen in Hyazinth eine solche Sehnsucht erweckt, dass der Knabe schließlich in die Fremde läuft, um den Urgrund aller Dinge, die verschleierte Göttin, zu finden. Das Goldene Zeitalter wird dabei als eine Art erinnernde Rückblende in die Stufe der Verstörung und grüblerischen Einsamkeit Hyazinths eingeschoben und somit an die grüblerische Verstörung des Lehrlings gekoppelt. Diese Ur-Einheit mit der Natur ist Hyazinth jedoch nurmehr in der Erinnerung präsent: „Vor langen Zeiten“, d. h. vor der Trennung von Subjekt und Objekt, waren Mensch und Natur noch eine durch Liebe verbundene familiäre Einheit. Dieser dem „Goldenen Zeitalter“ anempfundene Zustand wandelt sich mit der Begegnung des Lehrlings mit dem „Mann aus fremden Ländern“ mit „tiefen Augen“ und mathematischen „Figuren“ auf seinem Gewand, der Hyazinth „bis tief in die Nacht“ in tiefe Gespräche verwickelt, mit ihm „in tiefe Schachten“ hinunterkriecht, d. h. den Weg nach innen, ins eigene Ich, antritt, und ihm „ein Büchelchen [schenkt, das] kein Mensch lesen konnte“.30 Nach dem Abschied des Fremden ist Hyazinth vereinsamt: Menschen, Tiere und Pflanzen antworten nicht mehr auf seine Fragen, bleiben stumm. Während seine Freunde weiter fröhlich herumspielen, steigt er grübelnd in tiefe Höhlen hinab. Endlich gelangt er ans Ziel, vermag den Schleier zu heben und sieht seine Geliebte Rosenblütchen, die in seine Arme sinkt. Hyazinth begreift, dass am Ende seines Drangs nach Erkenntnis die Liebe steht, die allein ihm das Geheimnis der Natur offenbaren kann. Nicht nur der Intellekt also stellt die Beziehung des Menschen zum Ursprünglichen wieder her, sondern auch und vor allem das Gefühl: „Das Denken ist nur ein Traum des Fühlens, ein erstorbenes Fühlen, ein blaßgraues, schwaches Leben.“31 Nachdem das Märchen verklungen ist, kommt diese Anschauung auch in den nun einsetzenden Gesprächen „einige[r] Reisende[r]“32 wiederholt zum Ausdruck: Nur Dichter und Liebende besitzen in ihrer Fähigkeit zur Hingabe den einzigen Schlüssel zur Erkenntnis der tiefsten Naturgeheimnisse: Für sie hat die Natur alle Abwechslungen eines unendlichen Gemüts. Wenn auch im einzelnen ein bewußtloser Mechanismus allein zu herrschen scheint, so sieht doch das tiefer sehende Auge eine wunderbare Sympathie mit dem menschlichen Herzen.33

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Ebd. Ebd., S. 110. Ebd., S. 113. Ebd. Ebd., S. 117.

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Wir haben es in diesem Text nicht mit einer Novelle, sondern mit einem Romanfragment zu tun, das freilich in der vorhandenen Form deutlich durch Rahmen- und Binnenerzählung geprägt ist. Zudem bleibt der Text schwer zugänglich, was sich durch den Versuch des Novalis erklärt, naturphilosophische Erkenntnisse im Grundton mystischer Naturbegeisterung zu entfalten. Entsprechend wird in den Gesprächen der Lehrlinge die mechanische und materialistische Naturauffassung der Aufklärung als eine überwundene Position identifiziert. Dabei ähnelt Novalis’ Naturphilosophie der ihrerseits an Fichtes Transzendentalphilosophie anschließenden Naturphilosophie Schellings, wie sie später auch Schuberts 1808 erschienenes naturphilosophisches Werk Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft dominiert. Die Welt wird demnach als Organismus imaginiert, um so die Aussicht auf die mystische Integrierung des Menschen in die Natur zu schaffen. Aber im Unterschied zu Schellings Naturphilosophie, die das Ich, „den Schlüssel zur Natur“, als „Geist“, als „absolute Vernunft“ begreift, plädiert Novalis in den Lehrlingen für das Primat der dichterischen Naturerkenntnis, also für den Natursinn durch das „Medium der Empfindung“.34 Damit erst werde jene naturphilosophische unio mystica ermöglicht, die Novalis enthusiastisch am Beispiel des liebenden Jünglings beschreibt, dem „das innerste Leben der Natur in seiner ganzen Fülle in das Gemüt kommt,“35 wenn er „bebend in süßer Angst in den dunklen lockenden Schoß der Natur versinkt“,36 bis „die arme Persönlichkeit in den überschlagenden Wogen der Lust sich verzehrt.“37 Mit diesem emphatischen Bekenntnis zur unio mystica ist zudem die Position des Freiberger Lehrers Abraham Gottlob Werner unterstrichen, da der Jüngling die Wonne der Verflüssigung auf jenes Urgewässer zurückführt, welches nach Ansicht der „Neptunisten“38 am Anbeginn der Erde war. Aus Sicht des Jünglings entspricht diese These den Versuchen denkender Künstler, „das Weltall auf eine einfache, rätselhaft scheinende Figur zu reduzieren“, um sie so in „neuer Herrlichkeit“ sichtbar zu machen. Diese Utopie, die Chiffrenschrift der Natur zu entziffern, basiert ganz im Sinne der späteren Ideen Schuberts auf dem Glauben an ein archaisches Urvolk, „dessen entartete und verwilderte Reste die heutige Menschheit“39 sei, und von welchem sich Relikte in jenen ahndungsreichen Gemütszuständen des Dichters finden. Wenn daher die dichterische Sprache des Textes dunkel und rätselhaft erscheint, dann ist sie auf dem besten Weg zurück zu dieser archaischen Harmonie: Ihre Aussprache war ein wunderbarer Gesang, dessen unwiderstehliche Töne tief in das Innere jeder Natur eindrangen und sie zerlegten. Jeder ihrer Namen schien das Losungswort für die Seele jedes Naturkörpers. Mit schöpferischer 34 35 36 37 38 39

Ebd., S. 123. Ebd., S. 121. Ebd., S. 122. Ebd. Ebd., S. 127. Ebd., S. 124.

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Gewalt erregten diese Schwingungen alle Bilder der Welterscheinungen, und von ihnen konnte man mit Recht sagen, dass das Leben des Universums ein ewiges tausendstimmiges Gespräch sei.40

Der novellistische Zeigarnik-Effekt: Zum Grübeln als Wirkungsprinzip von Tiecks Der blonde Eckbert Einerseits gibt Tieck den Figuren ein vielfältiges Innenleben, diese handeln also nicht einfach drauflos wie die im Volksmärchen. Sie folgen ihren wirren Trieben und ihrem regen Verstand, der sie begrübeln läßt, was sie tun und was ihnen widerfährt: Abenteuerliche Ereignisse, die dem simplen Märchenhelden nur von außen zustoßen, spielen sich hier nun auch noch in der zerklüfteten Seele der Betroffenen ab. Andererseits dämonisiert Tieck die Natur. Er macht sie zum unergründlichen, eigenmächtigen Raum mit unwiderstehlichem Sog, dem die Helden hilflos ausgesetzt sind.41

Mit dieser Definition aus Volker Klotz’ Standardwerk Das europäische Kunstmärchen ist der Stellenwert markiert, den Ludwig Tieck als initialer Autor romantischer Novellistik dem Grübeln zukommen ließ. Wenn Klotz die Seelen der Tieckschen Helden als „zerklüftet“ beschreibt, dann sind sie mit vielen tiefen Spalten und Schluchten versehen, vergleichbar etwa einem Gebirge oder einer Landschaft. Die „markanten märchenvertrauten Orte“ spiegeln bei Tieck die zerklüftete Seele der Helden: „Der unheimlich lockende Wald für Bertha, der ebenso unheimlich lockende Runenberg für Christian“42 sind die von Klotz genannten Beispiele. Würden wir die Novellen Tiecks im Sinne Goethes als „sich ereignete unerhörte Begebenheit“43 charakterisieren, 40 41 42 43

Ebd., S. 34. Volker Klotz: Das europäische Kunstmärchen. 25 Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne, Stuttgart: Metzler 1985, S. 154. Ebd. Für die literaturtheoretische Einordnung der Novelle ist also die berühmte Bemerkung Goethes im Gespräch mit Johann Peter Eckermann vom 29. Januar 1827 von zentraler Bedeutung: „Wissen Sie was, [...], wir wollen es die Novelle nennen; denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit. Dies ist der eigentliche Begriff, und so vieles, was in Deutschland unter dem Titel Novelle geht, ist gar keine Novelle, sondern bloß Erzählung oder was Sie sonst wollen.“ Josef Kunz: Die deutsche Novelle zwischen Klassik und Romantik, Berlin: Erich Schmidt 1966 (Grundlagen der Germanistik 2), S. 34. Allerdings betont schon Kunz, dass die eigentliche theoretische Erfassung der Novelle nicht erst bei Goethe beginnt, sondern bereits mit einer Anmerkung Wielands zur zweiten Auflage des Don Sylvio von Rosalva 1772: „Novellen werden vorzüglich eine Art von Erzählungen genannt, welche sich von den großen Romanen durch die Simplicität des Plans und den kleinen Umfang der Fabel unterscheiden, oder sich zu denselben verhalten wie kleine Schauspiele zu der großen Tragödie und Komödie.“ Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke, Bd. 11, Die Abendteuer des Don Sylvio von Rosalva. Erster Theil, Carlsruhe 1814, S. 16. Zitiert nach: Novelle, hg. v. Josef Kunz, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2. Aufl. 1973 (Wege der Forschung 55), S. 27.

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dann wären sie nicht wirklich präzise charakterisiert. Denn niemand anderes als Tieck selbst hatte 1829 im Vorbericht zur dritten Lieferung seiner Schriften betont, man könne „das Wort Novelle nicht mit Begebenheit, Geschichte, Erzählung, Vorfall, oder gar Anecdote gleichbedeutend gebrauchen.“44 Warum? Zunächst ist eine Novelle im Sinne Tiecks durch Begriffe wie „bizarr, eigensinnig, phantastisch, leicht witzig“45 charakterisiert. Das Unerhörte der in der Novelle erzählten Begebenheit ist also mindestens als Überraschung, wenn nicht gar als Außerkraftsetzung realer Wahrscheinlichkeiten zu verstehen. Diese Umdeutung hängt einer schon vor Goethe einsetzenden Diskussion zusammen: Friedrich Schlegel definierte in seiner Nachricht von den poetischen Werken des Johannes Boccaccio von 1801 die Novelle als „eine Anekdote, eine noch unbekannte Geschichte, […] die in ihrer Form irgend etwas enthalten [müsse], was vielen merkwürdig oder lieb sein zu können verspricht.“46 Diese Überlegungen zur Merkwürdigkeit des Geschehens wurden zunächst von Friedrichs Bruder August Wilhelm Schlegel in den 1801–1804 gehaltenen Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst zum Prinzip „entscheidender Wendepunkte“ erweitert, welche zur Unterteilung der „Hauptmassen der Geschichte“ vor dem Betrachter dienlich seien.47 Ludwig Tieck betonte dagegen erstmals ganz explizit das Moment der Überraschung. Freilich geht dies in die Richtung der Schlegelschen These aus den Athenäums-Fragmenten, die Novelle zeichne sich durch eine „einzig schöne Seltsamkeit“ aus, weil in ihr „etwas zu fehlen schein[t], wie abgerissen.“ Schlegel bezog sich dabei jedoch in erster Linie auf den Witz und zog die Novelle eher als Vergleich heran. Tieck sprach zwar auch davon, dass die Novelle „witzig“ sei, bezog dies jedoch noch genauer auf den dramaturgischen Wendepunkt der Geschichte, „von welchem aus sie sich unerwartet völlig umkehrt.“48 Dieses „Wunderbare“ sei nichts Übernatürliches, sondern basiere auf den „Umständen“, sei also eine „Richtungsmöglichkeit“ im Novellengeschehen, die bis zu diesem Wendepunkt verborgen geblieben ist.49 Genauer heißt es dazu: Diese Wendung der Geschichte, dieser Punkt, von welchem aus sie sich unerwartet völlig umkehrt, und doch natürlich, dem Charakter und den Umständen angemessen, die Folge entwickelt, wird sich der Phantasie des Lesers um so fes-

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Ludwig Tieck: Vorbericht zur dritten Lieferung, in: Ders.: Schriften, Bd. 11, Berlin 1829. S. 84−90. Zitiert nach: Kunz, Novelle, S. 53. Ebd. Friedrich Schlegel: Nachricht von den poetischen Werken des Johannes Boccaccio (1801). Zitiert nach: Kunz, Novelle, S. 41. August Wilhelm Schlegel: Geschichte der romantischen Literatur, in: Ders.: Kritische Schriften und Briefe, hg. v. Edgar Lohner, Bd.4, Stuttgart: Kohlhammer 1965 (Sprache und Literatur 20), S. 216. Tieck, Vorbericht. Zitiert nach: Kunz, Novelle, S. 53. Ebd., S. 52–55.

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ter einprägen, als die Sache, selbst im Wunderbaren, unter anderen Umständen wieder alltäglich sein könnte.50

Entscheidend für unsere Fragestellung ist der Zusatz, nach welchem der novellistische Wendepunkt „sich der Phantasie des Lesers um so fester einpräge“, je stärker „die Sache, selbst im Wunderbaren, unter anderen Umständen wieder alltäglich sein könnte.“51 Dass damit präzise das Prinzip des ‚Unerledigten‘ im Sinne des ‚Zeigarnik-Effektes‘ markiert ist, zeigt Tiecks Novelle Der blonde Eckbert. In dieser wird die Heldin Bertha von ihrem Mann Eckbert dazu aufgefordert, einem gemeinsamen Freund – Walther – ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Dabei kommt es zu einer Überschreitung der Grenze von Rahmenund Binnenerzählung, denn aus unerfindlichen Gründen weiß Walther den Namen des Hundes Strohmian, an den Bertha sich nicht mehr zu erinnern vermochte. Bertha registriert dies mit Entsetzen, da sie Walther vorher nie begegnete, und reagiert mit Grübeln auf dieses unerklärliche Rätsel. Ihre Fragen stellt sich jedoch auch der Leser der Novelle: War es Zufall? Hat Walther den Namen erraten? Und wenn nicht, wie hängt er dann mit Berthas Schicksal zusammen? Fragen dieser Art verdeutlichen, dass in Tiecks Novelle keine reine Anekdote, sondern eine unerledigte Handlung im Sinne des Zeigarnik-Effektes erzählt wird. Dem entspricht die Tatsache, dass diese Tieckschen Helden einer geradezu zwanghaften Erinnerung ausgesetzt sind, die sowohl für Bertha wie auch für Eckbert eben deshalb zur totalen Überforderung wird, weil sie sich hartnäckig im Gedächtnis einnistet. Eckbert wie Bertha sind eben deshalb grüblerische Figuren, die nicht im Sinne einer Märchenfigur entschlossen agieren, weil über ihnen ein ungelöstes Problem im Sinne des cliffhangerEffektes schwebt: Sie sind beide durch unerledigte Schuld paralysiert. Jene Flashbacks, Alpträume und ungewollten Erinnerungen, wie sie vor allem Eckbert gegen Ende der Märchennovelle widerfahren, stehen im Zusammenhang mit einem wahrlich nicht zu erledigenden Schuldkomplex. Der Verfolgungswahn bzw. die Paranoia ist in beiden Fällen dem schlechten Gewissen geschuldet, bedingt durch schuldbesetztes Handeln. Was aber haben sich Bertha und Eckbert zuschulden kommen lassen, wie erklärt sich ihr schlechtes und letztlich todbringendes Gewissen? Mit Blick auf Bertha scheint dies klar zu sein: Sie hat der alten Frau sämtliche Habseligkeiten entwendet und fürchtet seitdem die Konsequenzen dieser Handlung. Immer mehr, so heißt es, „ängstigte mich die Vorstellung von der Alten und dem kleinen Hunde; ich dachte daran, daß er wahrscheinlich ohne meine Hilfe verhungern müsse; im Wald glaubt’ ich oft, die Alte würde mir plötzlich entgegentreten.“52 Bei Eckbert ist 50 51 52

Ebd. Ebd. Ludwig Tieck: Der blonde Eckbert, in: Ders.: Werke in vier Bänden, hg. v. Marianne Thalmann, Bd. 2, Die Märchen aus dem Phantasus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964, S. 10−26, hier S. 19.

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das Vergehen weit schwerwiegender, denn er hat seinen besten Freund Walther umgebracht. Aufgrund dessen verbringt er fortan ein Leben „unter ewigen innern Vorwürfen“, geprägt durch „die Furcht, verabscheut zu werden.“53 Wenngleich Eckbert eben diese Furcht überwindet, sich also seinem neuen Freund Hugo offenbart, kommen gerade in diesem Moment des Vertrauens und der Öffnung die Mächte der Vergangenheit zurück: Der ermordete Walther erscheint Eckbert in halluzinatorischen Momenten, er hört das Lied von der Waldeinsamkeit, und schließlich begegnet ihm jene Alte, bei welcher Bertha ihre Jugend verbrachte. Wer aber ist diese Alte, wenn sie es vermag, sich zugleich in die Weggefährten Hugo und Walther zu verwandeln? Ist sie eine Reminiszenz an spätmittelalterliche Formen des Aberglaubens und der Dämonie? Diese Identifikation würde deshalb zu kurz greifen, weil sie den psychodynamischen Aspekt dieser Märchennovelle nicht berücksichtigt: Die Alte ist keine typische Hexe, sondern ein Phantasma, welches aus dem Unrechtsbewusstsein beider Hauptfiguren hervorgeht. Um wieviel wichtiger dieser psychodynamische Aspekt gegenüber dem grotesk-metaphysischen ist, wird angesichts der letzten Begegnung Eckberts mit der Alten deutlich: „Siehe, das Unrecht bestraft sich selbst: niemand als ich war dein Freund Walther, dein Hugo.“ Was Eckbert nun realisiert, zeigt seine Antwort, denn er fragt nicht, wie eine solche Metamorphose möglich sein kann, sondern erkennt seine Lebenslüge: „Gott im Himmel [...], in welcher entsetzlichen Einsamkeit hab’ ich dann mein Leben hingebracht.“ Diese Lebenslüge erhält nun jedoch eine weitere entscheidende Ergänzung, wenn sich schließlich herausstellt, dass Bertha und Eckbert eigentlich Geschwister waren, also im Inzest lebten: „Und Bertha war deine Schwester.“ Damit erklärt sich zum einen, weshalb Bertha von ihrem Vater so grausam behandelt wurde,54 denn schließlich war dies nicht ihr leiblicher, sondern ein Ziehvater. Zudem wird deutlich, dass sowohl Berthas als auch Eckberts neurotischer Zustand mit der Verdrängung ursprünglich bekannter Kindheitsereignisse zusammenhängen – Bertha verdrängte die grausame Erziehung durch den Ziehvater55, Eckbert verdrängte das ihm früher bekannte Geheimnis, dass seine Ehefrau eigentlich seine Schwester ist: 53 54

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Ebd., S. 23−24. Was die Geschichte anfangs andeutet, dann jedoch niemals wieder aufgreift, ist die Brutalität ihres Vaters, der „immer sehr ergrimmt“ auf Bertha gewesen sei und sie „oft ziemlich grausam“ behandelte. „Mein Vater“, so heißt es in der Jugendgeschichte, „setzte mir mit Drohungen unbeschreiblich zu, da diese aber noch nichts fruchteten, züchtigte er mich auf die grausamste Art, indem er sagte, daß diese Strafe mit jedem Tag wiederkehren sollte, weil ich doch nur ein unnützes Geschöpf sei.“ Berthas Flucht aus dem Elternhaus, die die Begegnung mit der sonderbaren Alten auslöst, ist durch die Angst motiviert, daß der Vater „mich noch grausamer behandeln“ könnte. Angesichts dessen verwundert die Rückkehr Berthas in die Heimat: „Unendlich freute ich mich darauf, meine Eltern nun nach so manchen Jahren wiederzusehen.“ Tieck, Der blonde Eckbert, S. 11 und 20. Dass sich die vollkommen angstfreie Wiederbegegnung Berthas mit den Eltern und speziell mit dem Vater als Verdrängung jener ursprünglichen Gewalterfahrungen verstehen lässt, dies

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‚Warum hab’ ich diesen schrecklichen Gedanken immer geahndet?’ rief Eckbert aus. ‚Weil du in früher Jugend deinen Vater einst davon erzählen hörtest; er durfte seiner Frau wegen diese Tochter nicht bei sich erziehn lassen, denn sie war von einem andern Weibe.’56

Bertha stirbt, weil die Erinnerungen an jene von einem Fremden gewussten, verborgensten Geheimnisse ihres Lebens sie um den Verstand bringen; Eckbert wird wahnsinnig, weil die Gestalten um ihn nicht nur ihre Identität wandeln, sondern vor allem eine Identität bestätigen, die ihm eigentlich bekannt gewesen ist. Wenn Tieck daher seine Helden zu Grüblern werden lässt, dann liegt dies auch daran, weil diese Helden Unerledigtes nicht wirklich vergessen können. Ist nun jedoch auch der Leser in dieses Spiel mit der Nachhaltigkeit und Wiedergängigkeit unerledigter Handlungen eingebunden? Ist auch er in den Zeigarnik-Effekt involviert? Um diese Frage zu beantworten, gilt es die novellistische Struktur von Binnen- und Rahmenerzählung in den Blick zu nehmen. Denn wie die Helden der Novelle in ihrem Grübeln zwischen einem Bewussten und einem Unbewussten changieren, so changiert auch die Novelle selbst zwischen dem Kontrast von realem Rahmenvorgang und surrealer Binnenerzählung. Das Dämonische des Tieckschen Kunstmärchens hat also nicht nur einen psychologischen, sondern auch einen formalen Aspekt. Für diesen ist entscheidend, dass sich der Kontrast von Rahmen- und Binnenebene bis hin zur Ununterscheidbarkeit aufhebt: Die Binnenerzählung, die „seltsam genug ist“,57 steht also angesichts ihrer Phantastik zunächst in Kontrast zum Rahmengeschehen. Da Freund Walther jedoch intime Kenntnisse bezüglich der phantastischen Binnen- bzw. Jugendgeschichte Berthas hat, die er eigentlich nicht haben kann, werden surreale und reale Ebene im Sinne einer Metalepse kurzgeschlossen. Um darstellen zu können, wie Berthas Vergesslichkeit durch ungewollte Flashbacks irritiert, also Erschütterungen ausgesetzt wird, die letztlich ihren physischen Tod hervorrufen, bedient sich Tieck der Metalepse. Das Grübeln Berthas über die Frage, wieso Walther den Namen ihres Hundes kennen kann, ist jedoch eines, welches auch der Leser der Novelle in identischer Form vollzieht, um diese überhaupt verstehen zu können: Du weißt, daß ich mich immer nicht, sooft ich von meiner Kindheit sprach, trotz aller angewandten Mühe auf den Namen des kleinen Hundes besinnen konnte, mit welchem ich so lange umging; an jenem Abend sagte Walther beim Abschiede plötzlich zu mir: ‚Ich kann mir Euch recht vorstellen, wie Ihr den kleinen Strohmian füttert.’ Ist das Zufall? Hat er den Namen erraten, weiß er ihn und hat er ihn mit Vorsatz genannt? Und wie hängt dieser Mensch dann mit meinem

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hat Tiecks Bertha im Text selber angedeutet: „Wie die menschliche Natur vergesslich ist, so glaubt ich jetzt, meine vormalige Reise in die Kindheit sei nicht so trübselig gewesen als meine jetzige; ich wünschte wieder in derselben Lage zu sein.“ Wäre Bertha weniger vergesslich, so kann man ergänzen, dann wäre dieser Wunsch nach einer Reise in die Kindheit kaum vorhanden. Tieck, Der Blonde Eckbert, S. 19. Ebd., S. 26. Ebd., S. 10.

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Schicksale zusammen? Zuweilen kämpfe ich mit mir, als ob ich mir diese Seltsamkeit nur einbilde, aber es ist gewiß, nur zu gewiß. Ein gewaltiges Entsetzen befiel mich, als mir ein fremder Mensch so zu meinen Erinnerungen half. Was sagst du, Eckbert?58

Solche rätselhaften Verschachtelungen von Rahmen- und Binnengeschichte gehören zum Grundprinzip dessen, was Friedrich Schlegel in seinem 116. Athenäums-Fragment unter dem Titel der „progressiven Universalpoesie“ als romantische Poesie definierte. Denn deren Ziel war es ja nicht nur, „alle getrennte[n] Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen“, also „die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen“. Entscheidend ist vielmehr, dass nach Schlegel auch und gerade die romantische Poesie sich ganz „in das Dargestellte verliert“, aber zugleich „dazu gemacht“ sei, „den Geist des Autors vollständig auszudrücken“. Denn dies beinhaltet eben jene Figur, die der Metalepse und der mise en abyme so ähnelt, und die im berühmten 116. Athenäums-Fragment wie folgt beschrieben ist: Und doch kann auch sie [die romantische Poesie – B. M.-S.] am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von 59 Spiegeln vervielfachen.

Durch Verschachtelungen dieser Art lenkt der Autor den Blick des Lesers; er sensibilisiert ihn für die Relation zwischen künstlerischer Darstellung und Dargestelltem, zwischen Werk und Außenwelt. Wer ein Bild mit einem Bild im Bild betrachtet, wird dazu provoziert, die das Bild umgebende Außenwelt als rahmendes Bild zu betrachten.

Menschliche Gier und wehklagende Natur: Zur Tiefe in Tiecks Runenberg In der mittleren Romantik verfestigt der Grübler seine in den Lehrlingen zu Sais entfaltete Obsession der wehklagenden Natur, deren Seufzer den Empfindsamen in Nachdenklichkeit versinken lässt. Schon in Novalis’ Lehrlingen ist es der Wind, der „vorübersaust, von geliebten Gegenden herweht und mit tausend dunkeln, wehmütigen Lauten den stillen Schmerz in einen tiefen melodischen Seufzer der ganzen Natur aufzulösen scheint.“60 Zwar wird diese wehklagende Natur bei Novalis durch die Utopie der Liebe versöhnt, sie ist jedoch zugleich in ihrem Schmerz ein Gegenstand des menschlichen Tiefsinns. In seiner Erzählung Der unheimliche Gast von 1819 stellte E. T. A. Hoffmann die vergleichbare Frage, wie es erklärbar sei, „daß alle Na58 59 60

Ebd., S. 22. Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragment Nr. 116, in: Ders.: Charakteristiken und Kritiken I, S. 182−183. Novalis: Lehrlinge, S. 117.

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turlaute, deren Ursprung wir genau anzugeben wissen, uns wie der schneidendste Jammer tönen und unsere Brust mit dem tiefsten Entsetzen erfüllen?“61 Der merkwürdigste jener Naturtöne ist nach Hoffmann die „Luftmusik oder sogenannte Teufelsstimme auf Ceylon und in den benachbarten Ländern“62, welche schon Gotthilf Heinrich von Schubert in seinen 1808 erschienenen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften erwähnte. Diese Naturstimme lässt sich in stillen heitern Nächten, den Tönen einer tiefklagenden Menschenstimme ähnlich, teils wie aus weiter Ferne daherschwebend, teils ganz in der Nähe schallend, vernehmen. „Sie äußert“, so heißt es bei E. T. A. Hoffmann, „eine solche tiefe Wirkung auf das menschliche Gemüt, daß die ruhigsten, verständigsten Beobachter sich eben des tiefsten Entsetzens nicht erwehren können.“63 Wir begegnen diesem Phantasma vom Seufzer der Natur auch in Tiecks 1804 erschienener Erzählung Der Runenberg; erklären lässt sich dieser möglicherweise durch eine These Walter Benjamins, der in seinem Ursprung des deutschen Trauerspiels ebenfalls die Klage als „Urlaut der Natur“ bezeichnete und dem Menschen als Sprachbegabtem die Verantwortung zukommen ließ, gewissermaßen rechtliche Positionen stellvertretend für die Natur wahrzunehmen. Im Ursprung des deutschen Trauerspiels heißt es dazu: „Weil sie stumm ist, trauert die gefallene Natur. Doch noch tiefer führt in das Wesen der Natur die Umkehrung dieses Satzes ein: ihre Traurigkeit macht sie verstummen.“64 Mit Blick auf Hugo von Hofmannsthal sprach Benjamin von der Klage als dem „Urlaut der Kreatur“65, damit eine Formel Nietzsches aufgreifend, die dieser seinerseits in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik formulierte. Denn schon bei Nietzsche ist ein Element des dionysischen Urschmerzes die Natur selbst, die, wenn sie sich als solche äußern könnte, „über ihre Zerstückelung in Individuen zu seufzen hätte.“66 Dieser Gedanke ist nicht romantischen Ursprungs, aber in der Romantik zunehmend mit der Tiefe der Natur assoziiert. In Adelbert von Chamissos Gedicht Der Untergang von 1804 wird die Natur mit ihren tobenden Winden und der aufgewühlten See geschildert und die am Felsenriff brechenden Wellen als Stimme der Erde gedeutet, 61

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E. T. A. Hoffmann: Der unheimliche Gast, in: Ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden, hg. v. Wulf Segebrecht/Hartmut Steinecke, Bd. 4, Die Serapions-Brüder, hg. v. Wulf Segebrecht, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2001 (Bibliothek deutscher Klassiker 175), S. 722−779, hier S. 725. Gotthilf Heinrich von Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, unveränderter repographischer Nachdruck der Ausgabe Dresden 1808, Darmstadt 1967, S. 64. Hoffmann, Der unheimliche Gast, S. 725. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 1.1, Abhandlungen, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 203−409, hier S. 398. Walter Benjamin: Hugo von Hofmannsthals ‚Turm‘, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 3, Kritiken und Rezensionen, hg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 99. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1987, S. 36.

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„die den Donnern / In den Höhen / klagend ruft.“67 In Der Runenberg hat Tieck dieses Motiv der trauernden Natur erstmals in die romantische Tiefenphantasie integriert. Es ist die Alraune, jene Wurzelpflanze, deren Wurzelwerk an die ausgestreckten Glieder eines menschlichen Torso erinnert, aus der die Klagetöne der Natur stammen. Mit der Alraune verbindet der Held der Erzählung eine Reise in die Tiefen der Erde und somit des eigenen Gemüts: Ich erinnere mich ganz deutlich, dass mir eine Pflanze zuerst das Unglück der ganzen Erde bekannt gemacht hat, seitdem verstehe ich erst die Seufzer und Klagen, die allenthalben in der ganzen Natur vernehmbar sind, wenn man nur darauf hören will, in den Pflanzen, Kräutern, Blumen und Bäumen regt und bewegt sich schmerzhaft nur eine große Wunde.68

Christian, der Held der Erzählung, reagiert mit diesem Hinweis auf einen Vorwurf seines Vaters, nach welchem „Trotz, Wildheit und Übermut“ die anfängliche Ruhe, Demut und Kindlichkeit des Sohnes „verschüttet“ hätten. Dass Christian nach der Flucht aus der Geborgenheit des Elternhauses zunehmend den Realitätssinn zu verlieren scheint und in eine Welt des Wahnsinns abgleitet, erklärt sich für den Helden selbst also durch seinen Sinn für „das Unglück der ganzen Erde“, welches er – wie übrigens auch sein Vater, der Gärtner – „in den Pflanzen, Kräutern, Blumen und Bäumen“ zu hören vermag. Gemäß dieser Argumentation erscheint die Tiefensehnsucht des Helden also nicht als eine irgendwie materialistische Suche nach den Schätzen des Mineralreiches. Christian folgt dem Phantasma der klagenden Natur, die seine Aufmerksamkeit fesselt, weshalb also die Geschichte des Runenbergs als Abfolge von Rätsel und Lösungsversuch gelesen werden muss. Dieses Rätsel bezieht sich auf das zentrale Symbol des Textes, die Alraune. Denn als Christian diese Wurzel anfangs aus der Erde zog, hörte er tatsächlich „erschreckend ein dumpfes Winseln im Boden, das sich unterirdisch in klagenden Tönen fortzog und erst in der Ferne wehmütig verscholl“.69 Damit jedoch nicht genug: Mit dieser Episode entfaltet die Novelle eine innere Traumsequenz, welche durch das Aufsteigen dunkler Bilder aus der Erinnerung gekennzeichnet ist. Christian hört unterirdische Töne, ein plötzlich erscheinender Fremder führt ihn tiefer in die Bergwelt, in deren Innerem er einer fremden und überaus schönen Frau begegnet, der er beim langsamen Entkleiden zuschaut, deren Gesang er lauscht und von der er eine magische Tafel geschenkt bekommt. Wie schon 67

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Der Grund für das Grollen der Natur liegt nach Chamisso in der Hybris des Menschen: „Denn, von Tränen Trüb umflossen, Wandt ihr Aug die Ewge Mutter Von den Söhnen, Welche Törigt Von den blumen Reichen Talen, Zu den Klüften Der Metalle In den Bergen Wild sich kehrten, Langsam abwärts; Und die Geister Der Metalle Herrschen jauchzend, In dem Sturmwind Ist ihr Walten Furchtbar, und die Elemente Stöhnen Klagen.“ Adelbert von Chamisso: Untergang, in: Ders.: Sämtliche Werke in zwei Bänden, hg. v. Werner Feudel/Christel Laufer, Bd. 1, Gedichte, München: Carl Hanser 1982, S. 442. Ludwig Tieck: Der gestiefelte Kater. Märchen aus dem Phantasus, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch 2008, S. 163. Ebd., S. 147.

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der Lehrling des Novalis, so tritt also auch Christian aus der realen Welt des Alltags in die irreale Welt des Phantastischen. Und wie in den Lehrlingen, so begegnet auch im Runenberg ein Fremder dem Helden, und auch die Chiffrenschrift der Natur taucht auf: Die magische Tafel schlägt Christian aufgrund ihrer hieroglyphischen Lineamente in ihren Bann. Diese phantastische Welt ist jedoch nicht mehr eine als erzähltes Märchen dargelegte Allegorie eines irgendwie sinnhaften Gleichnisses, sondern eine aus dem Innersten des Helden auftauchende Welt des Wunsches: Die Tafel schien eine wunderliche unverständliche Figur mit ihren unterschiedlichen Farben und Linien zu bilden; zuweilen war, nachdem der Schimmer ihm entgegenspiegelte, der Jüngling schmerzhaft geblendet, dann wieder besänftigten grüne und blau spielende Scheine sein Auge: er aber stand, die Gegenstände mit seinen Blicken verschlingend, und zugleich tief in sich selbst versunken. In seinem Innern hatte sich ein Abgrund von Gestalten und Wohllaut, von Sehnsucht und Wollust aufgetan, Scharen von beflügelten Tönen und wehmütigen und freudigen Melodien zogen durch sein Gemüt, das bis auf den Grund bewegt war: er sah eine Welt von Schmerz und Hoffnung in sich aufgehen, mächtige Wunderfelsen von Vertrauen und trotzender Zuversicht, große Wasserströme, wie voll Wehmut fließend.70

Es spricht vieles dafür, diese mit der Alraune beginnende Sequenz im Sinne Ernst Ribbats71 als einen faktischen Traum zu verstehen, weshalb in dieser die Grenzen von Wirklichkeit und Wahn ineinander fließen. Schon das Verschwinden der phantastischen Impressionen in das zweifach erwähnte „Innere“ Christians unterstreicht deren irrealen Charakter. Entsprechend ist am nächsten Morgen, also nach dem Erwachen des Helden, die Tafel verschwunden. Eben damit aber eröffnet Tieck eine der romantischen Metalepse vergleichbare Wendung seiner Novelle, werden doch die in der Traumsequenz erblickte Tafel wie auch die fremde Frau zu einem späteren Zeitpunkt zu einer realen Erscheinung, die Christian nach seinem Abstieg in ein unbekanntes Dorf, der Heirat einer reichen Pächterstochter und der Begründung eines alltäglichen Eheglücks auf verhängnisvolle Weise wieder begegnen wird. Der gefährlich lockende poetische Wahnsinn scheint also nur gebannt, solange die bürgerliche Identität sich als stabil genug erweist, die durch die AlrauneEpisode ausgelösten Phantasien zu deckeln. Grübelnd erweist sich der Held daher stets dann, wenn ihm die Grenzen zwischen Traum und bürgerlicher Realität durcheinander geraten, wie dies schon vor der eigentlichen Tragödie des Textes, nämlich bei der ersten Heimkehr Christians, der Fall zu sein scheint: „Ich kenne dich Wahnsinn wohl“, rief er aus, „und dein gefährliches Locken, aber ich will dir männlich widerstehn! Elisabeth ist kein schnöder Traum, ich 70 71

Ebd., S. 153. Vgl. Ernst Ribbat: Ludwig Tieck. Studien zur Konzeption und Praxis romantischer Poesie, Kronberg/Ts.: Athenäum 1978, S. 149−155.

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weiß, daß sie jetzt an mich denkt, daß sie auf mich wartet und liebevoll die Stunden meiner Abwesenheit zählt. Sehe ich nicht schon Wälder wie schwarze Haare vor mir? Schauen nicht aus dem Bache die blitzenden Augen nach mir her? Schreiten die großen Glieder nicht aus den Bergen auf mich zu?“72

Die Lage ändert sich freilich, als nach einigen Jahren bürgerlicher Eintracht ein Fremder bei Christian einkehrt und ihm ein beträchtliches Vermögen anvertraut, das Christian gehören soll, wenn er, der Fremde, binnen Jahresfrist nicht wiederkommt. In der Tat taucht der Unbekannte nie wieder auf, und Christians Wohlstand wächst zusehends. Aber der Dämon des Goldes nistet sich ihm ein, zudem gaukeln ihm wahnwitzige Träume in der Nacht das Bild der anziehenden Bergfrau vor. Die von Novalis behauptete Naturutopie, im Sinne der Lesbarkeit der über objektive ‚Zeichen‘ wie eben das Gestein, die Metalle, die Wasser- und Erzadern, Kristalle und Höhlen vermittelten Chiffrenschrift, wird hier von Tieck aufgekündigt. Denn gegen Novalis zeigt Tieck, dass die Utopie der Entzifferung der geheimnisvollen Natur letztlich in den Wahnsinn führt. Die Natur verwandelt sich für Christian in einen verwesenden Leichnam, wird fremd und unheimlich, wie auch die Figuren ihre Identität einbüßen. In einem alten Waldweib glaubt er die verführerische Bergfrau und den Fremden zu erkennen, und auch der Versuch, nach den wunderbaren, unermesslichen Schätzen in den Tiefen der Erde zu graben, endet katastrophisch, denn Christians Spuren verlieren sich am Eingang eines unterirdischen Schachts, seine Familie endet im Elend. Nach Jahren taucht er als alter, wahnsinniger Mann wieder auf, einen Sack gewöhnlicher Steine im Glauben mit sich herumschleppend, es seien Edelsteine, um dann für immer mit dem alten Waldweib zu verschwinden. Wir müssen diese Absage an die Utopie des Novalis zusammendenken mit Tiecks gleichzeitiger Vollendung der bei Novalis nur fragmentarisch gestalteten Novellenform. Tieck vermeidet den grübelnden und eher schwer zugänglichen Erzählton des Novalis, indem er die Geschichte des grübelnden Helden – gleichfalls verschieden zu Novalis – in ihrer Gänze erzählt. Tieck delegiert das Grübeln, in welchem sich Novalis verfing, über das Bild der Runentafel als mise en abyme des Textes an den Leser. Zum einen also verbindet die Runentafel die vermeintliche Traumphantasie Christians mit dem realen Geschehen, was freilich dazu führt, dass die Selbstzweifel des Helden bezüglich der Zuverlässigkeit seiner Wahrnehmung stets virulent bleiben, immer aber auch umgekehrt die Stimmigkeit seines bürgerlichen Glücks in Frage stellen. Zum anderen lässt sich die Runentafel natürlich auch als Zeichen einer Selbstreflexion des Textes selbst lesen, entsprechend der Funktion der narrativen mise en abyme. Auch Tiecks Runenberg ist ein Text, der im Bild der Runentafel andeutet, sich selbst im verkleinerten Maßstab nochmals zu enthalten. Freilich lässt sich eine solche mise en abyme in der Literatur immer nur andeuten, weil eine echte Potenzierung ja ins Unendliche führen müsste und in den bekannten 72

Ebd., S. 157−158.

DER NARRATIVE ZEIGARNIK-EFFEKT

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Illustrationen vom ‚Bild im Bild‘ auch ebenso funktioniert. Dieser Effekt ist aus der Perspektive der Romantik jedoch auch im literarischen Text selber möglich, wie dies vor allem die Literaturtheorie Friedrich Schlegels erkennen lässt. Denn das im 116. Athenäums-Fragment als Grundidee der „progressiven Universalpoesie“ entfaltete Schweben „zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion“, ist ja eben eine Spiegelflucht „in einer endlosen Reihe von Spiegeln“73, in der das eigene Spiegelbild schier unendlich wiederholt und von Spiegelung zu Spiegelung kleiner wird. Auch Tiecks Runenberg verweist sowohl im Bild der Alraune wie der Rune auf sich selbst, wie Detlef Kremer dies zeigte.74 Für das Grübeln hat dies die Konsequenzen, dass wir in dieser Novelle wie schon in Der blonde Eckbert eine ‚taumelnde‘ Textur75 vor uns haben, die aufgrund ihrer metaleptischen – nicht, wie bei Novalis, fragmentarischen – Struktur auch den Leser selbst ins Grübeln bringen soll. Tieck überführt die von Novalis geprägten dichterischen Symbole wie Schacht, Kristall, Gold, Fremder, Bergkönigin von ihrer utopischen hin zu einer metaleptischen Funktion, deren Ziel der auch in den theoretischen Reflexionen zum Begriff des Wunderbaren entfaltete Effekt des ‚Schwindels‘ ist. Denn dieser entsteht „wie der körperliche Schwindel durch eine schnelle Betrachtung von vielen Gegenständen […], indem das Auge auf keinem verweilt und ausruht.“76 Es wäre eine Fehllektüre, würde man Christians Schicksal dahingehend deuten, dass er schuldig wird, weil er das Wunderbare materiell auszuwerten versucht und damit die Phantasie verrät. Christians schreckliches Ende wird im Runenberg nie kausal psychologisiert, sondern durch das komplizierte Verhältnis von Traum und Realität stets in seiner kausalen Eindeutigkeit unterlaufen. Auch deshalb verzichtet Tieck im Unterschied zu Novalis auf die belehrende Funktion des Märchens, denn er verrätselt das einfache, linear erzählte Märchengeschehen im Bewusstseinshorizont seines Helden, wie dies auch aus der Novelle Der blonde Eckbert bekannt ist. Damit jedoch ebnet Tieck den Weg für den schon in Der blonde Eckbert entfalteten novellistischen Zeigarnik-Effekt, der in der Folge für die romantische Erzählung bestimmend bleibt. In dieser Öffnung der Novelle hin zum ‚Unerledigten‘ liegt das zentrale Prinzip romantischer Universalpoesie, welches sich nach Tiecks Phantasus-Märchen in diversen Novellen der Romantik beobachten lässt.77 73 74 75 76 77

Schlegel, Athenäums-Fragment Nr. 116, S. 182−183. Vgl. Detlef Kremer: Die Schrift des ‚Runenbergs‘: literarische Selbstreflexion in Tiecks Märchen, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 24 (1989), S. 117−144. Vgl. Jörg Bong: Texttaumel. Poetologische Inversionen von Spätaufklärung und Frühromantik bei Ludwig Tieck, Heidelberg: Winter 2000. Ludwig Tieck: Über Shakespeare’s Behandlung des Wunderbaren, in: Ders.: Ausgewählte kritische Schriften, hg. v. Ernst Ribbat, Tübingen 1975, S. 29−30. Dass es sich dabei um eine äußerst komplexe Innovation handelt, in welcher psychologische Einsichten in das Unbewusste und formale Erneuerungen hinsichtlich der Darstellung dieses Unbewussten Hand in Hand gehen, dies betont Paul Gerhard Klußmann: „Das neue Erzähl-

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BURKHARD MEYER-SICKENDIEK

verfahren operiert zwar mit Mitteln des Volksmärchens, des Feenmärchens, der Schauergeschichte, der Novellen von Boccaccio und Cervantes, aber es organisiert die übernommenen Motive und Formelemente nach dem romantischen Prinzip der traumhaften Imagination. Ihm entspricht der atmosphärische, musikalische und phantastische Erzählton mit der lyrischen Chiffre der Waldeinsamkeit. In ihr bekundet sich auch am deutlichsten die Grundstimmung der Angst vor dem Nichts, die aus einer modernen Ich-Erfahrung emporsteigt, welche in den Normen einer christlich fundierten und bürgerlichen Gesellschaft keine sichere Ordnung mehr findet.“ Paul Gerhard Klußmann: Ludwig Tieck, in: Handbuch der deutschen Erzählung, hg. v. Karl Konrad Polheim, Düsseldorf 1981, S. 130–144, hier S. 135.



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