Der letzte Fetisch des Stamms der Historiker. Zeit, Raum und Periodisierung in der Geschichtswissenschaft, in: Fernando Esposito (ed.), Zeitenwandel. Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017, 63-92.
Der letzte Fetisch des Stamms der Historiker Zeit, Raum und Periodisierung in der Geschichtswissenschaft
Seit langem wissen Historiker um die fundamentale Rolle der Zeit in der Geschichtsschreibung. Manche haben sogar Zeit und Geschichte schlicht gleich gesetzt. In seiner Apologie pour l’histoire bezeichnete Marc Bloch die Geschichte bekanntlich als »die Wissenschaft vom Menschen in der Zeit«1. Für Jacques Le Goff ist die Zeit »der Werkstoff des Historikers« und Jules Michelet hat das Verhältnis von Zeit und Geschichte einst mit dem Satz beschrieben »l’histoire, c’est le temps«2. Berufshistoriker des 19. Jahrhunderts waren stolz auf die Bandbreite der historischen Hilfswissenschaften, mit denen sie Ereignisse und Objekte zeitlich bestimmen und einordnen konnten – eine Fertigkeit, die sie ihrer Meinung nach von Philosophen, Literaten und anderen historischen Amateuren abhob. Sie waren sich bewusst, dass die Konstruktion einer universellen Zeitachse ein hartes Stück Arbeit für die Chronologen des 17. und 18. Jahrhunderts bedeutet hatte, die damit, wie Lucian Hölscher ausführt, den Geografen auf ihrer Suche nach einer universalen Topografie gefolgt waren: Eighteenth-century historians often thought of history as a kind of map, where the temporal and geographical position of any single event is significant for its historical meaning. Hence establishing a universal calendar of homogeneous, universal and infinite time and a system of geographical representation of the earth were the most important contributions of eighteenth-century historiography to the modern European idea of history.3
So wurde das chronologische Datieren und das auf der Chronologie fußende Argument – man denke etwa an den Nachweis von Fälschungen von der Konstantinischen Schenkung bis zu den Hitlertagebüchern – in der historiografischen Praxis geradezu zum Inbegriff dessen, was Historiker meinen, wenn sie von der Zeit reden. Anachronismen gehören seither zu den Todsünden der Geschichtswissenschaft. 1 Marc Bloch, Apologie pour l’histoire ou Métier d’historien, Paris 1997, S. 52. Teile der Einführung stammen aus der Einleitung zu dem mit Berber Bevernage herausgegebenen Sammelband: Breaking Up Time. Negotiating the Borders between the Present, Past and Future, Göttingen 2013. Übersetzt wurde dieser Beitrag von Christine Brocks und Fernando Esposito. 2 Jacques Le Goff, Histoire et mémoire, Paris 1988, S. 24 ; Jules Michelet, Histoire de la Revolution Française, Bd. 3, Librairie Abel Pilon, S. 301. 3 Lucian Hölscher, Time Gardens. Historical Concepts in Modern Historiography, in: History and Theory 53 (2014), Nr. 4, S. 577–591, hier S. 578.
Historiker wie Fernand Braudel und Reinhart Koselleck beispielsweise waren sich zwar des substanziellen Unterschieds zwischen verschiedenen zeitlichen Dimensionen und Rhythmen bewusst. Und doch haben sich bislang überraschend wenige Historiker eingehender mit historischer Zeit beschäftigt. Es ist symptomatisch, dass selbst in den Geschichtlichen Grundbegriffen (1972–1997) das Lemma ›Zeit‹ fehlt. Das gleiche gilt für Aviezer Tuckers neueren Companion to the Philosophy of History and Historiography (2009) sowie Nancy Partners und Sarah Foots The Sage Handbook of Historical Theory (2013)4. Seit den 1990er Jahren haben sich eine Reihe von Historikern und Philosophen auf zunehmend anspruchsvollem Niveau der historischen Zeit angenommen. Vor allem Lucian Hölscher, François Hartog, Peter Fritzsche, Zachary Schifmann, Achim Landwehr, Jacques Le Goff und Berber Bevernage5 sind den bis mindestens in die 1970er Jahre zurückgehenden Spuren Reinhart Kosellecks gefolgt und haben als selbstverständlich erachtete Zeitkonzepte historisiert. In den geschichtsphilosophischen Debatten um Gegenwart, Distanz, Trauma und historische Erfahrung ist die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses gerückt6. Unabhängig davon haben Anthropologen sowie die Theoretiker der Postcolonial Studies maßgeblich zum wachsenden Interesse an der Zeit beigetragen, indem sie die Zeit der Geschichte als eine speziell westliche dekonstruierten und somit Zeit und Raum miteinander verknüpften. Vor allem der indische Historiker Dipesh Chakrabarty stellt die Vorstellung einer homogenen, linearen Zeit der Geschichte grundlegend in Frage7. Eine vergleichbare Interpretation liefern 4 Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (8 Bde.), Stuttgart 1972–1997; Aviezer Tucker (Hrsg.), A Companion to the Philosophy of History and Historiography, Oxford 2009; Nancy Partner/Sarah Foot (Hrsg.), The SAGE Handbook of Historical Theory, Los Angeles 2013. Im Lexikon Geschichtswissenschaft befindet sich demgegenüber ein Artikel zur »Zeit« von Koselleck selbst, siehe: Stefan Jordan (Hrsg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002. 5 Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a. M. 1999; François Hartog, Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003 (englische Übersetzung 2015); Peter Fritzsche, Stranded in the Present. Modern Time and the Melancholy of History, Cambridge MA 2004; Zachary S. Schiffman, The Birth of the Past, Baltimore 2011; Achim Landwehr, Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2014; Jacques Le Goff, Must We Divide History Into Periods?, New York 2015; Berber Bevernage, History, Memory, and State-Sponsored Violence. Time and Justice, New York 2012. 6 Eelco Runia, Presence, in: History and Theory XLV (2006), Nr. 1, S. 1–20; Forum zum Thema »Gegenwart« in: History and Theory XLV (2006), Nr. 3, S. 305–375; Historical Distance. Reflections on a Metaphor, Themenheft History and Theory, L (2011), Nr. 4; Holocaust und Trauma. Kritische Perspektiven zur Entstehung und Wirkung eines Paradigmas, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, XXXIX (2011). 7 Siehe Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000, S. 15 f.; Ashis Nandy, History’s Forgotten Doubles, in: History
seit etwa 25 Jahren auch Globalhistoriker, welche die dominante Geschichtsschreibung als ausschließlich auf den europäischen Nationalstaat fokussiert und somit historische Periodisierungen als eurozentrisch kritisieren8. Ein weiterer neuer Zugang zum Problem der historischen Zeit ist aus den Diskussionen um das Anthropozän entstanden. Hierbei handelt es sich um einen Begriff für den geologischen Zeitabschnitt seit der Industriellen Revolution, für ein Zeitalter also, in dem der Mensch durch seine Beeinflussung des Klimas zu einem geologischen Handlungsträger geworden ist. Das Konzept, das im Rahmen der Debatten um den Klimawandel entstand, wurde von den sogenannten »posthumanen Humanwissenschaften« rasch aufgegriffen. Mittlerweile beschäftigen sich aber auch Historiker wie Chakrabarty und Ewa Domanska mit diesem Thema, da es fundamentale Voraussetzungen des historistischen Verständnisses der Geschichte berührt, etwa die grundlegende Unterscheidung von Kultur und Natur sowie die Frage nach der Kontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft9. Das kürzlich erwachte Interesse der Historiker an der Zeit ist zweifelsohne eng mit der kritischen Infragestellung der »Moderne« und des »Fortschritts« verknüpft, die mit dem Strukturwandel der »nach dem Boom«-Jahre einsetzte10. Die damit verbundenen fundamentalen Veränderungen in den Bereichen Arbeit, Gesundheitswesen, soziale Sicherheit und Altersvorsorge haben seitdem bei den meisten Menschen – mit Ausnahme der Superreichen – für eine allgegenwärtige Unsicherheit gesorgt. Daher wird in weiten Teilen der Gesellschaft
and Theory XXXIV (1995), Nr. 2, S. 44–66; Johannes Fabian, Time and the Other. How Anthropology Makes its Object, New York 1983. 8 William A. Green, Periodization in European and World History, in: Journal of World History 3 (1992), S. 13–53; Ders., Periodizing in World History, in: History and Theory 34 (1995), Nr. 2, S. 99–111; Jeremy H. Bentley, Cross-Cultural Interaction and Periodization in World History, in: American Historical Review (1996), S. 749–770; Jürgen Osterhammel, Über die Periodisierung der neueren Geschichte, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berichte und Abhandlungen (Bd. 10), Berlin 2006, S . 45–64; Ders., Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 84–129; Ulf Engel/Matthias Middell, Bruchzonen der Globalisierung, Leipzig 2005. Konrad Hirschler/Sarah Bowen Savant, Introduction. What is in a Period? Arabic Historiography and Periodization, in: Der Islam 91 (2014), Nr. 1, S. 6–19; Le Goff, Periods; Sebastian Conrad, What is Global History?, Princeton 2016, S. 141–162. 9 Dipesh Chakrabarty, The Climate of History. Four Theses, in: Critical Inquiry 35 (2009), Nr. 2, S. 197–222; Ewa Domanska, The New Age of the Anthropocene, in: Journal of Contemporary Archaeology 1 (2014), Nr. 1, S. 98–103; Zoltan Boldiszar Simon, History Manifested. Making Sense of Unprecedented Change, in: European Review of History/ Revue européenne d’histoire 22 (2015), Nr. 5, S. 819–834. 10 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2012. Im Folgenden wird der Lesbarkeit halber darauf verzichtet, Begriffe wie ›Moderne‹, ›Fortschritt‹, ›Geschichte‹, ›Mittelalter‹, ›Westen‹ etc. stets in Anführungszeichen zu setzen. Diese wie weitere vermeintlich selbstverständliche (temporale) Etikettierungen werden hier historisiert und reflektiert.
Zukunft nicht länger mit Fortschritt assoziiert, sondern mit einem Gefühl der Angst. Die auf das bekannte Buch von Thomas Piketty folgenden Diskussionen haben gezeigt, dass solche Ängste durchaus nicht jeglicher Grundlage entbehren11. Neue Nahrung erhielten gesellschaftliche Unsicherheiten und Ängste mit »9/11«, als die Weltordnung mit dem bis heute anhaltenden Krieg gegen den (islamistischen) Terrorismus eine neue Ausrichtung erhielt und die Kriegsund Ausnahmesituation zu einem Dauerzustand wurde12. Die Finanzkrise von 2007/8 schließlich hat jeden Zweifel darüber ausgeräumt, dass die Großbankiers der westlichen Welt die Politik der neoliberalen Deregulierung nach dem Boom vor allem dazu benutzten, ihre Boni kurzfristig und unter der Gefährdung aller in die Höhe zu treiben. Da die neoliberalen Staaten die Großbanken als »too big to fail« und ihre Bankiers als »too big to jail« erachteten, ist ein Ende dieser Finanzkrise nicht in Sicht13. Dass sich Historiker erst relativ spät mit der Zeit zu beschäftigen begannen, ist jedenfalls schon deshalb bemerkenswert, weil verschiedene Kulturen und soziale Gruppen immer schon die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterschiedlich gezogen haben und dies bis heute tun. Die weltweite Einführung einer standardisierten Weltzeit seit den 1870er Jahren (Greenwich Standard) widerspricht dieser kulturellen, räumlichen und sozialen Vielfalt verschiedener Zeiten ebenso wenig wie die Tatsache, dass Historiker intensiv die Verbreitung der Uhrzeit erforscht haben14. Dem vergleichsweise marginalen Stellenwert der Zeit als Gegenstand der Geschichtswissenschaft entspricht ein ähnlich geringes Interesse an Fragen der Periodisierung. Letzteres ist besonders erklärungsbedürftig, da Historiker immer Periodisierungen vornehmen, wenn sie Geschichte schreiben, wie Jürgen Osterhammel ausgeführt hat. Es gehört schließlich zu den grundlegenden historiografischen Tätigkeiten, die Vergangenheit in Scheibchen zu schneiden und diese dann zu benennen: »Die Vergangenheit erscheint zumindest dem modernen europäischen Bewusstsein als eine Abfolge von Zeitblöcken.«15 Ob Politik, Wirtschaft, Kunst oder Umwelt – was auch immer das Themenfeld sein mag – Historiker zerteilen die Zeit in spezifische, kontinuierliche und kohärente
11 Thomas Piketty, Capital in the Twenty-First Century, Cambridge MA 2014. 12 Giorgio Agamben, State of Exception, Chicago 2005. 13 Siehe David Harvey, A Brief History of Neoliberalism, Oxford 2005; Ders., The Enigma of Capital and the Crises of Capitalism, London 2010; Nathaniel Popper/Peter Eavis, Regulators Warn 5 Top Banks They Are Still Too Big to Fail, in: New York Times, 14.4.2016 (URL: http://www.nytimes.com/2016/04/14/business/dealbook/living-wills-of-5-banksfail-to-pass-muster.html, zuletzt eingesehen am 21.7.2016). 14 Ein Überblick bei: Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 116–126; Landwehr, Geburt der Gegenwart; Vanessa Ogle, The Global Transformation of Time 1870–1950, Cambridge MA 2015. 15 Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 88. Siehe auch: Le Goff, Periods, S. 114.
Blöcke, die sich von vorhergehenden und nachfolgenden Zeitblöcken unterscheiden und von ihnen durch Diskontinuitäten erzeugende Zäsuren geschieden sind16. Neben dieser der Geschichtsschreibung inhärenten Periodisierung wird in der europäischen Geschichtswissenschaft zudem schon institutionell zwischen Altertum, Mittelalter und Neuer Geschichte unterschieden, wobei diese Epochen für gewöhnlich noch einmal in frühe, mittlere und späte Abschnitte zeitlich unterteilt werden17. Die Frage der Periodisierung bildet damit an sich schon eine wesentliche Grundlage des Berufs des Historikers18. In diesem Beitrag werde ich die jüngsten Entwicklungen innerhalb der Forschungen zur historischen Zeit beleuchten und mich dabei auf das vieldiskutierte Verhältnis von Geschichte und Moderne konzentrieren. Der erste Teil wird die einflussreiche These Reinhart Kosellecks betrachten, der zufolge der Moderne eine exponentielle Beschleunigung zugrunde liegt, und der Frage nachgehen, inwieweit dieses Konzept neuere Varianten des »Präsentismus« beeinflusst hat, wie sie beispielsweise von François Hartog und Hans Ulrich Gumbrecht formuliert worden sind. Ich erörtere zum einen, inwieweit Kosellecks Zeitauffassung und Periodisierungsvorschlag modern und eurozentrisch ist und zum anderen, weshalb Koselleck gerade in den 1970er Jahren damit begann, die historische Zeit zu problematisieren. In einem zweiten Schritt wende ich mich dem engen Zusammenhang zwischen dem Aufstieg der Moderne und jenem der Geschichte als wissenschaftlicher Disziplin zu und diskutiere, inwiefern die »Neuzeit« alle anderen historischen Epochen hervorbrachte. In einem dritten Teil gehe ich den historischen Ursprüngen des modernen Konzepts linearer Zeit nach und frage insbesondere nach dem Einfluss postmoderner und postkolonialer Kritik an der Teleologie westlicher Periodisierungen auf das historische Denken. Abschließend wende ich mich dem Verhältnis von »leerer«, chronologischer Periodisierung zu »gefüllter«, substantieller Periodisierung zu. Es wird der performative Charakter von Periodisierungen betont und erörtert, wie dieselben im Verbund mit Raumkonstrukten kollektive Identitäten schaffen.
16 Osterhammel, Über die Periodisierung, S. 45–64; siehe auch Krystof Pomian, L’ordre du temps, Paris 1984, S. 161: »[T]o construct a periodization is to admit that the succession of facts and objects is not just a simple appearance, that it reflects something real. The realities inaccessible to view are presupposed as continuous, aligned, seperated by zones of rupture that nonetheless leave something that endures, and (that are) arranged in the order of succession, in brief, inscribed in time and endowed each one, with temporal thickness.« 17 Osterhammel, Über die Periodisierung, S. 45–48. 18 Dennoch hebt Osterhammel eine »Periodisierungsabstinenz« unter (deutschen) Historikern hervor: Ders., Über die Periodisierung, S. 45.
Geschichte und Moderne: Das Verhältnis von Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünften im Wandel Obwohl die Geschichtswissenschaft seit der »Geburt der Moderne« die Existenz ihres Untersuchungsgegenstandes Vergangenheit voraussetzt, ist weder über diese Vergangenheit noch über die Grenzlinien, welche die Gegenwart von der Vergangenheit und der Zukunft scheiden, besonders häufig nachgedacht worden. Zeithistoriker sind ab und an der Frage nachgegangen, wie die Gegenwart und das Gegenwärtige definiert werden können, doch diese Überlegungen waren eher praktischer als philosophisch-theoretischer Natur19. Paradoxerweise hat sich die historische Forschung auch selten damit beschäftigt, wie gegenwärtige Phänomene zu vergangenen werden können oder zumindest als solche wahrgenommen oder erfahren werden. Tatsächlich waren es Anthropologen wie Johannes Fabian und Marshall Sahlins, die anfingen, die Vorstellung einer fortlaufenden, linearen Zeit in Frage zu stellen. Sahlins hat darauf hingewiesen, dass manche Kulturen die Zukunft in ihrer Vergangenheit verorten (wie die Bewohner von Hawaii, als Kapitän Cook die Insel besuchte). Von Fabian stammt der Gedanke, dass die Anthropologie bei der Konstruktion ihres Untersuchungsgegenstandes aus einer räumlichen eine zeitliche Distanz machte. Das Ergebnis ist die für die Anthropologie fundamentale »Verweigerung der Zeitgenossenschaft« (»denial of coevalness«), sprich die Annahme einer Ungleichzeitigkeit zwischen ›primitiven‹ und ›modernen‹ Menschen, die sich auch im Denken Kosellecks niederschlug20. Aleida Assmann hat jedenfalls zweifellos Recht, wenn sie konstatiert, dass die Differenzierung zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft jeglicher ontologischer Grundlage entbehre, und dass diese Differenzierung immer eine kulturelle Konstruktion sei21. 19 Siehe z. B. Martin Sabrow, Die Zeit der Zeitgeschichte, Göttingen 2012. 20 Marshall Sahlins, Islands of History, Chicago 1985. Für die Stärken und Schwächen von Fabians Analyse siehe: Berber Bevernage, Tales of Pastness and Contemporaneity. On the Politics of Time in History and Anthropology, in: Rethinking History 20 (2016) (URL: http://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/13642529.2016.1192257?journalCode= rrhi20, zuletzt eingesehen am 22.7.2016); siehe auch: Vanessa Ogle, A Briefer History of Time. How the World Adopted a Uniform Conception of Time, in: Foreign Affairs, 12.10.2015: »In these years [the 19th century, Anm. d. Verf.], the nation was imagined not only as a national community but as a part of a global community of societies and other nations that were all positioned in historical time. Non-Western societies – either deemed ›peoples without history‹ or people at an earlier stage of civilizational and evolutionary development – were destined to be the subject of anthropology rather than history. Time, or the absence thereof, thus became a measure for comparing different levels of evolution, historical development, and position on a global scale.« 21 Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013, S. 273: »Die wichtigste Entdeckung, die wir seit 1980 im Zuge des Niedergangs des modernen Zeitregimes machen konnten, ist eben diese Kulturalisierung der Zeit«. Dies widerspricht Kosellecks Unterscheidung von »Naturzeit« und »historischer
Zeitliche Differenzierungen variieren in Abhängigkeit vom religiösen, juristischen, wirtschaftlichen und ökologischen Kontext, innerhalb dessen diese Unterscheidungen vorgenommen werden22. Zeit und Zeitabschnitte oder -perioden sind perspektivisch und sektoral spezifisch23. Seitdem Historiker die Vorstellung aufgegeben haben, dass eine geschichtliche Epoche ihre Kohärenz aus dem Zeitgeist – gedacht als eine dominante Idee – beziehe24, sehen die meisten, die sich mit Zeit und Periodisierung beschäftigen, diese gewöhnlich im Plural. Der Rankeanische Glaube einer übergreifenden Kohärenz in der Zeit als dem al leinigen Rückgrat einer Epoche hat sich spätestens seit den 1970er Jahren verflüchtigt25. Inzwischen ist die Rede von Moderne so allgegenwärtig und zugleich inhaltlich und zeitlich so offen geworden, dass einige Historiker den Sinn dieses Epochenbegriffs gänzlich in Zweifel ziehen26.
22 23 24
25
26
Zeit« innerhalb der Geschichte des Menschen. Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2005, S. 163. Siehe zum Beipiel: William Gallois, Time, Religion and History, London 2007; Berber Bevernage, Transitional Justice and Historiography. Challenges, Dilemmas and Possibilites, in: Macquarie Law Journal 13 (2014), S. 7–24. Beispiele in Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 84–116; Alexander Geppert/Till Kössler (Hrsg.), Obsession der Gegenwart. Zeit im 20. Jahrhundert, Göttingen 2015. Dieses Konzept formulierte Ranke 1854 folgendermaßen: »Der Historiker hat also ein Hauptaugenmerk erstens darauf zu richten, wie die Menschen in einer bestimmten Periode gedacht und gelebt haben; dann findet er, daß, abgesehen von gewissen unwandel baren ewigen Hauptideen, z. B. den moralischen, jede Epoche ihre besondere Tendenz und ihr eigenes Ideal hat. Wenn nun aber auch jede Epoche an und für sich ihre Berechtigung und ihren Wert hat, so darf doch nicht übersehen werden, was aus ihr hervorging. Der Historiker hat also fürs zweite auch den Unterschied zwischen den einzelnen Epochen wahrzunehmen, um die innere Notwendigkeit der Aufeinanderfolge zu betrachten. Ein gewisser Fortschritt ist hierbei nicht zu verkennen; aber ich möchte nicht behaupten, daß sich derselbe in einer geraden Linie bewegt; sondern mehr wie ein Strom, der sich auf seine eigne Weise den Weg bahnt.« Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte. Vorträge dem Könige Maximilian II . von Bayern im Herbst 1854 zu Berchtesgaden gehalten, Leipzig 1888, Kapitel 1. Zur begriffsgeschichtlichen Bestimmung des »Zeitgeistes« siehe Theo Jung, Zeitgeist im langen 18. Jahrhundert. Dimensionen eines umstrittenen Begriffs, in: Achim Landwehr (Hrsg.), Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution, Bielefeld 2012, S. 319–357. Dies gilt auch für die Autoren von Nach dem Boom, die betonen, dass Zäsuren nicht »von einem Punkt her analysiert werden« sollten (S. 13). Sie verweisen darauf, dass das einen kontinuierlichen Prozess unterstellende Leitkonzept der »Modernisierung« den »statischen« Konzepten der »Moderne« und der »Postmoderne« Platz gemacht und sich damit gleichzeitig der Begriff des »Fortschritts« aufgelöst habe (S. 107, S. 135). Vgl. Le Goff, Periods, S.106, dessen Argument ambivalent ist, da er mit seiner These von einem »langen Mittelalter« an der Möglichkeit einer Periodisierung festhält: »[…] it becomes clear that it was not until the middle of the eighteenth century that the West may truly be said to have entered a new period«. Siehe etwa: Frederick Cooper, Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History, Berkeley CA 2005, S.113–153; Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 88–89 sowie AHR Roundtable: Historians and the Question of »Modernity«, in: AHR 116 (2011), S. 631–751.
Es ist häufig dargelegt worden, dass auch in verschiedenen Kulturen jeweils unterschiedliche Orientierungen in der Zeit überwiegen und dass Aufstieg und Niedergang der Moderne diesbezüglich grundlegend gewesen seien. Dieser Auffassung zufolge zeichnen sich traditionale Kulturen vor allem durch eine (politisch, ethisch und kulturell relevante) Orientierung an der Vergangenheit aus, während in ›modernen‹ Kulturen charakteristischerweise eine Orientierung an der Zukunft dominiere27. ›Postmoderne‹ Kulturen dagegen richten sich gewöhnlich auf die Gegenwart aus. So hat, anknüpfend an Koselleck, François Hartog bekanntlich die These vertreten, dass das westliche Geschichtsdenken als eine Abfolge dreier »Historizitätsregime« vorgestellt werden kann: Bis zur Französischen Revolution etwa habe die Orientierung an der Vergangenheit überwogen; bis in die 1980er Jahre hinein sei dann eine Zukunftsorientierung vorherrschend gewesen; seitdem richte man sich vornehmlich an der Gegenwart aus. Der Wandel, dem diese zeitlichen Orientierungen unterliegen und die Frage, wie sie aufeinander folgen, gleichzeitig miteinander existieren oder interagieren, sind jedoch bisher nur ungenügend untersucht worden. Und das, obwohl, wie weidlich bekannt, dem modernen Fortschrittsdenken im 19. Jahrhundert das Konzept der Dekadenz etwa oder die Idee der ewigen Wiederkehr zur Seite standen28. Es fehlen ebenso weitere Analysen zur These Kosellecks, Hartogs sowie Hartmut Rosas, gemäß derer der historische Prozess selbst seit dem Takeoff der Moderne durch eine exponentielle Beschleunigung charakterisiert sei29. Dies ist umso überraschender angesichts der in letzter Zeit erstaunlich wachsenden Zahl von Publikationen zum Denken und Werk Kosellecks30. Der 2006 verstor27 Siehe vor allem: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989; Hartog, Régimes d’historicité; Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? 28 Siehe für historische Fallstudien: Fernando Esposito (Hrsg), Fascist Temporalities, in: Themenheft JMEH 13 (2015), Nr.1; François Hartog, The Modern Regime of Historicity in the Face of Two World Wars, in: Bevernage/Lorenz (Hrsg.), Breaking up Time, S. 124–134; Lucian Hölscher, Mysteries of Historical Order. Ruptures, Simultaneity and the Relationship of the Past, the Present and the Future, in: Bevernage/Lorenz (Hrsg.), Breaking up Time, S. 134–155. Hartog weist ausdrücklich darauf hin, dass die verschiedenen »Regime« durchaus gleichzeitig miteinander existieren können und betont, dass die »Regime der Historizität« als Idealtypen für weitere Forschungen konzipiert sind. 29 Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 150–176; Ders., Zeitschichten, S. 90, siehe auch S. 200: »[Denn] nachdem die Beschleunigung als eine spezifisch geschichtszeitliche Kategorie zum Erfahrungsmuster geworden ist, verwandelt sich im Rückblick die gesamte Geschichte in eine Zeitfolge zunehmender Beschleunigung«. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005; Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? S. 23–47. 30 Es ist symptomatisch, dass Osterhammels Betrachtung der Beschleunigung nur zwei Seiten seines 1568 Seiten umfassenden opus magnum Verwandlung der Welt einnimmt (S. 126–128). Nach dem Boom widmet dieser Frage fünf Seiten (S. 102–107), hier wird die Erfahrung der Beschleunigung mit der Erfahrung der Zukunftsunsicherheit verbunden; ein Punkt, auf den schon Lübbe und Marquardt hingewiesen haben. Zum Koselleck
bene Bielefelder Historiker stellte es jedenfalls als eine »Binsenweisheit« dar, dass aufgrund »zunehmender Beschleunigung« und Ausdifferenzierung (besonders seit der Industriellen und der Französischen Revolution) die Perioden der Menschheitsgeschichte immer kürzer würden31. Für Koselleck stellte diese »zunehmende Beschleunigung« der Geschichte, dieser »Motor« der Moderne, eine Evidenz dar und nicht nur eine von mehreren Möglichkeiten, die historische Zeit zu periodisieren32. Koselleck unterscheidet im Wesentlichen drei Phasen der Weltgeschichte, die jeweils durch eine »exponentielle Zeitkurve« und einen entsprechenden, der Reproduktion dienenden Raum gekennzeichnet sind: Jeder Phase entspricht also ein »Zeitraum«, der durch den jeweiligen technologischen Entwicklungsstand bedingt ist. Die erste Phase ist jene der Hominiden, die sich über die letzten 10 Millionen Jahre erstreckt. Während der letzten zwei Millionen Jahre entwickelten sich die Homini zu Jägern und Sammlern, die anfingen Steinwerkzeuge zu benutzen. Für die Nahrungssicherung eines jeden Einzelnen waren mehrere Quadratkilometer Fläche notwendig. Die zweite Phase begann vor 30.000 Jahren, als Waffen und Fähigkeiten zur Tötung anderer menschlicher Wesen entwickelt wurden33. Gegen Bernheim gerichtet argumentiert Koselleck, dass man diese Phase als »strukturierte Periode unserer Geschichte« auffassen könne34. Sie schließt die 12.000 Jahre alte Entwick-
31
32
33 34
boom siehe u. a.: Helge Jordheim, Against Periodization. Koselleck’s Theory of Multiple Temporalities, in: History and Theory 51 (2012), Nr. 2, S. 151–171; John Zammito, Koselleck’s Philosophy of Historical Time(s) and the Practice of History, in: History and Theory 43 (2004), S. 124–135. Angesichts der Tatsache, dass Kosellecks fundamentale Beschleunigungsthese auf dem epochalen Wendepunkt von der Vormoderne zur Industriellen Moderne fußt und – man denke nur an die »Sattelzeit« – Koselleck durchaus eine Periodisierung der Geschichte vorgeschlagen hat, erscheint Jordheims These, Koselleck sei »gegen Periodisierung« gewesen, verblüffend (zumindest sofern Jordheim hier nicht der Rankeanischen Idee folgt, dass Periodisierung nur im Singular und nicht im Plural existiert). Koselleck, Zeitschichten, S. 90. Siehe auch: Alessandra Lianeri, A Regime of Untranslatables. Temporalities of Translation and Conceptual History, in: History and Theory 53 (2014), S. 473–497, insbes. S. 492: »Koselleck’s paradigm does not quite dispense with the need to periodize. […] the very distinction between the contemporaneous and the noncontemporaneous involves a certain form of periodizing, which at least makes it possible to recognize the foreignness of the past to the present.« Koselleck, Zeitschichten, S. 162: »Die Beschleunigung scheint ein Gebiet nach dem anderen zu erfassen, nicht nur die technisierte Industriewelt, den empirisch überprüfbaren Kern jeder Akzeleration, sondern ebenso das Alltagsleben, die Politik, die Ökonomie, die Bevölkerungsvermehrung.« Siehe dazu auch die Beiträge Raum und Geschichte, Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte? und Zeitverkürzung und Beschleunigung. Eine Studie zur Säkularisation, in: Koselleck, Zeitschichten, S. 78–97, 150–177 und 177–203. Koselleck liefert keine unterstützenden Quellen für seine These, der zufolge sich das Handwerk und die Fähigkeit zur Tötung von Mitmenschen durch von Menschen hergestellte Waffen gleichzeitig entwickelten. Koselleck, Zeitschichten, S. 91.
lung von Landwirtschaft und Tierzucht ebenso mit ein wie den vor 6.000 Jahren begonnenen Aufstieg von organisierten und differenzierten Hochkulturen: Es ist »die Zeit der Großreiche, die sich allesamt, regional geschieden, für das Zentrum der Erde gehalten haben« und in denen das Verhältnis zwischen Zeit und Raum, ungeachtet temporärer »Störungen« durch Kriege, »stabilisiert« war35. Jede (Teil-)Phase zeichnet sich durch zunehmende Kontrolle über den natürlichen Lebensraum aus, beispielsweise durch den Ausbau vorgegebener Transportwege zu Wasser und zu Land, die die Geschwindigkeit des Verkehrs ständig erhöhten36. Die dritte und aktuelle Phase der Weltgeschichte beginnt vor etwa 200 Jahren mit dem Aufstieg wissenschaftlich gestützter Technologien und der (industriellen) Moderne. Seitdem ist die Beschleunigung aller Lebensbereiche zu einer institutionellen Besonderheit moderner Zeiten geworden, nicht zuletzt durch die zunehmende Kontrolle des Menschen über Zeit und Raum und eine daraus folgende »Denaturalisierung des geografisch vorgegebenen Raumes«37. Seither ist, nach Koselleck, die Globalisierung zu einem Faktor des modernen Lebens geworden, wenn auch nicht überall mit der gleichen Geschwindigkeit und den gleichen Mitteln, denn nicht alle Menschen der Gegenwart sind in der Moderne angekommen: »Wir müssen vielmehr lernen, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in unserer Geschichte zu entdecken, denn schließlich gehört es zu unserer eigenen Erfahrung, dass wir noch Zeitgenossen haben, die in der Steinzeit leben.«38 Somit liegt das Fazit nahe, dass sowohl Kosellecks auf der Vorstellung der Beschleunigung gründende Periodisierung der Menschheitsgeschichte als auch seine Theorie der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« jenem Eurozentrismus verhaftet bleiben, der im »Chronozentrismus« (Fabian) wurzelt, dem zufolge der Westen zeitlich fortgeschrittener sei und den Maßstab aller anderen, nicht-westlichen Zeiten abgebe39. Dieses Problem taucht nicht nur bei Kosellecks Theorie der »Zeitschichten« auf, sondern auch bei allen anderen Konzep35 Ebd., S. 92 f. 36 Ebd., S. 90–94 und 200–202. Die zweite Phase scheint auf seiner historischen Anthropologie zu basieren, in der er das »Totschlagenkönnen« zu der Heideggerschen Bestimmung der Endlichkeit des Menschen hinzufügt. Ebd., 101. 37 Ebd., S. 94. 38 Ebd., S. 307 und 292: »Es gibt heute immer noch Stämme, die gerade erst die Steinzeit hinter sich gelassen haben, während führende Nationen wie die USA bereits ihre Astronauten auf den Mond senden«. 39 Siehe: Achim Landwehr, Von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹, in: HZ 295 (2012), S. 1–34, hier S. 23: »Mit einem linearen Zeitmodell, das den Fortschrittsgedanken immer schon in sich trägt, kann es gar nicht anders sein, als dass ›wir‹ allen anderen überlegen sind, einfach weil ›wir‹ ihnen zeitlich voraus sind. Wo ›wir‹ sind, ist vorne«. Siehe auch S. 6–7: »[Und] wer dieses Wort verwendet [Ungleichzeitigkeit, Anm. d. Verf.], muss sagen können, nach welchem Maβstab etwas oder jemand als ›ungleichzeitig‹ apostrophiert wird, weil damit immer eine bestimmte Norm von ›Gleichzeitigkeit‹ einhergehen muss – ansonsten würde das Wort der ›Ungleichzeitigkeit‹ keinen Sinn machen«. In seinem Aufsatz Time Gardens stellt Hölscher die Frage nach einer ›Referenzzeit‹ (›container-time‹) ohne diese
ten der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, wie Achim Landwehr kürzlich überzeugend ausgeführt hat40. Die These einer zunehmenden Beschleunigung bildet auch die Grundlage einer weiteren höchst einflussreichen Charakterisierung unserer gegenwärtigen Zeit. Dies ist die von Francois Hartog, Hans Ulrich Gumbrecht und Hartmut Rosa auf verschiedene Art und Weise ausgearbeitete Diagnose, dass wir Westler einer »breiten Gegenwart« gegenüberstehen41. Breit deshalb, weil diese Gegenwart beständig sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft absorbiert. Permanente Selbsthistorisierung (»Dies ist ein historischer Moment!«, Archivierung, Musealisierung, Erinnerung) und Zukunftsberechnung (durch Prognosen, Meinungsumfragen etc.) gehören zum präsentistischen Modus des In-der-Zeit-Seins. Trotz der beispiellosen Veränderungsgeschwindigkeit der Gegenwart und ihrer permanenten Schrumpfung, die Hermann Lübbe treffend als »Gegenwartsschrumpfung« bezeichnet hat42, wird die Gegenwart zunehmend als ein »rasender Stillstand« (Paul Virilio) erfahren43. Die »breite Gegenwart« ist im Wesentlichen ein »Posthistoire«, in dem die Gewissheit des modernen Menschen von der Formbarkeit der Zukunft durch politische Mittel geschwunden ist44. Frage auf Kosellecks Zeittheorie zu beziehen: »But one may ask: what holds all these modes of temporality together? Is there still a ›time garden‹ with a ›fence‹ surrounding all the temporal layers that have grown on the ground of history and the social sciences?« (S. 591). 40 Die geologische Metapher der Zeitschichten erlaubte es Koselleck, die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« begrifflich einzufangen und zu visualisieren und diese von ihm in den 1970er Jahren vorgelegte Theorie umzuformulieren. Siehe: Landwehr, Von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹. Außerdem Berber Bevernages Kritik an der Vorstellung einer »container-time« in seinem Buch History, Memory, and State-Sponsored Violence, S. 116. 41 Hartog, Regimes of Historicity; Rosa, Beschleunigung; Hans Ulrich Gumbrecht, Our Broadening Present, New York 2014. Osterhammels These von einer gegenwärtigen »Schwächung des Epochenbewusstseins« könnte als Untermauerung der präsentistischen Sichtweise gelesen werden. Siehe Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 89. 42 Hermann Lübbe, Die Modernität der Vergangenheitszuwendung. Zur Geschichtsphilosophie zivilisatorischer Selbsthistorisierung, in: Stefan Jordan (Hrsg.), Zukunft der Geschichte. Historisches Denken an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 26–35, insbes. S. 29. 43 Koselleck zufolge ist die Gegenwart als zeitliche Kategorie erst mit der Französischen Revolution entstanden – als eine zeitliche Differenzierung der »neuesten Zeit« innerhalb der »modernen Zeit«: »Was mit dem Begriff der neuen Zeit noch nicht möglich war, gelang der ›neuesten Zeit‹. Sie wurde zum zeitgenössischen Epochenbegriff, der eine neue Periode eröffnete, nicht nur rückblickend registrierte«. Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 326. 44 Siehe den Überblick bei Lutz Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, Reinbek 1989; Fernando Esposito, Von no future bis Posthistoire. Der Wandel des temporalen Imaginariums nach dem Boom, in: Anselm Doering-Manteuffel/Luz Raphael/ Thomas Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, S. 393–423; siehe die grundlegende Kritik an der »Beschleunigungstheorie« bei Assmann. Ist die Zeit aus den Fugen?, S. 209–239.
Eine mit Gumbrechts Thesen über Zeit und Raum verwandte Diagnose war vom Geografen David Harvey mit seinem Konzept der »Raum-Zeit-Kompression« vorgelegt worden: Mit der technologischen Innovation seit dem 19. Jahrhundert sei ein zunehmender Bedeutungsverlust von Raum und Zeit einhergegangen. In Harveys marxistischer Analyse wird diese Entwicklung mit der Globalisierung des Kapitalismus verknüpft, die vor allem im Verlauf der Postmoderne ihren Lauf genommen habe. Seiner Auffassung nach bleibt es indes prinzipiell möglich, den Kapitalismus durch politische Mittel zu transformieren45. Für Gumbrecht ist insbesondere das allumfassende digitale Speichervermögen das Kennzeichen der Gegenwart – ein Gedanke, der sich auf Nietzsches Kritik an den Nachteilen der Historie für das Leben zurückführen lässt. In Gumbrechts Augen ist Nietzsches Warnung vor der die Handlungsfähigkeit des Menschen hemmenden »Unfähigkeit zu Vergessen« Realität geworden, da alle digital aufbewahrten Informationen – zumindest theoretisch – für immer erhalten, zugänglich und damit »präsent« bleiben46. Die Allgegenwärtigkeit des Gedenkens und der (digitalen) Archivierung sind Charakteristika des gegenwärtigen Zustandes47. Nicht nur für Gumbrecht, sondern auch für Hartog und andere, vermag der Begriff der Beschleunigung auch weitere Charakteristika der Jahrzehnte seit 1980 zu erklären, so etwa die pilzartige Vermehrung von Museen und historischen Ausstellungen, die bemerkenswerte Abfolge diverser Retro-Kulturen, die typisch seien für den »Erinnerungsboom«, den damit verbundenen »Identitätsboom« und das Geschäft mit dem »kulturellen Erbe« (»heritage industry«). Aus Sicht der Vertreter der Beschleunigungs- und der Kompensationstheorie neigen Menschen unter den Bedingungen des beschleunigten Wandels dazu, sich an bekannte Vergangenheiten wie ein Kind an seinen Teddybär (Odo Marquard) zu klammern48. Es versteht sich dabei von selbst, dass sich der »Erinnerungsboom« der 1980er Jahre, der mit dem Zeitalter der culture wars und der Auseinandersetzungen um kollektive Identitäten einherging, exakt in diese Sichtweise einfügt. Es ist kein Zufall, dass der französische Historiker Pierre Nora, auf den bekanntermaßen das Konzept der »Erinnerungsorte« zurückgeht, 45 David Harvey, The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Cambridge MA 1990. 46 Eine skeptischere Sichtweise vertritt Abbie Smith Rumsey, The Risk of Digital Oblivion, in: The Chronicle of Higher Education, 4.5.2016 (S. 4): »Oblivion can begin as soon as the next software update.« 47 Gumbrecht, Our Broadening Present. 48 Hermann Lübbe, Der Streit um die Kompensationsfunktion der Geisteswissenschaften, Einheit der Wissenschaften. Internationales Kolloquium der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1991, S. 209–233. Zur grundsätzlichen Kritik an der »Kompensa tionstheorie« siehe Assman, Ist die Zeit aus den Fugen?, S. 218–238; Jörn Rüsen, Die Zukunft der Vergangenheit, in: Stefan Jordan (Hrsg.), Zukunft der Geschichte. Historisches Denken an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, S. 175–182.
sich ebenfalls der Beschleunigungstheorie angeschlossen hat und das »Zeitalter des Gedenkens« explizit als eine Reaktion auf die zunehmende Beschleunigung und die Krise der Nationalgeschichte versteht49.
Historiker und Moderne Zeiten: Historismus und Moderne In der Geschichtstheorie ist häufig darauf hingewiesen worden, wie passförmig sich die akademische Geschichtsschreibung zu Modernismus und Fortschrittsdenken verhält. Auf den ersten Blick scheint es geradezu paradox, dass die Geschichtswissenschaft in einem intellektuellen Umfeld gedieh, das beständige Erneuerung wie auch die Überwindung der Vergangenheit durch eine fortschrittlichere Zukunft betonte. Koselleck hat dieses Paradoxon bekanntlich folgendermaßen erklärt: Das moderne historische Bewusstsein und die Geschichte als wissenschaftliche Disziplin entstanden beide in der sogenannten »Sattelzeit« zwischen 1750 und 1850, als soziale und technologische Innovationen sowie sich wandelnde Überzeugungen von einer immer Neues mit sich bringenden Zukunft einen neuen »Erwartungshorizont« erzeugten, der immer häufiger mit dem traditionellen »Erfahrungsraum« brach50. In der Moderne entfernten sich Vergangenheit und Zukunft immer weiter von der Gegenwart. Der Historismus muss somit als Zwillingsbruder der Moderne verstanden werden51. Geschichte als wissenschaftliche Disziplin war abhängig von der modernen Weltsicht, der zufolge der Fortschritt eine permanente Erscheinung darstellt, die zugleich – in ein- und derselben dialektischen Bewegung – sowohl neue Gegenwarten als auch alte Vergangenheiten herstellt52. Die Differenzierung von Vergangenheit und Gegenwart und die damit verbundene Behauptung vom Anderssein oder der Fremdartigkeit der Vergangenheit erlaubte es Histo49 Pierre Nora, Between Memory and History. Les Lieux de Mémoire, in: Representations 26 (1989), S. 7–24, hier S. 9. Kenan van de Mieroop hat ganz richtig beobachtet, dass Nora das »Zeitalter des Gedenkens« zwar als »globales Phänomen« ausweist, aber nur für Frankreich spezifische Erklärungen liefert. Siehe: Kenan Van De Mieroop, The »Age of Commemoration« as a Narrative Construct. A Critique of the Discourse on the Contemporary Crisis of Memory in France, in: Rethinking History 20 (2016), Nr. 2, S. 172–191. 50 Koselleck, Vergangene Zukunft. Es hat sich inzwischen gezeigt, dass auch das Konzept der »Sattelzeit« der Pluralisierungswelle nicht entgehen konnte. Siehe Jörn Leonard, Erfahrungsgeschichten der Moderne. Von der komparativen Semantik zur Temporalisierung europäischer Sattelzeiten, in: Hans Joas/Peter Vogt (Hrsg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Frankfurt a. M. 2011, S. 423–449; Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 104–109. 51 Zur Moderne siehe: Hans Ulrich Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne, in: Geschichtliche Grundbegriffe (Bd. 4), S. 93–131; Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen?, S. 9–47. 52 Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 315: »Um die eigene Zeit als entscheidend neu im Gegensatz zur vorausgegangenen und insofern alten Geschichte zu bestimmen, bedürfte es nicht nur einer unterscheidenden Einstellung zur Vergangenheit, sondern mehr noch der Zukunft.«
rikern, Geschichte als eine autonome Disziplin zu etablieren, die eigener Methoden bedurfte. Historiker konnten so die Vorstellung eines stetig wachsenden zeitlichen Abstandes zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu ihrem Vorteil nutzen. Sie taten dies, indem sie diesen Zeitabstand als Bruch – als Diskontinuität – zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart darstellten, der die Vergangenheit in ein Wissensobjekt verwandelte und zugleich die Grundvoraussetzung für eine objektive und vorurteilsfreie Betrachtung derselben schuf. Die dem Fortschrittsdenken zugrundeliegende Vorstellung, nach der die Zeit nicht zufälligen oder richtungslosen Wandel mit sich brächte, sondern kumulative Veränderungen, die in einer höherentwickelten Zukunft mündeten, diente der historischen Zunft als Untermauerung der These vom Mehrwert der historischen ex-post Perspektive und ihrer epistemologischen Überlegenheit gegenüber den Zeitzeugen. Sowohl Hegel als auch der Historismus waren der Auffassung, dass das Fortschreiten der Zeit auch einen Fortschritt der Wahrheitsfindung und der wahrhaftigen Erzählung ermögliche. Aufgrund des epistemologischen Mehrwerts, der vom Zeitenabstand erzeugt wurde, war die moderne Geschichte der Erinnerung per definitionem überlegen53. Es ist darum kein Wunder, dass sich die Geschichtswissenschaft einem Legitimitätsproblem gegenübersah als das allgemeine Vertrauen in den Fortschrittscharakter der Zukunft nach 1970 erodierte. Paradoxerweise war es genau dieser Glauben an die Fortschrittlichkeit der Zukunft, der die Stellung der Geschichtswissenschaft in den 1950er und 1960er Jahren zu unterminieren begann, als sich nämlich die Sozialwissenschaften als Zukunftsdisziplinen präsentierten, die das wissenschaftliche Fundament für die Modernisierungs- und »social engineering«-Programme der Nachkriegszeit liefern würden (Robert K. Merton). Der dezidiert modernistische Anspruch der Sozialwissenschaften, die Leitdisziplinen der Zukunft darzustellen, war zwischen 1950 und 1970 so ausgeprägt, dass zahlreiche Historiker begannen, die Geschichtswissenschaft als sozialwissenschaftlichen Ableger zu konzipieren54. Freilich sollte dabei nicht vergessen werden, dass das nach 1970 schwindende 53 Hegel hat für diese Auffassung den berühmten Ausspruch geprägt: »Die Eule der Minerva fliegt in der Dämmerung.« Vgl.: Gadi Algazi, Forget Memory. Some Critical Remarks on Memory, Forgetting and History, in: Sebastian Scholz u. a. (Hrsg.), Damnatio in Memoria. Deformation und Gegenkonstruktionen von Geschichte, Wien u. a. 2014, S. 25–34. Zu Hegels grundlegender Rolle in der Entstehungsgeschichte der Historismus siehe: Chris Lorenz, Blurred Lines. History, Memory and the Experience of Time, in: International Journal for History, Culture and Modernity 1 (2014), Nr. 2, S. 43–63. 54 Dies ist offensichtlich eine These der Annales Schule, wie sie vor allem von Fernand Braudel formuliert wurde. Kosellecks Analyse der zeitlichen Strukturen war eindeutig als eine Weiterentwicklung der Braudelschen Theorie der verschiedenen Zeitebenen gemeint. Siehe auch: David Landes/Charles Tilly, History as Social Science, New York 1971. Traditionelle Historiker begannen ungefähr um diese Zeit den »Tod der Vergangenheit« (J. H. Plumb, 1959) und den »Verlust der Geschichte« (Alfred Heuss, 1969) zu beklagen. Der deutsche Historikertag von 1970 stand signifikanterweise unter dem Motto »Wozu noch Geschichte?«.
Vertrauen in die Zukunft auch innerhalb der Sozialwissenschaften – vor allem der Soziologie – zu einer grundlegenden Krise führte, die sogar noch intensiver ausfiel als die der Geschichtswissenschaft55. Wie dem auch sei, schon Koselleck hat gezeigt, dass die »Neuzeit« die anderen Epochen – »Mittelalter« und »Altertum« – schuf und den Anspruch erhob, sich deutlich von diesen andersartigen Zeitaltern zu unterscheiden, die zur eigenen Vorgeschichte deklariert wurden. Die Moderne ist jedenfalls kein Akzidenz der westlichen Periodisierung, sondern ihr Telos. Daher wird weder die Einführung »multipler Modernen« diesen Makel mildern, noch wird er dadurch beseitigt werden können, dass die Vergangenheit – wie im Falle der big oder deep history – immer weiter ausgedehnt wird. Die Moderneteleologie ist das Geburtsmal, wenn nicht sogar der Geburtsfehler westlicher Periodisierung56. Kathleen Davis hat daher zu Recht behauptet, dass der (säkulare) Modernismus den (religiösen) Mediävismus notwendigerweise zu seinem spiegelbildlichen Anderen erklärte (so wie er auch den mittelalterlichen Feudalismus der modernen Souveränität gegenüberstellte)57. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich indische, japanische und koreanische Historiker des 20. Jahrhunderts dieser ›negativen‹ Beziehung zwischen feudalem Mittelalter und säkularer Moderne wesentlich bewusster waren als ihre Kollegen aus dem Westen, als sie eifrig in ihren »mittela lterlichen« Vergangenheiten nach »feudalen« Institutionen zu suchen begannen, um den modernistischen Anspruch ihrer Gesellschaften stützen zu können58. Die Frage, weshalb Koselleck gerade im Verlauf der 1970er Jahre begann, His torismus und Moderne zu historisieren, ist bisher weder gestellt, noch beantwortet worden. Wenn Niklas Olsens These stimmt, dass Koselleck seine zentralen Deutungen bereits in den frühen fünfziger Jahren entwickelt hatte, und zwar in einer kritischen, doppelten Auseinandersetzung mit Schmitt und H eidegger, dann bleibt weiterhin die Frage offen, weshalb seine diesbezüglichen Publikationen erst 20 Jahre später erschienen59. Eine erste Teilantwort mag darin zu su55 Siehe zum Beispiel die einflussreiche und ›zeitgemäße‹ Diagnose bei Alvin Gouldner, The Coming Crisis of Western Sociology, New York 1970; Derek Phillips, Knowledge from What? Theories and Methods in Social Research, New York 1971. Allerdings waren sich nur sehr wenige Historiker in den 1970er Jahren dieser Krise der Sozialwissenschaften bewusst. 56 Siehe z. B.: Lynn Hunt, Measuring Time, Making History, Budapest 2008. 57 Kathleen Davis, Periodization and Sovereignty. How Ideas of Feudalism and Secularization Govern the Politics of Time, Philadelphia 2008. 58 Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 93–94; Sebastian Conrad, What Time Is Japan? Problems of Comparative (Intercultural) Historiography, in: History and Theory 38 (1999), Nr. 1, S. 67–83; Dipesh Chakrabarty, The Muddle of Modernity, in: AHR 116 (2011), S. 663–675; Stefan Tanaka, Unification of Time and the Fragmentation of Pasts in Meiji Japan, in: Lorenz/Bervernage (Hrsg.), Breaking up Time, S. 216–236; Hitomi Sato, Transnational Historiography of the Middle Ages between Europe and Eastern Asia. The Question of »Decline« and »Medieval Liberty« (unveröffentlichtes Manuskript). 59 Niklas Olsen, Carl Schmitt, Reinhart Koselleck and the Foundations of History and Politics, in: Journal of European Ideas 37 (2011), S. 197–208.
chen sein, dass sich Koselleck mit der »skeptischen Generation« Helmut S chelskys identifizierte. 1957 sah Letzterer die Kohorte der Nachkriegsjugend unter anderem durch eine generelle Skepsis gegenüber utopischen Projekten und Politiken gekennzeichnet. Diese Skepsis wurzelte seiner Auffassung nach in deren Kriegserfahrungen während des »Dritten Reiches« (meist als Soldaten der Wehrmacht, was auch auf Koselleck zutrifft)60. Seither hätten diese Skeptiker auf alle politischen Ideologien allergisch reagiert und die Vorstellung vom Geschichte-Machen als einen fatalen kategorischen Fehler angesehen, der aus der Aufklärung und der Französischen Revolution herrühre61. Die Studentenrevolution von »1968« sorgte daher für ziemliche Unruhe in dieser »skeptischen Generation«. Der Umstand, dass linke Intellektuelle und Studenten in West-Deutschland etwa zur gleichen Zeit begannen, eine »kritische« Vergangenheitsbewältigung einzufordern, vermehrte die Besorgnisse nicht weniger »Skeptiker«62 (von de60 »Ein Minimum an Skepsis ist sozusagen die professionelle Krankheit, an der ein Historiker leiden muss. Unter diesem Vorbehalt würde ich sagen, dass ich durch die Kriegserfahrung mein ganzes Studium aufgebaut habe. Meine Grundhaltung war Skepsis als Minimalbedingung, um utopischen Überschuss abzubauen, auch die utopischen Überschüsse der 68er.« Koselleck zitiert nach Christian Meier, Gedenkrede auf Reinhart Koselleck, in: Neithard Bulst/Willibald Steinmetz (Hrsg.), Bielefelder Universitätsgespräche und Vorträge, Bielefeld 2007, S. 7–35, hier S. 15. Siehe auch: Christina Morina, Reinhart Koselleck und das Überleben in Trauer nach den Umbrüchen von 1945 und 1989, in: ZfG 63 (2015), S. 435–450. 61 Siehe z. B. Reinhart Koselleck, Über die Verfügbarkeit der Geschichte, in: Ders., Vergangene Zukunft, S. 260–278 und S. 35–36, wo er auf das »Wechselspiel von Revolution und Reaktion« seit der Französischen Revolution und auf die »zukunftlose Zukunft« hinweist, wie sie von allen utopischen Ideologien, linken und rechten gleichermaßen, formuliert worden ist: »Seitdem wird es möglich sein, Fiktionen wie das tausendjährige Reich oder die klassenlose Gesellschaft in die geschichtliche Realität zu überführen«. Siehe hierzu auch: Christophe Bouton, Das Problem der »Machbarkeit der Geschichte« im deutschen Idealismus, in: Alain Patrick Olivier/Elisabeth Weisser-Lohmann (Hrsg.), Kunst – Religion – Politik, München 2013, 419–431. 62 Es sollte hier nicht vergessen werden, dass die historische Sozialwissenschaft der Biele felder Schule in den späten 1960er Jahren als »kritische historische Sozialwissenschaft« propagiert wurde. Inspiriert war sie von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, mit der Hans-Ulrich Wehler nicht zuletzt dank des Kontakts zu Jürgen Habermas in Berührung kam, den er noch aus gemeinsamen Schulzeiten auf dem Gymnasium in Gummersbach kannte. Das vorangestellte ›kritische‹ verschwand allerdings in den frühen 1970er Jahren, nachdem die historische Sozialwissenschaft unter der Federführung Hans-Ulrich Wehlers und Jürgen Kockas mit der neuen Universität Bielefeld eine institutionelle Basis erhielt. Im Laufe der Tendenzwende sollten zudem andere gesellschaftlichpolitische Probleme in den Vordergrund rücken, welche das emanzipative Programm in den Hintergrund geraten ließen. Zur frühen Programmatik siehe: Hans-Ulrich Wehler, Geschichte als historische Sozialwissenschaft, Frankfurt a.M 1973; Jürgen Kocka, Sozialgeschichte. Begriff, Entwicklung, Probleme, Göttingen 1977; Dieter Groh, Kritische Geschichtswissenschaft in emanzipatorischer Absicht, Stuttgart 1983. Es entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie, dass Koselleck 1973 von Heidelberg nach Bielefeld ging, kurz bevor Helmut Schelsky, der diesen Wechsel vermittelt hatte, Bielefeld verließ. Die persönliche Distanz zwischen Koselleck und Wehler ist mittlerweile legendär.
nen einige wegen ihrer früheren Beteiligung am »Dritten Reich« das Ziel von Aktionen der linken Studentenschaft wurden). »1968« weckte außerdem das theoretische Interesse zahlreicher Skeptiker an der Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und löste ihre Kritik an der ideologischen Illusion der Neuen Linken aus, Geschichte zu machen, die sie in gewisser Weise an die Nationalsozialisten erinnerte63. Im Rahmen einer historisierenden Ideologiekritik doch im Gegensatz zu den zeitgleich entstehenden marxistischen Varianten64 wurden sowohl die Zeit der Utopie als auch jene der Geschichtsphilosophie in den 1970er Jahren zu vorrangigen Untersuchungsgegenständen – und das nicht nur für Koselleck, der berechtigterweise darauf hinwies, dass sowohl die Geschichtswissenschaft als auch die Geschichtsphilosophie in der Vorstellung der Geschichte als »Kollektivsingular« gründeten65. Ihr gleichzeitiges Entstehen war daher keineswegs zufällig. Eine zweite Teilantwort auf die Frage, weshalb Koselleck das moderne Konzept der Geschichte in den 1970er Jahren zu hinterfragen begann, ist eng mit Hans-Georg Gadamers Fundamentalkritik am Historismus verknüpft. Zwar hatte der Heidegger-Schüler Gadamer sein opus magnum Wahrheit und Methode schon 1960 veröffentlicht, doch wurde es erst in den 1970er Jahren durch Jürgen Habermas’ Auseinandersetzung mit der Gadamerschen Hermeneutik in seinem internationalen wissenschaftlichen Bestseller Erkenntnis und Interesse (1968) weithin bekannt66. Gadamer hatte die Vorstellung einer Objektivität in den his63 Wie weithin bekannt, stand Koselleck in regelmäßigem intellektuellen Kontakt mit Carl Schmitt, einem der wenigen Wissenschaftler, die den Nationalsozialismus unterstützt und nach 1945 ihren Professorentitel verloren hatten. Meier und Steinmetz sind allerdings der Auffassung, dass Kosellecks Beziehung zu Schmitt rein intellektueller und nicht politischer Natur war. Siehe Meier, Gedenkrede, S. 14 und Willibald Steinmetz, Nachruf auf Reinhart Koselleck (1923–2006), in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 412–432, hier S. 418, FN 27 (gegen Niklas Olsen). Otto Brunner, einer der Mitherausgeber Kosellecks bei den Geschichtlichen Grundbegriffen, war zwischen 1945 und 1954 ein Lehrverbot auferlegt worden. Werner Conze, der dritte Mitherausgeber, hatte so eng mit dem nationalsozialistischen Regime zusammengearbeitet, dass er von Götz Aly in sein Buch Vordenker der Vernichtung aufgenommen worden ist. Conzes Rolle wurde erst 1998 öffentlich bekannt, immerhin zehn Jahre nach seinem Tod, siehe: Peter Schöttler (Hrsg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a. M. 1998. 64 Siehe zu einigen Versuchen, die »kritische« und die »historisierende« Variante der Ideologiekritik einander gegenüberzustellen Karl-Otto Apel, Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a. M. 1971. 65 Philosophen der nach ihrem Gründer, dem Münsteraner Joachim Ritter, benannten ›Ritter-Schule‹ wie Odo Marquard und Hermann Lübbe schlugen eine ähnliche geschichtsphilosophische Richtung ein, indem sie den Skeptizismus ebenfalls zu einer fundamentalen philosophischen Tugend erhoben. Siehe zum Beispiel Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1973; Ders., Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Esssays, Stuttgart 2003, insbes. S. 11–30 und S. 281–291. 66 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960; Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M. 1968.
torischen Wissenschaften als positivistische Chimäre kritisiert, welche eine objektive Textinterpretation nach dem Modell der objektiven Beobachtung im physikalischen Experiment konzeptualisieren wollte. Gadamer – und ihm folgend Habermas – argumentierte gegen diese modernistische Idee und der zugrunde liegenden Vorstellung einer zeitlosen Interpretation: Jegliche Interpretation finde innerhalb des zeitgebundenen »Sinnhorizontes« sowohl des Interpreten als auch des Texts statt. Gadamer (und Habermas) zufolge ist die Interpretation im Wesentlichen die »Verschmelzung« dieser beiden »Horizonte«. Zusammen mit Gadamers philosophischer Hermeneutik fand Heideggers Konzept des »In-derZeit-seins« seit den 1960er Jahren Einlass in die Philosophie des Historismus und bot damit die philosophische Grundlage für Kosellecks eigenen Ansatz, die Moderne und den Historismus zu historisieren67. Ein dritter Aspekt vermag ebenfalls zur Beantwortung der oben gestellten Frage beizutragen: Kosellecks Wende hin zu einer Theorie der historischen Zeit in den 1970er Jahren gründete auch in der weitverbreiteten Überzeugung, dass die Geisteswissenschaften im Allgemeinen und die Geschichtswissenschaft im Besonderen theoriebedürftig seien.68 Vor allem in der neu gegründeten Universität Bielefeld glich die Theoriebedürftigkeit einem generellen Glaubensbekenntnis, und diese Überzeugung verband Koselleck mit der historischen Sozialwissenschaft Hans-Ulrich Wehlers und Jürgen Kockas, gleichwohl Koselleck im Unterschied zu den beiden Letztgenannten nicht für den Gebrauch sozialwissenschaftlicher Theorien in der Geschichte plädierte69. Für alle drei Bielefelder stellte die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« eine fundamentale Voraussetzung dar, um die deutsche Geschichte zu erklären. So wurde das Ungleichzeitigkeitskonzept auch zum theoretischen Rückgrat der Bielefelder Sonderwegsthese70. 67 Gadamer, einer der Lehrer Kosellecks, mit dem er später auch befreundet war, half 1965 zusammen mit Werner Conze bei Kosellecks Berufung nach Heidelberg (siehe Steinmetz, Nachruf auf Reinhart Koselleck). 1985 diskutierten Gadamer und Koselleck über das Verhältnis der Koselleck’schen Historik zur Hermeneutik Gadamers. Die Diskussion wurde 1987 veröffentlicht. Siehe Koselleck, Zeitschichten, S. 97–131. 68 Siehe Philip Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, München 2015. 69 Siehe Steinmetz, Nachruf auf Reinhart Koselleck, S. 421–422. Zur allgemeinen Diskussion siehe: Jürgen Kocka/Thomas Nipperdey (Hrsg.), Theorie und Erzählung in der Geschichte, München 1979. 70 Siehe James Sheehan, Paradigm Lost? The »Sonderweg« Revisited, in: Gunilla Budde/ Sebastian Conrad/Oliver Janz (Hrsg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 150–161; Chris Lorenz, ›Won’t You Tell Me, Where Have All the Good Times Gone?‹. On the Advantages and Disadvantages of Modernization Theory for History, in: Rethinking History 10 (2006), S.171–200. Christian Meier zufolge war Kosellecks Hinwendung zu einer Theorie historischer Zeiten nichts weiter als eine »Defensivposition«, mit welcher er auf die Herausforderung der Sozialwissenschaften reagierte, die in den 1960er und 1970er Jahren aufgekommen war. Siehe: Meier, Gedenkrede auf Reinhart Koselleck, S. 22 f.
Historische Zeiten in der Postmoderne Angesichts der direkten Verbindung von Moderne und Historismus im Allgemeinen und von modernen und historischen Zeitkonzeptionen im Besonderen ist es keine Überraschung, dass die in den letzten Jahrzehnten erfolgte grundsätzliche Infragestellung der Moderne seitens der Theoretiker der Postmoderne signifikante Implikationen für die Geschichte und die Erinnerung – ihrem postmodernen Konkurrenten – hatte. Üblicherweise beginnt eine Geschichte dieser Rivalität mit Pierre Nora und seinem aus den 1980er Jahren stammenden lieux de mémoire-Projekt. Nora sah den Aufstieg der Erinnerung als Folge der Fragmentierung der nationalen Vergangenheit, oder, zugespitzt formuliert, der Verdrängung der Nationalgeschichte durch die kollektiven Erinnerungen im Plural, sprich durch gruppenspezifische und subnationale Erinnerungen, die an Erinnerungsorten manifest würden71. Daher hat das Konzept der Erinnerungsorte ironischerweise seine Wurzeln in einer nostalgischen Vision der nationalen Vergangenheit und in einer Verfallsgeschichte der Nation72. Es ist lohnenswert, die jüngste Kritik an progressistischen Weltsichten der Historiografie und den Zweifel an den Vorteilen des Zeitenabstandes vor dem Hintergrund einer ähnlichen Skepsis hinsichtlich des Wesens der Zeit zu betrachten, die sich seit den 1980er Jahren in politischen und juristischen Kontexten ausbreitete73. Wiedergutmachungspolitik, offizielle Entschuldigungen, die Einsetzung von Wahrheitskommissionen, historischen Kommissionen und Kommissionen zur historischen Aussöhnung – sie alle kreisen um die wachsende Überzeugung, dass die ehemals als selbstverständlich geltende Vorstellung einer wachsenden Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart grundsätzlich problematisch sei74. Der diesbezügliche Wendepunkt wurde in der Aufhebung der Verjährungsfrist bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit sichtbar, denn »with the new unique temporality of crimes against humanity, time really did not go by: the criminal would remain forever contemporary with his crimes.«75 71 Siehe Pierre Nora, Between Memory and History. Les Lieux de Memoire, in: Representations 26 (1989), S. 7–25; Überblick und Analyse dieses Fragmentierungsprozesses bei Stefan Berger/Chris Lorenz (Hrsg.), The Contested Nation. Ethnicity, Class, Religion and Gender in National Histories, Houndmills 2008; siehe zu einer neueren Analyse der Thesen Noras: Van De Mieroop, The »Age of Commemoration«. 72 Van de Mieroop hat Noras Erzählfaden der Fragmentierung und des Niedergangs als »pathogen« bezeichnet: »Memory/communautarisme is characterized as divisive, identity-obsessed and irrational, while history/the French Republic is viewed as universal, inclusive and rational. The rise of memory is then described as an ›obsession‹, a ›mania‹, or a ›pathology‹ that has overcome the body that is France.« (S. 3). 73 Siehe: Bevernage, Transitional Justice and Historiography; Lorenz, Blurred Lines (mit ausführlicheren Argumenten). 74 Bevernage, History, Memory, and State-Sponsored Violence. 75 Hartog, Regimes of Historicity, S. 117.
Damit scheint John Torpey mit seiner Äußerung Recht zu behalten, dass »since roughly the end of the Cold War, the distance that normally separates us from the past has been strongly challenged in favour of an insistence that the past is constantly, urgently present as part of our everyday experience.« Es sei die Überzeugung gewachsen, dass »the road to the future runs through the disasters of the past.«76 Diese Zeiterfahrung stellt zweifellos einen offensichtlichen Bruch mit dem fortschrittsbasierten, modernen Historizitätsregime dar. Es ist daher kein Zufall, dass die Konjunktur der Begriffe Erinnerung, Überlieferung, Gedenken und Identität in den 1980er Jahren einsetzte77. Seit den wegweisenden Arbeiten Kosellecks aus den 1970er Jahren sind wichtige Erkenntnisse über die historische Relativität der historischen Zeit entwickelt worden. Wie wir gesehen haben, entsteht Koselleck zufolge das moderne – westliche – Verständnis historischer Zeit in der Sattelzeit – gleichzeitig mit der Geburt der Moderne. Dieses Verständnis war auf das Engste mit der Vorstellung von Geschichte als objektiver Kraft und einheitlichem Prozess, mit dem »Kollektivsingular« Geschichte verbunden. Jenseits des Westens, so etwa in China und Japan, blieben meist Zeitmessung und Herrscherdynastien miteinander verknüpft. Daher hatten hier eine gestapelte Zeit, bei der jede Dynastie jeweils einen Zeitstapel bildete, und eine geschichtete Chronologie jene Rolle inne, welche der linearen Chronologie im Westen zukam – zumindest bis zur weltweiten Einführung der Greenwich-Zeit78. Auch in der muslimischen Welt wurde die Zeit nicht, wie im Westen, als eine kontinuierliche Entwicklung begriffen, sondern als eine »unterbrochene Abfolge von Momenten«79. Im Koran, so Gerhard Böwering, gäbe es »no place […] for impersonal time; each person’s destiny is in the hands of God.«80 Jenseits des Westens wurde Zeit also nicht als kontinuierlich und in eine Richtung fließend verstanden.
76 John Torpey, Making Whole What Has Been Smashed. On Reparations Politics, Cambridge 2006, S. 19, 6. 77 Siehe: Jeffrey K. Olick, The Politics of Regret. On Collective Memory and Historical Responsibility, New York 2007, S. 121–139; Hartog, Regimes of Historicity, S. 119. 78 Siehe: Masayuki Sato, Time, Chronology, and Periodization in History, in: International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, 2. Ausgabe (Bd. 24), S. 409–414: »Linear time proceeds from the viewpoint that time is ordered sequentially like a stream of water in the river. This time is recorded by a sequence of numbers, as is characteristic in the Western (Christian) way of counting years, and it has given us a view of historical time as proceeding in a linear fashion. Along with this idea, a frame of regnal years, or East Asian era names (a metamorphosis of regnal years) has been widely used. This implies a view of time as being stacked like a pile of bricks, rather than flowing like water in the river.« (S. 410). 79 Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 116–126, hier S. 117. 80 Gerhard Böwering, The Concept of Time in Islam, in: Proceedings of the American Philosophical Society 141 (März 1997), Nr. 1, S. 55–66, hier S. 58. Siehe auch die jüngst geäußerte Kritik an der Vorstellung einer einzigen »islamischen Zeit« und das Plädoyer für »multiple Zeitlichkeiten« bei Shazad Bashir, On Islamic Time. Rethinking Chronology in the Historiography of Muslim Societies, in: History and Theory 53 (2014), S. 519–544.
Der Koselleck-Schüler Lucian Hölscher ging bei der Historisierung der Zeit noch einen Schritt weiter als sein Lehrer und verwies darauf, dass die dem Historiker selbstverständlich erscheinenden Vorstellungen eines abstrakten und leeren Raums sowie einer abstrakten und leeren Zeit in der Vormoderne nicht existierten81. Die Vorstellung eines leeren Raumes und einer leeren Zeit entwickelte sich nur allmählich heraus, etwa zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert. Für die Menschen im mittelalterlichen Europa hatten Dinge und Ereignisse ganz konkrete Orte im Raum und in der Zeit, dennoch hatten sie kein Konzept einer leeren, abstrakten Zeit oder eines leeren, abstrakten Raums als solcher. Mit anderen Worten: Dinge und Ereignisse hatten zwar zeitliche und räumliche Eigenschaften, aber Zeit und Raum existierten nicht als davon abgelöste, leere Größen. Raum und Zeit wurden adjektivisch, nicht substantivisch verstanden. Für das Christentum war die Zeit im Wesentlichen biblische Zeit, das heißt sie hatte einen eindeutigen Anfang (die Schöpfung) und ein festgelegtes Ende (das Jüngste Gericht). Die Zeit war durch Gott »gefüllt«. Es gab weder eine Zeit davor, noch eine danach. Es ist vermutlich aufschlussreich für den inneren Zusammenhang von Zeit und Raum – und damit von Geschichte und Geografie82 –, dass es auch neue, mit der biblischen Geschichte nicht in Einklang zu bringende Erkenntnisse über den globalen Raum waren, die in der Folge der Entdeckung Amerikas in der Frühen Neuzeit die christliche Chronologie untergruben. Nebst dem abweichenden Wissen über die langen dynastischen Vergangenheiten Mesopotamiens, Ägyptens und Chinas, das im Widerspruch zur kürzeren biblischen Vergangenheit stand, war es das neue durch die »großen Entdeckungen« generierte geografische Wissen, das die neue Wissenschaft der Chronologie seit der Renaissance vorantrieb. Die Konstruktion einer einheitlichen Zeitlinie von Eusebius zu Scaliger basierte zunehmend auf astronomischen Erkenntnissen und nicht mehr auf biblischer Autorität83. Während die Vorstellung einer absoluten, linearen und einheitlichen Zeit mit der Formulierung der Relativitätstheorie 1905/1916 in der Physik zugunsten des Zeit-Raum-Konzeptes aufgegeben wurde, geschah dies in der Geschichtswissenschaft erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Die lineare historische Zeit und die Periodisierung gerieten ins Visier der Theoretiker der Postcolonial Studies, die sie als allein auf den Westen zugeschnitten und als teleologisch auf die westliche Moderne hin ausgerichtet kritisierten84. Dipesh Chakrabarty hat bekanntlich die Ansicht vertreten, dass die westliche Vorstellung historischer Zeit
81 Hölscher, Semantik der Leere. Grenzfragen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2009, S. 13–33; Ders., Time Gardens. 82 Ebd., S. 578–582. 83 Siehe: Anthony Grafton, Dating History. The Renaissance & the Reformation of Chronology, Daedalus Spring 2003, S. 74–85. 84 Siehe: Cooper, Colonialism in Question, S. 117–119.
für den Rest der Welt einen »waiting room of history« bereithalte85. Wie schon im Fall der Unterscheidung zwischen dem Mittelalter und der Moderne und bei Kosellecks Periodisierung, ist diese Kritik im Kern stichhaltig. Die implizite Teleologie ist nicht nur wesentliche Prämisse für alle Varianten der Modernisierungs- und Globalisierungstheorie einschließlich der marxistischen, sondern auch des westlichen historistischen Verständnisses von Geschichte an sich. So wie die »Nationalgeschichte« den Vergangenheiten der außer-europäischen Entitäten einen vom europäischen Nationalstaat abgeleiteten konzeptionellen Rahmen aufzwingt, so tut dies, Dipesh Chakrabarty zufolge, auch die Geschichte an sich: [I]nsofar as the academic discourse of history – that is, ›history‹ as a discourse produced at the institutional site of the university – is concerned, ›Europe‹ remains the sovereign, theoretical subject of all histories, including the ones we call ›Indian‹, ›Chinese‹, ›Kenyan‹, and so on.86
Verbreitet wurde diese Geschichte durch die Verräumlichung der Zeit, sprich durch die Aufteilung der Welt in fortschrittliche, moderne, das heißt westliche Regionen und in solche, die hinterherhinken und aufholen, die vormodern, feudal oder gar steinzeitlich sind87. Daher brachte die Historisierung des NichtWestens vornehmlich Narrative hervor, die von einem »Noch-nicht«, von Unzulänglichkeiten oder gar vom Scheitern bestimmt waren.
Historische Zeiten und Periodisierung Historiker periodisieren, wie schon eingangs erwähnt, immer. Und Periodisierung setzt stets Selektionsprinzipien sowie Vorstellungen von Kohärenz, Kontinuität und Wandel voraus, denn beim Periodisieren geht es ebenso sehr um das Weglassen wie um das Einbeziehen. Periodisieren erfordert daher systematische Abstraktion – was vielleicht erklärt, weshalb die meisten Historiker einen weiten Bogen um dieses Thema geschlagen haben und weshalb sie Periodisierung und Chronologie über einen Kamm scheren, und zwar selbst solche ansonsten theoretisch versierten Historiker wie Johan Huizinga88. 85 Chakrabarty, Provincializing Europe, S.8; siehe auch: Sebastian Conrad, What is Global History?, S. 4: »Methodologically speaking, then, by imposing categories particular to Europe on everybody else’s past, the modern disciplines rendered all other societies colonies of Europe.« 86 Dipesh Chakrabarty, Postcoloniality and the Artifice of History. Who Speaks for »Indian« Pasts?, in: Representations 37 (1992), S. 1–26, hier S. 1. Zur These, Globalisierungstheorien seien Ableger der Modernisierungstheorie, siehe: Cooper, Colonialism in Question, S. 91–113. 87 Chakrabarty, Postcoloniality, S. 6; Conrad, What is Global History?, S. 168–170. 88 Siehe: Piet Blaas, Vormgeven aan de tijd. Over periodiseren, in: Maria Grever/Harry Jansen (Hrsg.), De ongrijpbare tijd. Temporaliteit en de constructie van het verleden, Hilversum
Die grundlegende Problematik einer Verknüpfung von Zeit und Raum ist von vielen Historikern erkannt worden, welche die auf westlichen Erfahrungen basierenden Periodisierungsmodelle – vor allem die Unterscheidung in Alte, Mittlere und Neue Geschichte – auf außereuropäische Zivilisationen und Gesellschaften zu übertragen versucht haben. Diese Schemata, so Jeremy Bentley, do a poor job of explaining the trajectories of other societies. […] [they] apply awkwardly at best to the histories of China, India, Africa, the Islamic world, or the Western hemisphere – quite apart from the increasingly recognized fact that they do not even apply very well to European history.89
Implizit ist die Frage der Periodisierung also eine Frage nach der expliziten Verknüpfung von Zeit und Raum in der Geschichte. Neueren Entwicklungen wie etwa der big oder deep history sowie der Globalgeschichte folgend, haben manche Historiker wie Lynn Hunt vorgeschlagen, Zeit und Raum auszudehnen um die Problematik des »Eurozentrismus« zu vermeiden90. Hunt übersieht hier allerdings, dass die Globalgeschichte als solche keine dezidierten zeitlichen oder räumlichen Vorgaben macht, denn globale Zusammenhänge können auf jeder räumlichen Ebene (lokal, regional oder national) und im Hinblick auf jeglichen zeitlichen Maßstab (kurz-, mittel- oder langfristig) untersucht werden91. Wie bei allen anderen historischen Ansätzen auch ist die Rahmung der Globalgeschichte von den gestellten Fragen und erhofften Antworten abhängig. Daher kann eine Ausdehnung von Raum und Zeit das Problem des historiografischen Eurozentrismus nicht lösen. Vielmehr vermag, wie an Kosellecks Periodisierung der 10 Millionen Jahre Menschheitsgeschichte deutlich wurde, sich Eurozentrismus qua Chronozentrismus mit der Ausdehnung von Zeit und Raum durchaus zu vermengen. Die Räumlichkeit der Periodisierung selbst ist nicht weiter erstaunlich, denn die meisten Epochenzuschreibungen umfassen nicht nur einen zusammenhängenden Abschnitt der chronologischen Zeit, sondern beziehen sich gleichzeitig auch auf ein räumliches Gebilde, was etwa durch die Rede vom viktorianischen England, Hitlers Deutschland, China der Ming-Dynastie und Italien der Re2001, S. 35–49, insbes. S. 35–37. Diese Verschmelzung von Periodisierung und Chronologie besteht weiterhin. So definiert beispielsweise ein Lexikonartikel aus 2003 Periodisierung noch immer als »ein Hilfsmittel der historischen Forschung, das dem Historiker die zeitliche Ordnung vergangenen Geschehens ermöglicht« siehe: Ursula Becker, Periodisierung, in: Jordan, Lexikon Geschichtswissenschaft, S. 234–236. 89 Bentley, Periodization, S. 749; Le Goff, Periods, S. 116: »Periodization, however, can apply only to limited domains, or areas, of human civilization. The task of a world history is to discover the relations between these domains«; Vgl. Conrad, What Time Is Japan? 90 Lynn Hunt, Measuring Time, Making History, Budapest 2008, S. 123: »History becomes less teleological when ›historicality‹ (the definition of what constitutes the historical) is expanded in this way to make history the patrimony of all peoples and all times, rather than identifying it with the discipline taught in Western universities from the nineteenth century onward or the form of writing pioneered by Herodotus in the fifth century BC .« 91 Siehe: Conrad, What Is Global History?, S. 149.
naissance deutlich wird. Angesichts der langen Vorherrschaft der Nationalgeschichte ist es ebenso wenig überraschend, dass die meisten Räume historischer Periodisierungen den nationalstaatlichen Territorien entsprechen. Die Eckpunkte der Perioden der nationalen Geschichtsschreibung entsprechen wiederum mehr oder weniger genau den offensichtlichen politischen und militärischen Wendepunkten. Historiker, die sich beispielsweise mit dem modernen Deutschland befassen, gehen selbstverständlich davon aus, dass 1815, 1871, 1914, 1933, 1945, 1990 usw. klare Wendepunkte des 19. und 20. Jahrhunderts darstellen92. Gleiches gilt für Nationalgeschichten Frankreichs, Englands, Argentiniens usw. Dieser sowohl politische als auch historiografische Umstand verdeutlicht, weshalb die historische Zeit und ihre Periodisierung so lange als theoretisches Problem der Geschichtswissenschaft übersehen wurden. Konrad Hirschler und Sarah Savant haben kürzlich den Nexus von Zeit und Raum für die arabische Historiografie genauer betrachtet. Ihnen zufolge existiert die Zeit nur innerhalb des Raumes. Sie folgen damit der Foucault’schen Ansicht, dass »periodization itself is often a vehicle of power and site of contest for agents of history.«93 An Benedict Anderson anknüpfend argumentieren sie: with temporal coincidence, simultaneity – simultaneous, separate existences – become possible, and thus the definition of a community and its identity. Several spatial reorientations have profoundly impacted how historians working on Arabic sources treat time. Each presupposes a different simultaneity and territory in which time could be experienced as a unified whole either by the population or, for analytical purposes, by historians.94
Sie schließen daraus, dass Periodisierung genau genommen eine Form der Zeitpolitik sowie der Raumpolitik darstellt. Das Periodisieren sei performativer Natur, denn es handle sich um eine politische Technik: »always rendering its services now. In an important sense, we cannot periodize the past.«95 Diese politische Technik und Zielsetzung wurde bereits im Falle der Schöpfung des Mittelalters durch die Neuzeit angedeutet. Die Performativität betrifft indes nicht allein den Entwurf des zeitlichen, sondern auch jenen des räumlichen Rahmens96. 92 Osterhammel, Über die Periodisierung der neueren Geschichte, S. 46. 93 Hirschler/Savant, What is in a Period?, S. 8 und S. 17; Conrad, What is Global History?, S. 147: »scales of time and scales of space are immediately linked.«; Le Goff, Periods, S. 17: »Dividing history into periods is never – I repeat, never – a neutral or innocent act. […] it always represents a judgment of value with regard to sequences of events that are grouped together in one way rather than another«. 94 Hirschler/Savant, What is in a Period?, S. 9. 95 Davis, Periodization & Sovereingnty, S. 5. Zur Performativität von zeitlichen Unterscheidungen siehe auch: Bevernage/Lorenz (Hrsg.), Breaking up Time. 96 Charles Maier hat darum das Konzept der »Territorialitätsregime« vorgeschlagen, das als räumliches Pendant zu Hartogs Historizitätsregime aufgefasst werden kann. Siehe: Charles S. Maier, Transformations of Territoriality, 1600–2000, in: Gunilla Budde/Sebastian Conrad/Oliver Jansz (Hrsg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 32–56.
Periodisierung bringt also nicht nur eine Verräumlichung der Zeit hervor, sondern sie gibt auch eine Antwort auf die Frage nach den Akteuren, nach den Inhabern von agency in der Geschichte. Auf diese Frage antwortet die Periodisierung, indem sie bestimmt, welche räumlichen Entitäten eines eigenen Entwicklungsgangs würdig sind und welche einfach der Entwicklung anderer folgen. Sebastian Conrad hat diese Logik folgendermaßen geschildert: Opting for a particular scale in global history requires that critical decision be made about what will count as the primary forces and actors in the narrative. The choice of scale, in other words, always has normative implications. […] Global and other spatial questions are often also normative questions.97
Die Periodisierung der afrikanischen Geschichte etwa ist meist auf der Grundlage der Kontakte Afrikas zu Europa aber nicht im Hinblick auf seine asiatischen Kontakte oder seine eigenen, inneren Entwicklungen vorgenommen worden: Der »atlantischen Epoche« oder der »Epoche des Sklavenexports« folgt eine »Epoche nach dem Sklavenhandel«, bekannt auch als jene des »legitimen Handels«. Hierauf folgt nach der Berliner Konferenz von 1884/85 die »Kolonialzeit«, welche die beiden Weltkriege einschließt, die wiederum von der »Epoche des Nationalismus« abgelöst wird (1945–60), um in der »postkoloniale Periode«, welche die Jahre von 1960 bis heute umfasst, zu münden98. So viel ist klar: Die Periodisierung der Geschichte Afrikas aus dieser externen, westlichen Perspektive läuft auf eine Verweigerung alternativer Periodisierungen hinaus99. Oder, allgemeiner formuliert: Die Übertragung der westlichen (dreigliedrigen) Pe riodisierung auf die Geschichte der »übrigen Welt« führt ipso facto zu einer Zurückweisung jeglicher nicht-westlicher Periodisierung. Bedenkt man die politischen Implikationen von Periodisierungen, wird offenbar, dass es sich bei Chakrabartys Kritik an der begrifflich-geistigen Kolonisation der »übrigen Welt« seitens des Westens um eine Fundamentalkritik am westlichen Konzept historischer Zeit handelt. Selbstredend leugnet diese Kritik keineswegs die vergangenen und gegenwärtigen, kolonialen und imperialen Verflechtungen, die den Eurozentrismus über Jahrhunderte hinweg zu einer machtvollen Realität machten. Im Gegenteil: Die Kritik macht darauf aufmerk97 Conrad, What is Global History?, S. 156, 210; Hirschler/Savant, What is in a Period?, S. 17; Charles Maier, Consigning the Twentieth Century to History. Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Historical Review 105 (2000), S. 807–831, hier S. 809: »Arguments about periodization remain meaningful only because they represent claims as to what constellations of events should be accorded major significance for defined communities of actors.« 98 Emmanuel Akyeampong in AHR Conversation: Explaining Historical Change, or: The Lost History of Causes, in: American Historical Review 120 (2015), Nr. 4, S. 1369–1423, hier S. 1412. 99 Cooper, Colonialism in Question, S. 100–110, betont dabei, dass auch die Sklaverei und der Sklavenexport in Afrika in sehr unterschiedliche Arten und Sub-Systeme zergliedert waren.
sam, dass die Europäer mittels Kolonialisierung und Imperialismus jene Begriffe und Denkwerkzeuge verbreiteten, mittels derer sie der Welt einen Sinn abrangen, etwa indem sie den globalen Raum in einen Westen und einen Osten einteilten, die globale Geschichte als einen Weg vom feudalen Mittelalter hin zur Moderne beschrieben, und die Moderne wiederum als eine Geschichte der Nationalstaaten und ihrer Modernisierung begriffen100. Angesichts der Tatsache, dass diese Konzepte zur Beschreibung und Erklärung nicht-europäischer Vergangenheiten herangezogen wurden, ist es eigentlich erstaunlich, wie lange dieser Export als vergleichsweise erfolgreich und zielführend wahrgenommen wurde101. Wie lässt sich nun nachvollziehen, dass eine wissenschaftliche Disziplin über einen so langen Zeitraum hinweg einen universalistischen Welt erklärungsanspruch vertreten und akzeptieren konnte? Wie war es möglich, aus der provinziellen Erfahrung Europas einen derart chronozentrischen Anspruch abzuleiten, sprich wie konnte eine »Regionalzeit« (Osterhammel) so lange be anspruchen die universelle Zeit zu sein?102 Die Art und Weise, wie Historiker in der Praxis üblicherweise mit Periodisierungen umgingen und noch immer umgehen, mag diese Frage zum Teil beantworten. Erstens neigten sie dazu, die drei Makro-Epochen (Altertum, Mittelalter, Neuzeit) mit »leeren« chronologischen Perioden aufzufüllen – insbesondere mit Dekaden und Jahrhunderten, die wiederum als Zeitalter des X (etwa Ludwig XIV., Königin Viktorias etc.) firmierten103. Zweitens füllten und füllen Historiker die Makro-Epochen mit »Metapher-Epochen« (Justus Nipperdey) oder mit »strukturellen Narrativen« (Charles Maier) auf. Leere chronologische Periodisierungen beziehen ihre Inhalte hierbei von außerhalb der Chronologie104. Die Renaissance, die Aufklärung und das Zeitalter des Totalitarismus werden also durch Metaphern wie jener der »Wiedergeburt«, der »Erhellung« und des »Totalen« gekennzeichnet. »Strukturelle Narrative« versuchen weitreichende und langfristige Entwicklungen, wie den Aufstieg des absoluten Staates, die Industrialisierung, die Demokratisierung oder die Globalisierung, in der Zeit zu orten – allesamt Prozesse, welche die fest umrissenen Grenzen der Dekaden und Jahrhunderte überschreiten. Strukturelle Narrative zielen darauf ab, sub100 Siehe: Arif Dirlik, Thinking Modernity Historically. Is »Alternative Modernity« the Answer?, in: Asian Review of World Histories 1 (2013), S. 5–44. 101 Stefan Berger sieht in der Nationalgeschichte eines der erfolgreichsten »Exportprodukte« Europas. Siehe dazu sein Buch: The Past as History. National Identity and Historical Consciousness in Modern Europe, Houndmills 2015; siehe außerdem: Conrad, What is Global History?, S. 169: »European history was treated as the model for universal development in places like Argentina and South Africa, India and Vietnam.« 102 Osterhammel, Verwandlung der Welt, S.87, verweist auf »Regionalzeiten«. 103 Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 25. Die Autoren reden von einer »dekadologischen Arbeitsweise« der Historiker. 104 Justus Nipperdey, Die Terminologie von Epochen – Überlegungen am Beispiel Frühe Neuzeit/›early modern‹, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 38 (2015), S. 170–185; Maier, Consigning.
stanzielle Perioden hervorzubringen, wie man Preston Kings folgend sagen könnte105. Alle mit der Vorsilbe »Post-« versehenen Epochen, etwa jener des Postkommunismus, Postnationalismus, der Postdemokratie und der Postmoderne aber auch »Nach dem Boom«, trachten danach ein strukturelles Davor und Danach kenntlich zu machen und sind damit substanziell106. Es ist also sinnvoll, metaphorische und substanzielle von rein chronologischen Perioden wie Jahren, Dekaden oder Jahrhunderten zu unterscheiden, die keinerlei Inhalt aufweisen, sondern eine rein chronologische Dauer haben107. Es ließe sich behaupten, dass die den Makroepochen inhärente, auf die Moderne zielende Teleologie hinter dem Vorhang der chronologischen, metaphorischen und strukturellen Epochen verschwand – zumindest bis vor kurzem. Obwohl chronologische Perioden in der historiografischen Praxis ihren Gehalt aus den metaphorischen und substanziellen Einschüben beziehen, besteht weiterhin ein Spannungsverhältnis zwischen chronologischen und nicht-chronologischen Periodisierungen. Dieses Spannungsverhältnis wird etwa in den Grundsatzdebatten manifest, die hinsichtlich der Länge von Jahrhunderten und Jahrzehnten geführt wurden und werden. Angesichts der Tatsache, dass die chronologische Dauer von Jahrhunderten und Jahrzehnten ganz offensichtlich feststeht, sind die Grabenkämpfe, die um das »lange« oder »kurze« 16., 18., 19. oder 20. Jahrhundert geführt wurden, durchaus bemerkenswert. Sie veranschau lichen das fundamentale Unbehagen der Historiker angesichts eines rein chronologischen und damit »inhaltsleeren« Anfangs- und Endpunktes von Perioden108. Daher unterscheidet Jürgen Osterhammel in seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts zwischen dem »kalendarischen« 19. Jahrhundert von 1800 bis 1900 und dem »langen 19. Jahrhundert« von der Amerikanischen Revolution bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August 1914109. Dieses grundsätzliche Unbehagen erklärt sich, selbstredend, vor allem aus folgendem Widerspruch: Während der Begriff der Epoche an sich eine innere Kohärenz derselben impliziert, die durch Wendepunkte zu Beginn und am Ende kenntlich gemacht wird, bringt die Chronologie von sich aus weder Substanz, Kohärenz noch Wendepunkte hervor110. Daher haben die Jahrhundertwenden 105 Preston King, Thinking Past a Problem. Essays on the History of Ideas, London u. a. 2000. 106 Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 12–16, plädieren daher für einen »Strukturbruch« zwischen dem »Boom« und der Zeit »nach dem Boom«. 107 Nipperdeys Unterscheidung zwischen chronologischen und metaphorischen Perioden ähnelt der von Preston King zwischen chronologischen und substanziellen Konzeptionen von Vergangenheit und Gegenwart. Siehe: King, Thinking Past a Problem. 108 Nipperdey wendet ein, dass das Unbehagen über die chronologische Zäsur zwischen dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit zu einem vermehrten Gebrauch von Bindewörtern wie »spätmittelalterlich« und »frühneuzeitlich« geführt habe. Nipperdey, Die Terminologie der Epochen, S. 174–180. 109 Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 87. 110 Ebd., S. 116. Dieser nennt daher die Einteilung der Geschichte in Jahrhunderte »nicht mehr als ein notwendiges Übel« und stellt fest: »Inhaltsleere Periodisierungen erkaufen ihre Eindeutigkeit damit, dass sie nichts zu historischer Erkenntnis beitragen« (S. 85).
auch keine nennenswerten historischen Diskussionen ausgelöst, gleichwohl sich manche Historiker veranlasst sahen, Bücher zu diesen Anlässen zu verfassen, die einige Aufmerksamkeit erzeugten – zumindest war dies zu den Jahrhundertwenden 1900 und 2000 der Fall111. Bei genauerer Betrachtung stellt die Chronologie also nicht den Schlüssel zur geschichtswissenschaftlichen Periodisierung dar und kann dies auch gar nicht tun112. Es ist daher höchste Zeit, dass der Historikerstamm ein für alle Mal den Fetisch, das Idol der Chronologie aufgibt, und dies in einem fundamentaleren Sinne als von Francois Simiand 1903 vorgeschlagen113. Bekanntlich kritisierte Simiand den Historikerstamm nicht nur angesichts seiner Fixierung auf Einzelpersonen (»idole individuelle«) und Politik (»idole politique«), sondern auch aufgrund seiner geradezu zwanghaften Neigung, gegenwärtige Phänomene zu erklären, indem er ihre Ursprünge in einer lange zurückliegenden Vergangenheit aufdeckte (»idole chronologique«). Heutzutage geht es nicht allein darum, gegen die Gewohnheit der Historiker vorzugehen, sich auf Kosten von Funktion und Bedeutung historischer Phänomene für die Gegenwart im Aufspüren ihrer Ursprünge zu verlieren – das heißt sich auf Kosten der Synchronie ausschließlich mit der Diachronie zu befassen114. Vielmehr ist es höchste Zeit, dass Historiker sich von der hartnäckigen Gewohnheit trennen, die chronologische Zeit mit der historischen gleichzusetzen und chronologische Periodisierungen mit historischen115. Um nur ein von Sebastian Conrad angeführtes Beispiel des chronologischen Fetischs zu nennen: Die Ursachen für die 1990 explosionsartig ausbrechenden Erinnerungskriege zwischen Japan, China und Süd-Korea um die Darstellung des Zweiten Weltkriegs in japanischen Schulbüchern gilt es, mit großer Wahrscheinlichkeit eher in der internationalen politischen Konstellation der 1990er Jahre aufzusuchen als in der Zeit ihrer vermeintlichen »Ursprünge« zwischen 1937 und 1945116. 111 Siehe: Arndt Brendecke, Die Jahrhundertwenden. Eine Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung, Franfurt a. M. 2000. 1800 war die erste Jahrhundertwende, die von zahlreichen Intellektuellen als ein »Wendepunkt« erlebt wurde, ganz offensichtlich in Verbindung mit der Französischen Revolution und den Konsequenzen für das Ancien Régime. 112 Der Vergleich mit der Geschichte der Periodisierung in die Geologie ist hier erhellend: Geologische Periodisierung war, bis im 20. Jahrhundert zuverlässige Datierungsmethoden entwickelt wurden, völlig unabhängig von chronologischen Bestimmungen. Siehe: Martin Rudwick, Earth’s Deep History. How It was Discovered and Why It Matters, Chicago 2014. 113 Francois Simiand, Méthode historique et sciences sociales, in: Revue de Synthèse Historique 6 (1903), S. 1–22. 114 Vgl. Conrad, What is Global History?, S. 150: »The concern with synchronicity, with the contemporaneous even if geographically distant, has become the hallmark of global approaches.« 115 Vgl. Stefan Tanaka, History without Chronology, in: Public Culture 28 (2016), Nr. 1, S. 181–186. 116 Conrad, What is Global History?, S. 150–151.
Die trügerische Gleichsetzung von historischer und chronologischer Zeit, so lässt sich abschließend festhalten, hilft die lang andauernde Dominanz des temporalen Eurozentrismus und die späte Geburt der Theorie historischer Zeiten zu erklären. Die überfällige Thematisierung des Nexus von Periodisierung und Verräumlichung wie auch die vergleichsweise späte Einsicht, dass jede Theorie der Vergangenheit immer schon eine Theorie der Gegenwart voraussetzt, erklärt sich letztendlich aus der Gleichsetzung chronologischer und historischer Zeit117. Solange Historiker an dieser Gleichsetzung festhalten, besteht für sie keine Veranlassung die Vergangenheit, die Gegenwart und ebenso wenig das Periodisieren zum Gegenstand theoretischer Reflexion zu machen. Hier ist der Punkt, an dem Kosellecks Forderung nach und Beitrag zu einer Theorie historischer Zeit ins Spiel kommt. Weder für die Geschichtswissenschaft noch für die Theorie der Geschichte gibt es ein Zurück vor das Denken Kosellecks – und dies, obwohl wir festgestellt haben, dass Kosellecks fast schon kanonisch gewordene Theorie nach wie vor ein Produkt des europäischen Chronozentrismus ist. Wie so oft gilt auch in diesem Fall, il faut détruire pour mieux bâtir. Dieses Fazit führt mich zurück zur Problematik des Eurozentrismus der Periodisierung wie auch zur Lösung dieses Problems durch ein Bedenken des Standorts, von dem aus die Periodisierung und die entsprechende Territorialisierung vor genommen wird. Arif Dirlik folgend denke ich, dass in der Geschichte Reflexion auf die Rekonstruktion und Dekonstruktion verschiedener, miteinander konkurrierender Kontexte und Konzepte – einschließlich der zeitlichen und räumlichen – hinausläuft: My rehearsal of the historicity, boundary instabilities, and internal differences – if not fragmentations – of nations, civilisations, and continents is intended to underline the historiographically problematic nature of [world] histories organized around such units. These entities are products of efforts to bring political or conceptual order to the world – political and conceptual strategies of containment, so to speak. This order is achieved only at the cost of suppressing alternative spatialities and temporalities, however, as well as covering over processes that went into their making. A [world] history organized around these entities itself inevitably partakes of these same suppressions and cover-ups.118
Dirlik verdeutlicht, dass nur durch die Historisierung der Begriffe und Kontexte, die bei der Konstruktion der zeitlichen und räumlichen historischen Ab- und Ausschnitte Verwendung finden, ihre Kontingenz wie auch ihr Verhältnis zu 117 Die These vom »digitalen Finanzmarktkapitalismus« von Doering-Manteuffel und Raphael in ihrem Band Nach dem Boom stellt explizit eine Theorie der Gegenwart dar. Siehe auch: Lianeri, Regime of Untranslatables; Peter Osborne, Global Modernity and the Contemporary. Two Categories of Historical Time, in: Bevernage/Lorenz (Hrsg.), Breaking up Time, S. 69–85; Bevernage, Tales of Pastness and Contemporaneity. 118 Arif Dirlik, Performing the World. Reality and Representation in the Making of World Histor(ies), in: Bulletin of the German Historical Institute 37 (2005), S. 9–27, hier S. 18 f.
den unterdrückten Alternativen zu Tage gefördert werden können. Seine Position ähnelt jener Chakrabartys: »I ask for a history that deliberately makes visible, within the very structure of its narrative forms, its own repressive strategies and practices.«119 Wenn es keinen Ausweg aus unserer stand- und sehepunktabhängigen Situation gibt120, dann können wir nur versuchen, diese anzuerkennen und ihre Konsequenzen für die Art und Weise, wie Historiker und andere Humanwissenschaftler mit Zeit und Raum umgehen, zu reflektieren.
119 Chakrabarty, Provincializing Europe, S. 45. Zu den Unterschieden zwischen Dirlik und Chakrabarty siehe: Arif Dirlik, Is There History after Eurocentrism? Globalism, Postcolonialism, and the Disavowal of History, in: Cultural Critique, 42 (1999), S. 1–34, insbes. S. 28–34. Für konkrete Beispiele siehe zudem: Marc Parry, A Reckoning. Colonial Atrocities and Academic Reputations on Trial in a British Courtcase, in: The Chronicle of Higher Education vom 10.6.2016; Nicole Longpré, Shame, Memory and the Politics of the Archive (URL: https://jhiblog.org/2016/05/04/shame-memory-and-the-politics-ofthe-archive/, zuletzt eingesehen am 25.7.2016). 120 Siehe auch: Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 84–181; Conrad, What is Global History?, S. 162–185.
Report "Der letzte Fetisch des Stamms der Historiker. Zeit, Raum und Periodisierung in der Geschichtswissenschaft, in: Fernando Esposito (ed.), Zeitenwandel. Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017, 63-92. "