Doris Wieser
Der lateinamerikanische Kriminalroman um die Jahrtausendwende
LIT Ibéricas Estudios de literatura iberorrománica Beiträge zur iberoromanischen Literaturwissenschaft Estudos de literatura ibero-românica herausgegeben von
Prof. Dr. Tobias Brandenberger (Universität Göttingen)
Prof. Dr. Albrecht Buschmann (Universität Rostock)
Prof. Dr. Marco Kunz (Université de Lausanne)
vol. 1
LIT
Doris Wieser
Der lateinamerikanische Kriminalroman um die Jahrtausendwende Typen und Kontexte
LIT
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½ Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier entsprechend ANSI Z3948 DIN ISO 9706
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-643-11688-8 Zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 2011
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LIT VERLAG Dr. W. Hopf
Berlin 2012
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Danke! Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um meine (geringfügig veränderte und aktualisierte) Dissertation, die ich im März 2011 beim Prüfungsamt der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen eingereicht habe. Ich möchte allen Personen herzlich danken, die mich beim Forschen, Nachdenken, Schreiben und Korrigieren unterstützt haben. Mein besonderer Dank gilt… … meinem Erstgutachter, Herrn Prof. Dr. Tobias Brandenberger, für die stete, zuverlässige, kompetente und motivierende Betreuung. … Dr. Thomas Wörtche für die vielen Fachgespräche, seinen wertvollen Expertenrat und vor allem dafür, dass er immer an mich und mein Projekt geglaubt hat. … meiner Zweitgutachterin, PD Dr. Annette Paatz, für ihre gewinnbringenden Ergänzungen und ihren scharfen Blick für Detailfragen. … meinem dritten Prüfer in der Disputation, Prof. Dr. Richard Trachsler, für seine kreativen Querfragen. … und den Herausgebern für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe: Prof. Dr. Tobias Brandenberger, Prof. Dr. Albrecht Buschmann und Prof. Dr. Marco Kunz.
Zitation Im Zuge dieser Forschungsarbeit führte ich Interviews mit zehn Autoren, die hauptsächlich oder sporadisch Kriminalromane schreiben: Pepetela, Raúl Argemí, Pablo De Santis, Guillermo Martínez, Luiz Alfredo Garcia-Roza, Roberto Ampuero, Leonardo Padura, Élmer Mendoza, Alonso Cueto und Santiago Roncagliolo. Die Interviews erschienen 2010 unter dem Titel Crímenes y sus autores intelectuales. Bei Zitaten daraus steht in eckigen Klammern jeweils das Jahr der Durchführung, insofern es vom Publikationsdatum des Bandes abweicht. Die einzelnen Interviews werden in der Bibliografie nicht als eigene Einträge angelegt, da es sich formal um Kapitel einer Monografie handelt. Bei Zitaten aus Internetquellen ohne Paginierung wird darauf verzichtet, jedes Mal "o. S." (ohne Seite) hinzuzufügen. Fehlt also die Seitenangabe, so handelt es sich um elektronische Quellen. Innerhalb der Romananalysen (Kap. 4-6) wird bei Zitaten aus dem Werk, das im jeweiligen Kapitel untersucht wird, nur die Seitenzahl in Klammern genannt. Die Angaben beziehen sich auf die in der Bibliografie aufgeführten Ausgaben. Es war mir nicht in allen Fällen möglich, die Erstausgabe zu zitieren. In den Titeln von portugiesischsprachigen Werken habe ich mich für die Großschreibung der bedeutungstragenden Wörter entschieden, da dies in Brasilien häufig so gehandhabt wird (wie im angelsächsischen Bereich auch).
Inhalt
Einleitung
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1. Das Genre "Kriminalroman"
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1.1. Begrifflichkeit
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1.2. Annäherung an die Gattungsbestimmung
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2. Audiovisuelle, lebensweltliche und literarische Kontexte
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2.1. Die Aneignung einer fremden Gattung
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2.2. Audiovisuelle Kontexte: Die Prägung des Erwartungshorizonts
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2.2.1. Kulturindustrie und Populärkultur 2.2.2. Die Pseudonorm: US-amerikanische Krimiserien im Fernsehen 2.2.3. Konsensualer Rahmen und versteckte Ideologie
61 63 70
2.3. Lebensweltliche Kontexte: Gewalt und Verbrechen in Lateinamerika
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2.4. Literarische Kontexte: Die Entwicklung des Kriminalromans in den lateinamerikanischen Ländern
86
2.4.1. Argentinien 2.4.2. Mexiko 2.4.3. Kuba 2.4.4. Brasilien 2.4.5. Chile 2.4.6. Peru 2.4.7. Kolumbien 2.4.8. Weitere lateinamerikanische Länder 2.4.9. Bilanz und Ausblick
3. Methodik und Korpus
86 90 94 97 101 105 107 109 111
116
4. Ermittlungsromane
121
4.1. Parametrisierung Leonardo Padura: Máscaras (Kuba, 1997)
126
4.2. Globalisierung Roberto Ampuero: Cita en el Azul Profundo (Chile, 2001)
145
4.3. Marginalisierung Luiz Alfredo Garcia-Roza: Achados e Perdidos (Brasilien, 1998)
165
5. Gewaltromane
182
5.1. Strukturelle Kriminalität
190
5.1.1. Patrícia Melo: O Matador (Brasilien, 1995) 5.1.2. Jorge Franco: Rosario Tijeras (Kolumbien, 1999) 5.2. Institutionalisierte Gewalt 5.2.1. Raúl Argemí: Penúltimo nombre de guerra (Argentinien, 2004) 5.2.2. Santiago Roncagliolo: Abril rojo (Peru, 2006) 5.3. Attentate auf Politiker 5.3.1. Élmer Mendoza: Un asesino solitario (Mexiko, 1999) 5.3.2. Alonso Cueto: Grandes miradas (Peru, 2003)
190 210 231 231 248 265 265 284
6. Ludische Kriminalromane
301
6.1. Parodie Jô Soares: O Xangô de Baker Street (Brasilien, 1995)
305
6.2. Fantastik Pablo De Santis: Filosofía y Letras (Argentinien, 1998)
323
6.3. Intertextualität Luis Fernando Verissimo: Borges e os Orangotangos Eternos (Brasilien, 2000)
343
Fazit: Wege der Aneignung
360
Bibliografie
377
Einleitung Rezipienten glauben für gewöhnlich intuitiv zu wissen, was ein "Krimi" ist. Egal ob im Fernsehen, Kino oder als gedrucktes Buch, das Genre scheint schnell und klar erkennbar zu sein. Ein rätselhafter Mord wird begangen, eine Ermittlung durchgeführt und am Ende der Fall gelöst. Variationen dieses einfachsten Krimischemas ergeben sich bekanntermaßen durch die Verkettung mehrerer Morde oder anderer Verbrechen, den wahlweisen Einsatz von Privatdetektiven, Geheimagenten, Polizisten oder ganzen Polizeiteams, den Verzicht auf eine zweifelsfreie Lösung des Falls, aber auch durch die Verschiebung der Perspektive vom Ermittler zum Gejagten oder zum flüchtenden Opfer. "Krimis" gelten außerdem als spannend und enden meist mit einem Showdown. Diese oder ähnliche unreflektierte Assoziationen entstehen in den Köpfen von Lesern und Zuschauern, wenn sie das Wort "Krimi" hören. Unser aller Alltagsverständnis beruht auf einer langen Erfahrung mit diesem Genre in verschiedenen Medien sowie auf seiner Vermarktung, die Nervenkitzel, Spannung und Unterhaltung verspricht. Aber was genau macht einen "Krimi" aus? Gibt es inhaltliche und formalästhetische Merkmale, die ihn hinreichend definieren? Welchen Bezug etabliert ein Kriminalroman zum real existierenden Verbrechen? Wie schreibt er sich in seine Gattungstradition ein? Warum wird er häufig pauschal der "Unterhaltungsliteratur" oder sogar der "Trivialliteratur" zugeschrieben? Diese Fragen sind bei näherer Betrachtung komplex und kaum abschließend zu beantworten, sollen hier jedoch diskutiert und zu einem vorläufigen Ergebnis geführt werden. Dazu ist es nötig, gängige Gattungsdefinitionen aus den vergangenen Jahrzehnten einer kritischen Revision zu unterziehen. Auf der Grundlage von Klaus W. Hempfers Werk Gattungstheorie (1973) soll ein Vorschlag für eine global gültige, thematische Minimaldefinition des Genres erarbeitet werden, die mit fakultativen Merkmalen ergänzt werden kann (Kapitel 1). Insbesondere gilt es dabei folgende Punkte zu diskutieren: die formalen Ausprägungen des Kriminalromans, seine systemreferenziellen Bezüge, den Erwartungshorizont des Lesers, verschiedene Möglichkeiten des Wirklichkeitsbezugs und schließlich paratextuelle Zuschreibungen sowie Vermarktungsstrategien. Die Frage nach der literarischen Wertung soll allerdings nicht systematisch verfolgt werden. Ich möchte jedoch ein paar Gedanken zu diesem Thema vorweg schicken, um danach verstärkt auf einer deskriptiven Ebene arbeiten zu können. Obwohl die Trennung in high und low culture, "hohe" und "triviale" oder, gemäßigter ausgedrückt, "populäre" Literatur seit den 1970er Jahren grundlegend revidiert wurde, bewerten Leser, Kritiker, Verleger, Lek9
Einleitung
toren und Literaturwissenschaftler literarische Texte natürlich weiterhin und dies aus höchst unterschiedlichen Gründen: Leser machen die Auswahl künftiger Lektüre von ihrem Geschmacksurteil abhängig; hinter dem Urteil der Kritiker steht einerseits die Demonstration der eigenen Fachkompetenz, was – mit Bourdieu gesprochen – ihr symbolisches Kapital erhöht, andererseits lassen sich Kritiker immer häufiger zu verkaufsfördernder Lobhudelei hinreißen, weil sie in der heutigen Medienlandschaft den Gesetzen des Marktes unterworfen sind; Verleger und Lektoren verfolgen zum einen wirtschaftliche Interessen, zum anderen streben auch sie nach symbolischem Kapital für ihre Marke; Literaturwissenschaftler möchten sich dagegen in der Regel nur mit solchen Texten beschäftigen, die sie für literarisch hochwertig erachten1, so dass die zeitaufwändige Arbeit den Wunsch nach einem angemessenen Wissenszuwachs einlöst sowie ihr Prestige als Wissenschaftler erhöht. Dass die Wertungspraxis all dieser Akteure auf unterschiedlichen, interessegeleiteten Prinzipien basiert, ist augenfällig. Übergreifende Wertungskriterien für das gesamte literarische Feld existieren folglich nicht. Genauso wenig kann eine Interessengruppe ihre Wertmaßstäbe als die nun eigentlich gültigen postulieren. Von literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zur Kriminalliteratur, deren angestammtes Feld sich im populären Sektor befindet, wird in der Regel erwartet, dass sie die Frage nach der literarischen Wertung zumindest berühren. Diesbezüglich sei zuallererst festgehalten, dass es nicht in meinem wissenschaftlichen Interesse liegt, Werke der "trivialen" Kriminalliteratur hinsichtlich ihres ästhetischen Gehalts oder ihrer Anziehungskraft auf bestimmte Lesergruppen zu untersuchen. Genauso wenig möchte ich den Beweggründen von Kritikern oder Verlegern, sich für oder gegen ein bestimmtes Werk auszusprechen, im Detail nachspüren, da dies eine eigene Untersuchung erfordern würde. Aber auch meiner Studie liegt zugegebenermaßen ein implizites Werturteil zu Grunde. Als Literaturwissenschaftlerin beschäftige ich mich am liebsten mit Texten, die mir einen ästhetischen Mehrwert zu produzieren scheinen. Dies sind in der Kriminalliteratur ausdrücklich nicht solche, die herkömmliche Strukturformeln und Ideologeme variieren, ohne dabei substanzielle Neuerungen einzuführen. Aufgrund der Partikularitäten der Kriminalliteratur kann die Literaturwissenschaft die sogenannten Formula-Texte aber auch nicht ignorieren. Sie scheinen mir sogar essentiell für ein adäquates Verständnis des Phänomens in seiner Gesamtheit, da sie der "hohen" Kriminalliteratur als Produktions- und Rezeptionsfolie dienen. Erwähnt sei an dieser Stelle auch, dass die Übergänge vom "Trivialen" Die Literaturwissenschaft hat an der sogenannten Trivialliteratur vor allem folgende Punkte bemängelt: a) ihre zweckgerichteten Tendenzen, b) ihre verfälschende Darstellung der Wirklichkeit, c) ihre Kumulation von Reizmomenten und d) ihre Reproduktion von Klischees (Nusser 1991: 4).
1
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zum technisch Versierten aber gleichzeitig ideologisch Banalen bis zum ästhetisch und inhaltlich Anspruchsvollen äußerst fließend sind.2 Welche Rolle der häufig abgewertete Unterhaltungssektor für die Produktion und Rezeption von hochwertigen Kriminalromanen spielt, soll in Kapitel 2 herausgearbeitet werden. Darin wird nach den unterschiedlichen Kontexten gefragt, die das Gesamtphänomen Kriminalliteratur und insbesondere das der lateinamerikanischen Kriminalliteratur erst verständlich machen. Unter "audiovisuelle Kontexte" (2.2) geht es zunächst darum, den Erwartungshorizont, den der Leser an den Kriminalroman im Allgemeinen heranträgt, zu umreißen. Nach meiner These wird dieser in der heutigen Zeit maßgeblich von Fernsehserien geprägt. Leitgedanke ist dabei, dass literarisch hochwertige Kriminalromane, wie die, die ich in den Kapiteln 4-6 untersuche, in engem Bezug zu ihren populären Geschwistern, den "Krimis", stehen und dieses Nebeneinander an ihrer Sinnproduktion mitschreibt. Daher gilt es, die Eigenschaften einiger bekannter Krimiserien kurz anzureißen und ihr ideologisches Grundgerüst zu rekonstruieren, das ich aufgrund seiner großen Ausstrahlungskraft als "Pseudonorm" bezeichne.3 Dieser Begriff soll in erster Linie eine deskriptiv-operative Funktion erfüllen. Dass damit tendenziell weniger "wertvolle" Produkte gemeint sind, darf implizit mitschwingen, steht jedoch für die Argumentationsweise im Hintergrund. Die spezifische Bedingtheit der Gattung in Lateinamerika rückt in den folgenden Teilkapiteln (2.3 und 2.4) in den Fokus. Ausgangspunkt dafür ist die Tatsache, dass der Kriminalroman nicht in Lateinamerika entstanden ist, sondern in Nordamerika und Europa (insbesondere in Großbritannien und Frankreich). Lateinamerikanische Schriftsteller haben sich diese in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgekommene Gattung erst mit zeitlicher Verzögerung angeeignet und im Laufe des 20. Jahrhunderts einer Transkulturation unterzogen. Inwiefern und warum gattungstypische Strukturen dabei modifiziert wurden, lässt sich am besten nachvollziehen, wenn man den Blick auf die verschiedenen Kontexte richtet und sich folgende Frage stellt: Worin unterscheiden sich die gesellschaftlichen Zustände in den lateinamerikanischen Ländern von denen, die in Nordamerika und Europa vorherrschen, und was bedeutet dies für die Glaubwürdigkeit der in Kriminalromanen dargestellten Handlungen? Diesbezüglich ist es hilfreich, sich die jüngere Ge-
Mittlerweile hat sich in den gängigen Nachschlagewerken (z. B. Meid 1999: 528, Wilpert 2001: 851) ein Dreischichtenmodell durchgesetzt: Trivialliteratur, Unterhaltungsliteratur und Hochliteratur. 3 Ansätze zur Untersuchung der gegenseitigen Beeinflussung des Kriminalromans und anderer medialer Formen des "Krimis" (vor allem Fernsehserien) finden sich im Sammelband von Vogt (2005). Die darin enthaltenen Analysen beziehen sich jedoch größtenteils auf deutsche Krimiserien, eine internationale Perspektive wurde noch nicht eingenommen. Diese Lücken zu schließen, bemüht sich der theoretische Teil der vorliegenden Untersuchung. 2
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schichte einiger lateinamerikanischer Länder kurz in Erinnerung zu rufen und dabei nach dem gesellschaftlichen Stellenwert von Verbrechen und Gewalt zu fragen (2.3). Danach gilt es, die diachrone Entwicklung des Kriminalromans nachzuvollziehen und herauszuarbeiten, inwiefern die einzelnen lateinamerikanischen Länder eigene Traditionen innerhalb dieses Genres ausgebildet haben (2.4). In Kapitel 3 werden das Textkorpus sowie die Leitlinien der nachfolgenden Romaninterpretationen vorgestellt. Der lateinamerikanische Kriminalroman spannt ein sehr weites, heterogenes Feld auf, das in zahlreiche Unterphänomene mit lokalen Eigenheiten zerfällt. Ziel meiner Untersuchung ist es, einen synchronen Schnitt durch dieses Feld vorzunehmen, um einige besonders dominante Tendenzen aufzuspüren und zu charakterisieren. Dadurch soll auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Kriminalromanen aus verschiedenen Ländern aufmerksam gemacht werden, die beim alleinigen Betrachten der Kriminalliteratur eines einzelnen Landes unerkannt bleiben würden. Im Zentrum der Untersuchung stehen daher Kriminalromane der vergangenen zwei Jahrzehnte aus möglichst vielen unterschiedlichen lateinamerikanischen Ländern. Drei Aspekte bilden die Grundlage für die systematische Untersuchung der ausgewählten Romane. Dies ist erstens die Ermittlungsmethode beziehungsweise die Behinderung oder Unterbindung der Ermittlung, zweitens der gesellschaftspolitische Stellenwert von Gewalt und Verbrechen und deren Darstellungsweise, und drittens die Subjektkonstruktion der Figuren durch unterschiedliche Machtdiskurse. Diese drei Leitfragen halte ich für besonders relevant, da sie es erlauben, wesentliche Unterschiede zwischen den Romanen und der Pseudonorm aufzuspüren und ihre damit verbundene Semiose herauszuarbeiten. Nach den theoretischen Überlegungen zur Gattung in Kapitel 1, der Untersuchung ihrer diversen Kontexte in Kapitel 2 sowie der Erläuterung der Methode und des Textkorpus in Kapitel 3 stellen die Romaninterpretationen in den Kapiteln 4 bis 6 den zweiten Kernbereich dieser Studie dar. Innerhalb von drei Kategorien sollen zwölf Romane unter Berücksichtigung der erwähnten Leitfragen interpretiert werden. Die Benennung der Kategorien, "Ermittlungsromane" (Kap. 4), "Gewaltromane" (Kap. 5) und "ludische Kriminalromane" (Kap. 6) erfüllt hier einen heuristischen Wert. Es handelt sich dabei nicht um gebräuchliche Begriffe. Welche Romane ich diesen Kategorien zuordne, zeigt ein kurzer Blick ins Inhaltsverzeichnis. Die Relevanz dieser Untersuchung ergibt sich aus dem Forschungsstand. Sowohl die gattungstheoretischen und gattungsgeschichtlichen Ausführungen als auch die Einzelinterpretationen erlauben eine länderübergreifende Sicht auf den lateinamerikanischen Kriminalroman, die in 12
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dieser Form noch nicht erarbeitet wurde. Dazu ein kurzer Blick zurück auf die Forschungsliteratur: Untersuchungen zur Kriminalliteratur stellten bis in die 1960er Jahre hinein eher Einzelinitiativen dar. Hier sind die Essaysammlung von Howard Haycraft (1928) zu nennen sowie die Aufsätze von Siegfried Krakauer (1922/25), Walter Benjamin (1930), Dorothy Sayers (1935) oder Bertolt Brecht (1938/40), die in dem aufschlussreichen Sammelband von Jochen Vogt (1998) enthalten sind. Seit Mitte der 1960er Jahre wurde der europäische und nordamerikanische Kriminalroman im Zuge des aufkommenden Interesses für Populärkultur und der Revision des nicht mehr zeitgemäßen Kanonkonzepts verstärkt Gegenstand der universitären Literaturwissenschaft. Aber auch damals war es für den Germanisten Richard Alewyn noch keine Selbstverständlichkeit, sich mit diesem Gegenstand zu befassen. Als Indiz dafür kann gelten, dass sein Artikel "Anatomie des Detektivromans" ursprünglich nicht in einer wissenschaftlichen Zeitschrift, sondern im Feuilleton der Zeit erschienen ist (Vogt 1998: 9). Obwohl sich heutzutage kein Forscher mehr rechtfertigen muss, wenn er sich mit Kriminalromanen befasst, bleiben die Vorbehalte der Literaturwissenschaft gegenüber dem Populären latent bestehen. Das Gros an Forschungsarbeiten zum Kriminalroman stammt aus Europa (vornehmlich aus Großbritannien und Frankreich) und den USA, das heißt aus seinen Ursprungsländern, in denen er einen traditionell wichtigen Platz auf dem Literaturmarkt einnimmt. Diese Arbeiten behandeln schwerpunktmäßig gattungstheoretische sowie gattungsgeschichtliche Aspekte und greifen in der Regel auf ein nordamerikanisches und europäisches (insbesondere britisches und französisches) Textkorpus zurück. Hier steht größtenteils die Vermittlung von Überblickswissen im Vordergrund zuungunsten von Detailstudien. Die meisten im deutschsprachigen Raum erschienenen Werke dieses Zuschnitts sind mittlerweile zwanzig bis fünfunddreißig Jahre alt (Schmidt 1989, Lenz 1987, Suerbaum 1984, Nusser 1980, Schulz-Buschhaus 1975). Zwar wurden die Untersuchungen von Nusser und Schmidt aktualisiert; Nusser (2009) revidierte seinen veralteten Ansatz4 jedoch nicht grundsätzlich, und die Erweiterung des populärwissenschaftlichen Werks von Schmidt (2009) auf andere Kulturkreise enthält zahlreiche eklatante Fehler.5 Ein neueres
Zu Nussers Ansatz siehe Kap. 1.2. Einige Mängel führt Ulrich Noller (2009) in seiner Rezension auf. Die Kapitel über Lateinamerika enthalten neben zahllosen Tippfehlern auch einige Ungenauigkeiten und Informationslücken. Von Ramón Díaz Eterovic (Chile) kennt Schmidt beispielsweise nur die zwei ins Deutsche übersetzten Heredia-Romane, obwohl die Serie 2009 bereits dreizehn Romane umfasste, was ohne Weiteres im Internet hätte recherchiert werden können. Angesichts dessen ist es schon etwas peinlich, dass Schmidt meint, aus Los siete hijos de Simenon "herauslesen zu können, dass ein vorangegangenes drittes Buch – oder vielleicht auch mehr Bücher – mit Heredias Abenteuern existieren könnte" (Schmidt 2009: 742).
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Einführungswerk zum angelsächsischen Kriminalroman gab Vera Nünning 2008 heraus. Thomas Wörtches kenntnisreiche Essaysammlung Das Mörderische neben dem Leben (2008) enthält eine Vielzahl sinnvoller und innovativer Argumente zur Gattungstheorie, auf die ich im Laufe dieser Arbeit noch häufiger zu sprechen kommen werde. Im frankophonen und anglophonen Bereich liegen einige neuere Monografien mit gattungstheoretischem und –geschichtlichem Schwerpunkt vor. Für den französischsprachigen Raum sind dies beispielsweise Vanoncini (2002 [1993]), Lits (1999), Reuter (1997) und Dubois (1992), für den angelsächsischen Rushing (2007), Gregoriou (2007), Horsley (2005), Scaggs (2005), Knight (2004), Cole (2004), Priestman (1998) und Hilfer (1990). Die Mehrzahl der genannten Autoren stellt das Subgenre des Detektiv- bzw. Rätselromans in den Mittelpunkt, wodurch die historische Verkettung mit den anderen Spielformen des Kriminalromans vernachlässigt oder sogar verschleiert wird. Folglich beschränkt sich auch die gattungstheoretische Debatte in einigen dieser Werke auf eine Diskussion über dieses Subgenre, weswegen eine umfassende Gattungsdefinition ausbleibt. In den spanischsprachigen Ländern wurden nur wenige Werke zur Gattungstheorie und zur europäisch-amerikanischen Gattungsgeschichte veröffentlicht (siehe hierzu vor allem Giardinelli 1984 und Malverde 2010). Spanische Literaturwissenschaftler konzentrieren sich vor allen Dingen auf die Kriminalliteratur Spaniens (z. B. Valles Calatrava 1991, Colmeiro 1994, Janerka 2010). Bezüglich der deutschsprachigen Romanistik sei der Vollständigkeit halber erwähnt, dass ebenfalls mehrere Untersuchungen zum spanischen (sowie italienischen und französischen) Kriminalroman vorliegen (z. B. Buschmann 2005 und Krabbe 2010). Auf Portugiesisch erschienen lediglich die Werke von Albuquerque (1979) und Reimão (2005), die hauptsächlich auf die angelsächsische und punktuell auf die brasilianische Tradition eingehen. Insgesamt kann festgehalten werden, dass die aus den 1970er Jahren übernommenen gattungstheoretischen Positionen bis heute noch nicht systematisch revidiert wurden, so dass behauptet werden darf, dass keine konsensfähige Gattungsdefinition vorliegt. Besonders auffällig ist, dass die Literaturwissenschaft über Jahrzehnte hinweg versucht hat, den Kriminalroman durch formale Kriterien zu bestimmen. Dies ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass die Untersuchung dieses Genres innerhalb der Trivialliteraturforschung und unter dem Einfluss der strukturalistischen Literaturwissenschaft betrieben wurde.6 Bis heute hält sich dieser Ansatz äußerst hartnäckig und wird in Interpretationen
Nusser versucht sogar eine Terminologie für einzelne strukturbildende Versatzstücke zu etablieren (z. B. teilt er die Personen in eine In-group und eine Out-group auf), die sich aber wegen ihrer mangelnder Evidenz in den Werken nicht durchsetzen konnte. Peter Stoll (2004) hat in seiner Rezension zu Nussers Werk die Problematik dieses Ansatzes sehr anschaulich herausarbeitet.
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zeitgenössischer Kriminalromane immer wieder bemüht. Coles Gattungsverständnis spiegelt beispielsweise das verbreitete Vorurteil wider, dass sich der Kriminalroman neben seinem Thema durch seine Struktur definiert: "If [crime novels] share a single defining feature it is this: a crime must be committed and it must be investigated and resolved" (Cole 2004: 11). Colmeiro vertritt eine ähnliche Position, pocht jedoch nicht auf die Lösung als gattungskonstitutives Element: "Partimos de la categorización de la novela policiaca como género complejo, definido globalmente como una narrativa ficcional cuyo hilo estructural lo forma la investigación de un hecho criminal" (Colmeiro 1994: 53). Die Crux an diesen Definitionen besteht darin, dass diese und viele andere Forscher ihren Untersuchungsgegenstand auf solche "detektorischen Texte" – wie sie Buschmann (2005) nennt – beschränken und konsequenterweise auch keine Definition für das Gesamtphänomen "Kriminalliteratur" liefern können. Aber weder das strukturbildende Kriterium "Ermittlung" noch das der "Auflösung" kann als konstitutiv angesetzt werden, wenn man all jene Texte unter den Begriff "Kriminalroman" fasst, die in einer, wenn auch komplexen, historischen und systemreferenziellen Verbindung zueinander stehen sowie paratextuell als Kriminalliteratur ausgewiesen werden. Die meisten Autoren der neueren Forschungsarbeiten, die ein umfassenderes Gattungsverständnis vertreten, pochen zwar weiterhin auf eine formale Definierbarkeit verschiedener Subgenres, räumen aber auch ein, dass bestimmte Werke damit nicht adäquat oder gar nicht erfasst werden können. Die Zahl der angegebenen Subgenres schwankt meist zwischen zwei bis vier, wobei häufig betont wird, dass diese Grundtypen in weitere, nur schwer eingrenzbare Mikroformen zerfallen. Nusser (2009) geht beispielsweise von einer grundsätzlichen Opposition von Detektivroman und Thriller aus und stellt in einem separaten Kapitel Werke vor, die nicht in diese Kategorien passen.7 Nünning (2008) geht von drei wesentlichen Traditionslinien aus (classic detective novel/golden age, hard-boiled fiction/private eye und thriller); bei Scaggs (2005) sind es vier (mystery and detective fiction, hard-boiled mode, police procedural, crime thriller), wobei der historische Kriminalroman bei ihm noch eine weitere, allerdings nicht strukturell, sondern inhaltlich bestimmte Unterkategorie bildet. Vanoncini (2002 [1993]) schlägt zunächst ein Modell von konzentrischen Kreisen vor, das die Koexistenz von besonders häufig vorkommenden Formen und weniger typischen verbildlicht, orientiert sich dann aber an einer Einteilung in drei Haupttypen
Von der ersten bis zur aktuellen vierten Ausgabe hält Nusser an dieser Zweiteilung fest und erläutert die idealtypische Form des Detektivromans und des Thrillers (Kapitel 2). Die Ausführungen über die in diese zwei Gruppen nicht passenden Werke hat er kontinuierlich erweitert. Sie bilden das letzte Teilkapitel seines geschichtlichen Abrisses und werden als "Neuansätze" präsentiert. Darin behandelt er beispielsweise Romane, die aus der Täter- oder Opferperspektive erzählt werden (Nusser 2009: Kapitel 3.5).
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Einleitung
(roman problème, roman noir und roman à suspense) und behandelt davon abweichende Romane ebenfalls in einem eigenen Kapitel. Rushing weist mit seiner Aufzählung von zahllosen thematischen Mikroformen des Kriminalromans fast ironisch auf die Unmöglichkeit einer sinnvollen Einteilung hin. Er führt an, dass es heutzutage für jeden Geschmack maßgeschneiderte Detektivromane gibt: "detective novels about Jane Austen, about Jaine Austen, about cats, about horse racing, about crossword puzzles, about catering, about beauticians, about chocolate" (Rushing 2007: 25). In Bezug auf den Thriller spricht Scaggs von einer "bewildering variety of different 'versions'" (Scaggs 2005: 108). Diese umfasse "legal thrillers, spy thrillers, racing thrillers, psychological thrillers, futuristic thrillers, political thrillers, cyberpunk thrillers, gangster thrillers, serial killer thrillers, heist thrillers" (ebd.).8 Neben der Suche nach gattungskonstitutiven Regeln und Strukturen wird die wissenschaftliche Diskussion von einem Ansatz dominiert, der das Abweichen von dieser "Norm" untersucht und insofern als "deviationistisch" bezeichnet werden kann. Für Horsley (2005: 2) stellen populäre Genretexte eine Dialektik zwischen Ordnung und Neuheit beziehungsweise Schema und Innovation her. Diese Dialektik müsse vom Leser erkannt werden, damit er nicht nur den Inhalt der Nachricht begreift, sondern auch die Art und Weise, wie die Nachricht diesen Inhalt vermittelt: "This interplay between a known form and the constant variation of that form is what vitalizes genre fiction […]" (Horsley 2005: 5). Damit bestätigt Horsley die Anschauung von Knight (2004) und Priestman (2003). Auch Hilfer (1990) und Gregoriou (2007) gehen von der Grundüberlegung der Abweichung aus, wie bereits aus den Titeln, A Deviant Genre (Hilfer) und Deviance in Contemporary Crime Fiction (Gregoriou), hervorgeht. Diese Argumentationsweise, so fruchtbar sie auch sein mag, stößt dort an ihre Grenzen, wo es darum geht, die "Norm" zu benennen und zu begründen. Die "Norm" des Kriminalromans basiert für die Vertreter dieses Ansatzes entweder auf den Erzählungen Edgar Auch Forschungsarbeiten, die sich auf Kriminalromane eines Landes, Kulturraums oder bestimmter Autoren spezialisieren, beginnen in der Regel mit gattungstheoretischen Überlegungen, wie beispielsweise Burtscher-Bechter (1999), Christian (2001), Abt (2004), Meintel (2008) oder Krabbe (2010). Dennoch haben sie keine innovativen gattungspoetischen Ansätze in die Diskussion eingebracht, sondern fassen in der Regel die bestehenden Meinungen zusammen. Krabbe betont in ihrem Kapitel zur Theorie und Geschichte des Kriminalromans sogar, dass ein Neuansatz nicht in ihrem Interesse liegt: "Hierbei werden keinerlei neue Erkenntnisse erlangt […]" (Krabbe 2010: 27). Dieser allgemeine Befund soll natürlich nicht die individuelle Leistung der Arbeiten in Frage stellen, die vor allem in ihrer kulturspezifischen Perspektive liegt. Einen Sonderfall der Forschung stellt überdies der sozialgeschichtliche Ansatz von Mandel (1987) dar, der in der späteren Kritik nicht weitergeführt wurde, da er eine zu direkte Verbindung zwischen der außersprachlichen Wirklichkeit und den Werken gezogen hat. Außerdem liegen Untersuchungen zu feministischen und gender betreffende Fragestellungen vor (z. B. Forter 2000). Auch die Darstellung ethnischer Minderheiten wurde (kulturwissenschaftlich) untersucht (z. B. Pepperrell 2000), jedoch fast ausschließlich im Hinblick auf US-amerikanische Romane. 8
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Einleitung
Allan Poes, die als die Gründungstexte der Gattung gelten, auf den Sherlock-Holmes-Geschichten, den englischen Rätselromanen und/oder den amerikanischen hard-boiled-novels. Warum diese jedoch immer noch für das ganze Genre normativ sein sollen, wird nicht präzisiert. Dazu kommt, dass die Postulierung des devianten Schreibens als Usus in der Kriminalliteratur eigentlich zu dem Schluss führen müsste, dass die Norm aufgeweicht oder zumindest entkräftet wird, da die "normativen" Werke weder quantitativ noch qualitativ die devianten überbieten können. Die Devianz wird in der Regel sogar als besonderes Qualitätsmerkmal von Kriminalromanen gewertet, was zu einer unterschwelligen, aber nicht immer gerechtfertigten Abwertung der "Norm" als etwas nicht Transgressivem führt. Trotz allem entbehrt dieser Ansatz nicht einer gewissen Berechtigung. Zeitgenössische Texte, die explizit an die großen Traditionslinien der Kriminalliteratur anknüpfen, fordern ein derartiges Vorgehen des Interpreten geradezu ein. Bei vielen neueren Kriminalromanen sind die Einflüsse jedoch so vielseitig und die historische Distanz zu den Urvätern des Genres so groß, dass dieses Verfahren überdacht werden muss. Hier gilt es zu überprüfen, auf welcher Ebene diese "Norm" überhaupt anzusetzen ist (als eine bestimmte Anzahl von benennbaren, empirisch vorliegenden Einzeltexten oder als mehr oder weniger fixer Erwartungshorizont) und von welchen Elementen die Abweichung ausgeht (von Strukturen und Figurentypen oder Ideologemen und Schreibweisen). In der vorliegenden Untersuchung vertrete ich einen "deviationistischen" Ansatz, der nicht bestimmte Werke als "normativ" setzt, sondern stattdessen mit dem Erwartungshorizont des Lesers qua "Pseudonorm" operiert.9 Des Weiteren erscheint mir die Betrachtung der Abweichung von traditionellen Strukturen in heutiger Zeit nicht mehr erkenntnisfördernd, weswegen im Folgenden vorrangig nach ideologischen Prämissen und narratologischen Strategien gefragt werden soll. Es fehlt noch ein kurzer Blick auf den Forschungsstand zum lateinamerikanischen Kriminalroman: Obwohl die Gattung seit zwanzig bis dreißig Jahren in den meisten lateinamerikanischen Ländern einen regelrechten Boom erlebt und viele namhafte Autoren einen Beitrag dazu geleistet haben, ist ihre Untersuchung noch ziemlich lückenhaft. Immerhin liegen mittlerweile mehrere Monografien zur Kriminalliteratur einzelner lateinamerikanischer Länder vor. Sie werden in Kapitel 2.4 je zu Beginn der einzelnen Abschnitte genannt. Die meisten Monografien richten nach einer kurzen, generalisierenden, gattungstheoretischen
Der Perspektivenwechsel hin zum Leser wurde schon von Suerbaum (1984) vorgenommen. Er definiert den Kriminalroman als bestimmte Leseweise eines Textes, die sich als "System von Fragen und Antworten" (Suerbaum 1984: 22) beschreiben lässt. Trotz des Perspektivenwechsels bleibt bei ihm das formale Bestreben evident: Der Kriminalroman wird als Formula verstanden.
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Einleitung
Einleitung ihr Hauptaugenmerk auf die Darstellung der diachronen Entwicklung des Genres in dem jeweiligen Land. Zwar stellen sie eine Fundgrube für Autoren und Titel dar, erlauben aber noch keinen den ganzen Kulturraum umfassenden Blick. Das erste komparatistische Werk ist das von Amelia S. Simpson (1990). Darin werden die La-PlataLänder, Brasilien, Mexiko und Kuba behandelt. Allerdings beherrscht auch hier die gattungsgeschichtliche Perspektive die Kapitel, wohingegen der synchrone Vergleich zwischen den Ländern nur punktuell berücksichtigt wird. Außerdem fehlen neuere Autoren wie Patrícia Melo, Pablo De Santis, Élmer Mendoza oder Leonardo Padura, die in der vorliegenden Arbeit untersucht werden.10 Persephone Braham (2004) vergleicht den mexikanischen mit dem kubanischen Kriminalroman und Glen S. Close (2008) die Kriminalliteratur der Metropolen Mexiko-Stadt, Bogotá, Buenos Aires und Barcelona. Andere länderübergreifende Vergleichsstudien liegen noch nicht vor. Ziel dieser Arbeit ist es daher, einen ersten Vorstoß in diese Richtung zu unternehmen und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Kriminalliteratur verschiedener lateinamerikanischer Länder in den Mittelpunkt zu rücken.
10 Parallel zur Erstellung der vorliegenden Forschungsarbeit habe ich Interviews mit zehn Kriminalautoren geführt und in Buchform veröffentlicht (Wieser 2010). Das Gespräch mit den Autoren zu suchen, schien mir von enormer Wichtigkeit für mein Vorhaben, gerade weil deren Werke noch kaum literaturwissenschaftlich untersucht und kontextualisiert wurden. Der ähnliche Aufbau der Interviews mit einigen sich wiederholenden Leitfragen sowie solchen, die auf die einzelnen Werke eingehen, ermöglicht es, die Positionen der Schriftsteller einander gegenüber zu stellen, was ich innerhalb dieser Arbeit an unterschiedlichen Stellen tun werde.
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1. Das Genre "Kriminalroman" 1.1. Begrifflichkeit Das Deutsche und das Englische verfügen über einen praktischen Oberbegriff für die Gruppe von literarischen Werken, um die es im Folgenden gehen wird. Unter dem Begriff "Kriminalroman" beziehungsweise "crime novel" werden in der Alltags- und literaturwissenschaftlichen Fachsprache eine Reihe von Romantypen zusammengefasst, die literarhistorisch, systemreferenziell und paratextuell aufeinander bezogen sind, wenn sie auch in ihrer konkreten Ausprägungsform deutlich voneinander divergieren. Einige dieser Subgenres sind der "Detektivroman", "schwarze Roman", "Thriller", "Spionageroman", "Polizeiroman" oder "Agentenroman".1 Die Trennlinien zwischen den Teilphänomenen sind äußerst unscharf und die Klassifizierungskriterien einmal inhaltlicher, einmal formaler Natur. Eine systematische Einteilung des Genres "Kriminalroman" oder gar der "Kriminalliteratur" (wenn man die Kurzformen "Kriminalerzählung", "Kriminalnovelle" sowie das weniger verbreitete "Kriminaltheater" miteinbezieht) in Subgenres gibt es bis zum heutigen Stand der Forschung im deutschen oder englischen Sprachraum ebenso wenig wie in der Romania und ist auch angesichts der starken Überschneidungen der unterschiedlichen Traditionslinien der vergangenen Jahrzehnte kaum zu leisten beziehungsweise gar nicht erstrebenswert. Hier kann es nur noch um ein Mehr oder Weniger gehen. Dem Spanischen fehlt ein Oberbegriff mit gleich weitreichender Gültigkeit wie im Deutschen und Englischen. Man findet zwar hin und wieder die wörtliche Entsprechung für "Kriminalroman" bzw. "crime novel",
Wie in der Einleitung erwähnt, herrscht Uneinigkeit darüber, wie viele Unterarten die Gattung aufweist. Als Oberbegriff hat sich jedoch "Kriminalroman" etabliert. Richard Alewyn, einer der ersten Literaturwissenschaftler in Deutschland, der sich mit dem Kriminalroman befasst hat, unterschied den "Detektivroman" noch streng vom "Kriminalroman": "Der Kriminalroman erzählt die Geschichte eines Verbrechens, der Detektivroman die Geschichte der Aufklärung eines Verbrechens" (Alewyn 1998 [1968/1971]: 53). Wie wenig tragbar diese Unterscheidung ist, zeigte Richard Gerber anhand der Sherlock-Holmes-Geschichten (Gerber 1998 [1966]: 75f.). Er nennt sie eine "Pseudodistinktion", da beide Typen in Wirklichkeit nie in Reinform vorkommen (ebd.: 78). Da dies außerdem dem alltäglichen Sprachgebrauch entgegenlief, konnte sich Alewyns Ansatz nicht durchsetzen und "Kriminalroman" blieb der Oberbegriff. Volker Meid bestätigt dies auch in seinem Sachwörterbuch zur deutschen Literatur (Meid 1999: 185). Dennoch findet man die Trennung von "Kriminal-" und "Detektivroman" auch heute noch. Gero von Wilpert fasst in seinem Sachwörterbuch der Literatur unter "Kriminalroman" nur solche Werke, in denen das Verbrechen nicht analytisch als Denksportaufgabe dargestellt wird, und stellt den Begriff neben den des "Detektivromans" (Wilpert 2001: 436).
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Das Genre "Kriminalroman"
nämlich "novela criminal", sie bildet jedoch nicht den Oberbegriff zu den anderen verbreiteten Ausdrücken "novela policial" und "novela negra", sondern wird entweder synonym zu diesen verwendet (z. B. bei Pérez 2000) oder entgrenzend im Sinne einer "Verbrechensliteratur"2 (z. B. bei Colmeiro 1994: 55). Der relativ selten verwendete Ausdruck "novela criminal", der seit den 1970er Jahren sporadisch in literaturwissenschaftlichen Arbeiten auftaucht,3 drang erst in den letzten Jahren etwas stärker in den allgemeinen Sprachgebrauch ein (wie zum Beispiel auf Fan-Seiten im Internet). Auffällig dabei ist, dass der Terminus fast ausschließlich in Spanien benutzt wird.4 Die gängigste und allgemeinste Bezeichnung für das Genre lautet im Spanischen "novela policiaca" beziehungsweise "policíaca" oder "policial". Welches Adjektiv gewählt wird, liegt an persönlichen Präferenzen des Autors, Kritikers oder Literaturwissenschaftlers sowie am diatopischen Usus. In fast allen lateinamerikanischen Ländern wird "policial" bevorzugt, in Spanien und Mexiko "policíaca" und "policiaca".5 Obwohl der spanische Begriff in seiner wörtlichen Bedeutung nahelegt, dass es in den Romanen um Polizisten oder Polizeiarbeit geht, wird er auch für Werke verwendet, in denen dies nicht der Fall ist.6 Autoren wie Kritiker beziehen sich damit aber häufig nicht auf das ganze Genre, sondern nur auf den Teilbereich der "Detektiv- oder Rätselromane", bei denen die Ermittlung das zentrale handlungskonstituierende Element darstellt Zur Problematik des Begriffs "Verbrechensliteratur" oder "Verbrechensdichtung" siehe Teilkapitel 1.2 (Abschnitt 1). 3 Anwendung findet er beispielsweise bei Román Gubern (Hg.), La novela criminal (1970), oder bei José R. Valles Calatrava, La novela criminal española (1991). 4 Als Indiz dafür, dass der Begriff "novela criminal" in Lateinamerika wenig gebräuchlich ist, können die Suchkategorien von großen spanischsprachigen Buchhandlungen gelten. Bei der Librería Gandhi in Mexiko (www.gandhi.com.mx) heißt die entsprechende Sektion "policiaca", bei der Librería Santa Fe (www.lsf.com.ar) in Argentinien "policial-suspenso-novela negra". Der fehlende Eintrag des Ausdrucks "novela criminal" bei Wikipedia deutet ebenfalls darauf hin, dass der Terminus nicht gebräuchlich ist. Wikipedia spiegelt wie kein anderes Medium gleichermaßen den Sprachgebrauch von Fans und Experten wieder. Auch die lateinamerikanischen Autoren, mit denen ich in den vergangenen Jahren Interviews geführt habe, benutzen den Ausdruck "novela criminal" nicht. 5 Gustav Siebenmann gibt im Literaturwissenschaftlichen Wörterbuch für Romanisten (1989) an, dass in Spanien das Adjektiv "policíaca" und in Hispanoamerika das Adjektiv "policial" verwendet wird (Siebenmann 1989: 191), was sich mit meinem Befund, zwanzig Jahre später, weitgehend deckt. Die von mir interviewten lateinamerikanischen Autoren aus Argentinien, Chile, Cuba und Peru, verwenden den Begriff "novela policial" sowie "novela negra". In Mexiko ist jedoch "novela policiaca" gebräuchlicher, wie im Interview mit Élmer Mendoza zu erkennen ist (Wieser 2010). In der vorliegenden Arbeit wird das Adjektiv "policial" bevorzugt, da es in den meisten lateinamerikanischen Ländern verwendet wird. 6 Der eigentliche "Polizeiroman" (engl. "police procedural") entstand erst bei Ed McBain (ab 1956), wenn man von Simenons Polizisten Maigret (ab 1930) absieht, der im Prinzip wie ein Privatdetektiv arbeitet, da er nicht in ein größeres Team eingebunden ist, wie bei der Polizei üblich. Der "Polizeiroman" stellt die Polizeiarbeit (einigermaßen) realistisch als Teamwork von vielen Spezialisten dar. Erben Ed McBains sind vor allem in Film und Fernsehen präsent, unter anderem in den CSISerien. 2
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Begrifflichkeit
und für die man auch die enger gefassten Begriffe "novela de detectives", "novela de enigma" und "novela problema" findet. Wer die Ermittlung durchführt, ist dabei zweitrangig. So hält es auch der in Sachen spanischer Kriminalliteratur tonangebende Literaturwissenschaftler José F. Colmeiro: […] "novela policiaca" no designa solamente, como su nombre indicaría, la narración de las pesquisas policiales, sino toda narración inquisitiva alrededor del fenómeno del crimen (en la que es frecuente, pero no necesario, la participación de un detective, ya sea oficial, privado o aficionado) (Colmeiro 1994: 54).
Auch amerikanische hard-boiled detective novels, bei denen die Ermittlungsarbeit noch im Zentrum steht, aber mit anderen Strukturelementen (Verfolgung, Handgefechte, Schusswechsel etc.) kombiniert wird, werden häufig als "novelas policiales" bezeichnet (z. B. bei Close 2006: 143f.). Der Begriff "novela negra", der in Anlehnung an den französischen "roman noir"7 entstanden ist, benennt in der Regel das andere große Subgenre des Kriminalromans, nämlich die Gruppe derjenigen Romane, die in besonders harten, rauen und gewalttätigen Settings spielen, und/oder sich strukturell nicht über die Darstellung der Ermittlung definieren lassen und/oder ihr Interesse von der Lösung des whodunit auf psychologische, politische oder gesellschaftliche Aspekte verlagern. Häufig wird auch die hard-boiled detective novel als "novela negra" bezeichnet und sogar ein strukturell klassisch angelegter Rätselroman wie Adiós, Hemingway (2003) von Leonardo Padura trägt auf dem Umschlag die Gattungsbezeichnung "novela negra", was sowohl der Unschärfe der Begriffe zuzuschreiben ist als auch der Tatsache, dass die Übergänge vom einen zum anderen Subgenre fließend sind. Auch in Colmeiros Einschätzung führen diese Überschneidungen zu einer begrifflichen Unschärfe, die er folgendermaßen auf den Punkt bringt: "Ambos conceptos ['novela negra' y 'novela policiaca'] tienen en común la temática delictiva, pero ni toda novela policiaca es 'negra' (como en el caso de la novela-enigma) ni tampoco toda novela negra es 'policiaca' (tal como las novelas de Cain o McCoy)" (Colmeiro 1994: 57). Da es dem Spanischen folglich an einem passenden Hyperonym für das ganze Genre mangelt, schlägt Paco Camarasa, Geschäftsführer der Buchhandlung Negra y Criminal in Barcelona und Organisator des Lite-
In der französischen Literaturwissenschaft wird der Begriff "roman noir" auch in der Bedeutung von "roman gotique", das heißt "Schauerroman" verwendet. Die Bedeutung "Kriminalroman" erhielt er in Frankreich erst in der Nachkriegszeit, als amerikanische hard-boiled novels in Anlehnung an den Titel des Krimi-Magazins Black Mask als série noire vermarktet wurden (Colmeiro 1994: 56). Mit "roman noir" werden heute Werke bezeichnet, die sich durch eine "düstere, pessimistische, destruktive Tendenz der Darstellung" verbunden mit Sozialkritik auszeichnen (Hess 1989: 388). 7
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Das Genre "Kriminalroman"
raturevents BCNegra, in einem Interview als Überbegriff "género negrocriminal" vor:8 Nosotros llamamos al género negrocriminal. Así englobas todas las distintas tendencias. Si dices novela negra, no entra ni la Christie, ni Conan Doyle, ni la de enigma más clásica, ni los thrillers, ni las de espías. Creemos que negrocriminal es más completo (Sánchez 2009).
Dieser Terminus enthält sowohl die Komponente des französischen "noir" als auch die thematische Komponente "Verbrechen", die auch im deutschen Wort "Kriminalroman" sowie im englischen "crime novel" anklingt, und scheint daher für die schnelle Verständigung als Oberbegriff geeignet zu sein. Ob er sich im allgemeinen Sprachgebrauch und als fachsprachlicher Terminus durchsetzen kann, ist jedoch abzuwarten. Ein zum deutschen, englischen (und spanischen) analog gebildeter Begriff wie "romance criminal" ist im Portugiesischen nicht gebräuchlich. Auch die Termini "romance de mistério" oder "romance de enigma" sind keinesfalls etabliert.9 In den wenigen portugiesischsprachigen Fachtexten zum Thema "Kriminalliteratur" werden sie jedoch gelegentlich in Analogie zu den englischen Begriffen "detective novel" und "mystery novel" verwendet. Dass das Portugiesische hier eine weniger differenzierte Begriffsauswahl bietet, führt dazu, dass der einzige, wirklich gängige Terminus, "romance policial", als Passepartout-Begriff dem Gültigkeitsbereich von "Kriminalroman" und "crime novel" sehr nahe kommt. Um die klassischen Untergattungen zu bezeichnen, kombiniert Reimão in ihrer kleinen Einführung zum Kriminalroman "romance policial" mit weiteren Attributen, also "romance policial enigma" und "romance policial noir" (Reimão 2005: 11, kursiv im Original). Dass sie das französische Adjektiv verwendet, ist symptomatisch. Im Portugiesischen existiert zwar der Ausdruck "romance negro", der an den spanischen Begriff "novela negra" beziehungsweise den französischen "roman noir" erinnert, doch wird er in aller Regel nicht in dieser Bedeutung verwendet. Er bezeichnet den "Schauerroman" ("gothic novel"), der zwar in gewisser Weise mit dem Kriminalroman verwandt ist und einer seiner wichtigsten Vorläufer darstellt, jedoch durch seinen Schwerpunkt auf die Erzeugung von Schauereffekten durch unheimliche oder übernatürliche Ge-
Diese Buchhandlung ist ein zentraler Bezugspunkt für Autoren, Leser, Kritiker und Verleger des Kriminalromans, da sie eine Vielzahl von Lesungen und Buchpräsentationen veranstaltet und ihre Mitarbeiter persönlichen Kontakt zu den Autoren pflegen. 9 Medeiros e Albuquerque weist darauf hin, dass das Adjektiv "policial" nicht genau zum Gegenstand passt und das Genre eigentlich "romance criminal" (Albuquerque 1979: 3, kursiv im Original) heißen müsste, gibt sich dann aber mit dem alltagssprachlichen "romance policial" zufrieden: "De qualquer forma, à denominação romance policial, certa ou errada, ficou para indicar o gênero literário. E, se bem que a julguemos errada, continuaremos a empregá-la na falta de outra melhor" (Albuquerque 1979: 4). 8
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Begrifflichkeit
stalten und Settings vom Kriminalroman zu unterscheiden ist.10 Die Übersetzung von "novela negra" als "romance negro" ist im Portugiesischen bisher äußerst selten, taucht aber in jüngerer Zeit manchmal in Bezug auf spanischsprachige Werke auf. So wurde Luisa Valenzuelas Roman Novela negra con argentinos (1990) mit dem Titel Romance negro com argentinos ins Portugiesische übertragen. Im portugiesischen Diário de Notícias erschien im März 2007 außerdem die Schlagzeile "Eugénio Fuentes, o espanhol 'renovador' do romance negro" (Lucas 2007). Auch Rubem Fonseca hat einer seiner Kriminalerzählung den Titel "Romance negro" (1992) verliehen.11 Möglicherweise wird sich der Begriff über den Kontakt mit dem Spanischen und Französischen auch im Portugiesischen einbürgern. Die Begriffsarmut des Portugiesischen deutet momentan aber noch darauf hin, dass das Genre in den lusophonen Ländern deutlich weniger stark verwurzelt ist als in Hispanoamerika und Spanien. Im spanischsprachigen Kontext findet man über die bereits erwähnten Begriffe hinaus auch die Prägungen "novela neopolicial" ("neopoliciaca"/"neopolicíaca") und "nueva novela policial" ("policiaca"/"policíaca") für Romane, die ab den 1980er Jahren entstanden sind, was auf einen Paradigmenwechsel innerhalb der spanischsprachigen Kriminalliteratur hindeutet.12 Leonardo Padura überträgt diese neue Bezeichnung geografisch auch auf Brasilien, wenn er vom "neopolicial iberoamericano" spricht (Padura 2000: 138). Damit bezeichnet er eine bestimmte Richtung des iberoamerikanischen Kriminalromans und zwar diejenige, die in der Form einer littérature engagée Gesellschaftskritik betreibt. Die Autoren des "neo" berufen sich auf die Tradition der amerikanischen hard-boiled (detective) novel, verändern deren Strukturen und Inhalte jedoch, indem sie sie auf völlig neue Kontexte beziehen. Vor allem bei Paco Ignacio Taibo II enthält der "neo" auch eine politisch-ideologische Botschaft. Frank Leinen, der die Bedeutung des Begriffs anhand von Taibos Romanen herausgearbeitet hat, sieht in ihrer "markante[n] oppositionelle[n] Funktion" ein wesentliches Merkmal (Leinen 2002: 265). Persephone Braham beschreibt den "neo" in ihrer Forschungsarbeit über den mexi-
Die synonyme Verwendung von "romance negro" und "romance gótico" im Portugiesischen kann anhand verschiedener Lexika belegt werden, beispielsweise durch den entsprechenden Eintrag im E-Dicionário de Termos Literários. Das E-Dicionário bestätigt auch die Verwendung von "romance policial" als Oberbegriff für das Genre des Kriminalromans im Portugiesischen. 11 In Fonsecas Erzählung nimmt ein nordamerikanischer Kriminalautor am Festival International du Roman et du Film Noir in Grenoble teil. Einer seiner Kriminalromane trägt den Titel Romance negro, wie der Titel der Erzählung. Durch den Schauplatz und die Thematik wird in dieser Erzählung die Anlehnung an den französischen Begriff deutlich. 12 Entsprechend der schon erwähnten regionalen Unterschiede wird der Begriff "novela neopolicial" häufig von Leonardo Padura aus Kuba verwendet wohingegen bezüglich der Werke von Paco Ignacio Taibo II aus Mexiko meist von einer "nueva novela policiaca" gesprochen wird (z. B. Leinen 2002). 10
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Das Genre "Kriminalroman"
kanischen und kubanischen Kriminalroman als urban und atmosphärisch. Er präsentiere außerdem eine irrationale und gewalttätige Welt (Braham 2004: xiii). Ignacio Corona charakterisiert die "novela neopolicial" inhaltlich dadurch, dass ihr Schwerpunkt auf einer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen, kollektiven Verbrechen liegt, wohingegen individuelle Verbrechen zurückstehen. Der Gesellschaftsvertrag werde im "neo" als instabil dargestellt, was auch epistemische Folgen habe: Dort wo Vertreter des Systems die Spuren eines Kriminalfalls verwischen, ist eine Überführung des Täters nicht mehr möglich (Corona 2005: 184). Führt man diese Merkmale zusammen, so ergibt sich, dass der "neo" eine bestimmte Strömung innerhalb der Entwicklungsrichtungen des Kriminalromans in Lateinamerika darstellt. Der Begriff lässt sich allerdings literarhistorisch nicht begründen, da die hier genannten Merkmale bereits in früher entstandenen Kriminalromanen nachweisbar sind, so dass es sich nicht um einen Paradigmenwechsel handelt, sondern nur um eine Schwerpunktsetzung auf bestimmte Eigenschaften, die die Gattung immer schon (auch im angelsächsischen Raum) mit sich führte. Die Klärung der Begrifflichkeit in den verschiedenen Sprachen bliebe nutzlos ohne eine genauere Erläuterung, welche Art von Werken hier mit dem Hyperonym "Kriminalroman" bezeichnet werden. Zwar funktioniert im Alltag eine schnelle Verständigung darüber, was ein Kriminalroman ist, sehr gut, dies darf die Literaturwissenschaft aber nicht dazu verleiten, auf eine Beschreibung des Gegenstands zu verzichten, die der Natur der Sache nach approximativ bleiben muss. 1.2. Annäherung an die Gattungsbestimmung Für die Bestimmung einer literarischen Gattung oder eines Genres1 kennt die Literaturwissenschaft bis zum gegenwärtigen Stand der Forschung keinen zuverlässigen Kriterienkatalog, dessen Applikation bei jeder Gattung zu einem adäquaten Ergebnis führen würde. Vielmehr sind es immer andere Kriterien, die eine Gattung bestimmen; bald sind es thematische, bald formale oder funktionale Merkmale. Der Grund dafür liegt darin, dass Gattungen keine Objekte sind, die Literaturwissenschaftler, Leser und Autoren als gegeben vorfinden. Es handelt sich vielmehr um Konstrukte, die erst durch die spezifische Wahrnehmung des Betrachters generiert werden (Neumann/Nünning 2005: 5).2 Wie
In dieser Arbeit werden die Begriffe "Gattung" und "Genre" synonym verwendet. Trotz der Schwierigkeiten der Gattungseingrenzung und ihrer Unschärfe, bringt sie für alle an der literarischen Kommunikation Beteiligten Vorteile. Kein Autor schreibt ausschließlich eigene Gedanken nieder, sondern schöpft aus einer Tradition, auf die er sich bezieht und von der er sich
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Annäherung an die Gattungsbestimmung
genau entstehen aber diese Konstrukte? Wie kann man einen Einzeltext einer vorher durch bestimmte Kriterien definierten Gattung zuweisen, wenn dieses Gattungsverständnis gleichzeitig von den Einzeltexten abgeleitet wird? Ist beim "Konstruieren" einer Gattung eher ein induktives oder deduktives Verfahren anzuwenden? Klaus W. Hempfer empfiehlt in seinem immer noch gültigen Werk zur Gattungstheorie von 1973 ein rezeptionsästhetisch-konstruktivistisches Verfahren, das eine "dialektische Vermittlung von Induktion und Deduktion" vollzieht (Hempfer 1973: 136). Er geht von den konkreten Kommunikationsbedingungen aus, in denen Werke entstehen, und betrachtet Gattungen als "kommunikative Normen", "im Sinn von mehr oder minder internalisierten 'Spielregeln', nicht im Sinn von präskriptiven Postulaten" (ebd.: 223). Daher empfiehlt er, solche Texte zu Gattungen zusammenzufassen, die von den zeitgenössischen Rezipienten als zusammengehörig empfunden werden. Festlegungen durch den Autor, textimmanente Traditionsbezüge und poetologische Reflexionen der Zeit sind ebenfalls zur Korpusbildung hinzuzuziehen (ebd.: 135f.). So wird die Gattungsbestimmung nicht taxonomisch gesetzt, sondern geht von einer empirisch vorhandenen Textgruppenbildung aus, was in einem zweiten Schritt eine Neuinterpretation des Gattungsverständnisses ermöglicht (ebd.: 136). Diese Überlegungen sollen der Ausgangspunkt für die folgende Bestimmung des Kriminalromans sein. Für den Umgang mit dem Textkorpus empfiehlt Hempfer, mit dem Strukturbegriff des Logikers und Psychologen Jean Piaget zu arbeiten und Gattungen wie Strukturen zu behandeln. Danach stehen die konstitutiven Elemente von Strukturen nicht gleichberechtigt neben- sondern in spezifischer Relation zueinander und können im Rahmen der Gesetze der Struktur durch Transformationen verändert werden. Bei der Bestimmung von Gattungsmerkmalen gilt es daher, zuerst herauszuarbeiten, was allen Texten des Korpus gemeinsam ist. Je größer das Korpus, desto höher muss die Abstraktionsebene angesetzt werden und desto geringer wird die allen gemeinsame Merkmalsmenge am Ende sein. Dies ist auch in den folgenden Ausführungen zum Kriminalroman spürbar, da, wie oben erwähnt, der Begriff "Kriminalroman" sowohl in der Alltags- wie auch in der Wissenschaftssprache als Hyperonym für
gleichzeitig absetzt. Das Schreiben innerhalb einer Gattung kann den kreativen Prozess sowohl erschweren, weil eine Tradition einen Maßstab setzt, als auch erleichtern, weil sie ein Repertoire an Themen, Strukturen, Konfigurationen, Motiven etc. bereitstellt. Für Leser bieten Gattungen Orientierung bei der Auswahl neuer Bücher. Aber auch intertextuelle Bezüge der Werke einer Gattung zueinander können den Genuss des Lesers steigern. Umgekehrt ermöglichen Gattungen auch für Verlage und Buchhandlungen ein gezieltes Marketing. Aus der Sicht der Literaturwissenschaft erfüllen Gattungen den Sinn, dass einander ähnliche Werke in eine Gruppe zusammengefasst und in ihrer Bezogenheit aufeinander vergleichend untersucht werden können. Dies erlaubt die Erarbeitung von Übersichtswissen über ein großes Feld von Werken.
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Das Genre "Kriminalroman"
ein sehr großes, heterogenes Feld von Texten verwendet wird. Nach der Bestimmung der gemeinsamen Merkmale werden diese hierarchisiert, das heißt, es wird eine "Dominante" ermittelt, die die ihr untergeordneten Elemente beeinflusst (ebd.: 137f.). In einem weiteren Schritt wäre nach Hempfer zu bestimmen, welche möglichen Transformationen mit den Einzelelementen durchführbar sind, so dass eine relativ oder absolut konstante Tiefenstruktur von den historisch wandelbaren Transformationen, das heißt den historischen Realisierungen bzw. Oberflächenstrukturen unterscheidbar wird (ebd.: 141). Die Tiefenstruktur soll laut Hempfer durch das Prinzip der "abstraction réfléchissante" erstellt werden, welche nicht über die Objekte, sondern über die Handlungen (z. B. ordnen, in Beziehung setzen), die man mit ihnen vollziehen kann, gekennzeichnet ist. Das Ziel gattungstheoretischer Überlegungen kann jedoch nicht sein, alle möglichen Transformationen vorauszudenken, sondern umgekehrt zu ermitteln, ob ein konkreter Text auf eine bestimmte Tiefenstruktur rückführbar ist. Gattungen verändern sich außerdem nicht nur durch Transformationen ihrer Grundelemente, sondern auch durch Überlagerungen mit anderen Gattungssystemen. Dies wird laut Hempfer dann erkennbar, wenn der Text auf unterschiedliche Tiefenstrukturen zurückgeführt werden kann (ebd.: 142). Will man die Gattung des Kriminalromans näher bestimmen, ist mit Hempfer von der Menge aller Texte auszugehen, die von den Rezipienten als Kriminalromane eingestuft und von den Autoren als solche (oder als eines der Subgenres) bezeichnet werden. Zunächst gilt es zu ermitteln, worin der kleinste gemeinsame Nenner all dieser Texte besteht. Geht man nach Hempfers Empfehlung außerdem von poetologischen Reflexionen seit Beginn der Entstehung des Kriminalromans aus, so wird schnell deutlich, dass thematische und formale Kriterien besonders häufig für die Gattungsbestimmung des Kriminalromans herangezogen werden. Im Folgenden wird zu fragen sein, ob sie für den Kriminalroman als "Dominanten" gelten dürfen und ob sie das Textkorpus zeitgenössischer Kriminalromane adäquat beschreiben. Hempfer fordert überdies die Berücksichtigung textimmanenter Traditionsbezüge, weswegen auch der Frage nach der systemreferenziellen Vernetzung des Textkorpus sowie des daraus entstehenden Erwartungshorizonts (Jauß) und Modell-Lesers (Eco) nachgegangen werden soll. Zusätzlich kann das Verhältnis des Kriminalromans zur außersprachlichen Wirklichkeit ein besseres Verständnis der Gattung fördern, da das allen Kriminalromanen gemeinsame Thema einen engen Bezug zu lebensweltlichen Kontexten vermuten lässt. Zuletzt soll nach Hempfers Empfehlung die Rolle der Festlegungen durch die Autoren genauer hinterfragt werden. Zieht man durch den Herausgeber oder Verlag vorgenommene Gattungsbezeichnungen hinzu, so kann man diesen Aspekt als "paratextuelle Zuschreibung" bezeichnen. Wörtche (2004) plädiert darüber hinaus für die 26
Annäherung an die Gattungsbestimmung
Miteinbeziehung der Steuerungsmechanismen des Literaturmarktes, die nicht nur über Paratexte funktioniert. Bei der folgenden Annäherung an die Gattung des Kriminalromans werden also alle an der literarischen Kommunikation beteiligten Personengruppen berücksichtigt: Forscher, Produzenten, Rezipienten und Distributoren. Hier noch einmal die Kriterien, die im Anschluss einzeln erläutert werden, zur Übersicht: 1) Thema 2) Form 3) Systemreferenz 4) Erwartungshorizont und Modell-Leser 5) Wirklichkeitsbezug 6) Paratexte und Vermarktung 1) Das Thema des Kriminalromans Der kleinste gemeinsame Nenner aller Lexikondefinitionen des Begriffs ist das thematische Kriterium "Verbrechen".3 Dazu kommt in der Regel als weiteres Kriterium die Verbrechensaufklärung, aber teilweise auch die Ursachen und Umstände, die zum Verbrechen führen (Vogt 1992: 495), kriminalistische Abenteuer (Siebenmann 1989: 191) und weitere Unterthemen. Die Rolle dieser Zusatzkriterien wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Lange Zeit (und zum Teil bis heute) versuchte man, zwei Arten von Werken, die im weitesten Sinne von Verbrechen handeln, durch die Begriffe "Verbrechensdichtung" und "Kriminalliteratur" voneinander abzugrenzen. Dieser Trennung liegt ein unbegründbares Werturteil zugrunde, das Kriminalliteratur als eine minderwertige und Verbrechensdichtung als eine hochwertige Gattung klassifiziert. Richard Gerber ließ sich sogar zu so diffamierenden Aussagen wie folgender verleiten: "Der Kriminalroman ist kastrierte Verbrechensdichtung" (Gerber 1998 [1966]: 75). Auf die Minderwertigkeit des Kriminalromans schließt er aufgrund der von ihm herausgearbeiteten thematischen Merkmale: "Die Verbrechensliteratur forscht nach dem Ursprung, der Wirkung und dem Sinn des Verbrechens und damit nach der Tragik der menschlichen Existenz. Der Kriminalroman aber lebt vom Motiv der Jagd" (Gerber 1998 [1966]: 79). Es verwundert daher kaum, dass Gerber im weiteren Verlauf seiner Argumentation Merkmale für den Kriminalroman angibt, die heute noch auf den trivialen Sektor des Genres und
Darin stimmen Siebenmann (1989: 191), Vogt (1992: 495), Meid (1999: 284), Wörtche (2000: 342) und Wilpert (2001: 436) überein.
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Das Genre "Kriminalroman"
seine mediale Umsetzung im Fernsehen zutreffen (vgl. dazu Kapitel 2.2). 1968 unterschied Richard Alewyn nicht mehr zwischen Verbrechensund Kriminalliteratur. Er bezeichnete Dostojewskis Schuld und Sühne sowie Faulkners Knight’s Gambit, die immer wieder als Beispiele für die sogenannte Verbrechensdichtung angeführt wurden, als "Kriminalromane höchsten Ranges" (Alewyn 1998 [1968/1971]: 52). Aber Peter Nusser greift in seinem in der "Sammlung Metzler" erschienenen Werk auf diese wertende Unterscheidung wieder zurück, was bei Generationen von Studierenden und Lehrenden Vorurteile gegenüber dem Kriminalroman geprägt hat.4 Nach Nusser beschäftigt sich Kriminalliteratur mit den "Anstrengungen, die zur Aufdeckung des Verbrechens und zur Überführung und Bestrafung des Täters notwendig sind" (Nusser 2003: 1), wohingegen Verbrechensliteratur sich mit Ursprung, Wirkung, Sinn und Motivation des Verbrechens sowie den "äußeren und inneren Konflikte[n]" des Verbrechers befasst.5 Dass diese Trennung Leser, Autoren und Rezensenten nicht befriedigen kann, liegt auf der Hand, haben sich doch klassische Autoren des Genres wie Hammett, Chandler, Simenon oder Boileau/Narcejac gerade mit den unter "Verbrechensliteratur" angeführten Merkmalen besonders intensiv auseinandergesetzt. Auch die meisten in dieser Arbeit behandelten lateinamerikanischen Romane würden nach dieser Auffassung zur Verbrechensliteratur gehören, obwohl ihre paratextuelle Zuschreibung eine andere Sprache spricht. Die Unterscheidung in Verbrechens- und Kriminalliteratur findet folglich lediglich eine literarhistorische Rechtfertigung, da sie dazu genutzt werden kann, Werke, die vor den gattungsinitiierenden Erzählungen Edgar Allan Poes entstanden sind, von späteren abzugrenzen.6 Werke, die sich mit dem Thema "Verbrechen" auseinandersetzen, hat es schon immer gegeben. Sie haben jedoch keine Reihe von Nachfolgern ausgelöst, das heißt, kein Genre begründet. Dies tat jedoch Sir Arthur Conan Doyle, als er mit seinen Sherlock-Holmes-Geschichten auf Poes Vorlage reagierte.7 In der von Gerber, Nusser und vielen anderen angegebenen Weise sind Verbrechensdichtung und Kriminalliteratur jedoch nicht 4 Beispielsweise benutzt Sonja Schneider in ihrer Magisterarbeit Der kubanische Kriminalroman unter besonderer Berücksichtigung der Tetralogie "Havanna Quartett" von Leonardo Padura (vorgelegt an der FU Berlin am 13.11.2006) durchgängig Nussers Einteilungen und Termini. 5 Auch die Australierin Cathy Cole nimmt eine derartige Unterscheidung vor, wenn sie Dickens, Conrad und Dostojewski aus der Kriminalliteratur ausklammert: "What sets crime writing apart from other writing is the way its narratives play out, the way the writer manages the process by which the reader enters the mystery." (Cole 2004: 12). Coles Begründung basiert jedoch auf formalen und nicht thematischen Kriterien und klammert die literarhistorische Verortung der genannten Werke aus. 6 Poes Erzählungen "The Murders in the Rue Morgue" (1841), "The Mystery of Marie Rogêt" (1842) und "The Purloined Letter" (1845) mit der Detektivfigur C. Auguste Dupin sowie "The Gold-Bug" (1843) gelten als Initialzünder für die Kriminalerzählung und infolgedessen den Kriminalroman. 7 Die intertextuellen Bezüge der Sherlock-Holmes-Geschichten zu den Auguste-Dupin-Erzählungen arbeitet beispielsweise Suerbaum heraus (Suerbaum1985: 60-69).
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unterscheidbar. Demnach könnten Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre (1786), Hoffmanns Fräulein von Scuderi (1819) oder Dostojewski Schuld und Sühne (1866), wenn sie heute erscheinen würden, als Kriminalerzählungen beziehungsweise -romane vermarktet, gelesen und interpretiert werden (vgl. dazu auch Punkt 3, "Systemreferenz"). Das Thema "Verbrechen" ist das einzige Merkmal, das allen Kriminalromanen gemeinsam ist, weswegen es nach Hempfer als seine "Dominante" gelten darf.8 Alle Ableitungen von dieser "Dominanten" stehen folglich auf einer hierarchisch untergeordneten Ebene.9 Ob der Fokus auf der Ermittlung, Verfolgung, Planung, der Motivation des Täters, den psychologische Folgen beim Opfer oder der gesellschaftlichen und politischen Dimension des Verbrechens liegt, ist von untergeordneter Bedeutung für die Klassifizierung eines Textes als Kriminalroman und für das Wiedererkennen der Gattung nicht konstitutiv. Vielmehr stellen all diese Ausprägungsformen mögliche Transformationen der Tiefenstruktur dar, die zunächst nur durch das Ereignis eines Verbrechens oder einer Gewalttat im weitesten Sinne gegeben ist. Dies impliziert lediglich, dass es einen Täter und ein Opfer gibt (s. Grafik 1). Wie mit diesem Ereignis umgegangen wird, betrifft die Ebene der Transformationen. Diese bedingen in erheblichem Maße den strukturellen Aufbau der Werke, was nun unter dem Kriterium "Form" diskutiert werden soll.
(Grafik 1: Tiefenstruktur des Kriminalromans)
8 Hans-Otto Hügel nimmt eine Eingrenzung auf eine bestimmte Art von Verbrechen vor, die er als "Kriminal-Verbrechen" (Hügel 2003: 467) bezeichnet. Damit bezieht er sich auf Verbrechen, die im Rahmen des Kriminalrechts strafwürdig sind, im Unterschied zu solchen, die "nur als böse Tat vor Gott oder vor Sittengesetz und Schicksal" (ebd.: 466) gewertet werden. Diese Unterscheidung ist beim zeitgenössischen (lateinamerikanischen) Kriminalroman wenig hilfreich, da dort häufig Verbrechen dargestellt werden, die von der Gesellschaft toleriert, staatlichen Institutionen unterstützt und nicht strafrechtlich verfolgt werden. 9 Auch aus Wörtches Definition kann diese Schlussfolgerung gezogen werden, da er den Kriminalroman zuallererst als "[t]hematisch definierte Form erzählender Prosa" bestimmt (Wörtche 2000: 342). Das Thema "Verbrechen" ist natürlich nicht nur in Bezug auf die anderen Merkmale dominant, sondern auch hinsichtlich des Raumes, den es im jeweiligen Werk einnimmt, damit ein Wiedererkennen der Gattung stattfinden kann.
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2) Die Form des Kriminalromans Über die Form des Kriminalromans wurde besonders viel geschrieben und debattiert. Vergleicht man die Definitionsversuche des Kriminalromans mit denen anderer Romangattungen (Bildungs-, Schelmen-, Abenteuer-, Schauer-, Liebesroman etc.), dann fällt auf, dass bei keinem die Versuche, feste Strukturregeln zu finden, mit derartiger Insistenz betrieben wurden wie beim Kriminalroman. Die Literaturwissenschaft bemüht sich seit Mitte bis Ende der 1960er Jahre verstärkt darum, für den Kriminalroman verbindliche Regeln oder Strukturmerkmale herauszuarbeiten und diese als gattungskonstitutiv zu postulieren. Die Vertreter dieses Ansatzes sind stark vom Strukturalismus geprägt und versuchen ähnlich wie schon Vladimir Propp in seiner Morphologie des Märchens (1928) oder Claude Lévi-Strauss in seiner Mythenanalyse (1960er Jahre), eine Vielzahl von Texten, das heißt Oberflächenstrukturen, auf ein Set von abstrakten Mustern bzw. Tiefenstrukturen (was hier nicht mit Hempfers Verwendung des Begriffs zu verwechseln ist) zurückzuführen. Besonders Tzvetan Todorovs Aufsatz "Typologie des Kriminalromans" (1966), in dem der bulgarische Wissenschaftler Strukturmerkmale für drei typische Formen des Kriminalromans ("Rätselroman", "schwarzer Roman" und "Spannungsroman") herausarbeitet,10 sowie Richard Alewyns Aufsatz "Anatomie des Detektivromans" (1968/1971) können für die nachhaltigen, aber nicht immer gewinnbringenden Folgen in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Genre verantwortlich gemacht werden.11 Diese Arbeiten schufen nur schwer zu tilgende, dem Gegenstand nicht gerecht werdende Stereotype zu einer Zeit, als der Kriminalroman sich bereits von diesen Strukturschemata befreit hatte.12 Dass die Perspektive der Literaturwissenschaft auf den Gegenstandsbereich sehr verengt war und zum Teil heute noch ist, kommt daher, dass die Wissenschaftler den Kriminalroman im Rahmen der Trivialliteratur-Forschung untersuchten und die Korpusbildung 10 Todorovs Beschäftigung mit dem Kriminalroman (sowie der Fantastik) kann als logische Folge der wissenschaftsgeschichtlichen und kulturellen Entwicklung seiner Zeit gesehen werde. Bei ihm läuft das methodologische Erbe des Formalismus und Strukturalismus (er übersetzte Werke des russischen Formalismus) mit dem neuen Interesse für Populärliteratur zusammen. Sein Essay entstand in einer Zeit, in der der Kriminalroman schon im Begriff war, sich selbst zu de- und rekonstruieren, jedoch befand Todorov, dass noch zu wenige Beispiele (er nennt Patricia Highsmith und Francis Iles) vorlägen, um sie als eigenen "Formentypus" einzustufen (Todorov 1998 [1966]: 215). 11 Auch Ulrich Suerbaum (1967) gehört in diese Reihe. Er sieht den Grund für die festen Formschemata des Kriminalromans darin, dass sogenannte "Variationsgattungen" in der Regel aus literarischen Kurzformen (hier: aus der Kriminalerzählung) hervorgehen und bei der Langform des Romans zu einer zu starken Fesselung des Handlungsverlaufs an eine bestimmte Form führen (Suerbaum 1998 [1967]: 87f.). 12 Für die 1960er Jahre konstatiert Wörtche tiefgreifende Veränderungen in den Erzählstrukturen der Kriminalliteratur durch Multi-Perspektivismus, Verzicht auf einen durchgängigen plot, Polyphonie, Intertextualität und vieles mehr (Wörtche 2000: 343f.).
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ihrem Interesse unterlag, an den Werken regelhafte Erzählstrukturen nachzuweisen (Wörtche 2000: 344). Die unterschiedlichen Vorschläge für die Festlegung von Strukturschemata des Kriminalromans können hier nicht im Einzelnen referiert werden. Man kann sie vielerorts nachlesen, wobei schnell ihre Widersprüche hervortreten.13 Forschungsarbeiten dieses Zuschnitts reduzieren die Transformationsmöglichkeiten, die die Tiefenstruktur (das Ereignis eines Verbrechens) zulässt, auf ein bestimmtes Repertoire, das dann als konstitutiv für die ganze Gattung ausgewiesen wird. Der "pointierte Rätselroman"14 und der Heftchen-Thriller vom Kiosk werden meist für die Paradigmen des Genres gehalten. Da ihre plots und Figurenkonstellationen auf der Grundlage "trivialer" Texte herausgearbeitet wurden, eignen sie sich jedoch nicht zur literaturwissenschaftlichen Beschreibung der gesamten Gattung. Vor allem Thomas Wörtche macht immer wieder darauf aufmerksam, dass es sich beim Kriminalroman eben nicht um ein formal bestimmbares Genre handelt: "Die Kriminalliteratur ist, genauer betrachtet, keine Form. Sie ist nicht die 'eine Form'. Das ist ein Missverständnis" (Wörtche 2008: 8).15 Im Alltagsverständnis hat sich jedoch die Vorstellung etabliert, es handle sich bei Kriminalromanen grundsätzlich um Formula-Texte, wozu die Literaturwissenschaftler erster Stunde ihren Teil beigetragen haben. Daher resümiert Wörtche: "Da hat sich ein sehr limitierter und zeitlich gebundener Begriff gehalten, und entfaltet eine quasi-normative begriffliche Macht, die sich praktisch auf Nichts gründet, beziehungsweise reine Begriffsnostalgie ist" (Wörtche 2004). Trotz dieser Einwände gegen eine formale Bestimmung der Gattung ist kaum abzustreiten, dass Kriminalromane sich in vielerlei Hinsicht formal ähneln. Aber diese Ähnlichkeiten sind sehr viel lockerer und kom13 Als aktuellstes Beispiel für diesen Ansatz ist Peter Nussers Abhandlung zu nennen. Peter Stoll kommt in seiner Rezension zur dritten Auflage von Nussers Werk von 2003 zu dem richtigen Schluss, dass sich der "pointierte Rätselroman", den Nusser als normativ setzt, "letztlich doch nur als ein Typus unter vielen erweist. Warum also ihn mit der Würde eines Idealtypus ausstatten und in solcher Breite abstrakt schildern, zumal Nusser explizit feststellt, daß hier keineswegs der 'literarische Höhepunkt' der Gattung liege (Nusser 2003: 92), und sein eigener historischer Abriß suggeriert, daß sich die Bedeutung eines Ideals in der schriftstellerischen Praxis in Grenzen hält?" (Stoll 2004: 3). Thomas Wörtche bestätigt in seiner Rezension zur vierten Auflage von 2009 Stolls Urteil und bemängelt, dass trotz der Einwände des Rezensenten keine grundlegende Überarbeitung des Werks erfolgt ist (Wörtche 2010). 14 Schulz-Buschhaus bezeichnet solche Rätselromane als "pointiert", die die Formulierung und Auflösung des Mordrätsels besonders zuspitzen und damit teils an Glaubwürdigkeit verlieren (Schulz-Buschhaus 1975: 87). 15 Hügel teilt diese Einschätzung mit Wörtche: "Unverzichtbar für die Kriminalliteratur ist weder ein bestimmtes Thema noch eine bestimmte Erzählweise oder ein bestimmtes erzählerisches Niveau, sondern daß ein Element des Kriminalfalls strukturbildend für die Erzählung ist" (Hügel 2003: 467). Aus Hügels Ausführungen geht hervor, dass er mit "Thema" die möglichen inhaltlichen Transformationen des "Kriminal-Verbrechens" meint, wie "die Vorgeschichte des Täters oder seines Opfers, die Tat oder den Tathergang, die Aufklärung (durch ganz verschiedene Institutionen) oder das Zustandekommen des Urteils" (ebd.).
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plexer zu denken, als von den Trivialliteraturforschern vorgeschlagen. Um die Ebene der möglichen inhaltlichen und strukturellen Transformationen (Hempfer) in ein anschauliches Modell zu überführen, kann mit Wittgensteins "Familienähnlichkeit" gearbeitet werden.16 Wittgenstein benutzt diesen Terminus für solche Begriffe, deren Entitäten in verschiedenen Hinsichten miteinander verwandt sind, aber keine Gemeinsamkeit aufweisen, die es erlaubt, sie ausschließlich unter diesem Begriff zu subsumieren. Das heißt, dass die Entitäten von Familienbegriffen zwar eine oder mehrere Gemeinsamkeiten aufweisen können, diese ihnen jedoch nicht "eigentümlich" sind, das heißt, dass die Entitäten auch mit anderen Objekten, die nicht unter denselben Begriff fallen, diese Gemeinsamkeit teilen können (Wennerberg 1998: 41-46).17 So ist das Thema "Verbrechen" allen Kriminalromanen gemeinsam, aber nicht eigentümlich, da es auch andere Romane gibt, die das Thema "Verbrechen" behandeln, aber nicht unter den Familienbegriff "Kriminalroman" fallen, weil sie beispielsweise zeitlich vor der Entstehung dieses Genres verfasst wurden und sich nicht systemreferenziell darauf beziehen lassen (wie Dostojewskis Schuld und Sühne) oder weil sie das Thema nur am Rande behandeln. Außer dem Thema "Verbrechen" teilen Kriminalromane keine weiteren Merkmale, die allen gemeinsam sind. Ihre formalen Eigenschaften stehen lediglich in einer Verwandtschaftsbeziehung zueinander. Dabei ist es möglich, dass zwei beliebige Kriminalromane keine einzige formale Eigenschaft teilen, da diese Stück für Stück in der diachronen Achse ersetzt wurden.18 Die Familienähnlichkeit des ganzen Feldes garantiert dennoch die Verkettung der Werke. Das Spiel mit den vermeintlich festen Schemata, ihr Durchbrechen und Negieren ist so weit fortgeschritten, dass die Autoren nur noch ein loses Set von sekundären formalen Merkmalen dazu verwenden, einen Wiedererkennungseffekt herzustellen und bestimmte Lesererwartungen zu aktivieren. Die Relevanz der Form ist daher nicht in ihrer Normativität, sondern in ihrer 16 Wörtche (2008: 15) und Gregoriou (2007: 124f.) bringen den Begriff der "Familienähnlichkeit" bereits mit dem Kriminalroman in Verbindung. Wörtche konkretisiert seinen Vorschlag jedoch nicht und Gregoriou argumentiert letzten Endes auf derselben Basis wie jene Interpreten, die von festen Regeln und Strukturen für den Kriminalroman ausgehen. Denn an Wittgenstein schließt sie Überlegungen zur Prototypensemantik an, womit sie zurück zur Norm beziehungsweise zu einem abstrakten Prototyp eines Kriminalromans gelangt. 17 Wennerberg unterscheidet eine stärkere und eine schwächere Lesart von Wittgensteins Theorie. Nach der stärkeren Lesart teilen die Entitäten von Familienbegriffen kein gemeinsames Merkmal. Für die Gattungsbestimmung des Kriminalromans bietet sich jedoch die schwächere Lesart an, nach der gemeinsame Merkmale bestehen können (Wennerberg 1998: 44). 18 Dass sich der Kriminalroman formal stets weiterentwickelt, musste schon Todorov eingestehen: "Man könnte sagen, daß der Kriminalroman von einem bestimmten Moment an die Regeln, die eine Gattung definieren, als eine schwere Last empfindet und sich von ihnen befreit, um einen neuen Code zu begründen" (Todorov 1966: 215). Aber für ihn ist dieser neue Code dann bereits kein Kriminalroman mehr: "Wer den Kriminalroman 'verbessern' will, macht 'Literatur', keinen Krimi mehr" (Todorov 1966: 209). Die paratextuellen Zuschreibungen solcher Werke hat solche Statements Lügen gestraft.
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Rolle für die systemreferenzielle Vernetzung der Gattung und die Prägung eines Erwartungshorizontes zu suchen, was zu den nächsten beiden Punkten führt. 3) Die Systemreferenz des Kriminalromans Laut Suerbaum ist für alle Gattungen konstitutiv, dass die ihren angehörigen Werke intertextuell miteinander verbunden sind: "Gattungen bestehen aus Texten, die ihren Zusammenhang als Reihe oder Gruppe dadurch erhalten, daß sie aufeinander bezogen sind, und die ihre Bezogenheit auf andere Texte in der Regel durch deutliche, von jedem Rezipienten zu lesende Signale und Markierungen zum Ausdruck bringen" (Suerbaum 1991: 58f.). Die intertextuelle Vernetzung der Werke einer Gattung kann in Form von Einzeltextreferenzen zum Ausdruck kommen. In diesem Fall bezieht sich ein Autor erkennbar auf einen Prätext innerhalb derselben Gattung. Für das Entstehen einer Gattung ist aber noch viel entscheidender, dass die Werke in einer systemreferenziellen Beziehung zueinander stehen. Unter "Systemreferenz" versteht Pfister das Anzitieren eines Textsystems, das heißt eines bestimmten nichtliterarischen Diskurstyps oder eben eines literarischen Gattungssystems. Im letzteren Fall spricht er von "generischer Systemreferenz" (Pfister 1991: 52-58).19 Suerbaum arbeitet außerdem heraus, dass "[m]it zunehmender Etablierung der Reihe oder Gattung [...] Gewicht und Ausmaß der Intertextualität abnehmen [können]" (Suerbaum 1991: 68). Das heißt, das Explizitmachen beziehungsweise "Markieren" der Bezüge zum Gattungssystem sind bei einer Gattung mit großer Tradition weniger ausschlaggebend für die Klassifizierung des jeweiligen Textes als bei einer jungen Gattung, da das Spektrum der Möglichkeiten, die eine traditionsreiche Gattung aufspannt, größer und beim Leser bekannter ist. Laut Suerbaum nehmen Leser vor allem intertextuelle Bezüge auf Textmuster wahr, "die durch Wiederholung, Variation und intermediale Bearbeitung – also durch moderne Formen der Intertextualität – eingeschliffen sind" (Suerbaum 1991: 77). Systemreferenzen sind folglich einer großen Leserschaft verständlich, während Einzeltextreferenzen sich zum Teil nur dem Spezialisten erschließen. Im Falle des Kriminalromans gilt dies in besonderem Maße, da das Genre einen großen Fundus an eingeschliffenen Textmustern enthält, extrem durchlässig für die intermediale Bearbeitung ist, und innerhalb der großen Masse an Werken nur sehr we-
19 Der Begriff "Systemreferenz" entspricht dem der "Architextualität" bei Genette (1993: 9). Pfister bezeichnet auch den Bezug auf Schreibweisen, Archetypen und Mythen als Systemreferenz (Pfister 1991: 56).
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nige als kanonisch gelten. Der Bezug auf seine eingeschliffenen Textmuster ist daher leicht herzustellen und weit verbreitet. Hinsichtlich der Systemreferenz des Kriminalromans haben Pöppel und viele andere Literaturwissenschaftler immer wieder auf ein weiteres Spezifikum hingewiesen, nämlich auf seine Neigung zum Spielerischen: "Den Kriminalroman kennzeichnet ja von Beginn an eine ausgesprochene Selbstreflexivität, das heißt eine beständige explizite Einschreibung in die Gattung, die Autodeklaration als Kriminalroman, die Präsentation des gelesenen Textes als Spiel, das mit Lesererwartungen und vorgeprägten Schemata spielt" (Pöppel 2004: 262). Unzählige Kriminalromane beziehen sich in Form einer Parodie auf literarische und filmische Vorbilder. Ermittler eifern berühmten Ermittlern aus Buchreihen, Filmen oder TV-Serien nach und versuchen sie zu übertreffen oder zu verspotten. Roberto Ampueros Privatdetektiv Cayetano Brulé erlernt beispielsweise sein Handwerk durch die Lektüre von Simenons Romanen; Privatdetektiv Heredia aus Díaz Eterovics Romanen besitzt eine Katze namens Simenon; Patrícia Melo lässt einen Groschenromanautor Klassiker der Kriminalliteratur nachahmen; Krimiautoren werden zu Romanfiguren wie bei Verissimo und Fonseca; Detektive und Polizisten entwickeln literarische Ambitionen wie bei Leonardo Padura; "literarische Morde" werden verübt wie in der Reihe Literatura ou Morte des brasilianischen Verlags Companhia das Letras; verschwundene Manuskripte werden gesucht und wiedergefunden wie bei Umberto Eco, Roberto Bolaño oder Pablo De Santis und derlei mehr.20 Der spielerische und ironische Umgang mit dem Gattungssystem ist für den Kriminalroman besonders typisch, wenn auch nicht konstitutiv. Als konstitutiv kann mit Suerbaum lediglich die Systemreferenz als solche gesetzt werden, da sie ein Merkmal aller literarischen Gattungen ist. Das Set vorgefertigter Textmuster, das eine wichtige Rolle bei der Herstellung von Systemreferenzen spielt, ist außerdem ein integrativer Bestandteil des Erwartungshorizonts, den Leser an Kriminalromane richten. Warum das so ist, obwohl Kriminalromane doch kein normatives Formenrepertoire kennen, soll im Folgenden erörtert werden. 4) Der Erwartungshorizont und Modell-Leser des Kriminalromans Viele zeitgenössische Autoren von Kriminalromanen setzen mit ihren Werken auf die Durchbrechung einer "Norm", um Überraschungseffekte und Spannung zu erzeugen. Sie konzipieren ihre Romane als Abwei-
20 Weitere Kriminalromane, in denen Manuskripte gesucht werden, hat beispielsweise Rosa Pellicer (2007) zusammengestellt.
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chung von etwas vermeintlich Feststehendem. Dass dies funktioniert, ist kaum zu bestreiten. Die Vorstellung von einer oder mehreren "Normen" für die Idealtypen des Kriminalromans hält sich nicht nur sehr hartnäckig in der literaturwissenschaftlichen Debatte, sondern existiert auch in den Köpfen von Autoren und Lesern. Da diese Vorstellung das empirische Textkorpus des Kriminalromans jedoch nicht adäquat beschreibt (wie oben ausgeführt), soll sie von jetzt an als "Pseudonorm" bezeichnet werden. Aber woher kommt diese Pseudonorm? Wie ist sie entstanden?21 Horsley (der den Begriff "Pseudonorm" selbst nicht verwendet) glaubt, dass die Idee von einer "Norm" das Ergebnis eines bestimmten Umgangs mit den Texten des Genres ist, und charakterisiert sie als grobe Simplifizierung dessen, was die Tradition des Genres an tatsächlichen Verfahren entwickelt hat: This process of defining a new text in relation to the existing codes and conventions generally involves some oversimplification of what has gone before. Writers who commit themselves to rethinking the genre tend to construct themselves in opposition to a somewhat narrowly conceived prior tradition (Horsley 2005: 6).
In Anlehnung an Suerbaums Ausführungen zur Intertextualität (1991: 77) kann ergänzt werden, dass diese Pseudonorm nicht nur auf einer Simplifizierung der literarischen Tradition beruht, sondern auch auf dem Nebeneinander von verschiedenen intermedialen Bearbeitungen, das heißt in erster Linie auf der Koexistenz von literarischen und filmischen Werken. Besonders Krimifernsehserien wiederholen Folge für Folge dieselbe Struktur und verfestigen dieselben Ideologeme, so dass die Vorstellung entsteht, es handle sich dabei um eine "Norm". Die starke Präsenz des Fernsehens im Alltag vieler Menschen und die einfache und schnelle Konsumierbarkeit der Krimifernsehserien legen nahe, dass diese den "Erwartungshorizont" an alle medialen Formen des Genres mindestens ebenso sehr prägen, wie dies die "triviale" Kriminalliteratur tut und bestimmte Bereiche der Gattungstradition getan haben. Nach Hans Robert Jauß versteht man unter Erwartungshorizont "die spezifische Disposition für ein bestimmtes Werk, mit der ein Autor bei seinem Publikum rechnet" (Jauß 1970: 177) beziehungsweise ein "objektivierbare[s] Bezugssystem der Erwartungen […], das sich für jedes Werk im historischen Augenblick seines Erscheinens aus dem Vorverständnis der Gattung, aus der Form und Thematik zuvor bekannter Werke und aus dem Gegensatz von poetischer und praktischer Sprache ergibt" (Jauß 1970: 173f., kursiv im Original). Diese Erwartungen werden von neuen Werken "durch 21 Man würde die Reichweite der Literaturwissenschaft überschätzen, wenn man behaupten würde, dass die Vorstellung von den stereotypen Handlungsmustern und Figurenkonstellationen, die zahlreiche Literaturwissenschaftler herausgearbeitet haben, vom nicht-professionellen Leserpublikum übernommen wurde.
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Ankündigungen, offene und versteckte Signale, vertraute Merkmale oder implizite Hinweise für eine ganz bestimmte Weise der Rezeption" aktiviert (Jauß 1970: 175). Umberto Eco, der ebenfalls rezeptionsästhetisch argumentiert, fasst diesen Sachverhalt mit dem Begriff "ModellLeser" und lenkt dabei die Aufmerksamkeit stärker als Jauß auf den Umstand, dass Texte Signale enthalten, die nicht nur eine bestimmte Rezeptionshaltung einfordern, sondern auch einen bestimmten Lesertyp, der über ein spezifisches Vorwissen verfügt: "[Der Autor] muß […] voraussetzen, daß die Gesamtheit von Kompetenzen, auf die er sich bezieht, dieselbe ist, auf die sich auch der Leser beziehen wird" (Eco 1987: 67). Mit Umberto Eco könnte man also behaupten, dass der Kriminalroman einen Modell-Leser einfordert, der sowohl die literarische Tradition des Genres als auch seine intermedialen Bearbeitungen kennt, da nur ein solcher Leser die Aktualisierung dieser Texte in der Art vollziehen kann, wie es der Autor geplant hat.22 Aber verlangt der Kriminalroman von seinem Modell-Leser auch Wissen über den realweltlichen Umgang (z. B. der Polizei und Justiz) mit Verbrechen? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden. 5) Der Wirklichkeitsbezug des Kriminalromans Das Verhältnis des Kriminalromans zur gesellschaftlichen Realität ist keinesfalls direkt und unproblematisch. Die Erzählungen Edgar Allan Poes, auf die die Gattungstradition zurückführbar ist, enthalten keine realitätsnahen23 Darstellungen von Verbrechen, sondern fokussieren beinahe ausschließlich die Verstandesleistung und die kreative Vorstellungskraft, die der Detektiv C. Auguste Dupin zu deren Aufklärung erbringen muss. Ihr Grundthema ist daher nicht das Verbrechen als gesellschaftliches Phänomen, sondern die Leistungsfähigkeit des menschlichen Verstandes. Die Anordnung der Indizien an den Tatorten und die Zeugenbefragungen sind im Hinblick auf die Lösung konstruiert, so dass Poes tales of ratiocination im Grunde philosophische Traktate darstellen (Schulz-Buschhaus 1975: 6-13). Ein deutliches Zeichen dafür, dass es dem Autor nicht um das Verbrechen als Symptom gesellschaftlicher Zustände geht, ist, dass der Täter in "The Murders in the Rue Morgue" ein aus dem Zoo entlaufener Orang-Utan und kein Mensch ist.
22 Wie der Erwartungshorizont bzw. Modell-Leser genauer charakterisiert werden kann, wird in Kapitel 2.2 untersucht. 23 Hier wird absichtlich das Adjektiv "realitätsnah" und nicht "realistisch" verwendet, um eine Verwechslung mit dem Epochenbegriff "Realismus" und eine Debatte über die historische Wandelbarkeit des Realismusverständnisses sowie die epistemologischen Positionen zum Realitätsbegriff zu vermeiden. Mit "realitätsnah" werden hier fiktionale Texte bezeichnet, in denen sich der Umgang mit Verbrechen an die tatsächliche gesellschaftliche Praxis eng anlehnt.
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Noch drastischer ist der Abstand zur Lebenswirklichkeit bei Jorge Luis Borges, der mit seinen Kriminalerzählungen die Gattung in Lateinamerika stark beeinflusst hat. Borges weist immer wieder besonders auf den fiktionalen Charakter seiner Erzählungen hin und zeigt damit, dass er nicht die Absicht verfolgt, Verbrechen realitätsnah darzustellen. Sein Detektiv Erik Lönnrot aus "La muerte y la brújula" ist eine übertriebene Karikatur Dupins, mit der er sich explizit an Poes Vorlage anlehnt: "Lönnrot se creía un puro razonador, un Auguste Dupin, pero algo de aventurero había en él y hasta tahur" (Borges 2000 [1944]: 153f.). Am Ende der Erzählung dringen sogar fantastische Elemente in die Handlung ein, nämlich bei der Beschreibung der vielen Räume der Villa Triste-le-Roy. Auch Isidro Parodi aus dem Erzählband Seis problemas para don Isidro Parodi (1942), den Borges zusammen mit Adolfo Bioy Casares veröffentlicht hat, ist schon dem Namen nach eine Parodie. Dass er die Fälle in seiner Gefängniszelle löst, ohne je einen Tatort zu inspizieren, entspricht keiner realitätsnahen Verbrechensaufklärung, sondern stellt ein Spiel mit der literarischen Tradition der Gattung dar.24 Über Poe und Conan Doyle führt außerdem eine direkte Linie zum Detektivroman des Golden Age der 1920er und 1930er Jahre mit seiner bekanntesten Vertreterin Agatha Christie.25 Im pointierten Rätsel- oder Detektivroman wurden zeitweise so überspitzte Situationen konstruiert (häufig in verschlossenen Räumen wie schon bei Poe), dass Suerbaum ihn nicht als "[s]eriös und künstlerisch vollwichtig" erachtete: "Er hat kaum Anteil an der literarischen Bewältigung und Interpretation der Wirklichkeit, an einer Aufgabe also, für deren Lösung doch die Gesamtgattung Roman in unserer Ära geradezu ein Monopol beansprucht" (Suerbaum 1998 [1967]: 84). Zwar stellen diese klassischen Detektivromane Verbrechen keineswegs realitätsnah dar, gehen aber auch nicht so weit wie Borges, das heißt, sie verzichten auf fantastische Elemente. Autoren wie Kritiker des klassischen Detektivromans sind größtenteils der Meinung, dass eine Verbrechensaufklärung, die auf der Verstandesleistung des Ermittlers beruht, nur funktionieren kann, wenn Übernatürliches und Fantastisches ausgeblendet werden, denn an solchen Phänomenen würde die Ratio notgedrungen scheitern. Außerdem muss der Leser die fiktionale Handlung für prinzipiell möglich halten, denn andernfalls würden nicht nur die Spannungsmechanismen zu Schaden kommen, sondern auch das Interesse am dargestellten Verbrechen und seiner Verfolgung entwertet werden. Die Handlung von Detektivroma24 Borges referiert dennoch kritisierend auf den argentinischen Kontext der Zeit, deformiert und chiffriert aber die Realität, indem er wiedererkennbaren Orten und Personen exotische Namen verleiht (Calabrese 2007: 39-41). 25 Zum Golden Age des Detektivromans gehören vor allem britische Autoren wie Margery Allingham, Francis Iles, Michael Innes, Philip MacDonald, Dorothy L. Sayers oder Josephine Tey. Unter den Amerikanern zählt man John Dickson Carr, Ellery Queen und S. S. Van Dine dazu.
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nen beruht daher immer zumindest im minimalen Sinne auf der uns vertrauten Wirklichkeit, insofern sie innerhalb dessen bleibt, was der Logik und den Naturgesetzen nach möglich ist.26 Die Autoren dieses Kriminalromantyps vermeiden es in der Regel, auf die Konstruiertheit der Fälle aufmerksam zu machen, etwa durch ironische Brechungen oder metafiktionale Reflexionen wie bei Borges.27 Wissen über den realweltlichen Umgang mit Verbrechen fordern solche Romane von ihrem Modell-Leser folglich nicht ein. Dem überspitzten und unglaubwürdigen Rätselroman hielt Raymond Chandler seinen realistischen Ansatz in seinem berühmten Essay "The Simple Art of Murder" entgegen: The realist in murder writes of a world in which gangsters can rule nations and almost rule cities, in which hotels and apartment houses and celebrated restaurants are owned by men who made their money out of brothels, in which a screen star can be the fingerman for a mob, and the nice man down the hall is a boss of the numbers racket; a world where a judge with a cellar full of bootleg liquor can send a man to jail for having a pint in his pocket, where the mayor of your town may have condoned murder as an instrument of money-making, where no man can walk down a dark street in safety because low and order are things we talk about but refrain from practicing […] (Chandler 1972 [1944]: 19).
Chandlers Werk entstand in den 1940er Jahren innerhalb des amerikanischen Realismus um Faulkner, Hemingway und Dos Passos. Die amerikanische hard-boiled-Schule (allen voran Dashiell Hammett) machte im Gegensatz zu den klassischen Rätselromanen die genaue Referenzierbarkeit auf den außerliterarischen Kontext der Zeit stark. Seitdem rückte das Genre insgesamt näher und häufig sogar sehr nahe an die Realität heran.28 Der Modell-Leser solcher Romane kennt auch ihre vielfältigen realweltlichen Kontexte. Hinsichtlich des Wirklichkeitsbezugs existieren also mindestens drei unterschiedliche Richtungen innerhalb des Kriminalromans.29 Die erste strebt keine realitätsnahe Darstellung von Verbrechen an, da dies nicht
Leonardo Padura stellt diesen Aspekt im literarhistorischen Kapitel seiner Studie Modernidad, posmodernidad y novela policial besonders ins Zentrum. Da die realitätsfernen Kriminalromane in Kontrast zum epochentypischen Realismus standen, spricht Padura von einer "contralógica estética" (Padura 2000: 123). 27 Todorov hebt die Wichtigkeit des celare artem in Detektivromanen hervor: "[…] kein Krimi-Autor dürfte sich erlauben, selbst auf den imaginären Charakter der Geschichte hinzuweisen, wie das in der 'Literatur' üblich ist" (Todorov 1998 [1966]: 210). 28 Diese Realitätsnähe verfolgen auch die meisten Autoren des zeitgenössischen lateinamerikanischen Kriminalromans. Genaro J. Pérez bescheinigt ihm beispielsweise einen "super-realismo de la narrativa, que es característica esencial del género" (Pérez 2002:12). 29 Sogenannte testimonios (wie Noticias de un secuestro von García Márquez) werden hier jedoch nicht berücksichtigt, da sie aufgrund ihrer realen Stoffbasis und ihrer Nähe zum investigativen Journalismus ein eigenes (wenn auch verwandtes) Genre darstellen. 26
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in ihrem Erkenntnisinteresse liegt (Poe). Sie referiert nur lose auf einen lebensweltlichen Kontext und stellt die Konstruiertheit des Kriminalfalls zum Teil explizit heraus oder integriert sogar fantastische Elemente (Borges). Die Autoren dieser Richtung interessieren sich vorrangig für epistemologische und philosophische Fragestellungen im Zusammenhang mit einem Rätsel. Die zweite Richtung suggeriert, dass die Fälle und Handlungen prinzipiell möglich sind und verzichtet auf illusionsdurchbrechende Elemente, um die Leistung des Detektivs nicht zu unterwandern (Golden Age). Nur die dritte Richtung kann als realitätsnah bezeichnet werden. Sie stellt mit einem sehr dezidierten Bezug zur Wirklichkeit Verbrechen in seinem gesellschaftlichen Kontext dar (die hard-boiled-Schule und ihre Folgen) und nimmt teilweise reale Fälle als Ausgangspunkt. Die hier vorgenommene Unterscheidung verschiedener Möglichkeiten des Wirklichkeitsbezugs weist eine Problematik auf, die vielen Lesern oder auch Fernsehzuschauern nicht bewusst ist. Die Tradition des Kriminalromans hat eine lange Reihe von Werken hervorgebracht, die auf den ersten Blick den Eindruck einer realitätsnahen Darstellungsweise erwecken, deren Handlungen tatsächlich aber nicht im realweltlichen Kontext stattfinden könnten. Autoren, die die Realität (Verbrechermilieus, Polizeiarbeit etc.) weniger gut kennen, erwecken häufig durch eine explizite Referenz auf real existierende Orte, genaue Zeitangaben und das Anhäufen unzähliger Realitätspartikeln (wie der Beschreibung des Tatorts, der Leiche, des Täters, der Indizien, des Tathergangs oder der Todesursache) den Eindruck, sehr realitätsnah zu erzählen. Sie produzieren zwar das, was man mit Roland Barthes einen effet de réel nennt, tatsächlich widersprechen jedoch unzählige Elemente der Romanhandlung den Praktiken der Lebenswirklichkeit, das heißt beispielsweise dem tatsächlichen, polizeilichen und gerichtlichen Umgang mit Verbrechen (z. B. bei Henning Mankell).30 Dies funktioniert vor allem deswegen, weil die Mehrheit der Leser die speziellen Kontexte der Kriminalliteratur nicht kennt: z. B. Formen des organisierten Verbrechens, bestimmte politische Verhältnisse in bestimmten Ländern und Zeiten. Den meisten fehlt auch die direkte Erfahrung mit Mord und polizeilicher Ermittlungsarbeit. Wie realitätsnah ein Kriminalroman wirklich ist,
30 Wie Hickethier herausarbeitet, wird dem Kriminalfilm häufig derselbe Vorwurf gemacht, nämlich derjenige, dass er die Polizeiarbeit verfälscht darstelle. Der Medienwissenschaftler weist diese Kritik mit dem Argumente zurück, dass das Realismusprinzip des Kriminalfilms stärker auf einer strukturellen und mentalen Ebene beruht als auf solchen Details, da das Genre einerseits aktuelle gesellschaftliche Bereiche fokussiert und dabei eine "Art allgemeine Handlungslogik" vorführt und andererseits "in zugespitzter Form eine Weltsicht formuliert" und "eine spezifische gesellschaftliche Konstellation als natürlich behauptet" (Hickethier 2005: 27f.).
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kann daher häufig vom Leser nicht beurteilt werden.31 Der Modell-Leser solcher Romane ist folglich einer, der die Kontexte nicht kennt, denn andernfalls würde er die "Fehler" erkennen und die Aktualisierung des Textes in einer Weise vollziehen, die der Autor nicht geplant hat. Kriminalromane von Autoren, die die Realität gut kennen und sie überzeugend in Fiktion verwandeln, fordern jedoch auch einen Modell-Leser, der über dieselben Kenntnisse verfügt. Wörtche versucht allgemeine Kriterien anzugeben, die auch bei Unkenntnis des genauen Kontextes als Indiz für die Realitätsnähe der Werke fungieren können (Wörtche 2008: 14f.). Er hält Kriminalromane dann für besonders realitätsnah, wenn sie von teleologischen Tendenzen absehen, wie der restlosen Aufklärung eines Mordfalls oder der gerechten Bestrafung eines Täters, keine direkte Kausalbeziehung zwischen Motiv und Tat herstellen und stattdessen die Kontingenz der Wirklichkeit herausarbeiten.32 Schon Dürrenmatt wies auf die Wichtigkeit des Zufalls für einen adäquaten Umgang mit der Realität hin, wenn er in Das Versprechen (1958) einen pensionierten Polizisten einem Autor von Detektivromanen Folgendes vorwerfen lässt: Doch in euren Romanen spielt der Zufall keine Rolle, und wenn etwas nach Zufall aussieht, ist es gleich Schicksal oder Fügung gewesen; die Wahrheit wird seit jeher von euch Schriftstellern den dramaturgischen Regeln zum Fraße hingeworfen. Schickt diese Regeln zum Teufel. Ein Geschehen kann schon allein deswegen nicht wie eine Rechnung aufgehen, weil wir nie alle notwendigen Faktoren kennen […]. Auch spielt das Zufällige, Unberechenbare, Inkommensurable eine zu große Rolle. […] Ihr versucht nicht, euch mit einer Realität herumzuschlagen, die sich uns immer wieder entzieht, sondern ihr stellt eine Welt auf, die zu bewältigen ist. Diese Welt mag vollkommen sein, möglich, aber sie ist eine Lüge (Dürrenmatt 2008 [1958]: 12f.).
Was der Leser als realistisch im engeren Sinne akzeptiert, hängt von seinen Erfahrungen ab, die bezüglich der vielfältigen Kontexte der Kriminalliteratur äußerst defizitär sind. Oft basiert die einzige Erfahrung mit den entsprechenden Kontexten gänzlich auf einer medial vermittelten Wirklichkeit und dem gesellschaftlichen Diskurs über sie.
31 Auf dieses Problem verweist bereits Chandler: "The realistic style is easy to abuse: from haste, from lack of awareness, from inability to bridge the chasm that lies between what a writer would like to be able to say and what he actually knows how to say" (Chandler 1972 [1944]: 18). 32 Wörtche bezieht sich in seiner Argumentation vor allem auf Richard Rortys Werk Kontingenz, Ironie und Solidarität (1989). In seinem Aufsatz "Tod und Kontingenz" (2009) führt er die Rolle der Kontingenz im Kriminalroman genauer aus.
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6) Paratexte und Vermarktung des Kriminalromans Aus der strukturalistischen Genredebatte ging die Frage hervor, ob auch solche Romane, die sich zwar schwerpunktmäßig mit dem Thema "Verbrechen" befassen, nicht jedoch mit einer Verbrechensermittlung, als Kriminalromane bezeichnet werden können. Dies wurde bereits bejaht. Schwieriger scheint jedoch das Problem, ob Romane mit zwei thematischen Schwerpunkten, von denen einer "Verbrechen" ist, zu dieser Gattung gehören. Die Entscheidung darüber kann von Literaturwissenschaftlern nicht abschließend mit Hilfe von ausschließlich taxonomischen Kriterien getroffen werden. Diese Aufgabe übernehmen verschiedene Mechanismen des literarischen Feldes. Diesbezüglich erweist sich Gérard Genettes Untersuchung Paratexte – Das Buch vom Beiwerk des Buchs (2001 [1989]) als besonders hilfreich. Unter dem Begriff "Paratexte" fasst Genette die sogenannten "Peritexte" und "Epitexte". Als "Peritexte" bezeichnet er all jene begleitenden schriftlichen und grafischen Zusätze, die innerhalb desselben Bandes wie der Text selbst veröffentlicht werden (Name des Autors, Titel, Widmungen, Motti, Vorworte, grafische Gestaltung der Reihe, des Umschlags etc.). "Epitexte" unterscheiden sich darin von den "Peritexten", dass sie zwar in zeitlicher Nähe zum eigentlichen Text erscheinen und inhaltlich auf diesen bezogen sind, aber in einem anderen Medium publiziert werden (Werbung, Interviews, Gespräche, Kolloquien, Debatten, aber auch private Korrespondenz des Autors und Tagebücher). Die diversen Paratexte bilden nach Genette "den geeigneten Schauplatz für eine Pragmatik und eine Strategie, ein Einwirken auf die Öffentlichkeit im gut oder schlecht verstandenen oder geleisteten Dienst einer besseren Rezeption des Textes und einer relevanteren Lektüre" (Genette 2001 [1989]: 10). Die wichtigste Eigenschaft aller Paratexte ist nach Genette ihr funktionaler Charakter, der darin besteht, "zwischen der idealen und relativ unwandelbaren Identität des Textes und der empirischen (soziohistorischen) Realität seines Publikums eine […] Art Schleuse" (ebd.: 388) zu errichten und somit auf die Rezeption einzuwirken. Durch die Herausgabepraxis und Vermarktung von literarischen Werken werden Gattungszuschreibungen vorgenommen, das heißt, Autoren und Verlage fordern paratextuell dazu auf, bestimmte Werke als Kriminalromane zu lesen und zu interpretieren, indem sie sie beispielsweise in einer Kriminalromanreihe unterbringen. Häufig werden den verschiedenen Reihen eines Verlags Symbole oder Farben zugeordnet (schwarz meist dem Kriminalroman), wodurch potenzielle Leser schnell erkennen, mit welcher Art von Werk sie es zu tun haben (ebd.: 28). Noch deutlicheren Signalcharakter haben Gattungsangaben auf dem Innentitel oder dem Schutzumschlag: "Dieser Status ist insofern offiziell, als Autor und Verleger ihn diesem Text zuschreiben wollen und kein Leser diese 41
Das Genre "Kriminalroman"
Zuschreibung rechtmäßig ignorieren oder vernachlässigen darf, selbst wenn er sich nicht verpflichtet fühlt, ihr zuzustimmen" (ebd.: 94f.). Die explizite Gattungsangabe wird nach Genette "auch von einem widerspenstigen Publikum zumindest als Information über eine Absicht (ich betrachte dieses Werk als Roman) oder eine Entscheidung (ich beschließe, diesem Werk den Status Roman zu verleihen) aufgenommen" (ebd.: 95). In Bezug auf den lateinamerikanischen Kriminalroman ist auffällig, dass die einzelnen Werke in den Ursprungsländern weniger stark paratextuell als novelas negras oder policiales ausgewiesen werden als auf dem europäischen, insbesondere dem deutschen Buchmarkt. Die meisten multinationalen spanischsprachigen Verlage, wie Tusquets33, Alfaguara, Anagrama oder Planeta, führen keine eigene Krimireihe. Dass die brasilianischen Verlage Companhia das Letras und Record jedoch eine solche unterhalten, erstaunt im Vergleich dazu. Im deutschsprachigen Raum wird ein Viertel aller Buchverkäufe von Kriminalromanen bestritten.34 Angesichts dieser Tatsache verwundert es nicht, dass die Verlagshäuser einen möglichst großen Teil dieses Marktes besetzen möchten, Krimireihen unterhalten und das Label "Kriminalroman" im Allgemeinen gern und schnell vergeben, wodurch die Gattung ausgeweitet wird und ihre Grenzen immer mehr verschwimmen. Der Vorteil dieser Vermarktungsstrategie besteht darin, dass sie ermöglicht, viele lateinamerikanische Texte in den europäischen Buchmarkt einzuführen und rentabel zu verkaufen. Indem die Bücher dem europäischen Leser als gute Unterhaltung und Spannung versprechende Lektüre schmackhaft gemacht werden, erhöht sich dessen Bereitschaft, sich auf einen fremden Kulturraum einzulassen. Die Tendenz der letzten Jahre zeigt, dass vor allem das Thema "Gewalt" zur Exportmarke für lateinamerikanische Romane geraten ist, während Werke anderer Thematik weniger starke Beachtung finden. Texte, die auf dem lateinamerikanischen Buchmarkt schlicht als Gegenwartsliteratur über die gewaltreiche Realität gelten, werden in Europa manchmal erst zu Kriminalromanen "gemacht". In solchen Fällen ist die Untersuchung der Paratexte besonders spannend. Bei Werken, in denen es um die Ermittlung in einem Kriminalfall geht, wird hingegen auch in Lateinamerika kaum jemand negieren, dass es sich um
33 Tusquets unterhält keine allgemeine Krimireihe. Im Onlinekatalog des Verlags entsteht allerdings der Eindruck, es gäbe eine Henning-Mankell-Reihe und eine Sue-Crafton-Reihe. Bei genauerem Hinsehen stellt man jedoch fest, dass die einzelnen Werke tatsächlich den Reihen Andanzas, Fábula und Maxi zugeordnet sind. Die Neuauflage von Leonardo Paduras Kriminalromanen erhielt außerdem ein Label, das die Mario-Conde-Serie innerhalb der Reihe Andanzas als Krimiserie ausweist. In einem weißen Quadrat steht "Serie Mario Conde"; darunter ist ein Aschenbecher mit einer qualmenden Zigarre abgebildet. 34 Diese Zahl wird immer wieder in den deutschen Feuilletons genannt, z. B. auf Spiegel ONLINE am 19.07.2010 im Artikel "Morden wie im Norden" von Joachim Kronsbein.
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Annäherung an die Gattungsbestimmung
Kriminalromane handelt, so dass hier das Studium der Paratexte zur Klärung der Gattungszugehörigkeit nicht notwendig erscheint. Es vermag aber zusätzliche Informationen über die verlegerische Praxis auf beiden Seiten des Atlantiks zu liefern. In der Einleitung zu den Kapiteln 4-6 wird darauf einzugehen sein, inwiefern die ausgewählten Romane paratextuell als Kriminalromane ausgewiesen werden. Aus pragmatischen Gründen sollen zunächst die Peritexte betrachtet werden. Die weit verstreuten Epitexte werden nur in den Fällen herangezogen, in denen die Peritexte keine Gattungszuschreibung vornehmen. Es wird außerdem nicht angestrebt, auf sämtliche Übersetzungen der Romane und somit auf Vermarktungsstrategien in vielen unterschiedlichen Kulturkreisen einzugehen, obwohl dies sicher ein spannender Ansatz wäre, der jedoch eine eigene Studie erfordern würde. Der Fokus liegt hier stets auf der Originalausgabe in Lateinamerika oder Spanien und der Vermarktung des jeweiligen Romans in deutscher Übersetzung. Die vorgestellten Kriterien führen zu einem Gattungsverständnis, das im Folgenden nochmals zusammengefasst werden soll: 1) Das einzige Merkmal, das allen Kriminalromanen gemeinsam ist, ist ihr Thema: Verbrechen. Es stellt daher die Dominante des Genres dar. Das Ereignis eines Verbrechens impliziert, dass es einen Täter und ein Opfer gibt. In dieser Konstellation besteht die Tiefenstruktur des Genres. 2) Alle historischen Realisierungen (Oberflächenstrukturen) entstehen durch Transformationen der Elemente der Tiefenstruktur sowie durch Überlagerungen mit anderen Gattungen und sind als sekundäre Merkmale zu klassifizieren. Es gibt keine am Textkorpus nachweisbaren formalen oder strukturellen Eigenschaften, die als normativ für den Kriminalroman insgesamt gesetzt werden können. Die verschiedenen Oberflächenstrukturen stehen vielmehr in einer Beziehung von Familienähnlichkeit zueinander. 3) Kriminalromane beziehen sich wie alle Werke, die einer bestimmten Gattung angehören, systemreferenziell aufeinander. Die Systemreferenz des Kriminalromans zeichnet sich durch eine Neigung zur Selbstreflexivität und Metafiktionalität aus. 4) Die literarische Kommunikationssituation, in der der Kriminalroman heute steht, wird von einer Pseudonorm beherrscht, die den Erwartungshorizont prägt. Sie wird durch eine auf Trivialliteratur verengte Forschungsperspektive, eine Übersimplifizie43
Das Genre "Kriminalroman"
rung der Tradition durch Leser und Autoren und vor allem durch den parallelen Konsum von audiovisuellen Krimiserien erzeugt. Der Modell-Leser von Kriminalromanen kennt die intermedialen Bearbeitungen des Genres. 5) Der Wirklichkeitsbezug des Kriminalromans gestaltet sich in drei wesentlichen Spielarten, die ebenfalls als sekundäre Merkmale gelten können: a) Autoren mit einem rein epistemologischen oder philosophischen Interesse verorten ihre Fälle nicht in konkreten gesellschaftlichen Kontexten und erlauben auch fantastische Versatzstücke. b) Die Schule der Rätsel- oder Detektivromane erlaubt solche Versatzstücke nicht, verortet ihre Handlungen aber ebenfalls nicht in konkreten gesellschaftlichen Kontexten, sondern orientiert sich rein an der Logik und den Naturgesetzen und stellt Handlungen dar, die in der Realität ziemlich unwahrscheinlich sind. c) Als realitätsnah ist eine dritte Gruppe von Romanen einzustufen, in denen Handlungen dargestellt werden, die in einem bestimmten lebensweltlichen Kontext als wahrscheinlich gelten dürfen (wobei manche Autoren "Fehler" begehen, ohne dass die Leser es merken). 6) Die Vermarktung von Werken unter dem Etikett "Kriminalroman" sowie die vielfältige paratextuelle Zuschreibung zu dieser Gattung beeinflussen den Rezeptionsprozess und wirken sich auf lange Sicht auf das Gattungsverständnis der Leser aus. Eine literaturwissenschaftliche Gattungsbestimmung spiegelt nicht notgedrungen die Auffassung der Autoren wider, da diesen nicht alle Traditionslinien und Zuschreibungsprozesse bewusst sein müssen und sie vieles intuitiv in ihre Romane einarbeiten. Die Sicht der Autoren kann aber Aufschluss darüber geben, inwiefern sich ein eher enges oder ein weiteres Gattungsverständnis durchgesetzt hat. In den für diese Studie durchgeführten Interviews (siehe Wieser 2010) äußern sich Leonardo Padura, Raúl Argemí, Pablo De Santis, Luiz Alfredo Garcia-Roza, Alonso Cueto, Roberto Ampuero, Santiago Roncagliolo und Élmer Mendoza zu ihrem persönlichen Genreverständnis, das immer auch einen Aspekt ihrer individuellen Poetik ausdrückt. Die Auffassungen der Autoren können in zwei Gruppen gegliedert werden. Die Autoren der ersten Gruppe vertreten ein weiteres Konzept (Padura, Argemí, De Santis, Garcia-Roza, Cueto), das sich prinzipiell mit den obigen Ausführungen deckt, die der zweiten ein engeres (Ampuero, Roncagliolo,
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Annäherung an die Gattungsbestimmung
Mendoza), das sich wie die ältere Forschungsliteratur stärker an formalen Kriterien orientiert.35 Für den Kubaner Leonardo Padura sind die Grenzen des Genres völlig offen. Nach seinem Verständnis ist Kriminalliteratur eine Art von Literatur, die sich vor allem mit urbaner Gewalt beschäftigt. Als Beispiel nennt er Rubem Fonsecas36 Werke, die er zur Kriminalliteratur rechnet, obwohl sie kaum Merkmale der Pseudonorm aufweisen: […] yo creo que los límites se han perdido, que no existe el límite y que lo que puede quedar es una intención de escribir un tipo determinado de novela que tenga características de novela policial. Por ejemplo, uno de los modelos que a mí más me interesan en lo que se pudiera llamar novela policial contemporánea es la literatura de Rubem Fonseca, el escritor brasileño, que no es literatura policial, pero sí es literatura policial, porque es una literatura sobre la ciudad, sobre la violencia, sobre el miedo. Creo que esos son los elementos que me interesa incorporar a mis novelas a pesar de que mi mundo no es el mundo de Río de Janeiro en que se mueve la literatura de Rubem (Wieser 2010 [2004]: 152).
Padura lehnt es ab, in Genrekategorien zu denken ("[…] siempre me he visto como uno más de los autores cubanos", Wieser 2010 [2004]: 154), und verneint folglich auch die Möglichkeit, das Genre formal einzugrenzen, obwohl seine eigenen Romane strukturell stark an das Ermittlungsschema rückgebunden sind. Auch der argentinische Autor Raúl Argemí vermeidet eine enge Definition. Was ihn in seinen Kriminalromanen bewegt, ist eine bestimmte Sichtweise auf die Welt: "Creo que no es un género, es un punto de vista, que puede estar en una novela policial o en una novela no policial" (Wieser 2010 [2008]: 40). Argemí lehnt formale Kriterien sogar vehement ab und macht als einziges Gattungsmerkmal das thematische stark: "[…] no hay investigación, no hay policía que investigue, no hay enigma. Es una historia de muerte en definitiva. Bueno, yo creo que la novela negra pasa por ahí. El protagonista es la muerte más que el hecho policial" (Wieser 2010 [2008]: 40). Für Argemís Landsmann Pablo De Santis spielen Strukturmodelle hingegen eine gewisse Rolle. Er hebt aber hervor, dass sich der Kriminalroman im 35 Eine mögliche Beeinflussung der Antwort durch die Frage wäre hier naheliegend. Autoren, die sich in ihren Romanen der Rätselstruktur bedienen, habe ich nach ihrer Definition einer novela policial gefragt (Padura, Ampuero, De Santis); Autoren, die freie Strukturen verwenden, nach ihrer Definition für novela negra (Argemí, Cueto, Mendoza); Roncagliolo nach beidem und Garcia-Roza nach dem einzigen im Portugiesischen üblichen Begriff, romance policial. Die Auswertung der Antworten zeigt jedoch, dass es keine direkte Korrelation zwischen Frage (novela policial oder negra) und Antwort (enges oder weites Gattungsverständnis) gibt. 36 Rubem Fonseca setzt sich in seiner Literatur sehr häufig mit dem Thema Gewalt auseinander. In seinen Erzählungen spielen traditionelle Strukturen der Kriminalliteratur jedoch kaum einer Rolle, außer in denjenigen, in denen Anwalt Mandrake die Hauptrolle spielt. Fonsecas Romane lehnen sich etwas stärker an traditionelle Strukturschemata an, durchbrechen diese aber auch immer wieder, z. B. Bufo & Spallanzani (1985), Vastas Emoções e Pensamentos Imperfeitos (1989) und Agosto (1990).
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Das Genre "Kriminalroman"
Laufe der Zeit sehr stark verändert hat (Wieser 2010 [2009]: 67). Seine persönliche Definition für die Gattung liefert er nicht, da er sich im Interview auf die Beschreibung ihrer historischen Veränderung konzentriert, womit er indirekt ausdrückt, dass es kein beschränktes Repertoire an Formen gibt. Luiz Alfredo Garcia-Roza aus Brasilien lässt sich ebenso wenig auf eine Definition festlegen. Im Interview erwähnt er keine formalen Kriterien, obwohl alle seine Romane eine Ermittlungsstruktur aufweisen. Dies könnte daran liegen, dass sie für ihn tatsächlich nicht zentral für die Gattungsbeschreibung sind, aber auch daran, dass er sie für allzu offensichtlich hält. Für ihn stehen thematische Gesichtspunkte auf jeden Fall im Vordergrund: […] eu acho que o romance policial moderno reedita aquilo que a tragédia grega fazia. A tragédia grega pegava as questões fundamentais do ser humano e levava aquilo para a praça pública. O romance policial também trabalha com as questões absolutamente fundamentais, é morte, é sexualidade. Incesto e parricídio são os temas fundamentais da psicanálise, são os temas fundamentais da tragédia e são em grande parte temas fundamentais do romance policial (Wieser 2010 [2006]: 111).
Der Peruaner Alonso Cueto beantwortet die Frage nach der Minimaldefinition des Kriminalromans, indem er die Eigenschaften des typischen Protagonisten des Genres beschreibt. Dieser sei "un ser sombrío, escéptico y al mismo tiempo curioso, inconforme, insatisfecho" (Wieser 2010 [2009]: 201). Außerdem hält er das Element der Ermittlung für zentral: Todas las historias nacen de esta inquietud de un individuo que busca desentrañar algo, explorar algo detrás de las apariencias. Y eso puede ser un crimen como puede ser una verdad escamoteada. En cierto modo, la novela negra puede tener o no un crimen, pero siempre oculta un hecho terrible, del que con frecuencia no sabremos nunca –como ocurre con frecuencia en Chandler. Buscar en la oscuridad, buscar detrás de las apariencias y explorar la oscuridad creo que es una definición de la novela negra aunque a veces en esa exploración no se busque un criminal o un delincuente sino un hecho oculto (Wieser 2010 [2009]: 202).
Cuetos Gattungsbegriff basiert also weniger auf dem Thema und läuft der oben entworfenen Gattungsbestimmung daher entgegen. Er zeigt aber auch, welche inhaltlich-strukturellen Merkmale besonders typisch für den Kriminalroman sind, die Verbrechensermittlung oder die Suche nach der Wahrheit im weitesten Sinne. Traditionellere Auffassungen vom Kriminalroman vertreten der Chilene Roberto Ampuero, der Peruaner Santiago Roncagliolo und der Mexikaner Élmer Mendoza. Für Ampuero ist das wesentliche Merkmal das Vorhandensein eines Rätsels, das auf unterschiedliche Weise enthüllt werden kann:
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Annäherung an die Gattungsbestimmung
Yo creo que tiene que haber un enigma que por lo general es el motor para la acción de la novela, tiene que haber un investigador, que no necesariamente puede ser profesional, y tiene que haber la búsqueda del esclarecimiento y punto. Creo que eso es lo mínimo esencial (Wieser 2010 [2009]: 129).
Ampuero erfasst damit eines der größten Subgenres des Kriminalromans, nämlich den Rätselroman. Dass der Autor hier nicht erwähnt, dass das Rätsel auf einem Mord oder einem anderen Verbrechen basieren muss, kann zum einen daran liegen, dass er es für selbstverständlich hält, aber auch daran, dass er den tatsächlichen Auslöser für das Rätsel für untergeordnet hält (wie Cueto), womit die Enträtselungsarbeit in den Vordergrund rückt. Auch für Roncagliolo ist der Rätselcharakter das Hauptmerkmal der Gattung. Er präzisiert es allerdings tatsächlich als Verbrecherrätsel (whodunit): Una novela policial es una historia con un acertijo criminal que resolver, en la que seguimos al investigador mientras desentraña el misterio. Creo que una novela negra es un subgénero caracterizado por la ambigüedad moral de los personajes: ni el criminal es malvado, ni el investigador es muy buena persona, por lo cual, su mirada sobre la realidad es sombría (Roncagliolo, E-Mail an d. Verf. vom 24.03.2009).
Die novela negra definiert Roncagliolo als Subgattung der novela policial, wobei er den Unterschied nicht formal fasst, sondern an den Eigenschaften der Figuren festmacht. Élmer Mendoza beschränkt seine Gattungsdefinition auf Romane, in denen ein Verbrechen aufgeklärt wird: El primer elemento mínimo de la novela policiaca es que tiene que haber un punto de partida, que tiene que ver con un delito, la existencia de un delito. El segundo es que sea un delito de tal suerte que requiera una posible investigación para que sea aclarado (Wieser 2010: 177).
Diese Auffassung führt bei Mendoza dazu, dass er seinen Roman Un asesino solitario, in dem die Komponente der Ermittlung fehlt (vgl. Kapitel 5.3.1), selbst nicht als Kriminalroman bezeichnet (ebd.: 178). Insgesamt wurde deutlich, dass die Mehrheit der befragten Autoren einen dehnbaren Genrebegriff vertritt, der der hier vertretenen Auffassung recht nahe kommt. Es verwundert daher nicht, dass ihre Werke formal höchst unterschiedlich gestaltet sind.
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2. Audiovisuelle, lebensweltliche und literarische Kontexte 2.1. Die Aneignung einer fremden Gattung Die Urväter der Kriminalerzählung und des Kriminalromans, Edgar Allan Poe und Sir Arthur Conan Doyle, sind ein Amerikaner und ein Engländer. Zwar waren Poes tales of ratiocination um den chevalier Auguste Dupin, verfasst in den 1840er Jahren, zunächst ohne direkte Nachfolger geblieben, doch hatte sich Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa eine Romangattung herausgebildet, die als Wegbereiter des späteren Kriminalromans gelten darf und ihrerseits im Wesentlichen aus der gothic novel (Horace Walpole, Mary Shelley, E.T.A. Hoffmann) hervorgegangen ist: die sogenannte mystery novel, als deren Hauptvertreter Wilkie Collins aus England und Émile Gaboriau aus Frankreich gelten (Schulz-Buschhaus 1975: 14-16). Außerdem waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts im industrialisierten England die Voraussetzungen für die Entstehung eines literarischen Genres, das sich mit Verbrechen und Verbrechensaufklärung auseinandersetzt, günstig. Es entstanden Großstädte mit hoher Bevölkerungsdichte und gestiegener Verbrechensrate. In London wurde die erste (nicht militärische) Polizeibehörde ins Leben gerufen.1 Vor diesem Hintergrund erschienen ab 1887 Conan Doyles Sherlock-Holmes-Erzählungen und -Romane. Conan Doyle bezieht sich deutlich auf das Vorbild Poe und löst damit eine Folge von Werken aus, die sich ins heutige Genre der Kriminalliteratur auffächern. Seine Werke gründen auf dem Zeitgeist der Moderne, auf Rationalismus, technischem und medizinischem Fortschritt und der positivistischen science of deduction, deren Ausgangspunkt eine (pseudo)naturwissenschaftlich genaue Beobachtung von empirischen Fakten ist, die gültige Schlüsse nach dem Kausalitätsprinzip zulässt, was jedoch nur in der Fiktion funktioniert. Demgegenüber steht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine noch stark feudal geprägte Gesellschaftsordnung in Lateinamerika. Die Erfahrung mit und Erinnerung an Caudillos und Diktatoren (wie Rosas in Argentinien oder Santa Anna in Mexiko) sowie die Spannung zwischen "Zivilisation und Barbarei" (so der Untertitel von Sarmientos Facundo), Großgrundbesitzern und Besitzlosen bilden zu den Verhältnissen in London einen starken Gegensatz. Anfang des 20. Jahrhunderts
1 Die Metropolitan Police von London gibt es seit 1829. Sie ist auch unter dem Namen Scottland Yard bekannt, da so die kleine Straße hieß, die durch ihre Headquarters verlief. Eine ausführliche Darstellung der Geschichte dieser Polizeibehörde findet sich auf ihrem Internetportal: www.met.police.uk.
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Die Aneignung einer fremden Gattung
(nach dem Modernismus, dessen Werke meist in exotischen Antiwelten situiert sind) beschäftigten sich die lateinamerikanischen Schriftsteller und Intellektuellen mit Identitätsentwürfen (mestizaje) sowie gesellschaftspolitischen Fragen wie sozialer Unterdrückung, Marginalisierung oder Diskriminierung. Sie schrieben eine engagierte novela social, in der costumbristische, realistische und naturalistische Tendenzen des 19. Jahrhunderts fortwirken. Dazu gehören der mexikanische Revolutionsroman, der indigenistische Roman der Andenländer, der proletarische Roman aus den La-Plata-Großstädten und den Plantagen in der Karibik sowie die Werke des brasilianischen Regionalismus (Ertler 2002: 115-122 und Rössner 1995: 263-393). In den 1920er und 30er Jahren begannen die lateinamerikanischen Verlage das in Europa und den USA boomende Genre des Kriminalromans mit seinen damaligen Hauptvarianten Rätselroman und hard-boiled detective novel durch Übersetzungen und die Herausgabe von Reihen in Lateinamerika bekannt zu machen. Die angelsächsischen Rätselromane bildeten zur lateinamerikanischen Literatur dieser Zeit aber geradezu einen Gegenpol: Da waren Agatha Christie in England und John Dickson Carr in den USA, das sogenannte Golden Age des pointierten Rätselromans der 1920er und 30er Jahre, das sich mit seinen englischen Lords, verschlossenen Räumen, überspitzten Lösungen und seiner Geschichtslosigkeit weit vom realistischen Roman entfernt hatte.2 In den USA vertraten in den 1930er und 40er Jahren Dashiell Hammett und Raymond Chandler einen neuen, realitätsbezogenen Ansatz in ihren hard-boiled-Romanen, in denen sie Verbrechen als integralen Bestandteil der Gesellschaft darstellten. Erst diese Variante kam den lateinamerikanischen Konfliktfeldern der Zeit näher und stellt bis heute für viele Autoren des Subkontinents den wichtigsten Bezugspunkt dar.3 Laut Wörtche wurde ab den 1940er Jahren im angelsächsischen Raum die Rätselstruktur zurückgenommen (wie bei Cornell Woolrich und Jim Thompson), nachdem sich das Schema des Detektiv- bzw. Rätselromans abgenutzt hatte. Das Happy Ending oder die Wiederherstellung der Ordnung war bei Autoren wie Georges Simenon, Friedrich Glauser oder Friedrich Dürrenmatt nicht mehr verpflichtend und somit der Kriminalroman nicht länger von seiner Struktur her, sondern nur noch anhand seiner Subgenres thematisch einteilbar (z. B. Psycho-Thriller, Polit-
In Großbritannien bemühte sich Dorothy Sayers (z. B. mit Gaudy Night, 1936) um den Anschluss des Detektivromans an den realistischen Roman in der Form einer novel of character and manners. Aber auch diese Variante hatte aufgrund ihrer aristokratischen Figuren und spezifisch englischen Settings nichts mit den Anliegen lateinamerikanischer Autoren zu tun. 3 Weshalb die amerikanische Schule bis heute das Modell für lateinamerikanische Krimiautoren bleibt, erklärt Raúl Argemí wie folgt: "Uno empieza a desarrollar en la adolescencia –sobre todo en los países del tercer mundo– una cierta conciencia social implícita. Uno tiene la sensación de que todo anda para el carajo. Y de pronto Chandler te explica cosas. Uno empieza a saber que la policía siempre está en contra y Chandler te explica eso" (Wieser 2010 [2008]: 38). 2
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Thriller, Polizeiroman). Seit den 1960er Jahren traten weitere wichtige Veränderungen ein: Autoren wie Joseph Wambaugh führten den Multiperspektivismus ein und verzichteten auf einen durchgängigen plot. Pieke Biermann arbeitete mit Polyphonie; Derek Raymond integrierte nicht-narrative Textelemente und Jerome Charyn entwarf eigene Kunstsprachen (Wörtche 2000: 343f.). Der europäisch-angelsächsische Kriminalroman hat im Prinzip sämtliche Entwicklungen in der Narrativik mitvollzogen.4 All diese Entwicklungslinien standen und stehen den lateinamerikanischen Autoren für eine literarische "Aneignung" zur Verfügung. In den postcolonial studies bezeichnet der Begriff "Aneignung" (appropriation) den Prozess der Übernahme von kulturellen Darstellungsformen aus der imperialen Kultur in die eigene Kultur, wobei sich Autoren vor allem solche Formen aneignen, die für die Artikulierung der eigenen Kultur nutzbar gemacht werden können. Indem sich postkoloniale Gesellschaften im Allgemeinen die Diskursformen des jeweiligen Mutterlands aneignen, können sie in den imperialen Diskurs besser eingreifen und ihre Stimme platzieren. Appropriation verfolgt laut Ashcroft (et al.) häufig das Ziel, durch die Sprache und die Darstellungsformen des Imperiums ganz andere kulturelle Inhalte zu transportieren und dabei das Publikum der ehemaligen Kolonialmächte zu erreichen.5 Im Hinblick auf die Aneignung des Kriminalromans in Lateinamerika ist zu spezifizieren, dass sie erst erhebliche Zeit nach der Unabhängigkeit von Spanien und Portugal stattgefunden hat, wobei die späte Unabhängigkeit Kubas (1898) hier natürlich die Ausnahme bildet. Es handelt sich bei dieser literarischen Gattung nicht um eine von den Kolonialmächten mitgebrachte Diskursform, sondern um eine später von Dritten (v. a. den USA, England und Frankreich) übernommene. Der Kriminalroman der Iberischen Halbinsel muss genau wie der lateinamerikanische unter dem Vorzeichen der Aneignung gelesen werden. Spanien blickt auf eine dünnere Tradition in der Gattung zurück als Länder wie Argentinien, Mexiko oder Kuba, auch wenn die spanische Produktion heute sehr breit sein mag. Eine eigene zusammenhängende Kriminalliteratur hat Spanien erst seit der transición ausgebildet.6 In Portugal wird das Genre Eine detailliertere Ausführung zu den europäischen und nordamerikanischen Entwicklungslinien kann vielerorts nachgelesen werden (z. B. Schmidt 1989, Priestman 2003, Knight 2004, Scaggs 2005), ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht zielführend. 5 "[T]he dominant language and its discursive forms are appropriated to express widely differing cultural experiences, and to interpolate these experiences into the dominant modes of representation to reach the widest possible audience" (Ashcroft et al. 2000: 19). 6 In Spanien gab es vor dem Bürgerkrieg nur vereinzelte Kriminalromane wie die Parodie von Joaquín Belda ¿Quién disparó? (1909) oder den naturalistischen Kurzroman von Emilia Pardo Bazán La gota de sangre (1911). Vom ersten Weltkrieg über den spanischen Bürgerkrieg bis weit in die Franco-Zeit hinein klafft eine lange Lücke (Colmeiro1994: 103-125). 1952 erschien der experimentelle Kriminalroman El inocente, opera prima von Mario Lacruz, dessen Handlung allerdings an einem 4
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Die Aneignung einer fremden Gattung
erst seit den 1980er Jahren intensiver gepflegt und ist noch kaum erforscht.7 Keines der beiden Länder konnte also zur Zeit der Geburtsstunde der lateinamerikanischen Kriminalliteratur schulebildende Modelle liefern, was nicht heißen soll, dass eine Befruchtung im Einzelfall nicht möglich war. Inwiefern die wenigen frühen Werke der spanischen und portugiesischen Kriminalliteratur auf die lateinamerikanische tatsächlich punktuell gewirkt haben, müsste im Detail untersucht werden. Für den Prozess der "Aneignung" findet man andernorts auch den Begriff "Transkulturation". Der kubanische Anthropologe Fernando Ortiz verwendet den Terminus erstmals in Contrapunteo cubano del tabaco y del azúcar (1940). Transkulturation ist für ihn ein kreativer Prozess der Übernahme von Elementen einer Kultur in eine andere. Ángel Rama entwickelt das Konzept weiter, indem er es stärker auf literarische Entwicklungen bezieht und von einer transculturación narrativa spricht. Die Integration neuer Elemente führt nach ihm zu einer Neuanordnung der Elemente der eigenen Kultur und betrifft drei wesentliche Bereiche: die Sprache, die literarische Struktur und die Weltanschauung (cosmovisión) (Rama 1982: 40-56). Ohne Ramas Konzept hier im Detail diskutieren zu wollen8, erfasst es im Großen und Ganzen das, was die lateinamerikanifiktiven Ort angesiedelt ist, da die Thematisierung von Verbrechen und Aufklärung unter der franquistischen Zensur schwierig war (ebd.: 140-151). Erst Francisco García Pavón schrieb in den 1960er Jahren eine genuin spanische Kriminalliteratur mit den costumbristischen Erzählungen und Romanen über den polizeilichen Ermittler Plinio, in denen er einer direkten Thematisierung der Diktatur ausweicht. Aber auch sein Projekt bleibt isoliert (ebd.: 151-164). Als Genre etabliert hat sich der Kriminalroman schließlich mit dem Ende der Franco-Zeit durch Autoren, die sich die amerikanische, realitätsbezogene Schule zu Eigen gemacht haben, allen voran Manuel Vázquez Montalbán, Eduardo Mendoza, Andreu Martín, Juan Madrid und Francisco González Ledesma. Seither konnte sich eine breite Krimi-Literatenszene herausbilden. Einen Überblick gewähren Colmeiro (1994), die von Schmid und Ollé (1998) herausgegebenen Basler Tagungsakten (darin insbesondere die Aufsätze von Tyras und Frechilla) sowie Janerka (2010). 7 In Portugal ist die Gattungstradition noch dünner als in Spanien. Bis in die 1980er Jahre hinein findet man nur wenige isolierte Werke. Fernando Pessoa schrieb in jungen Jahren eine Rätselerzählung im Stile Poes ("A Very Original Dinner", entstanden zwischen 1905 und 1907), in der es allerdings nicht um ein Verbrechen geht. Aus der Feder von Reinaldo Ferreira alias Repórter X stammen die serialisierten Kriminalnovellen Memórias extraordinárias do Dr. Duque (veröffentlicht ab 1929 im Magazine Bertrand) und Memórias extraordinárias do Major Calafaia (Ort der Erstveröffentlichung unbekannt) (ausführlich zu Pessoa und Ferreira siehe Grossegesse 1998). António Andrade Albuquerque schrieb seit Mitte der 1950er Jahre Kriminalromane unter dem Pseudonym Dick Haskins. In den 1960er und 1970er Jahren erschienen Werke namhafter Autoren, die der Gattung zugeordnet werden können: O Delfim (1968) von José Cardoso Pires oder O Que Diz Molero (1977) von Dinis Machado, der auch unter dem Pseudonym Dennis McShade veröffentlichte. Seit 1982 verleiht der Verlag Caminho einen Krimipreis, im Zuge dessen einige Krimischriftsteller an Terrain gewinnen konnten: Ana Teresa Pereira, Henrique Nicolau, José Aniceto, Manuel Grilo, Maria do Céu Carvalho, Miguel Miranda, Modesto Navarro, Francisco José Viegas und Margarida Utne (zu Details siehe Dinis 2005). 8 Diskutiert und kritisiert wurde Ramas Auslegung des Konzepts vor allem von Neil Larsen in seinem Aufsatz "Magical Realism Revised: From Transubstantiation to Transculturation" (1990), von Antonio Cornejo Polar in "Mestizaje, transculturación, heterogeneidad" (1994), von Friedhelm Schmidt in "¿Literaturas heterogéneas o literatura de la transculturación?" (1995) und von Abril Trigo in "De la transculturación (a/en) lo transnacional" (1997). Sobrevilla (2001) fasst die einzelnen
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Audiovisuelle, lebensweltliche und literarische Kontexte
schen Kriminalschriftsteller vollzogen haben: Die kreative Neuorganisation vorgeprägter (pseudonormativer) Strukturschemata sowie die Modifikation der in der Gattung mitgeführten Weltanschauung vor dem Hintergrund der eigenen Kultur.9 Welche Elemente des Kriminalromans insbesondere von der Transkulturation betroffen sind, kann ein genauerer Blick auf die gesellschaftlichen Kontexte klären. Europäische und US-amerikanische Kriminalromane spielen in einem demokratischen, rechtsstaatlichen und kapitalistischen Kontext, in dem andere Zustände herrschen als in den lateinamerikanischen Ländern. Was Ilan Stavans für die Situation in Mexiko ausführt, gilt im Wesentlichen auch für andere Länder Lateinamerikas, wenn auch mit Abstufungen: Es gab und gibt keine verlässliche staatliche Ordnung, der die Bürger vertrauen. Der Mangel an politischer Stabilität untergräbt die Glaubwürdigkeit der Polizei und des Gesetzes. Recht wird als variabel und willkürlich empfunden, da es davon abhängt, was die momentane Regierung als Recht und Unrecht dekretiert. Die staatlichen Ordnungskräfte fungieren als Handlanger der Regierungsinteressen, als repressive Macht, der die Menschen grundsätzlich mit Misstrauen begegnen. Das Machtzentrum ist ein traditionell nicht autochthones. Früher befand sich die Staatsgewalt in den Händen der Kolonisatoren, die die Sicherheit im Land so herstellten, wie es ihren Interessen am besten zupasskam. Aber auch nach der Unabhängigkeit blieb die Kluft zwischen der herrschenden Klasse und der Bevölkerung spürbar. Ordnung wurde von außen auferlegt und konnte daher nicht von innen durch die Überzeugung der Bevölkerung wachsen, so dass die Menschen bis heute nicht an den Nutzen der staatlichen Institutionen glauben. Die tief verankerte Korruption der Polizei ist nur ein Symptom davon. Auch die Linie zwischen "gut" und "böse" ist für die Menschen äußerst unscharf, da sie vom momentanen politischen Klima abhängt (Stavans 1993: 65-67). Mempo Giardinelli bestätigt für Argentinien diesen Gesamteindruck, wenn er die Ausübung von Gewalt grundsätzlich mit dem Staat in Verbindung bringt, wohingegen das argentinische Volk sich immer unterdrückt und von der Unterentwicklung beeinträchtigt fühle: La violencia siempre está referida a la autoridad dictatorial o falsamente democrática, en el mejor de los casos. La interpretación –o la sugerencia– política es parte esencial del thriller latinoamericano. Quizá suene desagradable: pero es
Kritikpunkte zusammen. Bei Marie Louise Pratt (1992) findet das Konzept beispielsweise Anwendung bei der Erforschung von Reiseberichten. 9 Dem dritten von Rama angeführten Bereich, der Sprache, wird in dieser Untersuchung nicht im Detail nachgegangen. In welcher Beziehung die Sprache der lateinamerikanischen Kriminalromane zur Sprache nordamerikanischer und europäischer (literarischer wie audiovisueller) Werke steht, kann nicht pauschal beantwortet werden, sondern müsste in einer eigenen Studie erforscht werden, die die Hypotexte viel detailgenauer analysiert, als dies in der vorliegenden Arbeit möglich ist.
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cierto que en nuestra literatura también afloran nuestros complejos, nuestras desdichas como pueblos sometidos, subdesarrollados (Giardinelli 1984b: 21).
Giardinelli bezog sich damit 1984 noch auf die Verhältnisse während der Militärdiktatur. Carlos Gamerro zeichnet für die Zeit danach jedoch ein ähnlich negatives Bild von den staatlichen Institutionen Argentiniens, vor allem von der Polizei: Todos sabemos que la policía es quien comete los crímenes, y sin embargo llamamos a la policía cuando nos roban o nos asaltan. Esta paradoja puede en parte deberse a una comprensible razón psicológica: no tenemos a quién más recurrir. (Eso, por supuesto, de las clases medias para arriba. Para las clases populares, para los indigentes sobre todo, la policía es, sin más, el enemigo.) (Gamerro 2005).
Gamerro führt außerdem aus, dass in Argentinien die Volkshelden traditionell Banditen und Rebellen waren (Martín Fierro, Juan Moreira, Hormiga Negra, Bairoletto und Facón Grande) und die Menschen den Staat weiterhin grundsätzlich als ihren Gegner empfinden im Gegensatz zur Bevölkerung in den Ursprungsländern des Kriminalromans: "[…] el argentino, a diferencia de los americanos del Norte y de casi todos los europeos, no se identifica con el Estado" (Gamerro 2005).10 Der kubanische Literaturwissenschaftler Leonardo Acosta kondensiert die Problematik der Aneignung der fremden Gattung ebenfalls auf diese Punkte: […] se trata de un continente que ha estado durante decenios sometido a la férula de los peores criminales, llámense éstos Somoza, Trujillo, Castillo Armas, Ubico, Juan Vicente Gómez o Stroessner, para no sacar a relucir la denigrante galería de dictadores-asesinos del siglo pasado. Los cuerpos policíales [sic] de estos "ciudadanos-presidentes" […] no merecen el menor respeto de nadie que se dedique a escribir novelas policíales [sic], cuyo fin, en definitiva, es lograr el triunfo de la justicia contra el crimen (Acosta 1986: 129f.).
Eine Literaturform, die den Sieg der Gerechtigkeit zelebriert und am Ende die durch das Verbrechen gestörte Ordnung wiederherstellt wie der englische Detektivroman, zum Teil der amerikanische hard-boiledRoman und vor allem die unzähligen US-amerikanischen Krimifernsehserien (Pseudonorm), war im Kontext von Diktaturen mit repressiven Polizeiapparaten nicht glaubwürdig fortführbar, ohne grundlegend transformiert zu werden.
10 Verbrecher als Volkshelden gab es jedoch auch schon sehr früh in der französischen Krimitradition. Hier sind vor allem der skrupellose Bösewicht Fantômas und der Gentleman-Dieb Arsène Lupin zu nennen. Die Fantômas-Romane von Pierre Souvestre und Marcel Allain entstanden zwischen 1911 und 1913 (Allain schrieb bis 1963 allein weiter) und die Arsène-Lupin-Romane von Maurice Leblanc zwischen 1905 und 1935.
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Einige der Autoren, deren Werke hier behandelt werden, bestätigen im Interview ebenfalls den schlechten Ruf der Polizei und vor allem der staatlichen Institutionen, wie der Regierung, des Parlaments und der Gerichte im heutigen Lateinamerika. Raúl Argemí musste die argentinische Militärdiktatur miterleben und als Widerstandskämpfer zehn Jahre Gefängnishaft erdulden. Aufgrund seiner Erfahrungen misstraut er dem Militär und der Polizei zutiefst: […] están en guerra con los civiles. Eres culpable hasta que demuestres lo contrario. Entonces, ante la duda, antes que protestes, te van a quebrar una pierna, para que no protestes, y después te llevan a juicio. Cuando sos inocente te dicen: "Mirá que sos inocente. ¡Qué suerte!" La actitud de las fuerzas policiales no es la que se tiene aquí en Europa, que es más humana, más respetuosa del otro (Wieser 2010 [2008]: 41).
Auch die brasilianische Polizei ist bekannt dafür, brutale, ungesetzliche Operationen durchzuführen, wie Garcia-Roza bekräftigt: A polícia na América Latina em geral sempre foi uma polícia muito mais repressora do que investigadora. A tradição da polícia brasileira é uma tradição violenta, de reprimir e não de investigar. Então essa ideia da investigação no sentido estrito do termo não existe aqui (Wieser 2010 [2006]: 112).
Ebenso negativ schätzt Élmer Mendoza das Verhältnis der Mexikaner zu ihrer Polizei ein: "Aquí te puede ir mejor si te asalta un delincuente que si te asalta un policía. Eso dice la gente" (Wieser 2010: 189). Etwas ambivalenter beurteilen nach Alonso Cuetos Einschätzung die Peruaner die Polizei in ihrem Land: Yo creo que un peruano frente a un policía puede sentir una variedad de emociones. En el cuerpo de policía hay siempre de todo. Yo tuve una relación muy amistosa con los policías […]. Evidentemente también he tenido experiencias con policías corruptos muchas veces, sobre todo con los policías de tránsito, pero no diría que es una profesión que inspira ni confianza ni desconfianza sino todo al mismo tiempo igual que en todas las profesiones (Wieser 2010 [2009]: 205).11
Aber andere staatlichen Institutionen und ihre Vertreter bewertet auch er sehr negativ: En toda América Latina ha habido y hay –a pesar de todos los avances que hemos tenido– un divorcio entre las clases políticas y el resto de la población. Hay una falta de confianza, de fe, y eso ha creado en muchos países unas sociedades alternativas. Las sociedades que no confían en el Estado tienen una economía infor-
11 Cuetos Eindruck von der peruanischen Polizei ist allerdings durch einen persönlichen Kontakt zu Polizisten während seiner Kindheit geprägt. Da sein Vater Bildungsminister war, wurde das Haus der Familie von Polizisten bewacht, mit denen sich Alonso Cueto freundschaftlich unterhielt und die er als Individuen, nicht als Repräsentanten einer Institution kennenlernte.
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mal, a veces hacen sus propios castigos, en las zonas rurales la gente castiga a los ladrones por su cuenta (Wieser 2010 [2009]: 206).
Das Entstehen eines parallelen, informellen Rechts- und Wirtschaftssystems in ländlichen Gegenden aufgrund eines tiefen Misstrauens dem Staat gegenüber kann nicht nur in Peru, sondern auch in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern beobachtet werden.12 Roberto Ampuero macht demgegenüber deutlich, dass in Chile die uniformierte Polizei (die carabineros) sogar einen sehr guten Ruf hat, im Gegensatz zur zivil gekleideten Kriminalpolizei, die in den letzten Jahren in unterschiedliche Skandale verwickelt war: Según las encuestas, desde hace más de diez años los carabineros, o sea, la policía uniformada, es la institución más respetada y con mayor prestigio para la población. Es una institución ejemplar. Curiosamente la institución menos respetada es la del parlamento, fundamentalmente la Cámara de Diputados, que son vistos como personas poco profesionales, inmersas en discusiones personales […]. La visión de la policía civil es más crítica, pero no por el pasado de la dictadura, sino porque han ocurrido varios casos en los cuales policías de civil han estado involucrados en situaciones escandalosas (Wieser 2010 [2009]: 131).
Das Misstrauen den Politikern gegenüber, von dem Ampuero hier spricht, dehnt er zum Teil auch auf den chilenischen Justizapparat aus, obwohl er gleichzeitig betont, dass die Zustände in Chile im lateinamerikanischen Vergleich verhältnismäßig gut sind, da Korruption in der Gesellschaft insgesamt weniger verwurzelt ist als andernorts.13 Im Gegensatz zu den Aussagen der anderen Autoren hält Leonardo Padura die kubanische Polizei nicht für repressiv: "La policía cubana, realmente, en su proyección social no es una policía represiva. No lo ha sido nunca y creo que eso ha sido uno de los elementos que más ha cuidado como política el Ministerio del Interior en Cuba" (Wieser 2010 [2004]: 156).14 Er kennt das Problem aber aus Großstädten wie São Paulo und Mexiko-Stadt, wo er die Leute sagen gehört hat: "Cuando veas a un policía cruza la calle y vete por la otra cuadra" (Wieser 2010 [2004]: 156). Die Adaptationsschwierigkeiten des Kriminalromans an den kubani-
12 Beispielsweise handelt auch der Kriminalroman Un dulce olor a muerte (1994) des Mexikaners Guillermo Arriaga von einem Akt der Selbstjustiz in einer ländlichen Gegend Mexikos (Delgado Rodríguez/Wieser 2008). 13 Dazu Ampuero: "La gente del pueblo teme caer en las manos de la justicia. Hay una visión crítica de la justicia también como aparato del Estado. No es tan crítica como en el resto de América Latina, porque Chile es un país que –en comparación con muchos países en el mundo y América Latina– no es corrupto" (Wieser 2010 [2009]: 131). 14 Es besteht die Möglichkeit, dass der auf Kuba lebende Autor sich hier nicht mit einer Kritik an staatlichen Institutionen aus dem Fenster lehnen möchte und die Situation deswegen positiv darstellt.
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schen Kontext waren jedoch nicht geringer, sie lagen vielmehr in einem anderen Bereich, nämlich dem der politischen Ideologie. Zu den Erfahrungen mit repressiven, staatlichen Ordnungskräften in Diktaturen und bürgerkriegsähnlichen Zuständen gesellen sich in Lateinamerika unzählige Erlebnisse mit struktureller Gewalt aufgrund der großen Kluft zwischen Arm und Reich, sozialer und ethnischer Marginalisierung, einer durch und durch korrupten Gesellschaft, Staatsbankrotten, Wirtschaftsskandalen und Umweltkatastrophen. Der Stellenwert von Gewalt ist in diesen Kontexten ein anderer als in den Gesellschaften, in denen die Gattungstradition des Kriminalromans verwurzelt ist, denn auch in Raymond Chandlers Los Angeles scheint die Herstellung von Gerechtigkeit immer eine reelle Möglichkeit zu sein, auch wenn sie nur punktuell erreicht wird. Chandler konnte in seiner vom Verbrechen regierten Großstadt immer noch einen Helden agieren lassen, der mit all seiner Ehrenhaftigkeit, Rechtschaffenheit und Schlagfertigkeit als literarische Figur auf einer symbolischen Ebene funktionierte: Philip Marlowe stand für Moral, Anstand und Mannesmut; er war der Held im Kampf für Gerechtigkeit. Denn so konzipierte ihn Chandler: But down these mean streets a man must go who is not himself mean, who is neither tarnished nor afraid. The detective in this kind of story must be such a man. He is the hero; he is everything. He must be a complete man and a common man and yet an unusual man. He must be, to use a rather weathered phrase, a man of honor—by instinct, by inevitability, without thought of it, and certainly without saying it. He must be the best man in his world and a good enough man for any world (Chandler 1972 [1944]: 20).
Auch in den lateinamerikanischen Kriminalromanen findet man noch integre Helden (wie die Protagonisten der in Kapitel 4 behandelten Romane), jedoch dominieren Figuren, die ihre moralischen Ideale nur mit Abstrichen leben können. Sie passen sich an die rauen Gegebenheiten an, um das eigene Überleben zu sichern, werden selbst gewalttätig, um ihre Ziele zu erreichen, oder integrieren sich sogar ganz und gar ins System einer korrupten Macht (wie die Protagonisten der in Kapitel 5 behandelten Romane). Privatdetektive, die sich gegen die politische und polizeiliche Macht stellen, findet man laut Carlos Gamerro überhaupt nicht. Gamerro, selbst Autor von Kriminalromanen, schrieb 2005 in einem Artikel in der argentinischen Zeitung Clarín diesbezüglich: "Un Marlowe, para nuestra realidad, es tan exótico o imposible como un Sherlock Holmes o una Miss Marple; y si fuera posible terminaría flotando boca abajo en el Riachuelo a la mitad del primer capítulo" (Gamerro 2005). Raúl Argemí äußert sich zu Marlowe ähnlich: "Philip Marlowe es un personaje que cree en la justicia, cree que puede haber justicia, y se enoja porque los jueces no la aplican. Cuando vos estás en Latinoamérica sabés que no la van a aplicar, que es antinatural que suceda" (Wieser 56
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2010 [2008]: 41). Folglich ist im lateinamerikanischen Kontext nur ein transformiertes Konzept des Kriminalromans glaubwürdig, mit anders konzipierten Figuren. Die Autoren müssen daher mit dem angelsächsischen Modell des Kriminalromans sehr frei umgehen, wenn sie mit der fremden Gattung auf den eigenen Kontext referieren wollen. Michail Bachtins Konzept der "Hybridität" eignet sich für die Beschreibung der Effekte einer solchen Transkulturation. Als Hybridisierung versteht Bachtin "die Vermischung zweier sozialer Sprachen innerhalb einer einzigen Äußerung, das Aufeinandertreffen zweier verschiedener, durch die Epoche und die soziale Differenzierung (oder sowohl durch diese als auch durch jene) geschiedener sprachlicher Bewußtseine in der Arena dieser Äußerung" (Bachtin 1979: 244).15 Während sich die Hybridisierung bei der Sprachentwicklung unabsichtlich und unbewusst vollzieht, wird sie in Romanen bewusst und mit einer bestimmten Absicht eingesetzt. An die Vermischung zweier sozialer Sprachen ist für Bachtin im Roman die Vermischung der "in diesen Formen angelegten Standpunkte gegenüber der Welt" (Bachtin 1979: 245) geknüpft, weswegen er auch von "Sinnhybride" (ebd., kursiv im Org.) spricht. Mit der "beabsichtigten Hybridisierung" hebt der Romanautor seine Beobachtungen auf ein höheres Niveau: Durch den Rekurs auf einen fremden Diskurs werden nicht nur eigene Beobachtungen, sondern auch Beobachtungen "zweiter Ordnung" vermittelt, das heißt der Beobachter "stellt dar, was er an Beobachtungen anderer beobachtet hat: daß nämlich disparate Sprachen, Diskurse in einen Dialog miteinander treten, daß Sprache nicht mehr 'absolutistisch regiert', sondern sich als Pluralismus begreifen läßt, aus dem ausgewählt werden muß und je unterschiedlich ausgewählt wird" (Schneider 1997: 24f.).16 Dadurch kann eine besondere Art der selbstkritischen Distanz zum Eigenen erweckt werden. Die Überlegungen Bachtins können auch auf literarische Gattungen angewendet werden. Löst man eine Gattung aus ihrem Entstehungszusammenhang und überträgt sie in einen neuen Kontext, in dem der fremde und der eigene Diskurs eine Kontaktzone bilden, dann wird die Gattung absichtlich hybridisiert. Die Gattung wäre somit ein bestimmter "Standpunkt gegenüber der Welt", ein bestimmtes Vergrößerungsglas, das sowohl blinde Stellen aufweist, als auch mancherorts besonders scharf stellen kann. Wird eine Gattung auf einen anderen Kontext übertragen, so beo-
15 Bei Bachtin ist die Kategorie des Hybriden mit der der Dialogizität verwandt, ihr Gegenbegriff ist jedoch nicht das Monologische, sondern das "Absolute, Reine, Puristische und auch das Zentralistische" (Schneider 1997: 20). 16 Das Hybride ist kein dauerhaftes Phänomen, sondern je eine historische Stufe hin zu einer neuen Homogenisierung. Dem Hybriden sieht der Rezipient seine Herkunft aus heterogenen Bereichen noch an und ist sich dessen bewusst. So wäre ein Pidgin eine hybride Sprache, während eine Kreolsprache bereits als homogenisiert gilt, da sie als eigenständige Form wahrgenommen wird (Schneider 1997: 20f.).
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bachtet der Autor durch den Diskurs der fremden Gattung seine eigene Welt und wird zum Beobachter zweiter Ordnung. Daher schwingt in lateinamerikanischen Kriminalromanen, die den Prozess der Transkulturation durchlaufen haben, der ursprüngliche Diskurs (die Pseudonorm) immer mit, wodurch sein inhärentes ideologisches Erbe bloßgestellt und der Kritik ausgesetzt werden kann. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass das subversive Potenzial der lateinamerikanischen Kriminalromane im Panorama der Kriminalliteratur an und für sich noch kein Alleinstellungsmerkmal ist. Die Lösbarkeit von Verbrechen und die Wiederherstellbarkeit der Ordnung in Frage zu stellen, gehört auch in der zeitgenössischen europäischen und nordamerikanischen Kriminalliteratur zum Usus (sogar bei so populären Autoren wie Henning Mankell oder Donna Leon), mit dem Unterschied, dass in der Regel damit keine Infragestellung des Rechtsstaats an sich einhergeht. Außerdem findet man im angelsächsischen Bereich schon viel früher radikal gesellschaftskritische Texte (wie Dashiell Hammetts Red Harvest von 1929, oder Chester Himes’ Harlem-Romane der 1950er Jahre). Was jedoch in Lateinamerika grundsätzlich anders ist als in den Ursprungsländern des Kriminalromans, ist der Sprecherstandpunkt, von dem aus der Diskurs geäußert wird. Die lateinamerikanischen Autoren treten in eine von ausländischen Modellen dominierte Kommunikationssituation ein, was es ihnen erlaubt, sowohl nach innen gegen ihr eigenes Gesellschaftssystem als auch nach außen gegen die ausländische Pseudonorm einen subversiven, hybriden Diskurs zu artikulieren. Wie die dominanten gegenwärtigen Modelle zu charakterisieren sind, soll im Folgenden eruiert werden.
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2.2. Audiovisuelle Kontexte: Die Prägung des Erwartungshorizonts In Kapitel 1.2 wurde die Gattung des Kriminalromans anhand von sechs Kriterien eingegrenzt. In Bezug auf das Kriterium "Erwartungshorizont und Modell-Leser" fiel der Ausdruck "Pseudonorm". Es wurde angesprochen, dass bestimmte Strukturformeln und Ideologeme den Erwartungshorizont der Leser dominieren und Kriminalromane einen ModellLeser einfordern, der diese pseudonormativen Muster kennt. Wie diese Muster in unserer heutigen Zeit entstehen und wie sie zu beschreiben sind, soll im Folgenden erörtert werden. Die Prägung der Pseudonorm erfolgt nicht nur durch die Kriminalliteratur selbst, deren "trivialer" Sektor tausendfach dieselben Schemata leicht variiert, sondern auch durch andere Medien. Eine thematisch über "Verbrechen" definierbare Gattung gibt es auch im Kino, Fernsehen und Comic. Alle medialen Ausprägungsformen zusammen werden im Folgenden zur leichteren Verständigung als "das Kriminalgenre" bezeichnet. Es ist ein Spezifikum des Kriminalgenres, dass es für verschiedene Medien besonders durchlässig ist. Eine große Zahl von Kriminalromanen wurde für Kino und Fernsehen adaptiert und viele Autoren schreiben sowohl Romane als auch Drehbücher, beispielsweise die deutschen Tatort-Autoren oder Roberto Ampuero, der das Skript für die erste chilenische TV-Kriminalserie verfasst hat (Brigada Escorpión).1 Aber nicht nur auf der Produzentenseite kann ein äußerst enges Hand-in-HandArbeiten konstatiert werden, sondern auch auf der Seite der Rezipienten ein paralleler Konsum des Kriminalgenres in verschiedenen Medien. Nicht jeder Leser zeitgenössischer Kriminalromane kennt die Werke von Edgar Allan Poe, Arthur Conan Doyle, G. K. Chesterton, Agatha Christie, Dorothy Sayers, Margery Allingham, S. S. van Dine, John Dickson Carr, Ellery Queen, Dashiell Hammett, Raymond Chandler, Ross Macdonald, Robert B. Parker und vielleicht noch weniger die von Chester
Paradebeispiele dafür sind Ian Flemings James-Bond-Romane. Aber auch einige Romane zeitgenössischer lateinamerikanischer Autoren wurden bereits fürs Kino adaptiert z. B. Bufo & Spallanzani von Rubem Fonseca, O Matador von Patrícia Melo (Filmtitel: O Homem do Ano), Rosario Tijeras von Jorge Franco, Grandes miradas von Alonso Cueto (Filmtitel: Mariposa negra) oder Crímenes imperceptibles von Guillermo Martínez (Filmtitel: Los crímenes de Oxford). Für diese extreme Durchlässigkeit führt Holzmann drei wesentliche Gründe an. Erstens erkläre "die ökonomische Notwendigkeit einer multimedialen Verwertung" aus produktionsästhetischer Sicht die gegenseitige Beeinflussung von Film, Fernsehen und Genreliteratur: Viele Autoren schreiben im Hinblick auf eine Verfilmbarkeit ihres Romans. Zweitens bestünden bei diesem Genre weniger "Berührungsängste" zwischen Literatur und Fernsehen, da beide im Ruf stehen, trivial zu sein. Daher sei es zu einer Grenzüberschreitung im Genre (durch Autoren wie Norbert Jacques, Frank Heller, Sven Elvestad oder Otto Soyka) gekommen, schon bevor es zu einer solchen in der Hochliteratur kommen konnte (wie bei Döblins Berlin Alexanderplatz). Drittens beruhe die enge Nachbarschaft auf einem gemeinsamen Wirkungskonzept, das auf die Erregung von Affekten ziele (Holzmann 2005: 14). 1
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Himes, Eric Ambler, Ross Thomas, Patricia Highsmith oder Joseph Wambaugh. Die meisten werden aber eine (wenn auch grobe) Vorstellung davon besitzen, was ein Fernsehkrimi ist. Die Gattungskompetenz ist also maßgeblich von intermedialen Zusammenhängen bestimmt und kein rein literarisches Wissen. Im deutschsprachigen Raum wird beispielsweise kaum ein Krimileser zu finden sein, der noch nie von Tatort gehört hat. Kriminalserien sind weltweit ein Zuschauermagnet und dominieren das Vorabend- und Abendprogramm auf so vielen Sendern, dass es schier unmöglich ist, nichts über sie zu wissen. Selbst diejenigen, die Serien generell nicht anschauen, verfolgen sie aus einem bestimmten Grund nicht. Sie glauben bereits zu wissen, warum sie sich nicht dafür interessieren, auch wenn ihre Vorstellungen sehr vage sein mögen. Solche Verweigerer würden wahrscheinlich anführen, dass jede Folge nach demselben Muster abläuft, dass die Charaktere allzu schwarz-weißmalerisch sind und die Fälle am Ende immer gelöst werden. Auch dieser Personenkreis kann sich also dem Einfluss der Kriminalserien nicht völlig entziehen. Zum selben Schluss kommt Mempo Giardinelli schon 1984: La novela negra impregna hoy en día la vida cotidiana […]. Y penetra en millones de hogares del mundo entero a través del cine o la televisión, con historias de dudosa calidad, sí, y a veces aberrantes, pero que se inscriben en este fenómeno y que por eso mismo merecen atención. Y ni se diga de la influencia persistente que tiene en casi todos los grandes escritores modernos, conscientemente o no (Giardinelli 1984a: 15).
Was für die 1980er Jahre galt, hat sich heute durch die hohe Anzahl an privaten Fernsehsendern noch potenziert. Nirgendwo sonst werden so klar definierbare Erwartungen beim Publikum erzeugt wie bei Fernsehserien, denn nirgendwo sonst sind die Produzenten so sehr darauf angewiesen, diese Erwartungen nicht zu enttäuschen, da die Zuschauer ihr eigentliches Kapital darstellen. Die Sender "verkaufen" ihre Zuschauerquoten an Firmen, die ihre Werbung vor, zwischen und nach der Serie platzieren (Fiske 2004 [1989]: 26). Demgegenüber tun sich Kino und Literatur viel leichter mit innovativen Formen.2 Die Erwartungsdurchbrechung wird dort häufig gefeiert und auch "erwartet" (also paradox: die Erwartungsdurchbrechung als Erwartung), wohingegen sie beim Fernsehen in der Regel zu sinkenden Einschaltquoten führt. Dieses Medium perpetuiert und zelebriert daher konformistische Formula-Serien, die Literatur, Kino und andere Kunstformen als Folie verwenden, um sich
Anhand der Hitchcock-Filme kann diese Behauptung untermauert werden. Hitchcock arbeitete immer mit freien Strukturen und durchbrach daher die typischen Erwartungen an das Genre; seine Filme wurden dennoch stets als Kriminalfilme oder Thriller kategorisiert.
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davon abzusetzen.3 Besonders negativ wurde dieser Mainstream von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer beurteilt. Die Überlegungen der beiden Philosophen helfen jedoch zu verstehen, warum Fernsehserien stereotype Muster ausbilden. 2.2.1. Kulturindustrie und Populärkultur Horkheimer und Adorno beurteilten in Dialektik der Aufklärung (1969) die Produkte der "Kulturindustrie", zu denen diese Serien gezählt werden können, sehr negativ. Nach ihrer Auffassung sind Kulturprodukte reine Waren, die sich den Bedürfnissen der Konsumenten anpassen und daher ihr gesellschaftskritisches Potenzial verlieren. Adorno formuliert dies pointiert in seinem Essay "Résumé über Kulturindustrie": "An den Mann gebracht wird allgemeines unkritisches Einverständnis" (Adorno 1977: 339). Anpassen müssen sich die Produkte, um ein möglichst großes Publikum zu erreichen, und daher operieren sie mit Themen, Rollen, Einstellungen und Konfliktfeldern, die von gesamtgesellschaftlicher Relevanz zu sein scheinen. Gleichzeitig steigere die Kulturindustrie aber auch das Verlangen der Konsumenten nach ihren Produkten, indem sie diese anbietet. Horkheimer und Adorno sprechen diesbezüglich von einem "Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis", (Horkheimer/Adorno 2008 [1968]: 129). Das Publikum konsumiere die Kulturprodukte in der Freizeit, in der es sich nicht besonders anstrengen, sondern erholen wolle. Indem die Kulturindustrie geeignete Produkte serviere, die nach dem "Prinzip des Amusements" (ebd.: 144) funktionieren, verweise sie das Individuum erst recht in die Konsumentenrolle und versorge es mit immer mehr Trivialitäten, deren "leere Ideologie" darin bestehe, die gesellschaftliche Realität augenscheinlich zu doppeln, den Ist-Zustand zu propagieren und dadurch "das Dasein selber zum Surrogat von Sinn und Recht" zu erheben (ebd.: 157). Diesen Gedanken bringt Adorno in seinem Essay nochmals prägnant auf den Punkt: "Der kategorische Imperativ der Kulturindustrie […] lautet: du sollst dich fügen, ohne Angabe worein; fügen in das, was ohnehin ist, und in das, was, als Reflex auf dessen Macht und Allgegenwart, alle ohnehin denken. Anpassung tritt kraft der Ideologie der Kulturindustrie anstelle von Bewusstsein" (Adorno 1977: 343). Das "Wohlgefühl" der Konsumenten, das durch den Eindruck entstehe, "die Welt sei in eben der Ordnung, die sie ihnen suggerieren will" könne jedoch nicht mehr als eine Ersatzbefriedigung sein (ebd.: 345). Da die Kulturindustrie das Dieser Behauptung steht nicht entgegen, dass das Fernsehen selbst immer wieder innovative Sendungen entwickelt und sich sozusagen von sich selbst absetzt. Sein Innovationspotenzial bewegt sich aber in einem engeren Rahmen als das solcher Kunstformen, die weniger auf Erholung und Unterhaltung in der Freizeit angelegt sind.
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kritische Denken verhindere, unterbinde sie auch das Aufbegehren der Konsumenten gegen sie und wirke herrschaftsstabilisierend: "Kulturindustrie schlägt den Einwand gegen sich so gut nieder wie den gegen die Welt" (Horkheimer/Adorno 2008 [1968]: 156). Adorno räumt aber in seinem Essay auch ein, dass viele Konsumenten ein gespaltenes Verhältnis zu den Produkten der Kulturindustrie entwickeln. Sie durchschauen, dass die angebotenen Verhaltensmuster mit ihrer Realität nichts zu tun haben, dass die Konflikte nur scheinbar gelöst werden und die Aussagen oberflächlich bleiben. Trotzdem wollen sie nicht auf die "flüchtige Gratifikation" verzichten und verschließen ihre Augen vor dem Betrug (Adorno 1977: 342). Populärkultur wird heute nicht mehr ganz so negativ beurteilt wie in Dialektik der Aufklärung. Anders als Horkheimer und Adorno, die den Produkten der Kulturindustrie eine "leere Ideologie" vorwarfen, deutet der Medienwissenschaftler Knut Hickethier ihre Ideologie als einen konsensualen Rahmen: Das Mainstreaming besteht nicht darin, die Zuschauer auf eine Position einzuschwören, sondern darin, einen Rahmen zu bestimmen, in dem Positionen zugelassen werden, die die Bandbreite des 'Normalen' und 'Zulässigen' definieren. In dieser Funktion sind die Serien zentral für die Formulierung und Durchsetzung der Popularkultur (Hickethier 2003: 403).
Zwar ist das Konzept des Rahmens zunächst wertfreier formuliert als Horkheimers und Adornos Ansatz, es beinhaltet aber auch eine Einschränkung auf das "Normale" und "Zulässige", also auf den Bereich der Themen, Verhaltensweisen, Einstellungen und Werte, die eine breite Zuschauerschaft ansprechen und die auf deren Konsens beruhen. Der Kulturwissenschaftler John Fiske rückt Horkheimers und Adornos Konzept der Kulturindustrie in ein positiveres Licht, indem er auf die unterschiedlichen Rezeptionsmöglichkeiten ihrer Produkte eingeht. Die Konsumenten sind laut Fiske viel weniger konform mit dem, was die Kulturindustrie ihnen vorsetzt, als Horkheimer und Adorno annahmen. Die Interessen der Zuschauer entsprächen nicht denen der Kulturindustrie.4 Nach Fiskes These konstruieren sich die Produkte der Populärkultur zwar um eine dominante Ideologie herum, die am Ende siegt, bergen aber auch die Möglichkeit einer subversiven Deutung, da sie wie alle Texte und künstlerischen Produkte polysem sind. Darin sieht Fiske das konstitutive Element der Populärkultur. Bietet ein Produkt die Möglichkeit zu evasivem und widerständischem Gebrauch nicht, werde es von den Konsumenten auch nicht als Teil der Populärkultur akzeptiert 4 Als Bespiel dafür nennt er millionenschwere Flops der Hollywood Filmindustrie (Fiske 2004 [1989]: 23).
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(Fiske 2004 [1989]: 32). Die Offenheit für Deutungen erlaube es bestimmten gesellschaftlichen Gruppen, an Stellen zu applaudieren, an denen die dominante Ideologie (der patriarchalische Kapitalismus der Weißen) noch nicht gesiegt hat.5 Bei Kriminalserien kann der Genuss am Verbrechen beispielsweise auch darin bestehen, es als Angriff auf den sogenannten power-bloc zu deuten (ebd.: 39). Das Vergnügen bestehe trotzdem gleichzeitig im Wissen der Zuschauer um den letztendlichen Sieg der dominanten Ideologie, auch wenn diese als antagonistisch und feindselig empfunden wird (ebd.: 25). Die Populärkultur gleicht nach Fiske einem ständigen, nie zu gewinnenden Kampf gegen die Ideologie des power-bloc, einem Kampf des Widerstands. In Anlehnung an Michel de Certeau spricht Fiske von der Positionierung der Konsumenten im in between, ein Begriff, der auch in den postcolonial studies viel verwendet wird: The "art of being in between" is the art of popular culture. Using their products for our purposes is the art of being in between production and consumption, speaking is the art of being in between their language system and our material experience, cooking is the art of being in between their supermarket and our unique meal (ebd.: 36).
Was Hickethier als "Rahmen" bezeichnet, bewegt sich für Fiske innerhalb der dominanten Ideologie des power-bloc, womit er Horkheimer und Adorno nicht widerspricht. Untersucht man den lateinamerikanischen Kriminalroman also vor der Folie populärer Kriminalserien, so ist zu konkretisieren, worin dieser Rahmen bei den Serien besteht, was ihr ideologisches Grundgerüst ist und welche pseudonormative Erwartungen sie bei den Zuschauern prägen. Die unterschiedlichen Rezeptionsmöglichkeiten, die Fiske stark macht, können dabei natürlich nicht im Einzelnen mitberücksichtigt werden, hängen sie doch stark von der Gruppenzugehörigkeit des Zuschauers ab (gender, race, class…). Fiskes Argumente warnen jedoch davor, die folgende Rekonstruktion des konsensualen Rahmens als absolut zu setzen. 2.2.2. Die Pseudonorm: US-amerikanische Krimiserien im Fernsehen Im Zeitalter der Globalisierung muss die Pseudonorm, die den Erwartungshorizont an das Kriminalgenre dominiert, anhand von Serien bestimmt werden, die nicht bei einer lokalen beziehungsweise regionalen Popularität verharren (wie Tatort), sondern internationale Reichweite
Fiske führt hier Aborigines in Australien an, die beim Anschauen von Western Indianer anfeuern, die einen Wagen weißer Siedler überfallen (Fiske 2004 [1989]: 25).
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besitzen.6 Dies tun derzeit vor allem die US-amerikanischen Serien. Als Grundlage sollen solche Sendungen herangezogen werden, die in vielen Ländern, vor allem in Lateinamerika, über einen langen Zeitraum ausgestrahlt wurden und aus einer großen Zahl von Folgen bestehen.7 Ihre andauernde Präsenz im Fernsehen kann als Indiz für ihre Popularität gelten, denn nur Serien mit hohen Einschaltquoten decken durch Werbeeinnahmen die Produktionskosten für viele Staffeln. Produktionsästhetisch gesehen sind diejenigen Serien relevant, die vor der Publikation der hier untersuchten Kriminalromane ausgestrahlt wurden, aus rezeptionsästhetischer Sicht aber auch solche, die nach der Veröffentlichung der Romane entstanden. Für die Bestimmung des Erwartungshorizonts genügt es, Serien zu betrachten, die ab Mitte der 1980er zu sehen waren8, wobei nicht ihre Individualität und ästhetische Leistung herausgearbeitet werden soll, sondern der allen gemeinsame konsensuale Rahmen sowie ihr Formelcharakter und ihre Ideologeme. Bezüglich ihres Aufbaus teilen alle hier berücksichtigten Kriminalserien ein wesentliches Merkmal: Sie gehorchen dem Prinzip der abgeschlossenen Episode mit einem festen Stamm an Figuren (die Serienhelden und ihre Helfer). In jeder Folge kommen neue Figuren hinzu (Opfer, Täter, Zeugen) und treten mit dem Ende der Episode wieder aus. Zu Beginn geschieht stets etwas, das in einen harmonischen Zustand einbricht; aber dem Stammpersonal gelingt es, den Ausgangszustand wiederherzustellen, wobei die Spannung kurz vor dem Ende am höchsten ist und in einem Showdown gelöst wird. Unter den US-amerikanischen
6 Angemerkt sei, dass die Serien mit lokal begrenzter Verbreitung sich strukturell wie ideologisch meist nicht wesentlich von den international bekannten unterscheiden, sondern lediglich ein anderes Lokalkolorit aufweisen. 7 Die Bekanntheit und Popularität der neueren Serien in Lateinamerika lässt sich über die aktuellen Fernsehprogramme und Fanseiten im Internet nachweisen. Die meisten relevanten Serien werden auf den Kabelsendern AXN und FOX, die in ganz Lateinamerika verfügbar sind, ausgestrahlt. Auf AXN wurden und werden CSI, CSI New York, CSI Miami, NCIS, Criminal Minds und Law & Order: Criminal Intent gezeigt. Auf FOX liefen und laufen 24, Bones, Cold Case, Prison Break, Shark, The XFiles und The Wire. CSI wird in fast allen Ländern zusätzlich auf nationalen Fernsehsendern gezeigt: in Argentinien auf Canal 9, in Bolivien auf Red Uno, in Brasilien auf Rede Record, in Chile auf Canal 13 und UCV TV (Canal 5), in Kolumbien auf Citytv und RCN, in Costa Rica auf Teletica, in der Dominikanischen Republik auf Antena Latina 7, in Ecuador auf Teleamazonas, in El Salvador auf Canal 2, in Guatemala auf Canal 13 Guatemala und CBS, in Kuba auf Cubavisión, in Mexiko auf Canal 5, in Nicaragua auf Canal 2, in Panama auf TV/MAX, in Paraguay auf SNT Canal 9, in Peru auf ATV, in Puerto Rico auf WAPA TV Canal 4, in Uruguay auf Canal 10 und in Venezuela auf Televen und CNB Televisión. Diese Zusammenstellung stammt aus der Wikipedia (Stand: 30.12.2009) und wurde stichprobenartig auf den Internetportalen der verschiedenen Sender überprüft. Dass auch die anderen in diesem Kapitel angeführten sowie einige ältere US-amerikanische Kriminalserien in Lateinamerika bekannt sind, haben mir verschiedene Lateinamerikaner (aus Chile, Argentinien, Mexiko und Peru) bestätigt. 8 Ältere, wenn auch sehr bekannte und erfolgreiche Serien wie Perry Mason (1957-66), Columbo (1968-78) oder Kojak (1973-78) sollen nicht berücksichtigt werden, da hier keine vollständige Rekonstruktion der Geschichte der Kriminalserie angestrebt wird, sondern nur ihre besonders typischen Merkmale herausgearbeitet werden sollen.
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Kriminalserien können nach formalen und inhaltlichen Gesichtspunkten drei Typen unterschieden werden: 1) Action-Serien (action series) 2) Ermittlungsserien (mystery series/police procedurals) 3) Anwaltsserien (legal dramas)9 Im Folgenden soll für diese drei Typen die jeweilige Strukturformel, die Charakteristika der Protagonisten, die angewandte Ermittlungsmethode und die Art der Gewaltdarstellung kurz skizziert werden. 1) Action-Serien Zu den Action-Serien gehören unter anderem Magnum (1980-88, 162 Folgen), The Fall Guy (1981-86, 113 Folgen), Knight Rider (1982-86, 90 Folgen), The A-Team (1983-87, 98 Folgen), Miami Vice (1984-90, 111 Folgen), MacGyver (1985-92, 139 Folgen) und Walker, Texas Ranger (19932001, 203 Folgen). Besonders beliebt waren Action-Serien in den 1980er Jahren; ab den 1990ern stehen sie zahlenmäßig jedoch hinter den police procedurals zurück. Die Episoden von Action-Serien strukturieren sich entlang einer ereignisreichen Handlungskette, die im Wesentlichen aus der Verfolgung, trickreichen Überlistung und Festnahme von (bereits bekannten) Verbrechern besteht. Die Fälle werden immer gelöst bzw. die Aufträge erfüllt; der Held oder die Helden triumphieren und mit ihnen die Instanzen, die hinter ihnen stehen. Die Protagonisten sind keine gewöhnlichen Polizisten, sondern gehören entweder zu einer polizeilichen Spezialeinheit (wie den Texas Rangers oder dem Miami Vice Police Squad) oder sind Geheimagenten (wie MacGyver). Es dominieren sogar nicht-polizeiliche Protagonisten wie Privatdetektive (Magnum), Kopfgeldjäger (The Fall Guy), Agenten von privaten Rechtsorganisationen (Knight Rider) oder selbstgeschaffenen Teams (The A-Team). Im Zentrum steht ein weißer, männlicher Held, der entweder mit seinen Fäusten und Waffen besonders geschickt umgehen kann, außerordentlich intelligent und trickreich vorgeht oder beides in sich vereint. Er besitzt einige Eigenschaften, die zunächst den Eindruck erwecken, es handele sich um einen round character, da er sich jedoch charakterlich nicht weiter entwickelt und seine Charaktermerkmale immer wieder in ähnlicher Weise vorgeführt wer9 In eine vierte Gruppe lassen sich neuere, experimentellere Serien wie Homicide, The Sopranos, The Wire, 24, The Shield, Prison Break, Dexter oder Breaking Bad fassen. Auf sie wird jedoch nicht gesondert eingegangen, da sie nicht aus Einzelepisoden mit Formel-Charakter bestehen, sondern eine Fortsetzungsgeschichte mit dynamischen, mehrdimensionalen Figuren erzählen, und sich durch ihren innovativen Charakter vom Mainstream entfernen. Daher haben sie kaum Anteil an der Herausbildung der Pseudonorm.
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den, relativiert sich dieser Eindruck stark. Hinter ihm steht entweder ein Team, das ihn instruiert, oder eines, das mit ihm kämpft. Dem Team gehören in der Regel auch weibliche Figuren an. Auch sie sind intelligent, schlag- und tatkräftig, werden aber häufig in einer sexistischen Weise fokussiert. Farbige können ebenfalls Teil des Teams sein, bleiben jedoch in der Unterzahl. Zur Lösung der Fälle wird eine Mischung aus scharfsinniger Kombination, technischem Know-how, geschickten Fahrmanövern, trickreich gestellten Fallen und handgreiflicher Gewalt angewendet. Da die Helden keine gewöhnlichen Polizisten sind, "dürfen" sie, wo nötig, das Gesetz übertreten. Ihre Vergehen werden am Ende nicht bestraft, da sie für eine "gute Sache" kämpfen und Verbrechern ihr Handwerk legen, so dass die staatlichen Instanzen über eventuelle Gesetzesverstöße hinwegsehen. Dies gelingt auch deswegen, weil die Auftraggeber ihre Helden vor rechtlichen Konsequenzen schützen. Wenn sie auch keine "Lizenz zum Töten" besitzen, so scheinen die Action-Helden zumindest bei kleineren Delikten unantastbar und erweisen sich als effizienter als die Polizei, deren Vertreter häufig aufs Korn genommen werden. Eine kritische Einbindung der Fälle in einen gesellschaftspolitischen Kontext erfolgt in der Regel nicht. In den 1990er Jahren rücken die Serien jedoch etwas näher an die Realität heran (z. B. bei Miami Vice).10 Obwohl es zu vielen, zum Teil slap-stick-artigen Kampfszenen mit Faustschlägen, Schießereien und sonstigen Handgreiflichkeiten kommt, werden die körperlichen Verletzungen in den Serien der 1980er Jahre stark verharmlost. Wenn Colt Seavers aus The Fall Guy oder Cordell Walker aus Walker, Texas Ranger einem Gauner einen Faustschlag ins Gesicht versetzen, wird der Schlag zwar durch einen Soundeffekt begleitet, der Härte suggeriert, die Opfer erholen sich aber innerhalb kürzester Zeit wieder und tragen keine bleibenden Schäden davon, auch dann nicht, wenn sie durch eine Glasscheibe gestoßen, von einem harten Gegenstand am Kopf getroffen werden oder vom Dach stürzen. Autounfälle enden in aller Regel ohne größere Personenschäden und bei Schießereien treffen die "bösen" Verbrecher ihr Ziel nur sehr selten. Dafür sind die Protagonisten umso zielsicherer. Die Serien sind sehr realitätsfern, was die Gesetze der Logik und Physik betrifft11, und erlauben teilweise die Integration von Science-Fiction-Elementen (wie Michael Knights Auto K.I.T.T.). Typisch ist auch, dass die Helden und ihre Helfer nach erledigter Arbeit sofort wieder unbekümmert und zum Spaßen aufgelegt sind.
Einige Episoden von Miami Vice nehmen wahre Fälle zum Ausgangspunkt. Ein Beispiel dafür ist MacGyvers technische Begabung. Dass seine aus dem Stegreif angefertigten Apparaturen, Vorrichtungen und Bomben stets funktionieren und er immer das passende Material zur Hand hat, ist unglaubwürdig. 10 11
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2) Ermittlungsserien Die zweite Gruppe bilden die mystery series und police procedurals.12 In den 1980er Jahren gehören dazu Remington Steele (1982-87, 94 Folgen) mit einem Privatdetektiv und einer Privatdetektivin als Protagonisten, Murder, She Wrote (1984-96, 264 Folgen) mit einer Miss Marple ähnlichen Krimiautorin als privater Ermittlerin und die Krimikomödie Moonlightning (1985-89, 67 Folgen) ebenfalls mit einem Privatdetektiv und einer Privatdetektivin. In den 1990er Jahren folgen Serien wie Silk Stalkings (1991-1999, 176 Folgen), in der ein Polizist und eine Polizistin die Ermittlungen führen, und Nash Bridges (1996-2001, 122 Folgen), in der der Protagonist einer Eliteeinheit der Polizei angehört. Seit der Jahrtausendwende erlebt dieser Serientyp geradezu einen Boom. Angeführt wird er seitdem von der CSI-Franchise13, das heißt der Serie CSI: Crime Scene Investigation (seit 2000, bisher14 265 Folgen) und ihren Ablegern (spin-offs). Das sind CSI: Miami (seit 2002, bisher 226 Folgen) und CSI: NY (seit 2004, bisher 174 Folgen). Außerdem erschienen Monk (2002-2009, 125 Folgen), NCIS (seit 2003, bisher 202 Folgen), Numb3rs (2005-2010, 118 Folgen), Bones (seit 2005, bisher 135 Folgen), The Closer (seit 2005, bisher 103 Folgen) und Criminal Minds (seit 2005, bisher 152 Folgen). Die Ermittler in diesen Serien sind Polizisten unterschiedlicher Einheiten. Bei NCIS sind es Angehörige der Navy. All diesen Serien ist ihr Rätselschema (whodunit) gemein. In den ersten Minuten oder noch vor Einblendung des Titels (cold open) wird ein Mord verübt oder eine Leiche gefunden (bei CSI sind es sogar zwei Verbrechen pro Episode) und der Fall im Verlauf der Handlung aufgeklärt. Im Zentrum steht wie bei den Action-Serien in der Regel ein weißer, männlicher Held als Chef des Teams.15 Die Ermittlerteams sind in den neueren Serien größer, so dass sie sich zumindest tendenziell der Zusammensetzung realweltlicher Polizeiteams annähern. Wie bei den ActionSerien befinden sich unter den Figuren auch Frauen und Farbige. Die Protagonisten sind moralisch integer und übertreten in der Regel keine 12 Diese beiden Begriffe werden häufig synonym verwendet. Bei beiden steht die Ermittlung und damit der Rätselcharakter des Verbrechens im Mittelpunkt. Der Begriff police procedurals hebt darauf ab, dass polizeiliche Ermittlungsverfahren angewendet werden. Der Begriff mystery series oder mystery show stellt das Rätsel in den Mittelpunkt. Darunter fallen auch Serien, bei denen das Rätsel durch das Wirken von übernatürlichen Kräften zustande kommt, wie bei The X-Files. 13 Die CSI-Franchise ist ein unglaublicher Publikumserfolg. Die Serien werden in 200 Ländern von 2 Milliarden Menschen konsumiert und haben sechs Golden Globes und 24 Emmys gewonnen (Adams 2006). CSI: Miami war sogar die weltweit beliebteste Fernsehserie des Jahres 2005 (BBC News, 31.07.2006). Mit CSI Effect oder CSI Syndrome bezeichnet man die Rückwirkung der CSI-Serien auf das reale Leben, die bei den Zuschauern beobachtet wurde. Die Sendungen lösen angeblich übersteigerte Erwartungen an die forensische Medizin und technische Spurensicherung aus (Schweitzer/Saks 2007). 14 Stand: 20.02.2012. 15 Ausnahmen bilden Bones und The Closer, bei denen eine Frau diese Rolle übernimmt.
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Gesetze (im Gegensatz zu den Protagonisten der Action-Serien). Sie verstoßen höchstens manchmal gegen Verfahrensregeln, was disziplinarische Folgen für sie hat. Allen Figuren werden bestimmte Charaktereigenschaften zugewiesen, sie bleiben aber eindimensional und statisch. Für die Lösung der Fälle wurde im Laufe der Zeit die Forensik immer wichtiger. Standen in den 1990er Jahren bei Nash Bridges oder Silk Stalking die Ermittlungsarbeit auf der Straße und die Vernehmung der Zeugen noch im Vordergrund, so arbeiten die Ermittler der CSI-Serien seit der Jahrtausendwende überwiegend in Labors mit HightechApparaturen. Komplizierte Berechnungen werden angestellt und aufwändig grafisch verbildlicht. Das Team interpretiert die Ergebnisse der Forensik äußerst schnell und effizient im Dialog. Dabei scheint der Scharfsinn der Ermittler nahezu unfehlbar, so dass nur selten Zweifel aufkommen und das Ergebnis am Ende immer eindeutig ist. Serien wie Criminal Minds und The Closer verzichten dagegen heute noch darauf, Morde auf der Grundlage von Indizien zu lösen. Sie behandeln Fälle, bei denen die Forensik versagt hat. Criminal Minds fokussiert die Arbeit der profiler und The Closer die Durchführung besonders geschickter Vernehmungen. Während der zeitlich gedrängten Ermittlungsarbeit bleibt (wie bei den Action-Serien) kaum Zeit für einen Blick auf soziale Umstände, gesellschaftliche oder politische Konfliktfelder, in deren Zusammenhang die Verbrechen stehen. Das Team der Ermittler beglückwünscht sich häufig am Ende gegenseitig und geht in der Überzeugung, das Richtige getan zu haben, zum nächsten Fall über. Die Darstellung von Gewalt reduziert sich in diesen Serien in die Regel auf eine technische Dimension. Bei CSI ist die Erklärung des Tathergangs häufig von Einblendungen der zugeführten Verletzung begleitet. Man sieht beispielsweise, wie eine Kugel oder ein Messer eine Schlagader durchtrennt, das Blut herausströmt und in einem bestimmten Muster auf den Boden spritzt. Der Fokus dieser Einblendungen liegt nicht auf dem Schmerz des Opfers, sondern auf forensischen Fragestellungen. Voyeuristische Effekthascherei spielt hier sicher eine große Rolle. 16
16 Kritisiert wird an CSI vor allem, dass die Polizeiarbeit nicht wirklichkeitsgetreu dargestellt wird, da der Ermittlungsprozess in der Realität stärker arbeitsteilig organisiert ist. Es gibt Spezialisten für DNA-Tests, Spezialisten für Ballistik, Faserproben, Entomologie, Toxikologie, Versicherungsmedizin etc. Sie überschreiten ihr Aufgabengebiet in der Regel nicht und vor allem vernehmen diese Spezialisten die Verdächtigen und Augenzeugen nicht selbst. In den Serien erfüllen die Ermittler jedoch all diese Aufgaben gleichzeitig und sind auf allen Gebieten Spezialisten. Dies hat dramaturgische Gründe, da eine zu große Zahl an Involvierten es dem Publikum erschweren würden, sie wiederzuerkennen und ihr Fan zu werden (Biermann 2007: 86 und Adams 2006).
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3) Anwaltsserien Zur Gruppe der Anwaltsserien gehören die Law & Order-Franchise mit Law & Order (1990-2010, 456 Folgen) und den spin-offs Law & Order: Special Victims Unit (seit 1999, bisher 286 Folgen), Law & Order: Criminal Intent (seit 2001-2011, 195 Folgen). Eine andere äußerst populäre Anwaltsserie ist JAG (1995-2005, 227 Folgen).17 Die Episoden beginnen wie bei den Ermittlungsserien in der Regel mit einem cold open. Jedes Kapitel ist zweiteilig: Zuerst erfolgt die Ermittlung der Polizei und die Festnahme der Verdächtigen, dann die Behandlung des Falls durch die Staatsanwaltschaft und das Gericht. Die Anwaltsserien sind daher gleichzeitig police procedurals (im ersten Teil) und Justizserien (im zweiten Teil). Zu den Handlungselementen gehören die Vorbereitung des Angeklagten auf die Verhandlung durch seinen Anwalt, Gespräche mit dem Staatsanwalt zur Aushandlung von Vergleichen, Voranhörungen und schließlich die Gerichtsverhandlung. Auch bei den Anwaltsserien steht ein männlicher Held im Mittelpunkt des Geschehens. Er ist Staatsanwalt oder Rechtsanwalt. Bei JAG sind die Protagonisten Juristen der Navy. Die Titelhelden sind älter als bei Action- und Ermittlungsserien, häufig schon ergraut, was zum Ausdruck bringt, dass sie sich durch ihre Lebenserfahrung und nicht durch sportliche Schnelligkeit und physische Stärke auszeichnen. Zwar haben auch sie Helfer, sind aber nicht so stark auf ihr Team angewiesen wie die Helden der anderen Serientypen. Bei den Anwaltsserien bleibt etwas mehr Raum für die Darstellung der Figuren als Individuen. Ereignisse im Privatleben spielen vor allem JAG eine große Rolle für die Befindlichkeit der Figuren bei ihrer Arbeit. Sie sind daher ansatzweise mehrdimensional und dynamisch. Während die Fälle innerhalb einer Folge abgeschlossen werden, geht der private Handlungsstrang immer weiter, ohne jedoch dominant zu werden.18 Frauen und Farbige tauchen in derselben Häufigkeit und Position auf wie bei den anderen Serientypen. Bei den meisten Anklagen liegen nur wenige bis gar keine Beweise vor, weshalb die Wahrheit in der Gerichtsverhandlung durch das Geschick des Anwalts ans Tageslicht gefördert werden muss. Dieser löst die Fälle in seinem Sinne, indem er vor Gericht mit den besten Argumenten und der geschicktesten Rhetorik auftrumpft und den Fall gewinnt. Oberstes Ziel ist es auch hier, den Schuldigen eindeutig zu ermitteln, um ihn bestrafen zu können. Zweifel über die Richtigkeit des Urteils und die Angemessenheit der Strafe werden allenfalls am Ende geäußert, die Figu-
17 Wichtigster Vorläufer des legal dramas ist Perry Mason (1957-1966, 271 Folgen). Die Serie basiert auf den Romanen Erle Stanley Gardners (1889–1970). 18 Diese Technik wurde in der Ermittlungsserie Silk Stalkings Anfang der 1990er Jahre eingeführt.
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ren bejahen aber in letzter Konsequenz den Richterspruch. Die Tötung oder Verletzung der Opfer wird nicht gezeigt. Im cold open kommt es lediglich zum Fund der Leiche. Diese liegt beispielsweise in einer Blutlache, schwere Verletzungen oder Entstellungen sind jedoch nicht sichtbar. Der Leichnam interessiert nur als Befund und Ausgangspunkt für die Ermittlung. 2.2.3. Konsensualer Rahmen und versteckte Ideologie Worin besteht nun dieser konsensuale Rahmen, der den Kriminalserien zugrunde liegt und innerhalb dessen heterogene Standpunkte realisiert werden können? Natürlich sind die Serien nicht platt in dem Sinne, dass sie ihre fundamentalen Ideologeme offen und für alle erkennbar zur Schau stellen. Im Gegenteil, sie wirken auf den ersten Blick sogar ideologiefrei, da sie sämtliche Elemente der US-amerikanischen Gesellschaft miteinbeziehen. Der Verbrecher ist nicht immer ein illegaler Einwanderer aus Mexiko, Afroamerikaner, Homosexueller oder gar ein Jude oder Kommunist. Die Täter kommen vielmehr aus den verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen. Unter den Ermittlern, Opfern und Tätern befinden sich auch Frauen und Farbige. In regelmäßigen Abständen werden Verbrecher in den Reihen der Polizei oder anderer Institutionen entdeckt und bestraft; und, um Realismus vorzutäuschen, entwischt sogar der eine oder andere Straftäter beziehungsweise bleibt das eine oder andere Rätsel ungeklärt. Ebenso vielfältig sind die Arten von Verbrechen: Mord aus Eifersucht, Rache oder Habgier, Versicherungsbetrug, Geldwäscherei, Korruption, Sexualdelikte, Drogenhandel und vieles mehr. Den Serien kann schwerlich vorgeworfen werden, bestimmte Bevölkerungsgruppen oder Lebensweisen zu diffamieren. Aber genau so funktioniert ja Populärkultur: Sie ist massenkompatibel. Was Adorno den Produkten der Kulturindustrie insgesamt vorwirft, trifft auch auf die Kriminalserien zu: Sie operieren mit Themen, Rollen, Einstellungen und Konfliktfeldern, die von gesamtgesellschaftlicher Relevanz zu sein scheinen, doppeln augenscheinlich die gesellschaftliche Realität und propagieren damit den Ist-Zustand. Dies tun sie auf folgende Art und Weise: "Gut" und "böse" sind erkennbar markiert, sodass die Verfolgung und Bestrafung des Täters gerechtfertigt erscheint. Die "bösen" Verbrecher stehen den "guten" Staatsorganen gegenüber. Innerhalb dieser Ordnung sind die Identitäten ziemlich stabil; Zweifel über die Zugehörigkeit der Personen zu den "Guten" oder den "Bösen" sind immer nur temporär und werden im Laufe Sendung ausgeräumt. Da sie der Gesellschaft einen wichtigen Dienst erweisen, werden die "Guten" durch den Kampf gegen das "Böse" moralisch erhöht. Dazu kommt, dass die Darstellung meist aus der Perspektive der Kontrollorgane der Macht bezie70
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hungsweise des power-bloc erfolgt. Nimmt sie die Perspektive von nichtstaatlichen Organisationen ein, dann nur, wenn diese für die "gute Sache" kämpfen. Dies erleichtert eine Identifizierung des Zuschauers mit den Helden und erschwert das Nachvollziehen der Taten der Verbrecher, über deren Perspektive er nicht verfügt.19 Des Weiteren behandeln die Protagonisten die Fälle als Teil ihrer Arbeit, die am Ende der Episoden abgeschlossen wird und eine anschließende Reflexion über ihr eigenes Tun oder über das Verbrechen als Bestandteil der Gesellschaft nicht erforderlich macht. Was die Ermittlungsarbeit betrifft, so beruht sie auf rationalistischen Prinzipien wie dem Glauben daran, dass Indizien Beweiskraft besitzen, ein Verbrechen prinzipiell aufklärbar und die Wahrheit erkennbar ist. Am Ende der Episoden sind in der Regel alle Zweifel ausgeräumt bzw. bei den Action-Serien der Auftrag erledigt. Der konsensuale Rahmen, von dem Hickethier spricht, kann auf der Basis dieses Befunds wahrscheinlich auf einen einzigen, ziemlich banalen Grundsatz kondensiert werden: Verbrechen ist verabscheuenswert und muss verfolgt werden. Aber durch die Art und Weise, wie die Kriminalserien diesen Rahmen füllen, transportieren sie eine sozial konservative Ideologie: Sie unterziehen den Sinn und Zweck der Verbrechensbekämpfung sowie den Ursprung des Verbrechens keiner kritischen Prüfung und stellen folglich auch die rechtsstaatliche, demokratische, patriarchalische und kapitalistische Basis der Gesellschaft nicht in Frage. Das "Gute" (Staat) und das "Böse" (Verbrecher) erscheinen als Ontologie und nicht als zeit- und ortsabhängiges, diskursives Konstrukt. Durch die Erzeugung von Spannung wird die Aufmerksamkeit von solchen Fragestellungen zudem abgelenkt und die grundlegende Ideologie der Serien sowie ihr Konstruktcharakter versteckt. Die Darstellung einer großen Zahl von heterogenen Fällen und Personen erweckt oberflächlich den Eindruck einer ideologiefreien Zone. Dass Kategorien wie class, race und gender aber auch nur (binäre) Konstrukte mit einer ideologischen Basis darstellen, wird nicht thematisiert und dadurch der Status quo untermauert. Die populären Kriminalserien präsentieren Verbrechen so, als gehe es dabei lediglich um ein Fehlverhalten von Individuen, die aus eigenem Antrieb und niederen Motiven handeln und gefasst und bestraft werden können. Die Serien führen hundertfach vor, dass der Staat unablässig und höchst effizient für die Erhaltung seiner Ordnung und die Sicherheit seiner Bürger kämpft.20 Dadurch entsteht die Illusion, 19 Innovativ in dieser Hinsicht erscheint beispielsweise Prison Break (2005-2009, 81 Folgen), da die Serie aus der Perspektive von Gefängnisinsassen dargestellt wird. Revolutionär ist das jedoch nicht, da die beiden Hauptpersonen Michael Scofield und Lincoln Burrows trotzdem zu den "Guten" gehören. Scofield begeht ein Scheinverbrechen, um ins Gefängnis zu kommen und von dort aus seinen zum Tode verurteilten, aber tatsächlich unschuldigen Bruder Burrows zu befreien. 20 Knight bestätigt diesen Eindruck von den amerikanischen Kriminalserien: "[…] the striking thing about them all is that there is rarely any doubt about who is the criminal: the class self-doubt found
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Audiovisuelle Kontexte
Verbrechen könne getilgt werden, wenn der Staat nur hart genug gegen die Individuen vorgeht, die seine Ordnung stören. Es geschieht das, was Adorno (1977: 345) über die Produkte der Kulturindustrie insgesamt konstatiert: Die Kriminalserien erwecken das Wohlgefühl, dass die Welt sich in der Ordnung befindet, die sie den Zuschauern suggerieren. Als Teil der Populärkultur sind die Serien trotzdem polysem, das heißt offen für unterschiedliche Rezeptionsweisen, wie Fiske betont, sie lenken die Wahrnehmung aber immer wieder in eine konformistische, affirmative Richtung und wollen "allgemeines unkritisches Einverständnis" (Adorno 1977: 339) herstellen, während sie gleichzeitig durch eine gewisse Differenziertheit der Darstellung ihre Ideologie verstecken.
in Doyle and Christie is quite absent, replaced by an insistent anxiety whether our totally reliable men and women of the law will impose their order on the deranged, unstable perpetrators, who are socially and all too often nationally foreign to the body of American order. There is no mystery, no doubt: just anxiety that we will not punish our enemies enough. Watching those shows and the turning to the news from Iraq demonstrates a sort of seamless continuity of imperialist ideology and practice […]" (Knight 2006: 18).
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2.3. Lebensweltliche Kontexte: Gewalt und Verbrechen in Lateinamerika Aus der Annäherung an die Gattungsbestimmung (Kap. 1.2) ging hervor, dass der Kriminalroman nicht notwendigerweise einen engen Bezug zu einem bestimmten lebensweltlichen Kontext herstellen muss. Dies tut er jedoch häufig, insbesondere in Lateinamerika. Da die meisten der für diese Untersuchung ausgewählten Romane eine realitätsnahe Darstellung gesellschaftlicher Zustände anstreben, lohnt sich ein Blick auf die jüngere Geschichte der lateinamerikanischen Länder. Die folgende Zusammenfassung soll die wichtigsten Ereignisse in Erinnerung bringen und über Gewalt- und Verbrechensquoten knapp Auskunft geben. Die Reihenfolge der Länder erfolgt nach dem Alphabet. Argentinien Isabel Perón, die 1974 nach dem Tod von Juan Domingo Perón ohne Neuwahlen das Amt der Staatspräsidentin übernommen hatte, wurde 1976 durch einen Putsch aus ihrer Stellung verdrängt und unter Hausarrest gestellt. Unter General Jorge Rafael Videla installierte sich ein Militärregime, das in den folgenden zwei Jahren des "schmutzigen Krieges" extreme Menschenrechtsverletzungen zu verantworten hatte und 30.000 Menschen verschwinden ließ. Bücher wurden verbrannt, Filme und Presse zensiert, Verlage verschwanden. 1983 kehrte das Land unter Raúl Alfonsín (1983-89) zur Demokratie zurück. Noch im selben Jahr wurde die Untersuchungskommission Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas (CONADEP) gegründet, deren Aufgabe in der Untersuchung der von 1976 bis 1983 begangenen Menschenrechtsverletzungen und des Verbleibs der desaparecidos bestand. Der Erlass der Gesetze Punto final und Obediencia debida von 1986 und 1987 gewährte jedoch all denjenigen Amnestie, die an den während der guerra sucia stattgefundenen Verbrechen Schuld oder Mitschuld hatten. Die strafrechtliche und öffentliche Aufarbeitung der Diktatur wurde dadurch lange verzögert, so dass sich viele Verantwortliche in Sicherheit bringen konnten (Riekenberg 2009: 174-186). Das letzte Jahrzehnt des vorigen und das erste dieses Jahrtausends standen im Zeichen der Demokratisierung aber auch der wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Unter dem neoliberalen Peronisten Carlos Menem erlitt Argentinien Ende der 1990er Jahre eine schwere Wirtschaftskrise. 2000 brach unter seinem Nachfolger Fernando de la Rúa das Finanzsystem zusammen. Im Jahr darauf froren die Banken die Bargeldauszahlung 73
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ein, was große Proteste in der Bevölkerung auslöste, bei denen 35 Demonstranten von der Polizei erschossen wurden. Vorkommnisse wie diese führten dazu, dass das Vertrauen der Bevölkerung in Regierung und Wirtschaft bis zur Gegenwart gering bleibt. Erst 2003 hob die Regierung Néstor Kirchners die Amnestiegesetze auf, so dass nun die Täter in einem langsamen Prozess der Justiz übergeben werden können (ebd.: 189f.). Im lateinamerikanischen Vergleich veröffentlichte Amnesty International in den letzten Jahren weniger besorgniserregende Meldungen zu Argentinien. Aufgrund der verschärften Armut und großen Arbeitslosenquote stieg jedoch die Kriminalitätsrate in den Städten in den letzten Jahren erheblich an. Als Gegenmaßnahme organisierten die wohlhabenden Einwohner Bürgerwehren, um ihre Häuser zu schützen. Einige Menschenrechtler, die für die Aufklärung der während der Diktatur verübten Verbrechen kämpften, erhielten Morddrohungen. Amnesty International weist auch auf Misshandlungen indigener Bevölkerungsgruppen hin, die für eine bessere Versorgung und gegen den gesetzeswidrigen Verkauf ihres Landes demonstrierten. In den argentinischen Gefängnissen kam es immer wieder zu Fällen von Gewaltanwendung gegen Häftlinge. Grundlegende Missstände in der Arbeit der Polizei und bei der Aufklärungsrate von Verbrechen sind allerdings nicht verzeichnet (Amnesty International 2009a). Brasilien Ähnlich wie Argentinien wurde auch Brasilien in der jüngeren Geschichte von Militärdiktaturen regiert (1964-1985). Die Regimes förderten Hochtechnologien und den Export, womit sie das "brasilianische Wirtschaftswunder" herbeiführten. Von diesem Aufschwung profitierte allerdings nur ein geringer Prozentsatz der Bevölkerung. Die Situation verschlechterte sich zusehends, als 1968 mit dem Dekret AI 5 die verbleibenden rechtsstaatlichen Garantien abgeschafft wurden. Die Opposition wurde gewaltsam unterdrückt, Regimegegner gefoltert, Schriftsteller und andere Intellektuelle verfolgt und ihre Werke zensiert. 1 Ab 1978 kam es zu einer Lockerung der repressiven Maßnahmen (abertura). Politische Gefangene wurden freigelassen, Exilanten durften zurückkehren, die Pressezensur wurde abgeschafft und das Vielparteiensystem wieder eingeführt. 1985 leiteten die Präsidentschaftswahlen den Übergang zur Demokratie ein. Die Militärs waren durch das unter Präsident FigueireBrasilien verzeichnet während dieser Zeit 136 verschwundene Oppositionelle und 148 politische Morde (Karnofsky 2007: 15). Im Vergleich zu Argentinien und Chile führte dies nicht zu einem so langanhaltenden Trauma der ganzen Bevölkerung.
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do erlassene Amnestiegesetz vor einer Strafverfolgung geschützt und übernahmen auch in der demokratischen Regierung politische Ämter. Jedoch protestierte die Bevölkerung dagegen nicht massiv. Nur wenige, vor allem kirchliche Gruppen (wie Tortura Nunca Mais) bemühen sich bis heute um eine Aufarbeitung der Vergangenheit (Karnofsky 2007: 1418).2 Obwohl sich die Demokratie in vielen Feldern konsolidieren konnte, kämpft Brasilien mit einer großen Zahl von Problemen. Das Ausmaß an Gewaltverbrechen und staatlich verübten Menschenrechtsverletzungen ist gegenüber dem Cono Sur sehr hoch. Wolf Paul fasst das Szenario, das sich daraus für die Bevölkerung ergibt, wie folgt zusammen: Öffentliche Sicherheit ist nicht existent und daher allen Umfragen zufolge die allererste Sorge der gesamten Bevölkerung. Sie beherrscht die Chroniken des brasilianischen Alltags, der bestimmt ist von der bedrängenden Wirklichkeit der Gewalt, die sich in Straftaten entlädt. Vor Augen tritt die dramatische Lebenssituation der ganzen Nation, die geprägt ist von der unmittelbaren Bedrohung jedes Einzelnen durch die Allgegenwart des Verbrechens. Die Kriminalstatistiken zeigen die brasilianische Gesellschaft in einer Art Kriegszustand (Paul 2010: 219).
Jährlich verlieren in Brasilien über 40.000 Menschen ihr Leben durch den Einsatz von Schusswaffen. Davon geht ein Teil auf das Konto der Polizei. Nur 10-20% der Morde werden aufgeklärt. Die Menschen haben Angst, sich nach Einbruch der Dunkelheit frei in ihren Städten zu bewegen, und bestimmte Viertel, vor allem die favelas, gelten auch tagsüber als Sperrgebiete. Der Staat steht dieser Situation ohnmächtig gegenüber und kann die Bürger nicht schützen. Auch die harte polizeiliche Repression, beispielsweise durch den Batalhão de Operações Policiais Especiais (BOPE), bewirkt keine Verbesserung, sondern zeigt ständig aufs Neue, wie chancenlos der Kampf gegen das organisierte Verbrechen ist (ebd.: 220). Die Praxis von Strafverfolgung, Strafjustiz und Strafvollzug unterläuft die rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Standards der Verfassung. Vor allem die Schutzpolizei (polícia militar) macht sich immer wieder Menschenrechtsverletzungen schuldig. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Erschießung von 111 Häftlingen in der Haftanstalt Carandiru im Jahre 1992. Der verantwortliche Offizier blieb aufgrund von angeblichen Verfahrensfehlern straflos.3 Bei Razzien in favelas eröffnet die Schutzpolizei immer wieder unangekündigt das Feuer, nimmt Verdäch-
2 Im August 2007 veröffentlichte die Comissão Especial sobre Mortos e Desaparecidos Políticos immerhin einen Bericht, in dem 475 Fälle von Folterungen und "Verschwindenlassen" offiziell anerkannt wurden (Amnesty International 2009b). Aber gemessen an der Bevölkerungszahl Brasiliens ist nur ein sehr kleiner Teil der Menschen davon betroffen, ganz im Gegensatz zu den Ländern des Cono Sur. 3 Im Film Carandiru (2002) von Hector Babenco wird dieses Massaker thematisiert, aber keine Erklärung für den Gewaltexzess gegeben.
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Lebensweltliche Kontexte
tige mit roher Gewalt fest, fesselt und inhaftiert sie auf bloßen Verdacht, erpresst durch Folter Geständnisse und verweigert den Häftlingen ihr Recht auf einen Anwalt. Polizisten werden nur äußerst selten für Tötungen bestraft, da ihre Handlungen als Notwehr gelten. Außerdem beeinflusst ein diskriminierendes Feindbild die Strafverfolgung. Farbige und Einwohner der favelas werden eher verdächtigt und härter bestraft als hellhäutige Angehörige der Mittel- und Oberschicht, die häufig ohne Begründung freigesprochen werden oder nur geringe Strafen verbüßen (ebd.: 228-230).4 Staat und organisiertes Verbrechen sind durch die Korruptionspraxis im Polizei- und Justizapparat sowie klientelistische Beziehungen zwischen Politikern, dem staatlichen Bankensektor und Geldwäschern eng miteinander verflochten. Für die Bürger ist es schwierig, zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen zu unterscheiden. Die Bürgerwehren (milícias) in Rio de Janeiro bestehen aus ehemaligen Polizisten, weswegen ein Bürger im Falle eines Gewaltmissbrauchs durch Angehörige dieser Truppen von der Polizei keine Hilfe erwarten kann (Schönenberg 2010: 277). Chile Der Militärputsch von 1973 gegen die sozialistische Regierung Salvador Allendes leitete in Chile ebenfalls eine lange Phase der Diktatur ein. Das Regime Augusto Pinochets schaltete alle demokratischen Institutionen aus und verfolgte politische Gegner durch die neu gegründete Geheimpolizei DINA (Dirección de Inteligencia Nacional) mit äußerster Härte. Menschen wurden gefoltert, entführt und ermordet, die Pressefreiheit abgeschafft. Die Ermordung des Sängers Víctor Jara (1973) steht symbolisch für eine Politik, die die linke Kulturszene systematisch zerstörte. Zehntausende Chilenen verließen das Land. Pinochet verabschiedete 1980 per Volksabstimmung eine neue Verfassung, die erlaubte, dass seine Amtszeit nach acht Jahren per Referendum verlängert werden konnte. 1988 verlor er das Referendum aufgrund der Initiative der Koalitionsparteien, die sich als Concertación de Partidos por el No zusammengeschlossen hatten. So wurde Patricio Aylwin 1989 zum Präsidenten gewählt (Rinke 2007: 158-174). Das Chile der 1990er Jahre steht im Zeichen der langsamen Demokratisierung. Die Aufarbeitung der während der Diktatur begangenen Verbrechen erschwerte das von Pinochet 1978 erlassene Amnestiegesetz. 1998 wurde der ehemalige Diktator während eines Krankenhausaufenthalts in Großbritannien verhaftet und 2001 in Chile angeklagt. Aus gePaul führt als Indiz dafür an, dass die Gefangenenpopulation in den brasilianischen Haftanstalten zu 90% aus Farbigen besteht (Paul 2010: 229).
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sundheitlichen Gründen erklärte man ihn jedoch für nicht verhandlungsfähig. Er starb 2006, ohne verurteilt worden zu sein, was den Angehörigen der Opfer die Möglichkeit nahm, an eine von der Justiz durchgesetzte Gerechtigkeit zu glauben. Unter Alewyn untersuchte die Rettig-Kommission (offizieller Name: Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación), die während der Diktatur verübten Menschenrechtsverletzungen, und führte 1991 in ihrem Bericht 2.279 Ermordete und Verschwundene auf (Rinke 2001: 190-196). 2001 rief Präsident Lagos ergänzend die Valech-Kommission (offizieller Name: Comisión Nacional sobre Prisión Política y Tortura) ins Leben, um die während der Diktatur verübten Folterungen und Festnahmen aufzuklären. In ihrem Abschlussbericht (2005) verzeichnet die Kommission 27.255 politische Gefangene; die tatsächliche Zahl könnte aber viel höher liegen. Einige der Verantwortlichen wurden zwar mittlerweile verurteilt, der Aufarbeitungsprozess ist jedoch noch lange nicht abgeschlossen. Immerhin sind auch in Chile, ähnlich wie in Argentinien und Brasilien, die Grundpfeiler der Rechtsstaatlichkeit wieder hergestellt. Die Armutsquote ist überdies gesunken. Neben der Großstadtkriminalität kommt es aber vor allem noch zu Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierung von indigenen Bevölkerungsgruppen. Amnesty International berichtet von Demonstrationen aufgrund des großen Arm-Reich-Gefälles, bei denen es Ausschreitungen zwischen Polizei und Demonstranten gab (2007), jedoch nicht von systematischem Machtmissbrauch der Polizei (Amnesty International 2009c). Kolumbien Am 9. April 1948 wurde in Kolumbien der linksliberale Präsidentschaftskandidat Jorge Eliécer Gaitán, der eine Agrarreform angekündigt hatte, ermordet. In Bogotá kam es zu einem Gewaltausbruch, bei dem große Teile des Stadtzentrums zerstört wurden und mehrere Tausend Menschen zu Tode kamen (Bogotazo). Darauf folgte der als la Violencia bezeichnete bürgerkriegsähnliche Konflikt zwischen Liberalen und Konservativen, in dem 200.000 Menschen umkamen und 2 Millionen flüchten mussten. Ein Pakt zwischen Liberalen und Konservativen beendete 1957 die Violencia und die Parteien stellten bis 1986 abwechselnd den Präsidenten. Die Kommunistische Partei hatte jedoch schon ein Jahr nach dem Bogotazo unabhängige Republiken im Land gegründet. 1966 ging aus ihren Verteidigungstrupps die Guerilla FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) hervor, die zurzeit größte Guerilla-Armee Kolumbiens. Seitdem leben die Kolumbianer unter anhaltenden bürgerkriegsähnlichen Zuständen (König 2008: 137-156). 77
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Die Regierung unternahm in den 1980er Jahren mehrere Versuche, Friedensverhandlungen durchzuführen und die unterschiedlichen GuerillaGruppen (neben den FARC auch M-19, ELN und andere) zu demobilisieren, was allerdings nur teilweise gelang. In diesem Jahrzehnt siedelte sich auch die Hauptindustrie der Kokainproduktion in Kolumbien an. Außerdem formierten sich verschiedene paramilitärische Truppen, die teils für Großgrundbesitzer, teils für Drogenkartelle oder ausländischen Firmen arbeiteten. 1993 gelang die Zerschlagung des Medellín-Kartells, 1995 die des Cali-Kartells. Doch die Macht der Drogenmafia nahm deswegen nicht spürbar ab, sondern fächerte sich lediglich in kleinere Parzellen auf. Die FARC beziehen seit den 1990er Jahren einen Großteil ihrer Gelder aus dem Drogengeschäft, führen aber auch jährlich hunderte von erpresserischen Entführungen durch. 1998 bemühte sich die kolumbianische Regierung wieder verstärkt um einen Dialog mit den Guerillas, unterzeichnete aber auch zusammen mit den USA den Plan Colombia. Im Rahmen dieses Vertrags strebten die USA eine militärische Lösung des Drogenproblems an. Hochgiftige Herbizide wurden mit Flugzeugen über den Kokaplantagen versprüht und US-Spezialeinheiten bildeten kolumbianische Truppen für den Kampf gegen die Guerilla aus.5 2002 erklärte Präsident Pastrana die Friedensverhandlungen für gescheitert (ebd.: 158-174). Nach Angaben von Amnesty International werden in Kolumbien jährlich immer noch Hunderte von Zivilisten durch Militärs, Paramilitärs und Guerillagruppierungen getötet. Vor den Kommunalwahlen im Oktober 2007 wurden außerdem 29 Kandidaten ermordet, vermutlich von den FARC. Leidtragende der Situation ist vor allem die Landbevölkerung, da FARC, ELN, Militärs, Paramilitärs und Drogenbanden um die Beherrschung dieser Gebiete kämpfen. Seit 1985 wurden drei bis vier Millionen Menschen aus ländlichen Gegenden vertrieben. Sie fristen nun in den Großstädten ihr Dasein am Rande der Gesellschaft (Amnesty International 2009f).6 Die Regierung versucht seit 2006 die paramilitärischen Truppen aufzulösen und hat bereits den größten Teil davon entwaffnet. Trotzdem sind noch einige aktiv, andere sind zu den Drogenbanden übergelaufen. Das Gesetz Ley de Justicia y Paz (LJP) sieht vor, dass geständige Paramilitärs Strafmilderung erfahren. In den FARC deuten sich ebenfalls langsam Auflösungserscheinungen an (König 2008: 172-76).
Dabei wird meist zu wenig betont, dass auch der Drogenhandel dem Marktgesetz von Angebot und Nachfrage unterliegt. Die Eindämmung des Drogenkonsums oder alternativ seine kontrollierte Legalisierung in den USA und in Europa wäre ebenso wichtig wie die Bekämpfung des KokaAnbaus mit so menschenverachtenden Methoden wie Pflanzengiften, deren Anwendung und Auswirkung sich in der Praxis nicht auf die Koka-Plantagen beschränkt. 6 Dies wird beispielsweise im Roman Los ejércitos (2007) von Evelio Rosero thematisiert. 5
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Kuba Nach der Kubanischen Revolution von 1959 wurden rund fünfhundert Angehörige des ehemaligen Batista-Regimes hingerichtet, woraufhin viele Kubaner auswanderten. Die Regierung Fidel Castros schloss 1960 Kredit- und Handelsabkommen mit der UdSSR, was die USA mit einem Handelsembargo sanktionierten. Die anschließende ideologische Annäherung Kubas an den Kommunismus sowie die zunehmende Feindseligkeit der USA isolierten das Land in der Folgezeit stark. Castros Regime entwickelte immer mehr diktatorische Züge, was sich beispielsweise in der Einrichtung des Arbeitslagers auf der Isla de la Juventud manifestierte. Die Jahre von 1971 bis 1975 gelten als die Phase der strengsten Zensur und werden häufig als quinquenio gris bezeichnet.7 Die Bemühungen, Intellektuelle, Homosexuelle und andere Randgruppen zu einer geregelten Arbeit zu zwingen und auf die Staatsdoktrin einzuschwören, werden in Kuba auch "parametración" genannt (Padura 2000: 151). Obwohl die 1970er Jahre von einer insgesamt positiven wirtschaftlichen Entwicklung gekennzeichnet waren, besetzten 1980 Zehntausende Ausreisewillige die peruanische Botschaft in Havanna. Fidel Castro ergriff diese Gelegenheit, um sich derjenigen Menschen zu entledigen, die er in seinem Kuba nicht haben wollte (Homosexuelle wie Reinaldo Arenas und Kriminelle). US-amerikanische Schiffe liefen im Hafen von Mariel ein und brachten rund 100.000 Kubaner in die USA (die sog. marielitos). Durch den Zusammenbruch der UdSSR und des kommunistischen Wirtschaftssystems COMECON (Council for Mutual Economic Assistance) verlor Kuba seinen wichtigsten Handelspartner und geriet ab 1989 in eine schwere Krise, die Castro als "Período Especial en tiempos de paz" bezeichnet hat und die durch Lebensmittelknappheit und eine massive Inflation des kubanischen Peso gekennzeichnet war. Der Período Especial ging 1994 dank einer Reihe von Reformen allmählich zu Ende. Mit dem Torricelli-Gesetz von 1992 und dem Helms-Burton-Gesetz von 1996 verschärften die USA die Wirtschaftsblockade gegen Kuba jedoch massiv und versuchten Castro in die Knie zu zwingen (Zeuske 2000: 204-219). Trotz gewisser Lockerungen seit den 1990er Jahren bleibt Castros Regime bis zur Gegenwart autoritär. Im März 2003 kam es zur größten Verhaftungswelle von Dissidenten seit der Revolution ("kubanischer Frühling"). 75 Menschen wurden in Schnellverfahren zu bis zu 28 Jahren Haft verurteilt. Die schlechten Haftbedingungen gefährden den GeDer Hauptverantwortliche für die Zensur im Consejo Nacional de Cultura war Luis Pavón Tamayo, weswegen auch vom pavonato gesprochen wird. Im Januar 2007 versuchte die Regierung einige der Verantwortlichen des quinquenio gris in Fernsehinterviews zu rehabilitieren, was einen großen Protest im Künstlermilieu auslöste (Vicent 2007).
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sundheitszustand der Dissidenten. 2006 übertrug Fidel Castro altersund gesundheitsbedingt die Amtsgeschäfte seinem Bruder Raúl. Meinungs-, Vereinigungs-, Versammlungs- und Reisefreiheit sind nach wie vor erheblich eingeschränkt; die Medien unterliegen staatlicher Kontrolle und ausländischen Journalisten wird häufig ihr Aufenthaltsrecht verweigert. Auf der anderen Seite drängen immer mehr Bürger auf Freiheit und sammeln Unterschriften, um ein Referendum durchzusetzen (Proyecto Varela) (Amnesty International 2004). Mexiko Bis zum Jahr 2000 herrschte in Mexiko sieben Jahrzehnte lang die Revolutionspartei PRI in einer häufig als "populistische Diktatur" bezeichneten Regierungsform. Zwar betrieb der PRI keine so systematische Verfolgung von Dissidenten wie die Diktaturen des Cono Sur oder Castro in den 1970er Jahren, trotzdem kam es zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen und punktuell zu brutaler Repression. Allen voran steht das Massaker von Tlatelolco (1968), bei dem demonstrierende Studenten niedergeschossen wurden. Nach offiziellen Angaben starben 32 Menschen, inoffiziell wird aber von mehreren Hundert ausgegangen (Ruhl/Ibarra García 2000: 195f.). Eine Aufarbeitung erfolgte nur durch engagierte Intellektuelle wie Elena Poniatowska, jedoch nicht von Seiten der Regierung. In den Folgejahren wurden weitere Demonstrationen durch den Einsatz von Gewalt zerschlagen wie 1971 in Mexiko-Stadt im Viertel San Cosme (Halconazo).8 Vor allem während der Regierungszeit von Luis Echeverría (1970-76) kam es zur Verfolgung von Regimegegnern, Folterungen und Morden. 500 bis 700 Menschen verschwanden (Wendler 2008: 70). Nach der Krise der 1980er Jahre begann sich das Land wirtschaftlich zu öffnen und trat 1994 dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) bei. Gleichzeitig brach der bewaffnete Aufstand in Chiapas aus, bei dem das Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN) gegen die wirtschaftliche und soziale Marginalisierung der ländlichen, kleinbäuerlichen Region kämpfte.9 Mit dem Ende der PRI-Regierung im Jahr 2000 begann ein mühevoller und langsamer Demokratisierungsprozess, der durch die Rivalität des konservativen und neoliberalen PAN (Partido de la Acción Nacional) und dem linkspopulistischen PRD (Partido de la
8 Dieses Massaker wird in Paco Ignacio Taibos II Roman No habrá final feliz (1989) sowie in Élmer Mendozas Roman Un asesino solitario (1999, siehe dazu Kap. 5.3.1) thematisiert. 9 Der Subcomandante Marcos schrieb mit Paco Ignacio Taibo II zusammen den Kriminalroman Muertos incómodos (2005), in dem der Chiapas-Konflikt eine wichtige Rolle spielt und der teilweise in die Nähe einer politischen Streitschrift gerät.
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Revolución Democrático) gekennzeichnet ist. Wie schwierig sich der Weg zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gestaltet, zeigt die Art und Weise, auf die die Regierung mit regionalen Konflikten umgeht, zum Beispiel 2006 mit der Niederschlagung des von der Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca (APPO) organisierten Protests gegen den Gouverneur des Bundesstaates (Tobler 2009: 363f.).10 Die Aufarbeitung der Verbrechen der Vergangenheit wurde unter der Regierung von Vicente Fox (PAN) zwar in die Agenda aufgenommen, führte letzten Endes jedoch nicht zur Anklage und Verurteilung der Schuldigen (Wenzel 2008: 70). Präsident Felipe Calderón (PAN) setzt seit 2006 auf eine harte Bekämpfung des Drogenhandels. Mittlerweile sind 50.000 Soldaten und Polizisten im Einsatz, die in den letzten vier Jahren 48.000 Schusswaffen sicherstellten, von denen vermutlich die meisten aus den USA geschmuggelt wurden (Peters 2010b). 28.000 Menschen sollen bis 2010 dem Krieg zwischen Staat und Drogenhändlern (narcos) zum Opfer gefallen sein. Die verschiedenen Kartelle verüben außerdem grausame Morde an ihren Konkurrenten. So wurde beispielsweise im Juli 2010 ein Massengrab mit 50 Leichen im Bundesstaat Guerrero gefunden (Peters 2010a). Eine paramilitärisch organisierte Bande von ehemaligen Soldaten und Polizisten, los Zetas, begeht darüber hinaus unterschiedliche Gewaltverbrechen im Umfeld der Drogenmafia. Auch die Schleuserbanden an der Grenze zu den USA stellen ein großes Problem dar. Im August 2010 wurden in Tamaulipas 72 ausreisewillige Mittelamerikaner erschossen (Spiegel ONLINE 2010). Schätzungsweise 80% der Verbrechen in Mexiko-Stadt werden nicht verfolgt, nur ca. 8% der Fälle gelöst. Die rund 3.000 ExpressEntführungen pro Jahr, die teils von ehemaligen oder noch aktiven Polizisten ausgeführt werden, enden meisten mit Schwerverletzten oder Toten (Wendler 2008: 65f.). Die Vermischung des organisierten Verbrechens mit Politik, Justiz und Verwaltung sowie das Fehlen einer institutionellen Absicherung der Rechtsstaatlichkeit sind charakteristisch für die gegenwärtige Situation in Mexiko. Peru Aufgrund der Misswirtschaft verschiedener (Militär)Regierungen in den 1960er und 1970er Jahren war Peru ein rückständiges Land, das mit extremer Landflucht und Verslumung der Städte zu kämpfen hatte. 1980
10 Diese Auseinandersetzung fiel in eine politisch besonders instabile Phase. 2006 gewann Felipe Calderón vom PAN die Wahlen und löste Vicente Fox (PAN) ab, jedoch verlief der Übergang mit einigen Komplikationen. Der Verlierer Andrés Manuel López Obrador (PRD) erkannte das knappe Wahlergebnis nicht an und rief sich selbst zum Präsidenten aus, musste aber am Ende nachgeben (Tobler 2009: 364).
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Lebensweltliche Kontexte
rief die maoistische Terroristengruppe Sendero Luminoso unter der Führung von Abimael Guzmán zum Volkskrieg auf, der die Peruaner zwei Jahrzehnte lang in Angst und Schrecken versetzte. Im April 1992 setzte Präsident Alberto Fujimori die Verfassung außer Kraft und ließ mit Hilfe der Armee den Kongress auflösen, weil dieser sich gegen die vorgeschlagenen Anti-Terror-Gesetze ausgesprochen hatte (autogolpe). In der Folgezeit wurden Militärgerichte für die Verurteilung von Terroristen eingesetzt. Militärs und paramilitärische Truppen wie der Grupo Colina verübten Massaker. Im September 1992 gelang der Regierung die Festnahme Abimael Guzmáns. Daraufhin konnten Selbsthilfegruppen der Andenbewohner (rondas campesinas) den Terroristen empfindliche Verluste zufügen. Guzmáns Nachfolger, Óscar Ramírez Durand, wurde 1999 ebenfalls verhaftet, so dass die Organisation zersplitterte. 1996 zerschlug die Regierung die zweite große Terroristengruppe, Movimiento Revolucionario Tupac Amaro (MRTA), nach einem mehrwöchigen Geiseldrama in der japanischen Botschaft. Bei der Präsidentschaftswahl 2000 gewann Fujimori abermals, musste jedoch noch im selben Jahr aufgrund von Korruptionsskandalen abdanken. Sein Amtsnachfolger Valentín Paniagua rief die Comisión de la Verdad y Reconciliación (CVR) ins Leben, die 2003 ihren Abschlussbericht vorlegte. Demzufolge fielen zwischen 1980 und 2000 rund 70.000 Menschen dem Kampf gegen den Terrorismus zum Opfer.11 Hauptbetroffene waren die Quechua sprechenden Andenbewohner mit 75% der Opfer (Oettler 2003: 180-186). In den vergangenen Jahren stellte die Staatsanwaltschaft einige verantwortliche Terroristen sowie Staatsdiener vor Gericht und verurteilte sie.12 Alberto Fujimori wurde 2007 angeklagt und erhielt im April 2009 eine Haftstrafe von 25 Jahren. Ihm konnte nachgewiesen werden, Befehle für Ermordungen und Entführungen gegeben zu haben (El Comercio 2009). Der Prozess der Aufarbeitung und Wiedergutmachung ist jedoch noch nicht abgeschlossen. In Peru herrscht auch nach dem Ende des Terrorismus ein Klima von Gewalt. Amnesty International gibt an, dass Menschenrechtsverteidiger, Sprecher indigener Gemeinschaften, Gewerkschaftler und Journalisten in den vergangenen Jahren eingeschüchtert wurden und Morddrohungen erhielten. Polizisten, Militärs und Gefängnisaufseher haben sich der 11 Für 54% der Tötungen macht die Kommission Sendero Luminoso verantwortlich, für 1,5% den MRTA und für die restlichen 44,5% das Militär, die Polizei sowie in geringerem Maße Todesschwadronen und Rondas Campesinas (bäuerliche Selbsthilfetrupps). 12 Abimael Guzmán wurde zunächst als gewöhnlicher Verbrecher in einem Schnellverfahren zu lebenslänglicher Haft verurteilt. 2003 wurde das Urteil aufgehoben und 2006 eine neue lebenslängliche Haftstrafe über ihn verhängt. Derzeit verbüßt er seine Strafe im Gefängnis der Militärbasis von Callao. Seine Lebensgefährtin Elena Iparraguirre, die ebenfalls eine leitende Funktion in der Terrororganisation einnahm, erhielt 2006 auch eine lebenslange Gefängnisstrafe. Neun weitere Mitglieder der Führungsriege der Terroristen verbüßen Haftstrafen von 25 bis 35 Jahren (El Mundo 2006).
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Folterung und anderer Verstöße schuldig gemacht. Streiks und Demonstrationen endeten häufig mit Verletzten und Toten. Außerdem gibt es immer wieder Berichte über Restaktivitäten von Sendero Luminoso in den Anden (Amnesty International 2011). Mittelamerika Die meisten mittelamerikanischen Länder litten bis in die jüngere Vergangenheit unter Diktaturen, vor allem Guatemala, El Salvador und Nicaragua. In Guatemala herrschte von 1960 bis 1996 ein Bürgerkrieg, der 200.000 Tote, über eine Million Flüchtlinge und 45.000 Verschwundene zu verzeichnen hat. General Efrain Ríos Montt ging besonders hart gegen die indigene Bevölkerung vor. Ganze Landstriche ließ er bombardieren, was eine genozidähnliche Dezimierung der indigenen Bevölkerung zur Folge hatte. Allein im September 1982 wurden 9.000 Angehörige indigener Volksgruppen ermordet. 1999 erschien der Bericht der Comisión para el Esclarecimiento Histórico (CEH), der Tausende von Fällen von Verschwundenen, Gefolterten und Ermordeten erfasst. Bis heute ist ein Großteil davon nicht aufgeklärt. Die Regierung unternimmt kaum Anstrengungen, die verantwortlichen Staatsdiener und Militärs vor Gericht zu stellen und gibt Militärdokumente, die zur Aufklärung beitragen könnten, nicht frei. Auch nach dem Bürgerkrieg blieb das Gewaltniveau hoch. 2007 wurden in Guatemala nach offiziellen Angaben 5.781 Menschen ermordet. Es wird vermutet, dass die Polizei in viele Tötungsdelikte verwickelt ist. Die Aufklärungsrate ist jedoch äußerst gering. Übergriffe auf Menschenrechtsverteidiger und Zwangsvertreibungen der Landbevölkerung gehören bis heute zur guatemaltekischen Realität. Nahezu surreal wirkt die Tatsache, dass Ríos Montt seit September 2007 wieder als Abgeordneter im Kongress sitzt und dort Immunität genießt (Amnesty International 2009e). In El Salvador wütete von 1980 bis 1992 ein Bürgerkrieg mit einer Bilanz von 70.000 Toten (bei einer Gesamtbevölkerung von nur 7,1 Millionen). Die USA unterstützten unter Ronald Reagan, der eine Politik des radikalen Anti-Kommunismus verfolgte (Reagan-Doktrin), die salvadorianische Militärdiktatur. Die Regierungspartei Alianza Republicana Nacionalista (ARENA) und die Rebellenarme Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional (FMLM) unterzeichneten 1992 das Friedensabkommen von Chapultepec, so dass die Demokratisierung einsetzen konnte (Zinecker 2004: 9-19). Die Menschenrechtsverletzungen, die während des bewaffneten internen Konflikts verübt wurden, sowie die 2.270 Fälle von Verschwundenen, sind noch nicht aufgeklärt. Ein Amnestiegesetz von 1993 gewährt den verantwortlichen Staatsdienern Straffreiheit. Das El Salvador der Nachkriegszeit leidet außerdem unter einem großen 83
Lebensweltliche Kontexte
Arm-Reich-Gefälle und einer hohen Kriminalitätsrate. 2007 wurden mindestens 3.476 Menschen ermordet. Die öffentliche Sicherheit ist somit nicht gewährleistet (Amnesty International 2009d). In Nicaragua regierte von 1937 bis 1979 der Familienclan der Somozas und eignete sich riesige Ländereien als Privatbesitz an. Von 1977 bis 1979 hinterließ der Krieg der Nicaraguanischen Revolution, der mit dem Sturz des letzten (von den USA unterstützten) Somoza-Diktators endete, 40.000 bis 50.000 Opfer. In den Folgejahren setzten sich die siegreichen Sandinisten (Frente Sandinista de Liberación Nacional, FSLN) für Alphabetisierungskampagnen und Lehrerausbildung sowie Frauenrechte ein. Unter Ronald Reagan diffamierten die USA die sandinistische Regierung als kommunistisch, verhängten eine Wirtschaftsblockade und unterstützten die Gegenbewegung, die paramilitärischen Contras, militärisch und finanziell. Es folgten Jahre des Terrors, unter dem vor allem die Landbevölkerung durch Überfälle, Verminung und Zerstörung der Ernten zu leiden hatte.13 Erst 1988 wurden nach den Friedensverhandlungen der mittelamerikanischen Staaten (Abkommen von Esquipulas II) die Truppen aufgelöst. Der Contra-Krieg hat weitere 40.000 Tote gefordert und das Land in den wirtschaftlichen Ruin getrieben (König: 2009: 642-658). Bilanz Aus dieser Zusammenstellung wurde ersichtlich, dass das Gewaltniveau in den verschiedenen lateinamerikanischen Ländern aufgrund der politischen Situation in den vergangenen Jahrzehnten sehr hoch war und häufig vom Staat ausging oder zumindest mitverursacht wurde. Über den Status der gegenwärtigen Demokratien lässt sich pauschal festhalten, dass die staatlichen Institutionen mit Korruption und Klientelismus zu kämpfen haben, ihre Funktionäre die unterschiedlichsten Menschenrechtsverletzungen bei häufiger Straflosigkeit begehen und mit Verbrecherbanden kooperieren. Die große Macht des organisierten Verbrechens schränkt in vielen Ländern den Handlungsraum des Staates stark ein. Im Cono Sur ist das Gewaltniveau etwas niedriger als in den anderen Ländern. Mitschuld an diesen Zuständen tragen die USA, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts massiv in die lateinamerikanische Politik eingemischt haben. Auf der 9. Panamerikanischen Konferenz von 1948 in Bogotá
13 Die USA wurden vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag dazu verurteilt, 2,4 Milliarden Dollar Entschädigung an Nicaragua zu zahlen, sind aber bis heute dieser Pflicht nicht nachgekommen.
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Gewalt und Verbrechen in Lateinamerika
"verpflichteten" sich die USA dazu, bei einer kommunistischen Bedrohung entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten. Unter dem Vorwand, den Frieden in Amerika zu verteidigen, konnten sie so soziale Reformbestrebungen in lateinamerikanischen Ländern als kommunistische Aktivitäten diffamieren und militärisch, wirtschaftlich und finanzpolitisch intervenieren. De facto ging es den USA jedoch vor allem um ihre eigene Sicherheit und ihre eigenen Interessen und nicht um die Errichtung und Unterstützung demokratischer Regierungen. Die Vereinigten Staaten verhinderten dringend nötige Sozialreformen, aus Angst, die neuen Regierungen könnten von kommunistischen Kräften übernommen werden.14 Fast jeder lateinamerikanische Staat wurde durch die USA in seiner Entwicklung beeinträchtigt (König 2009: 720-723).
14 Militärische Eingriffe unternahmen die USA während des Kalten Krieges in Guatemala, Kuba, der Dominikanischen Republik, Grenada, Panama und etwas verdeckt auch in Nicaragua, wo sie die Contras unterstützten. Beeinflusst haben sie auch den Ausgang der Revolution in Bolivien (1964), den Sturz Allendes in Chile (1973) sowie die Destabilisierung der sandinistischen Regierung in Nicaragua (1980) (König 2009: 723).
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2.4. Literarische Kontexte: Die Entwicklung des Kriminalromans in den lateinamerikanischen Ländern Die folgende Darstellung der Geschichte des Kriminalromans in den lateinamerikanischen Ländern soll einen Überblick gewähren, der einen Vergleich des jeweiligen Entwicklungsstands ermöglicht. Eine so viele Länder umfassende Gegenüberstellung lag bisher in der Forschungsliteratur noch nicht vor. Hier wird allerdings keine vollständige Auflistung aller Schriftsteller und Werke angestrebt. Für ausführlichere Darstellungen zu den einzelnen Autoren sei auf die zitierte Literatur verwiesen. Die gewählte Reihenfolge der Länder orientiert sich daran, wie früh und wie stark die Produktion von Kriminalromanen einsetzte, und beginnt mit Argentinien, dem lateinamerikanischen Land mit der größten Tradition in dieser Gattung.1 2.4.1. Argentinien Die Entwicklung des Kriminalromans in Argentinien ist bereits recht gut erforscht. Als Standardwerk dafür gilt die Essaysammlung Asesinos de papel (1996) von Jorge Lafforgue und Jorge B. Rivera. Außerdem widmet Amelia Simpson in ihrem vielzitierten Werk Detective Fiction from Latin America (1990) ein Kapitel dem Cono Sur und behandelt darin vorrangig argentinische Autoren. Speziell mit in Buenos Aires spielenden Kriminalromanen befasst sich Glen S. Close (2008) in einem Kapitel seiner Monografie Contemporary Hispanic Crime Fiction. Eine Reihe von Aufsätzen ergänzt das Panorama.2 In Argentinien setzte das Schreiben von Kriminalerzählungen sehr früh ein, nämlich bereits in den letzten zwei Dekaden des 19. Jahrhunderts mit Autoren wie Carlos Olivera, Carlos Mosalve oder Eduardo Ladislao Holmberg (Simpson 1990: 29).3 In den 1920er und 1930er Jahren erschienen immer wieder einzelne Kriminalerzählungen von argentinischen
Die Reihenfolge soll nicht als absolut gültig angesehen werden, da eine solche Evaluierung äußerst schwierig und auch nicht unbedingt sinnvoll wäre, da entschieden werden müsste, welche Kriterien als wichtiger erachtet werden und warum: die Anzahl der Romane pro Jahr und Land, das Datum der ersten Publikati onen, oder die erreichte Transformationsleistung im Zuge der Aneignung. 2 Für die folgende Zusammenstellung wurden die Artikel von Giardinelli (1984b), Díaz Eterovic (2001), Lagmanovich (2001), Gamerro (2009), Setton (2010) und Pellicer (o. J.) verwendet. Es liegt darüber hinaus eine Vielzahl weiterer Aufsätze vor, die hier nicht im Detail aufgelistet werden können, da sie für einen kurzen Überblick nicht relevant sind. 3 Zu den Anfängen der argentinischen Kriminalliteratur, insbesondere zu Carlos Olivera und Carlos Monsalve, siehe Setton (2010), zu Eduardo Ladislao Holmberg siehe Lagmanovich (2001). 1
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Die Entwicklung des Kriminalromans in den lateinamerikanischen Ländern
Autoren in Magazinen. Hier sind Enrique Anderson Imbert, Jacinto Amenábar, Leonardo Castellani und auch Roberto Arlt zu nennen. Letzterer hat nach Angaben von Lafforgue und Rivera zwischen 1937 und 1940 acht Kriminalerzählungen in den Zeitschriften Mundo Argentino und El Hogar veröffentlicht (Lafforgue/Rivera 1996: 15ff.). Trotz der Originalität und Qualität dieser ersten (häufig parodistischen) Erzählungen blieb die Gattung bis in die 1940er Jahre hinein eher randständig. Als die ersten argentinischen Kriminalromane führt Lagmanovich El crimen de la mosca azul von Enrique Richard Lavalle (1919) und El enigma de la calle Arcos (1934) von Sauli Lostal (vermutlich ein Pseudonym) auf, beides wenig innovative Rätselromane (Lagmanovich 2001: 37ff.). Bei Lafforgue und Rivera findet man außerdem die Titel El misterio del dominó (1921) von Arístides Rabello und El crimen de Liniers (1921) von Enzo Aloisi (Lafforgue/Rivera 1996: 14). In der Zeitschrift Patoruzú erschien ab 1937 der Fortsetzungsroman El misterio de la galera gris, bei dem jedes Kapitel aus der Hand eines unterschiedlichen Autors stammt (ebd.: 16). Im Vergleich zu den anderen Ländern wurden in Argentinien besonders viele Reihen von übersetzten Kriminalromanen mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten herausgegeben, was die Gattung bei den Lesern bekannt machte. Schon in den 1930er Jahren existierten Reihen wie Colección Misterio, die jedoch größtenteils Leser von Trivialliteratur (mit Autoren wie Edgar Wallace, J. S. Fletcher, Maurice Leblanc oder Gaston Leroux) bedienten und sich an ein junges Publikum richteten. Richtungsweisend für die Herausbildung der argentinischen Kriminalliteratur waren in den 1940er Jahren die Erzählungen von Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares aus dem Band Seis problemas para don Isidro Parodi (1942)4 sowie einzelne Texte, die Borges allein verfasst hat, wie "El jardín de senderos que se bifurcan" (enthalten in Ficciones, 1941), "La muerte y la brújula" (enthalten in Artificios, 1944)5 und "Emma Zunz" (enthalten in El Alef, 1949). Sie parodieren das Genre, verbinden die Aufklärung von Verbrechen mit philosophischen Gedankenexperimenten und befördern die Kriminalerzählung damit bewusst in den Bereich der "hohen" Literatur (Simpson 1990: 35 u. Lafforgue/Rivera 1996: 12). Das Erscheinen dieser Erzählungen fällt mit der Entstehung der fantastischen Literatur Argentiniens zusammen, an der Silvina und Victoria Ocampo sowie Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares beteiligt waren. 1942 erschienen des Weiteren die Erzählungen des Bandes Las nueve muertes del Padre Metri von Jerónimo del Rey (Pseudonym von Leonardo Castellani) und 1944 der Erzählband La espada dormida von Manuel Peyrou. Laut Rodolfo Walsh, der 1953 die erste Anthologie argentinischer
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Dieser Band wurde erstmals unter dem Pseudonym H. Bustos Domecq veröffentlicht. Die Erzählung erschien ursprünglich in der Zeitschrift Sur (Nr. 92, 1942).
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Literarische Kontexte
Kriminalerzählungen herausgab (Diez cuentos policiales argentinos), gehören diese Erzählungen zusammen mit denen von Borges und Bioy Casares zu den Gründungstexten des Genres in Argentinien (Lafforgue/Rivera 1996: 12). Einige weitere argentinische Beiträge dieser Zeit betrieben das Schreiben des Kriminalromans als Pastiche, humoristisches Spiel und Satire, wobei sich andere sehr deutlich an die angelsächsischen Modelle anlehnten (ebd.: 20). Ab 1945 spielte die Reihe El séptimo círculo, die von Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares bis 1956 herausgegeben wurde, eine besonders wichtige Rolle bei der Verbreitung des Genres.6 Borges und Bioy Casares wählten die ersten 120 Titel der Reihe aus und konzentrierten sich dabei auf angelsächsische Rätselromane (Nicholas Blake, Michael Innes, John Dickson Carr, Graham Green etc.), führten aber auch hard-boiled-Romane ein (James M. Cain, Ross MacDonald, James Hadley Chase) und nahmen außerdem erste argentinische Werke, wie die Romane von Manuel Peyrou, in die Reihe auf. Trotz des frühen literarischen Prestiges, das die Herausgeber dem Genre verliehen, erfuhr es danach eine jahrzehntelange Kommerzialisierung durch weniger hochwertige, aber sehr beliebte Reihen, die an Kiosken vertrieben wurden. Argentinische Autoren benutzten häufig englischsprachige Pseudonyme und siedelten die Handlung ihrer Romane außerhalb Argentiniens an (ebd.: 95). Aber auch ein Klassiker wie Marco Denevis Rätselroman Rosaura a las diez (1955) erschien in dieser Phase.7 Ab der Jahrhundertmitte kam es in der lateinamerikanischen Literatur zum größten Innovationsschub seit dem Modernismus, der den sogenannten Boom der lateinamerikanischen Literatur auf dem europäischen Buchmarkt auslöste. Die nueva novela führte eine Vielzahl neuer Erzähltechniken und die Paradigmen des realismo mágico beziehungsweise real maravilloso ein.8 Zwar war keiner der Boom-Romane erster Stunde ein Kriminalroman, doch profitierte das Genre ebenfalls von den neuen ästhetischen Errungenschaften, die es mit der Zeit inkorporierte. Anfang bis Mitte der 1970er Jahre gewann der Kriminalroman in Argentinien neues Prestige in den Feuilletons und fand Anschluss an die argentinische Literatur des Postboom mit Autoren wie Manuel Puig (The Buenos Aires Affair, 1973), Juan Carlos Martini (El agua en los pulmones, 1973; Los Sowohl Raúl Argemí als auch Pablo De Santis weisen im Interview auf die Wichtigkeit der Sammlung für die Entwicklung des Kriminalromans in Argentinien hin (Wieser 2010: 38 und 66). 7 Mempo Giardinelli schreibt diesem außerhalb Argentiniens wenig bekannten Roman einen hohen Stellenwert zu. Es handle sich weder um eine hard-boiled-novel noch um einen Rätselroman, sondern um ein Werk, das einen Kriminalfall aus Vorwand verwendet, einen bestimmten Sektor der argentinischen Gesellschaft einer genauen und kritischen Beobachtung zu unterziehen (Giardinelli 1984b: 68f.). 8 Der realismo mágico war zwar im Cono Sur nicht so fruchtbar, wurde aber von den Autoren intensiv rezipiert. 6
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asesinos las prefieren rubias, 1974; El cerco, 1977), Osvaldo Soriano (Triste, solitario y final, 1973; No habrá más penas ni olvido, 1978; Cuarteles de invierno, 1980) oder Sergio Sinay (Ni un dólar partido por la mitad, 1975; Sombras de Broadway, 1983). In einer Zeit, in der triviale Kunstformen und Massenmedien der Höhenkammliteratur zunehmend Konkurrenz machten, verfolgten die Autoren des Kriminalromans das Ziel, das Genre formalästhetisch zu verbessern und mit Mitteln der Distanzierung, Intellektualisierung, Hommage und Parodie eine nationale Kriminalliteratur zu schaffen. Sie integrierten Elemente des realismo mágico, des Absurden und Fantastischen, waren vom Existenzialismus beeinflusst und behandeln Themen wie Macht, Identität und Freiheit, fragten nach den Bedingungen von Wissen und schufen ambigue Situationen und offene Enden (ebd.: 89ff.). Für den chilenischen Autor Díaz Eterovic stellen die drei Kriminalromane von Osvaldo Soriano einen entscheidenden Schritt in der Entwicklung des argentinischen Kriminalromans dar, da sie zeigen, dass das Genre fähig ist, die lateinamerikanische Wirklichkeit zu verarbeiten, in der Verbrechen und Politik untrennbar verbunden sind (Díaz Eterovic 2001: 66). Während der Militärdiktatur verließen viele Autoren das Land. Rodolfo Walsh, der mit Operación Masacre (1957) einen für das Genre wichtigen Tatsachenroman9 vorgelegt und Kriminalromane wie ¿Quién mató a Rosendo? (1969) und El caso Satanowsky (1973) verfasst hatte, wurde von der Regierung 1977 verschleppt und ermordet (Giardinelli 1984b: 81). Die Erfahrungen mit Diktaturen und staatlich verübter Gewalt führten in der argentinischen Literatur zu nationaler Selbstkritik und Geschichtsaufarbeitung, wie etwa in José Pablo Feinmanns Kriminalroman Últimos días de la víctima (1979) (Simpson 1990: 60f.). Nach dem Ende der Diktatur vermehrte sich die Produktion von Kriminalromanen zusehends durch Autoren, die vor allem novelas negras im Anschluss an die hardboiled-Tradition schrieben, wie Juan Sasturaín (Manual de perdedores, 1985; Manual de perdedores II, 1987; Arena en los zapatos, 1988), Mempo Giardinelli (Luna Caliente,1983; Qué solos se quedan los muertos, 1985), Osvaldo Soriano (A sus plantas rendido un león, 1986; El ojo de la Patria, 1992) und viele mehr. Seit den 1990er Jahren wird in der argentinischen Kriminalliteratur einerseits eine sozial- und systemkritische novela neopolicial oder novela negra im Anschluss an die US-amerikanischen hard-boiled Romane von Autoren wie Ricardo Piglia, Guillermo Saccomanno, Ernesto Mallo oder Raúl Argemí weitergeschrieben. Wie Pellicer herausgearbeitet hat, be-
Journalistisch recherchierte Tatsachenromane wie Operación Masacre gehören zwar nicht im engeren Sinn zur Kriminalliteratur, sind jedoch thematisch mit dieser verwandt, weswegen es zu einer gegenseitigen Beeinflussung kommt.
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ziehen sich einige Autoren jedoch nicht mehr auf die Zeiten der Diktatur, sondern nehmen reale Kriminalfälle aus den Polizeiberichten in den Zeitungen als Ausgangspunkt für ihre Romane (Pellicer o. J.). Jüngere Autoren wie Leonardo Oyola schreiben über Gewalt in den Straßen von Buenos Aires. Andererseits erlebt aber auch die auf Poe und Conan Doyle zurückgehende und von Borges und Bioy Casares transformierte Richtung der Rätselerzählung ein Revival und fügt sich in die postmoderne Literatur mit all ihren Charakteristika ein. Dazu gehört die starke Neigung zu Metafiktion und Autoreferenzialität bei Autoren wie José Pablo Feinmann, Juan José Saer, Pablo De Santis, Guillermo Martínez oder Martín Kohan (Gamerro 2005). Außerdem entstand eine Strömung, die private und familiäre Konflikte in den Blick rückt und dabei den Zustand der argentinischen Familien hinterfragt (z. B. bei Claudia Piñeiro, Sergio Olguín und zum Teil bei Argemí und Giardinelli). 2.4.2. Mexiko Die Entwicklung des mexikanischen Kriminalromans ist ebenso gut erforscht wie die des argentinischen. Es liegen zwei Monografien vor: Antihéroes. México y su novela policial (1993) von Ilán Stavans und Muertos de papel (2003) von Vicente Fransisco Torres. Auch Amelia Simpsons Detective Fiction from Latin America (1990) und Glen S. Close’s Contemporary Hispanic Crime Fiction (2008) enthalten ein Kapitel über Mexiko beziehungsweise Mexiko-Stadt. Außerdem finden sich in den Sammelbänden El norte y su frontera en la narrativa policiaca mexicana (2005), herausgegeben von Juan Carlos Ramírez-Pimienta und Salvador C. Fernández, und Bang! Bang! Pesquisas sobre narrativa policiaca mexicana (2005), herausgegeben von Miguel G. Rodríguez Lozano und Enrique Flores, eine Vielzahl von Aufsätzen zur Entwicklung der Gattung sowie zu einzelnen Werken und Autoren.10 Das Thema Gewalt wurde in Mexiko lange Zeit nicht im Kriminalroman, sondern im Revolutionsroman behandelt. Von der Mexikanischen Revolution (1910-1920) bis in die 1940er Jahre war der Revolutionsroman das wichtigste Romangenre.11 Als erster Kriminalroman Mexikos
10 Weitere, verstreut veröffentlichte Aufsätze zum Thema stammen von Torres (1985), Revueltas (1987), Ávila Mergil (1998), Lara-Alengrin (2003) und Rodríguez Lozano (2007). 11 Revolutionsromane enthielten in der Anfangszeit politische, ideologische und agitatorische Elemente und gingen dann immer mehr zu einer Darstellung des Figureninneren über. Agustín Yáñez’ Al filo del agua (1947) gilt als Endpunkt dieser Entwicklung. Der mexikanische Roman trat danach in eine Phase der nicht-ideologischen Interiorisierung und Konzentration auf Psychisches nach dem Vorbild von Joyce, Dos Passos und Faulkner ein. Diese Periode wird vor allem durch Juan Rulfos Pedro Páramo (1955) repräsentiert. Bis heute erscheinen Romane, die sich mit der Mexikanischen Revolution auseinander setzen (z. B. von Ignacio Solares). Das Thema der Gewalt ist in
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gilt Ensayo de un crimen von Rodolfo Usigli aus dem Jahr 1944. Er wird von Torres aufgrund seiner komplexen Struktur und hervorragenden Prosa als "novela policial artística" bezeichnet (Torres 2003: 26) und ist weit mehr als auf bloße Spannung angelegte Unterhaltungsliteratur. Der Roman untersucht die psychische Verfasstheit der Mexikaner (der Protagonist hat als Kind die Revolution miterlebt) und bezieht die Realität von Mexiko-Stadt (vor allem der Colonia Roma) Ende der 1930er Jahre dergestalt ein, dass er häufig als testimonio gelesen wird (Torres 2003: 61). Die Herausgabe von ausländischen Kriminalromanen in Reihen setzte in Mexiko später als in Argentinien ein. Giardinelli erwähnt für die 1950er Jahre beispielsweise Policiaca y de misterio des Verlags Norma und Jaguar und Caimán vom Diana Verlag (Giardinelli 1984b: 11). Aber erst durch die Publikation der Zeitschrift Selecciones policiacas y de misterio, die von 1946 bis 1953 erschien und Erzählungen von mexikanischen Autoren wie Rafael Bernal, María Elvira Bermúdez, Pepe Martínez de la Vega und Antonio Helú enthielt, erreichte das Genre eine etwas größere Breitenwirkung.12 Die ersten dieser Erzählungen waren auf Unterhaltung ausgerichtete whodunits. Eine Anthologie mit mexikanischen Kriminalerzählungen gab erstmals María Elvira Bermúdez 1955 mit dem Titel Los mejores cuentos policiacos mexicanos heraus (Simpson 1990: 82). Fast von Anfang an findet man auch in Mexiko Parodien in der Kriminalliteratur. Die Erzählungen von Pepe Martínez de la Vega (aus den Bänden Humorismo en camisteta, 1946; Péter Pérez, detective de Peralvillo y anexas, 1952) kreisen um die Sherlock-Holmes-Karikatur Péter Pérez, der in den 1950er und 1960er Jahren äußerst populär war, da seine Abenteuer im Radio gesendet und sogar verfilmt wurden (Torres 2003: 40-43).13 Aufmerksamkeit erregten zu dieser Zeit außerdem die Essays des angesehenen Kritikers Alfonso Reyes, in denen er die Kriminalliteratur als legitime literarische Ausdrucksform verteidigte und sich gegen eine generalisierende Abwertung aussprach.14 Trotz dieser Fürsprache blieb dieser Romangattung zentral, wird jedoch vor allem unter dem Vorzeichen einer Kriegshandlung und nicht eines Verbrechens dargestellt. 12 Manche dieser Erzählungen waren bereits Ende der 1920er Jahre zum ersten Mal erschienen. Torres berichtet des Weiteren von einer nur noch schwer auffindbaren Zeitschrift aus den 1950er Jahren mit dem Titel Detectives y Bandidos (Torres 2003: 21ff.). 13 Genauere Informationen zu den frühen mexikanischen Werken der Kriminalliteratur und ihren Autoren finden sich bei Stavans (1993). 14 Es handelt sich hierbei um die Aufsätze "Sobre la novela policial" (1945), "Algo más sobre la novela detectivesca" (1959) und "Un gran policía de antaño" (1959). Im ersteren argumentiert Reyes gegen die Behauptung, der Kriminalroman gehöre zur Subliteratur. Dass der Kriminalroman in sehr großer Zahl geschrieben wird und sich bestimmter Formen bedient, seien keine Indizien für seine Minderwertigkeit, da zum einen auch hochangesehene Autoren wie Balzac, Dickens, Trollope oder Galdós hochproduktiv waren und zum anderen die Qualität eines Werks nicht daran gemessen werden könne, ob es sich an bestimmte Formeln halte. Auch die griechische Tragödie habe dies getan und sei deswegen noch nie als minderwertig charakterisiert worden. Die Verwendung von Strukturformeln hält Reyes sogar für ein positives Merkmal des Kriminalromans, da es dem Roman seiner Zeit an Formgebung fehle (Reyes 1959 [1945]: 460f.).
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das Genre in Mexiko bis in die 1980er Jahre als minderwertig stigmatisiert (Simpson 1990: 82-86). Zur Zeit des Boom verfassten mehrere hochrangige Autoren einzelne Kriminalromane, darunter Vicente Leñero (Los albañiles, 1964), José Emilio Pacheco (Morirás lejos, 1967), etwas später Carlos Fuentes (La cabeza de la hidra, 1978) und Jorge Ibargüengoitia (Las muertas, 1977; Dos crímenes, 1979). Besonders wichtig für die Entwicklung des Genres ist jedoch das Werk Rafael Bernals. Sein Roman El complot mongol von 1969 lehnt sich an die hard-boiled-Tradition an, vollzieht den Übergang zu einem freien, eigenständigen Umgang mit dem Genre und ist für zahlreiche mexikanische Autoren bis heute ein wichtiger Bezugspunkt. Der Roman enthält bereits viele Charakteristika des zeitgenössischen lateinamerikanischen Kriminalromans: die Verwendung von Umgangssprache, die Artikulation von Gesellschaftskritik, das Thematisieren des organisierten Verbrechens, den Einsatz eines moralisch ambivalenten Protagonisten, einen komplexen Handlungsverlauf und einen ironisch-selbstreflexiven Gestus.15 Ab 1964 verarbeitet parallel dazu die Generation der Onda die Sprache und Kultur der Hippies und drückt ihren Unmut gegen die PRIRegierung aus, indem sie Tabuthemen (Drogen, Sex, Rock’n’Roll) und Elemente der Jugendkultur in ihre Literatur integriert und sich mit einer klaren Alltagssprache bei Autoren wie José Agustín und Gustavo Sainz vom Boom und der nueva novela absetzt. Das Massaker von Tlatelolco (1968) löste schließlich eine weitere Wende in der mexikanischen Literatur aus, da sich immer mehr Menschen von der PRI-Regierung distanzierten. In dieser Phase prägt der Essayist Carlos Monsiváis die Literaturszene, indem er die cultura popular aufwertet und den ganzheitlichen und teleologischen Konzepten der Elite eine Absage erteilt. Vor diesem Hintergrund konnte das Werk Paco Ignacio Taibos II entstehen, das den größten Meilenstein in der mexikanischen Kriminalliteratur darstellt. Taibo initiierte in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre (Postboom) eine parodistische und zugleich brutale Serie im Stil der novela negra beziehungsweise novela neopolicial um den Privatdetektiv Héctor Belascoarán Shayne (Días de Combate, 1976). Sein großes Thema ist – ähnlich wie bei den Onda-Autoren – die Großstadt und insbesondere die urbane Gewalt in Mexiko-Stadt. Mit einer anarcho-linken, gegen den Kapitalismus gerichteten politischen Botschaft denunziert er die Korruptheit der mexikanischen Politik und Wirtschaft und porträtiert Gewerkschaftskämpfer und Streikende. Taibo arbeitet intertextuell, selbstreflexiv, multiperspek15 Detailinformationen zu den Werken von Leñero, Pacheco, Fuentes, Ibargüengoitia und Bernal finden sich in Stavans (1993). Im Kapitel "Serio Pitol, Rafael Ramírez Heredia y los otros" führt Stavans außerdem eine Reihe von Autoren und Werken auf, die als weniger typisch für das Genre gelten (Stavans 1993: 128-132).
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tivisch, mit ironischen Brechungen und Montagen. In seinen späteren großen Romanen wie Sombra de la sombra (1986) oder Cuatro manos (1990) entwirft er immer komplexere plots und schließt den mexikanischen Kriminalroman damit an den Höhenkamm an. Neben Taibo schreiben in den späten 1970er und 1980er Jahren auch Rafael Ramírez Heredia (Trampa de metal, 1979; Muerte en la carretera, 1985), Federico Campbell (Pretexta, 1984) und Eugenio Aguirre (El rumor que llegó del mar, 1986) eine Reihe von Kriminalromanen. Darüber hinaus erschienen ab den 1970er Jahren journalistische Werke (ähnlich Rodolfo Walshs Operación Masacre in Argentinien). Dazu gehören Max Aubs Crímenes ejemplares (1972)16 und später Vicente Leñeros Asesinato: El doble crimen de los Flores Muñoz (1985). Laut Simpson entstanden in Mexiko jedoch kaum Epigonen mit nordamerikanischen oder europäischen Settings, die unter Pseudonymen veröffentlicht wurden, wie in Argentinien. Die mexikanischen Autoren wählten von Anfang an vor allem Mexiko als Schauplatz und nutzten das Genre, um nationale Gegebenheiten zu thematisieren (Simpson 1990: 82). Das Panorama des mexikanischen Kriminalromans entwickelt sich seit den 1990er Jahren zu einem der breitesten und vielseitigsten in Lateinamerika. Die Autoren decken eine Fülle von Themen ab, sind aber heute weniger daran interessiert, die Vergangenheit zu bewältigen (z. B. das Massaker von Tlatelolco), als damit, ihre Gegenwart zu deuten, die voller akuter (lokaler und nationaler) Konflikte ist. Eine ganze Reihe von Autoren schreiben beispielsweise über den mexikanischen Norden. Dazu gehören Gabriel Trujillo Muñoz (Mezquite Road, 1995; Mexicali City Blues, 1999), Francisco José Amparán, Eduardo Antonio Parra, Guillermo Munro, Gerardo Cornejo, Gerardo Segura, Hugo Valdés Manríquez, Leonides Alfaro B., Juan José Rodríguez und Jesús Alvarado (Rodríguez Lozano 2005: 153f.), Élmer Mendoza (Un asesino solitario, 1999; El amante de Janis Joplin, 2001), Bernardo Fernández (Tiempo de alacranes, 2005) und Martín Solares (Los minutos negros, 2006). Ihre thematischen Schwerpunkte sind die nördliche frontera und der immer gewalttätiger werdende Drogenhandel. Urbane Gewalt steht im Mittelpunkt der Romane von Juan Hernández Luna (Naufragio, 1991; Tabaco para el puma, 1996), Eduardo Monteverde (El naufragio del Cancerbero, 2006), Joaquín Guerrero Casasola (Ley garrote, 2007; El pecado de Mama Bayou, 2008) aber auch von Sergio Pitols Kriminalroman El desfile del amor (1989). Ausnahmen bilden Romane, die Kriminalfälle in ländlichen Regionen behandeln und traditionelle Verhaltensmuster hinterfragen wie Un dulce olor a muerte (2001) von Guillermo Arriaga.17 Eine Systematisierung der neuesten Entwick16 Der Spanier Max Aub lebte von 1942 bis zu seinem Tod 1972 in Mexiko im Exil, weswegen ihn Stavans in die Reihe der mexikanischen Autoren miteingliedert (Stavans 1993: 128f.). 17 Zu Arriaga siehe Delgado Rodríguez/Wieser (2008).
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lungen liegt noch nicht vor, es fällt jedoch auf, dass die mexikanischen Autoren der hard-boiled-Tradition (mit allen erdenklichen Transformationen in der novela negra beziehungsweise neopolicial) treu bleiben und die novela de enigma – anders als in Argentinien – kein Revival erlebt.18 2.4.3. Kuba Zur Geschichte des kubanischen Kriminalromans liegt ebenfalls schon eine Monografie vor: Detective Fiction in Cuban Society and Culture (2006) von Stephen Wilkinson. Auch Amelia Simpson (1990) widmet Kuba ein Kapitel ihrer Untersuchung. Leonardo Paduras Studie Modernidad, posmodernidad y novela policial (2000) enthält hingegen nur wenige Informationen zur Entwicklung des Genres in seinem Land, da der Autor vor allem die internationale Entwicklung nachzuzeichnen versucht.19 Auch auf Kuba waren seit den 1920er Jahren Übersetzungen aus Europa und den USA verfügbar. Jedoch wurde dem kubanischen Beitrag zur Kriminalliteratur vor der Revolution bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Wilkinsons Nachforschungen ergaben, dass vor 1959 mindestens drei Romane, zwei Magazine, Dutzende von Erzählungen sowie ein paar wenige Filme und eine ziemlich populäre Radioserie entstanden sind (Wilkinson 2006: 83). Die vorrevolutionäre kubanische Kriminalliteratur sei stark von den US-amerikanischen hard-boiled-Romanen beeinflusst, was Wilkinson durch die geografische Nähe, die starke Amerikanisierung Kubas in den 1930er Jahren sowie durch die Ähnlichkeit der Probleme (z. B. die korrupte Polizei in Havanna) erklärt (ebd.: 105). So erschienen im vorrevolutionären Kuba schon Werke mit sozialkritischen Ansätzen, aber auch stark kommerzialisierte, sensationalistische und stereotypisierende (ebd.: 107). Nach der Revolution bewirkte das Regime durch Alphabetisierungskampagnen (1960-1962), die gezielte Förderung von Autoren mittels Wettbewerben sowie durch die Stiftung der Casa de las Américas, dass eine größere Leserschaft entstand und die Produktion von literarischen Werken im Allgemeinen anstieg. Übersetzungen von angelsächsischen Kriminalromanen (Christie, Hammett, Chandler) wurden ab 1961 in Kuba beim Verlag Dragón veröffentlicht (ebd.: 111). In den 1960er Jahren entstand auch das Genre des kubanischen Revolutionsromans, der den Konflikt zwischen Revolutionskampf und Privatleben der Revoluti18 Weitere Autoren und Werke führt Rodríguez Lozano (2007) auf. Sein Aufsatz enthält auch einige nützliche Inhaltsangaben und Interpretationsansätze. Außerdem versucht Lozano die Kriminalromane thematisch zu gliedern und zeigt, dass es sich um ein sehr großes, heterogenes Feld von Texten handelt. 19 Es liegen überdies einzelne Aufsätze zu dem Thema vor wie die von Franzbach (1994 u. 2000).
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onäre fokussierte. Seine Protagonisten schwankten jedoch nicht zwischen einer Befürwortung oder Ablehnung der Revolution; Revolutionäre und Batista-Anhänger wurden vielmehr schwarz-weiß-malerisch getrennt. Die Autoren fokussierten Gewalttaten außerdem nicht als "Verbrechen", sodass der Kriminalroman keinen Beitrag zur Aufarbeitung der Revolution leisten konnte. Erst ein Jahrzehnt später begann sich eine kubanische Kriminalliteratur zu entwickeln, ausgehend von Ignacio Cárdenas Acuñas Enigma para un domingo (1971). Cárdenas Acuña reichte den Roman 1969 beim Wettbewerb der UNEAC (Unión Nacional de Escritores y Artistas de Cuba) ein. Er gewann zwar nicht, das Werk wurde danach aber trotzdem verlegt und ein großer Publikumserfolg (Wilkinson 2006: 110). Im selben Jahr hielt Fidel Castro seine folgenreiche Rede an die Intellektuellen, in der er die literarische Zensur ankündigte ("dentro de la Revolución todo, contra la Revolución nada"); Heberto Padilla wurde wegen der politischen Inhalte seines Lyrikbandes Fuera del juego festgenommen und musste das Land verlassen. Aufgrund des Erfolges von Enigma para un domingo initiierte das kubanische Innenministerium (MININT) 1972 den Concurso Aniversario del Triunfo de la Revolución mit dem Ziel, die Produktion von linientreuen Kriminalromanen zu fördern. Dies führte dazu, dass Kuba in den 1970er Jahren deutlich mehr Kriminalromane produzierte als die anderen lateinamerikanischen Länder mit Ausnahme Argentiniens (Simpson 1990: 97). Von den Wettbewerbsteilnehmern wurde gefordert, dass sie didaktische Werke zum Schutz vor antisozialistischen und konterrevolutionären Aktivitäten verfassten. Auf diese Weise entstand eine neue Art des Kriminalromans, ein sozialistischer Kriminalroman, dessen Hauptziele in der Unterhaltung und ideologischen Erziehung der Leser bestand. Aufgrund ihrer Gesinnung, die sich in der Identifikation der Menschen mit der Regierung sowie in der Ablehnung von Privateigentum äußerte, war eine direkte Anbindung an die kapitalistischen USamerikanischen Vorbilder nicht mehr möglich (ebd.: 100). Um das Diktat des MININT zu umgehen, verlegten manche Autoren die Handlung ihrer Romane in die Zeit vor der Revolution, andere ins Ausland. Diejenigen Romane, die in der kubanischen Gegenwart spielten, enthielten meist eine didaktische Komponente wie La ronda de los rubíes (1973) von Armando Cristóbal Pérez oder El American Way of Death (1980) von Juan Ángel Cardi. Testimonio-Romane dieser Phase handeln zwar von realen Geschehnissen und verwenden angeblich authentische Dokumente, sind aber saturiert von revolutionärer Rhetorik (Simpson 1990: 115). Contraespionaje-Romane konnten leichter als Detektivromane aus angelsächsischen Modellen abgeleitet werden, da die manichäische Weltsicht von Spionageromanen à la James Bond nur in ihr Gegenteil verkehrt werden mussten (ebd.: 120). 95
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Wilkinson erklärt die große Beliebtheit des Kriminalromans im postrevolutionären Kuba dadurch, dass die Leser dort ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Batista-Regime, der Revolution, der CIA-Spionage und der Invasion in die Schweinebucht reflektiert sahen (Wilkinson 2006: 111). Zu den bekanntesten Autoren dieser Phase zählen Armando Cristóbal Pérez, Luis Rogelio Nogueras (Y si muero mañana, 1978), der gebürtige Uruguayer Daniel Chavarría (Joy, 1978) und der 2006 verstorbene Justo Vasco, der mehrere Romane mit Chavarría gemeinsam geschrieben hat (z. B. Completo Camagüey, 1983). Laut Dill war der Kriminalroman in den 1970er Jahren sogar das "literarische Hauptprodukt" Kubas und wurde so zahlreich produziert (über 100 in einem Jahrzehnt), dass das kubanische Lesepublikum nicht durch Buchimporte beliefert werden brauchte (Dill 1999: 464).20 Der Boom des Genres "dentro de la revolución" fällt in die Phase der strengsten Zensur während des quinquenio gris. 1989 wurde publik, dass ein ranghoher Militär, Angola-Veteran und Weggefährte Castros in den internationalen Drogenhandel verwickelt war. General Arnaldo Ochoa wurde vor Gericht gestellt, verurteilt und hingerichtet. Leonardo Padura sieht einen engen Zusammenhang zwischen dem Fall Ochoa sowie weiteren Korruptionsskandalen im kubanischen Militär und Innenministerium und der Krise des revolutionären Kriminalromans, dessen Paradigma sich zu dieser Zeit bereits totgelaufen hatte (Padura 2000: 156). Nun erkannten die Kubaner, wie marode das Regime mittlerweile war, so dass die linientreuen Kriminalromane für sie uninteressant wurden. Die immanente Nachfrage nach neuartigen Werken stellte für die Autoren die geeignete Gelegenheit dar, die Praxis der Preisverleihungen und die damit verbundene literarische Zensur aufzuweichen. Leonardo Padura gelang es, mit seinem ersten Kriminalroman Pasado perfecto (1991) eine neue Phase des Genres auf Kuba einzuleiten und in den Folgejahren auszubauen, so dass er als der Exponent des zeitgenössischen kubanischen Kriminalromans gelten kann.21 Wilkinson beschreibt die ungewöhnliche Erfolgsstory von Pasado perfecto: Der Autor hatte den Roman beim MININT eingereicht, erhielt aber nach Angaben der Jury den Preis nicht, weil er gegen ideologische Grundsätze verstoßen hatte: Mario Conde, Protagonist und polizeilicher Ermittler im Roman, schläft mit einer der Verdächtigen, was ein Polizist nicht darf. Paduras Roman wurde schließlich in Mexiko veröffentlicht, von wo aus einige Exemplare nach Kuba zurück gelangten und dort auf 20 Zeitgleich mit dem Höhenflug des Kriminalromans zogen sich viele kubanische Autoren, die keine Genre-Literatur schrieben, ins innere Exil zurück. 21 Leonardo Padura zeigt in seinem Havanna-Quartett, wie der kubanische Staat von innen zerfressen ist, indem er "hohe Tiere" als Verbrecher entlarvt (z. B. in Paisaje de otoño, 1998). Zwar bezieht er sich nicht direkt auf den Fall Ochoa, die Parallelen zu ihm sind jedoch ein Indiz für die Realitätsnähe der Romane. Zu Paduras Roman Máscaras (1997) siehe Kap. 4.1.
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großes Interesse stießen. Durch diesen Vorfall begann die jährliche Preisverleihung ihr Gewicht zu verlieren (Wilkinson 2006: 158). Auf dem von Padura geebneten Weg erlangten Ende der 1990er Jahre weitere kubanische Kriminalschriftsteller internationale Aufmerksamkeit. Zum einen verschafften sich Lorenzo Lunar Cardedo (Que en vez de infierno encuentres gloria, 2003) und Roberto Estrada Bourgeois (La pelirroja, 2004) im Ausland Gehör, und zum anderen auch Amir Valle (Las puertas de la noche, 2001), der lange Jahre auf Kuba als Journalist und Publizist tätig war, sich aber weigerte, den Vorgaben der Regierung zu gehorchen und Kontakte zu einer Dissidentenbewegung pflegte. Schließlich wurden seine Bücher auf Kuba verboten; das Kultusministerium sprach ein generelles Zusammenarbeitsverbot mit ihm aus. Als er nach der Veröffentlichung seiner Studie über Prostitution in Kuba (Habana Babilonia, 2006) mit noch schärferen Repressalien rechnen musste, floh er 2006 nach Deutschland, so berichtet das P.E.N.-Zentrum Deutschland (o. J.). Auch Daniel Chavarría gehört weiterhin zum festen Kern der Autorenschaft und hat die Wende zur systemkritischen Kriminalliteratur mitvollzogen, ohne die Geduld der kubanischen Behörden überzustrapazieren. Aufgrund der immer noch schwierigen politischen Situation, die eine gesellschaftskritische Ausrichtung des Kriminalromans einschränkt, ist die gegenwärtige Produktion an Kriminalromanen in Kuba deutlich geringer als in Argentinien und Mexiko.22 2.4.4. Brasilien Wie sich der Kriminalroman in Brasilien entwickelt hat, untersucht Hubert Pöppel in seiner Monografie Der brasilianische Kriminalroman (2004). Das ein Jahr später erschienene Werk von Sandra Reimão, Literatura policial brasileira (2005), entspricht gemessen an der geringen Seitenzahl eher einem Aufsatz als einer Monografie und bringt gegenüber Pöppel nichts Neues.23 Der Artikel von Gonçalves (2005) enthält einige wichtige Hinweise. Im Vergleich zu Argentinien, Mexiko und Kuba ist der brasilianische Kriminalroman damit weniger gut erforscht.24
22 Dieser Befund betrifft die außerhalb Kubas erhältlichen Werke. Es ist nicht auszuschließen, dass eine Vielzahl von Kriminalromanen bei kubanischen Verlagen erscheinen, von denen man außerhalb der Insel nur schwer Kenntnis erhält. 23 Das Buch hat nur 67 Seiten bei einem sehr kleinen Format. 24 Auffallend ist, dass noch kein brasilianischer Literaturwissenschaftler eine größere Forschung zu diesem Thema durchgeführt hat. Die schon ältere Monografie von Paulo de Medeiros e Albuquerque O Mundo emocionante do Romance Policial (1979) vollzieht die internationale Entwicklung nach und enthält nur ein kurzes Kapitel von fünfzehn Seiten zum brasilianischen Kriminalroman. Immerhin wurde schon eine Vielzahl von Untersuchungen zum Werk von Rubem Fonseca veröffentlicht (z. B. Figueiredo 2003).
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Als erster brasilianischer Kriminalroman gilt O Mysterio,25 ein Gemeinschaftswerk von Coelho Neto, Afrânio Peixoto, Medeiros e Albuquerque und Viriato Corrêa aus dem Jahr 1920.26 Es handelt sich um einen parodistischen, gesellschaftskritischen Fortsetzungsroman, der zunächst in einer Zeitung veröffentlicht wurde und dessen Protagonist Major Mello Bandeira als "Sherlock da cidade" dem angelsächsischen Vorbild nacheifert (Pöppel 2004: 95f. u. Reimão 2005: 14). Bis 1960 listet Pöppel lediglich weitere sechzehn Kriminalromane auf, die im Großen und Ganzen Parodien und Imitationen ausländischer Modelle darstellen. In den 1940er Jahren erschienen die ersten Kriminalerzählungen in Zeitschriften. Die Autorin Patrícia Galvão, die zum brasilianischen modernismo gerechnet wird, veröffentlichte ihre Kriminalerzählungen unter dem Pseudonym King Shelter, verwendete englischsprachige Namen für die Figuren und siedelte die Handlung im Ausland an. Eine Besonderheit ist außerdem, dass ihr Autorpseudonym als Begleiter des Detektivs auftritt (Gonçalves 2005: 80f.).27 In den 1950er Jahren publizierte Luiz Lopes Coelho darüber hinaus den ersten von drei Bänden mit Kriminalerzählungen, mit denen er sich stark am angelsächsischen whodunit orientiert (A Morte no Envelope, 1957; O Homem que Matava Quadros, 1961; A Idéia de Matar Belina, 1974). Die Geschichten spielen in São Paulo, sind aber kaum mit dem gesellschaftlichen Kontext verzahnt (Gonçalves 2005: 81 u. Pöppel 2004: 266f.). Ähnlich wie Kuba nähert sich Brasilien dem Genre zunächst zögerlicher an als Argentinien und Mexiko. Erst ab den 1960er Jahren kommt es zu einer verstärkten Produktion von Kriminalromanen und zur Herausbildung eines Gattungsbewusstseins, das sich in einem souveränen und freien, auch parodistischen Umgang mit dem Formeninventar in den Romanen von Hélio do Soverla (Morte Para Quem Ama, 1963), Sylvan Paezzo (João Juca Jr., Detetive Carioca, 1964) oder Maria Alice Barroso (Quem Matou Pacífico, 1969) äußert. Die Referenz auf die brasilianische Realität ist nun mehr als nur Dekor; sie wird für die Anklage gesellschaftlicher Zustände genutzt (Pöppel 2004: 261). Pöppel analysiert aus dieser Entwicklungsphase ein weiteres paradigmatisches Kollektivwerk, an dem so bedeutende Autoren wie Jorge Amado, Guimarães Rosa und Das noch frühere, auf einem realen Fall basierende Werk Mattos, Malta ou Matta (1885) von Aluízio Azevedo klassifiziert Pöppel nicht als Kriminalroman, da darin auf der einen Seite die Ebenen der "Betroffenheit, Ermittlung, Erzählung und Autorschaft" zusammenfallen und auf der anderen Seite eine Systemreferenz weder wahrscheinlich wirkt noch nachweisbar ist (Pöppel 2004: 93-95). 26 Es mag ein Zufall sein, dass auch in Portugal der erste Kriminalroman avant la lettre ein Gemeinschaftswerk ist, das 1870 als Fortsetzungsgeschichte in einer Zeitung erschien: O Mistério da Estrada de Sintra von Eça de Queiroz und Ramalho Ortigão. 27 Galvãos Erzählungen wurden erst 1998 unter dem Titel Safra Macabra von Geraldo Galvão Ferraz wieder herausgegeben, was ein neues Licht auf die modernistische Autorin warf (Gonçalves 2005: 80). 25
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Rachel de Queiroz beteiligt waren. Aber auch Viriato Corrêa, der schon an O Mysterio mitgeschrieben hatte, gehört zu den Koautoren von O Mistério dos MMM. Der Roman erschien vermutlich 1964, steht der brasilianischen Höhenkammliteratur nahe und enthält modernistische Züge. Nach Pöppels Einschätzung ist er der Wegbereiter für die enorme Erweiterung der Vielfalt des brasilianischen Kriminalromans in der Folgezeit (ebd.: 114f.). Das Genre sei seitdem "als mögliche literarische – und nicht (nur) subliterarische – Ausdrucksform" akzeptiert worden (ebd.: 261). Städte wie São Paulo, Rio de Janeiro, Salvador und Recife wuchsen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf mehrere Millionen Einwohner an. Es bildete sich eine neue Mittelschicht und Konsumgesellschaft, die sich von den immer größer werdenden Favelas abgrenzte. Das Bildungs- und Verlagswesen wurde modernisiert, so dass die Literatur in den 1960er und 1970er Jahren einen Aufschwung erlebte. Die Großstädte – der bevorzugte Schauplatz des Kriminalromans – werden zum Hauptthema der brasilianischen Narrativik. Trotz Diktatur und Zensur waren die Bedingungen für eine Ausdifferenzierung des Kriminalromans daher nicht ungünstig. Pöppels Forschungen zufolge reagierte der brasilianische Kriminalroman der 1970er Jahre auf die internationalen Errungenschaften des Genres und suchte gleichzeitig den Anschluss an die nationale Hochliteratur. Es entstanden Rätselromane wie die von Rubens Teixeira Scavone (Clube de Campo, 1973), Attila de Andrade (Os 13 Suspeitos, 1974) und Luis Carlos Barbosa Lessa (O Crime é um Caso de Marketing, 1975), der brasilianische hard-boiled bei Carlos Heitor Cony (A Noite do Massacre, 1976), der crime-reportagem bei Autoren wie José Louzeiro (Lúcio Flávio. O Passageiro da Agonia, 1975; Aracelli Meu Amor, 1976) sowie einige Parodien wie die von Paulo de Medeiros e Albuquerque (Uma Idéia do Doutor Watson, 1977), Augusto Boal (A Deliciosa e Sangrenta Aventura Latina de Jane Spitfire Espiã e Mulher Sensual (Intriga! Ação! Suspense! Mistério!!!), 1977) und die Erzählungen von Luis Fernando Verissimo (Ed Mort e Outras Histórias, 1979). 1973 veröffentlichte Rubem Fonseca seinen ersten Kriminalroman, O Caso Morel, in dem er die Aufklärung eines Falls in ein Spiel mit einem literarischen Text überführt.28 Sein Erzählband Feliz Ano Novo (1975) thematisiert urbane Gewalt in ihrer brutalsten Form aus der Perspektive sozial marginalisierter Täter. Nach 30.000 verkauften Exemplaren wurde das Buch bis 1989 verboten (wegen Verstößen gegen die Moral, z. B.
28 Ein Schriftsteller erhält von einem Gefängnisinsassen den Auftrag, dessen Manuskript in einen Roman zu verwandeln. Bei der Überarbeitung des Manuskripts versucht der Schriftsteller den Mörder im Lese- und Schreibprozess aufzuspüren.
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durch pornografische Szenen). Im Erzählband O Cobrador (1979)29 tauchen Schlüsselfiguren seiner späteren Romane auf: Der rechtschaffene Polizist Guedes sowie der Anwalt Mandrake.30 Fonseca behandelt in diesen Erzählungen sowohl Figuren aus der Unterschicht (wie den cobrador) als auch das verrottete Innenleben der Reichen (wie bei Mandrakes Fällen). Charakteristisch für Fonsecas Erzählungen sind die besonders krude Darstellung von Gewalt und die kalte Emotionslosigkeit der Täter, die das Lesepublikum der Mittelschicht schockierten. Zur gleichen Zeit widmete das Magazin Ficção 1977 eine Ausgabe der brasilianischen Detektiverzählung und machte damit Autoren des Genres erstmals einem größeren Publikum bekannt. Im Vergleich zu Argentinien, Mexiko und Kuba erschienen in Brasilien in den 1970er Jahren jedoch deutlich weniger Kriminalromane und -erzählungen.31 Die 1980er Jahre waren dank der abertura produktiver. Das hervorstechende Merkmal vieler Kriminalromane dieser Phase sind humoristische, parodistische, selbstreflexive und intertextuelle Erzählverfahren. Dazu gehören Fonsecas Romane A Grande Arte (1983), Bufo & Spallanzani (1985), Vastas Emoções e Pensamentos Imperfeitos (1988) und Agosto (1990). Der Autor verarbeitet darin aktuelle Probleme Brasiliens wie Klassenkonflikte, Drogenhandel oder urbane Gewalt mit ironischen Brechungen. Sein Werk ist von zentraler Bedeutung für den Anschluss des Kriminalromans an die brasilianische Hochliteratur. In den 1980er Jahren entstanden des Weiteren einige parodistische Kriminalromane aus den Federn von Glauco Rodrigues Corrêa (O Assassinato do Casal de Velhos, 1985), Stella Carr (Eles Morrem, Você Mata!, 1987), Dagomir Marquezi (Detetive Castro em O Caso da Mulher Dragão, 1981) und Ulisses Tavares (Sete Casos do Detetive Xulé, 1986). Vorwiegend Rätselromane mit hardboiled-Elementen schrieben Maria Alice Barroso (O Globo da Morte: Divino das Flores, 1981), Lourenço Cazarré (Os Bons e os Justos, 1983), Rubens Figueiredo (O Mistério da Samambaia Bailarina, 1986), Carlos Chagas Filho (Explosão no Planalto, 1988) und Deonísio da Silva (Orelhas de Aluguel, 1988). Luis Fernando Verissimo (O Jardim do Diabo, 1987) darf neben Rubem Fonseca als der bedeutendste zeitgenössische Kriminalschriftsteller Brasiliens gelten. Seine Romane sind experimentell, humorvoll und nur lose
An die Figur des cobrador lehnt sich später Patrícia Melo in ihrem Roman O Matador an, der in Kapitel 5.1.1 behandelt wird. 30 Mandrake taucht in Fonsecas Werk zum ersten Mal in "O Caso F.A." im Band Lúcia McCartney (1967) auf und später beispielsweise in A Grande Arte (1983) und Mandrake, a Bíblia e a Bengala (2005). Die Figur stammt ursprünglich aus einem Comic von Lee Falk, dessen erster Band 1934 erschien (Schwamborn 2000: 110). 31 Zwar führt Pöppel eine lange Bibliografie für die 1970er an, doch sind die überwiegende Mehrheit der Titel Jugendbücher, die hier nicht berücksichtigt werden. 29
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an den gesellschaftlichen Kontext rückgebunden.32 Mehr noch als bei Verissimo steht die Erzeugung von Humor und Komik im Zentrum der Romane von Jô Soares (O Xangô de Baker Street, 1995).33 Typische Erzählverfahren der Postmoderne (Metafiktionalität, Intertextualität) verwenden außerdem Autoren wie Paulo Rangel (O Assassinato do Conto Policial, 1989; Assassinatos na Floresta, 1991), Georges Lamazière (Um Crime Quase Perfeito, 1995; Bala Perdida, 1999) und Flávio Moreira da Costa (Modelo Para Morrer, 1999). Die stark realitätsbezogene, harte Linie der denúncia wird in der Nachfolge Fonsecas vor allem von Patrícia Melo (Acqua Toffana, 1994) weitergeführt. Eine traditionellere, auf Ermittlungsarbeit basierende Linie verfolgen Tony Bellotto (Bellini e a Esfinge, 1995), Luiz Alfredo Garcia-Roza (O Silêncio da Chuva, 1997), Licínio Rios (Shakespeare Não Serve de Álibi, 1998) und Joaquim Nogueira (Informações Sobre a Vítima, 2002). Im neuen Jahrtausend erschienen darüber hinaus zunehmend mehr Kriminalromane von Frauen, vor allem in der Reihe Elas São de Morte des Verlags Rocco.34 Seit Ende der 1980er Jahre schwimmt Brasilien auf der Welle der panamerikanischen Krimibegeisterung mit und produziert ähnlich viele Neuerscheinungen wie die großen lateinamerikanischen Krimiländer Argentinien und Mexiko. 2.4.5. Chile Die neuere Geschichte des chilenischen Kriminalromans rekonstruiert Clemens Franken Kurzen in seiner Monografie Crimen y verdad en la novela policial chilena actual (2003).35 Magda Sepúlveda steuert ein Kapitel zum Kriminalroman in Rodrigo Cánovas Emharts Literaturgeschichte Novela chilena, nuevas generaciones (1997) bei und Ramón Díaz Eterovic (2001) liefert nützliche Informationen in einem Aufsatz. Zu den zwei bekanntesten chilenischen Kriminalschriftstellern, Díaz Eterovic und Ampuero, liegen bereits Monografien vor: die beiden Studien von Guillermo García-Corales und Mirian Pino, El neopolicial latinoamericano y la crónica del Chile actual en las novelas de Ramón Díaz Eterovic (2008) und Poder y crimen en la narrativa chilena contemporânea. (Las novelas de Heredia) (2002) sowie La narrativa de Roberto Ampuero en la globalización cultural (2006) von Gioconda Marún. Obwohl es auch in Chile einige frühe Vorläufer des Genres gegeben hat, setzt eine zusammenhängende, eigenständige Produktion deutlich spä-
Zu Verissimos Roman Borges e so Orangotangos Eternos siehe Kap. 6.3. Zum Roman O Xangô de Baker Street siehe Kap. 6.1. 34 Die Reihe wurde 2003 lanciert. Bis 2010 erschienen bereits vierzehn Romane (siehe www.rocco.com.br/ElasSaoDeMorte). 35 Franken Kurzen schrieb außerdem mehrere Aufsätze zu einzelnen chilenischen Krimiautoren. 32 33
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ter ein als in Argentinien, Mexiko, Kuba und auch Brasilien. Chilenische Kriminalromane und -erzählungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind rar. Magda Sepúlveda unterscheidet vier Phasen in der Geschichte der Gattung in Chile. Charakteristisch für die erste Phase ist, wie in den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern auch, dass ausländische Modelle nachgeahmt werden (Sepúlveda 1997: 107f.). Laut Franken Kurzen ist der erste chilenische Detektiv Carlos Olmos aus dem Roman La muerte misteriosa de José Marini (1912) von Juan Doble (Franken Kurzen 2004b: 31). Als wichtigsten Vertreter dieser Etappe nennt Sepúlveda jedoch Alberto Edwards (Pseudonym: Miguel de Fuenzalida), der den Detektiv, Román Calvo, erschaffen hat.36 Edwards’ Erzählungen entstanden zwischen 1912 und 1920 und erschienen in der Zeitschrift Pacífico Magazine. Später wurden sie in dem Band Román Calvo, el Sherlock Holmes chileno (1953) gesammelt. Díaz Eterovic beschreibt sie als humorvoll und ironisch. Sie lehnen sich ganz offen an Conan Doyle an und spiegeln zeittypische Verhaltensweisen der Menschen wieder. Des Weiteren führt Sepúlveda für die erste Jahrhunderthälfte Egidio Pobletes Fortsetzungsroman La Avenida de las Acacias (1917), die Kriminalerzählungen von Luis Insunza und Luis Enrique Délano sowie den ersten in Buchform erschienenen Kriminalroman Crimen entre psicólogos (1942) von James Enhard (ein Pseudonym von Camilo Pérez de Arce) an. In der zweiten Phase, die in den 1960er Jahren begann, standen gesellschaftlich marginalisierte Täter im Zentrum der häufig naturalistischen Kriminalromane. Die Schriftsteller stießen auf Vorurteile beim Publikum sowie bei den Verlagen, weswegen sie (ähnlich wie in Argentinien und teilweise Brasilien) Pseudonyme verwendeten und fast nur in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichten (Díaz Eterovic 2001: 67). Luis Enrique Délano (der auch unter den Namen Mortimer Gray und José Zamora schrieb) publizierte seine zwei Kriminalromane Desdémona en apuros und El collar de Jessica Rockson 1980 in Mexiko und konnte daher keine direkten Impulse an chilenische Autoren weitergeben (Díaz Eterovic 2001: 68). Aber René Vergara, der selbst als polizeilicher Ermittler gearbeitet hatte, bevor er zu schreiben begann, brachte vier Kriminalromane (der erste war La otra cara del crimen: el caso de Alicia Bon, 1970) in Chile heraus. Vergara vollzog einen wichtigen Schritt, indem er seinen marginalisierten Figuren glaubhafte Motive verlieh. Die Bedeutung seines Beitrags zur chilenischen Kriminalliteratur fasst Díaz Eterovic wie folgt zusammen: "Con Vergara desaparece la 'inocencia' en la literatura policiaca chilena y se empapa del aire de los callejones, de las barriadas y de personajes excluidos del sistema" (Díaz Eterovic 2001: 68). Weitere Auto-
36 Das Pseudonym Miguel de Fuenzalida ist gleichzeitig der Name des Ich-Erzählers der Geschichten. Er ist der Freund des Detektivs, der wie Dr. Watson die Fälle verschriftlicht.
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ren dieser Etappe sind Edesio Alvarado (El desenlace, 1966) und Antonio Gómez Rojas (El huésped de invierno, 1982). Für die dritte Entwicklungsphase führt Sepúlveda zwei Werke der 1980er Jahre an. Gustavo Rivera Guerrero satirisiert in Janet Graham contra las modelos asesinas (1985) feministische Diskurse (die dickste der weiblichen Figuren ist die Täterin). Eduardo Araya lässt in Crimen de cuarto cerrado (1987) seinen Detektiv, Hércules Prado, humorvoll Agatha Christies Hércules Poirot sowie weiteren angelsächsischen Vorbildern nacheifern. Prado, der eigentlich schon im Ruhestand ist, hält seine eigenen Spuren für die des Täters (Sepúlveda 1997: 108). Die vierte und bis heute andauernde Entwicklungsphase beginnt in den letzten Jahren der Militärdiktatur innerhalb der generación de los 80, die mit ihrer nueva narrativa chilena einen verlegerischen Mini-Boom erlebte (Bergenthal 1999). Diese Generation von (Kriminal)Schriftstellern reagierte auf die institutionalisierte Gewalt entweder mit großer Nüchternheit in der Form (wie Ramón Díaz Eterovic und Jaime Collyer), experimenteller Sprache (wie Diamela Eltit und Guadalupe Santa Cruz), feministischer und erotischer Literatur (wie Pía Barros und Ana María del Río) (García-Corales/Pino 2003: 45f.). Eine regimekritische Kriminalliteratur konnte schon Ende der 1980er Jahren entstehen, da das Genre als ein vermeintlich minderwertiges weniger von der Zensur beäugt wurde als andere Romane. Franken Kurzen (2003) teilt die neueren chilenischen Kriminalromane in zwei große, thematisch gefasste Gruppen ein. Die erste setzt sich mit institutionalisierten Verbrechen und Gewalttaten während und nach der Militärdiktatur auseinander – dabei handelt es sich um den chilenischen Beitrag zur novela negra oder neopolicial – und die zweite mit Verbrechen aus Leidenschaft, also Individualverbrechen. In der ersten Kategorie ist allen voran der sehr produktive Ramón Díaz Eterovic zu nennen, dessen erster Kriminalroman über den Privatdetektiv Heredia 1987 erschien (La ciudad está tan triste). Díaz Eterovic lehnt sich mit seiner gesellschaftskritischen Heredia-Serie deutlich an die amerikanische und europäische Tradition an.37 Dem desillusionierten Ermittler fehlt es nicht an ethischen und moralischen Grundsätzen, obwohl er sich in einer vom Verbrechen korrumpierten Gesellschaft bewegt. Seinen Glauben an Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit teilt er mit Chandlers Philip Marlowe. In diese Kategorie gehört ein zweiter Autor einer Romanserie, Roberto Ampuero, der mit ¿Quién mató a Cristián Kustermann? (1994) debütierte.38 Sein Ermittler ist der Privatdetektiv Cayetano Brulé. Im Gegensatz zu den Romanen von Eterovic sowie an37 Von 1987 bis 2008 erschienen zwölf Heredia-Romane und ein Band von Heredia-Erzählungen. Damit ist dies die längste Serie von Kriminalromanen in Lateinamerika. 38 Zu Ampueros Roman Cita en el Azul Profundo (2003) siehe Kap. 4.2.
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derer Autoren der vierten Phase hängen Ampueros Romane nicht der sozialistischen Utopie nostalgisch nach, sondern versuchen sie zu dekonstruieren (Franken Kurzen 2003: 58).39 Weitere Autoren sind Luis Sepúlveda (Nombre de torero, 1994;40 Diario de un killer sentimental, 1998; Yacaré, 1998), Gonzalo Conteras (La ciudad anterior, 1991), Mauricio Electorat (El paraíso tres veces al día, 1995) und José Román (El espejo de tres caras, 1996). Marco Antonio de la Parra (El deseo de toda ciudadana, 1986) und Jaime Collyer (El infiltrado, 1989) sehen sich trotz des klaren Realitätsbezugs ihrer Romane nach eigenen Angaben in der Tradition von Jorge Luis Borges (Franken Kurzen 2003: 60). Das zweite Themenfeld hat sich erst im Laufe der 1990er Jahre herausgebildet (Franken Kurzen 2003: 62). Bei diesen Werken stehen familiäre Konflikte im Mittelpunkt, etwa Gewalt zwischen Eheleuten und ihren Kindern. Fragen zu Macht und gender werden behandelt, aber auch der Eingriff des Staates ins Privatleben der Menschen. Dazu gehören Legítima defensa (1993) von Alejandra Rojas, El labio inferior (1998) von Sergio Gómez, Nuestra señora de la soledad (1999) von Marcela Serrano, La bella y las bestias (1997) von Darío Oses und La muerte de una ninfómana (1996) Poli Délano.41 Andere chilenische Autoren behandeln Themen, die nicht in diese Einteilung passen, wie Alberto Fuguet (Tinta roja, 1996), Batolomé Leal (Linchamiento de negros, 1994), Mauro Yberra (La que murió en Papudo, 1994) oder Carlos Tromben (Poderes fácticos, 2003), dessen Werke aufgrund ihrer mystischen Elemente mit dem Schauerroman in Verbindung stehen (Poblete 2007). Auch Roberto Bolaños Beiträge zum Kriminalroman entziehen sich Franken Kurzens Einteilung. In La pista de hielo (1998), Los detectives salvajes (1998) und vor allem 2666 (2004) verwendet Bolaño einige typische Strukturen des Kriminalromans, bearbeitet aber eine Vielzahl von Themen in so großer Breite, dass "Verbrechen" nicht als das hervorstechende Kernthema seiner Romane bezeichnet werden kann. Chile hat seit Mitte der 1980er und vor allem seit den 1990er Jahren eine Fülle von Kriminalromanen produziert und kann bezüglich der aktuellen Situation mit den anderen lateinamerikanischen Ländern Schritt halten.
39 Roberto Ampuero hat den real existierenden Sozialismus am eigenen Leib erfahren. 1973, nach dem Putsch, ging er in die DDR und von dort aus 1974 nach Kuba. 1979 kehrte er in die DDR zurück und zog 1983 in die Bundesrepublik um. (Heute lebt er in Iowa). 40 Dieser Roman spielt allerdings in Deutschland, wo Sepúlveda von 1980-1990 als Exilant lebte. Heute lebt er in Spanien (Gijón). 41 Zu Poli Délano vgl. Franken Kurzen (2006).
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2.4.6. Peru Zur Entwicklung des Kriminalromans in Peru liegt noch keine exhaustive Bestandsaufnahme vor, lediglich ein Aufsatz von Françoise Aubes (1996), zwei Artikel von Ricardo Sumalavia (2002 u. 2004) sowie ein kurzes Kapitel in der Monografie von Britt Diegner (2007) über den peruanischen Roman in den 1990er Jahren. Laut Sumalavia wurde in Peru bereits in den Jahren 1911 und 1912 ein Fortsetzungsroman in der Zeitschrift Variedades mit dem Titel El meñique de la suegra und dem Untertitel Espeluznante novela policial limeña veröffentlicht. Es handelt sich dabei um ein heterogenes Gemeinschaftswerk von zehn anonymen Autoren, eine Parodie mit expliziten Anspielungen auf Sherlock Holmes und den Dieb Raffles (der von Conan Doyles Schwager E. W. Hornung erschaffen wurde). Das Verbrechen dient den Autoren als Vorwand für eine mit viel Humor und Ironie gestaltete Gesellschaftssatire. Am Ende löst nicht der Ermittler den Fall durch seinen Scharfsinn, sondern der Verbrecher gibt sich zu erkennen. Ab 1914 entstanden außerdem rund zwanzig Rätselromane von Manuel A. Bedoya, der jedoch laut Sumalavia vor allem in Spanien veröffentlichte, hauptsächlich auf Effekthascherei aus war und den Kriminalroman daher nicht aus seiner marginalen Stellung befreien konnte. Obwohl der oben erwähnte Fortsetzungsroman El meñique de la suegra in einer einflussreichen Zeitschrift erschienen war, "que dictaminaba el canon literario de comienzos de siglo" (Sumalavia 2002: 127), wurde er von der Literaturkritik nicht weiter beachtet. Sumalavia sieht den Grund dafür darin, dass die modernistische Strömung Lateinamerikas, mit der der Kriminalroman über Edgar Allan Poe und über die Fantastik kompatibel war, in Peru später und weniger stark gepflegt wurde. Peru kämpfte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit politischen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten und blieb auch hinter dem kulturellen Fortschritt anderer lateinamerikanischer Länder (vornehmlich Argentiniens und Chiles) zurück. Als die neuen Schreibtechniken in Peru griffen, waren die Autoren nicht mit dem Thema Großstadt beschäftigt – das sich besonders für den Kriminalroman eignet – sondern mit der Frage nach der peruanischen Identität im indigenismo (Enrique López Albújar, Ciro Alegría, José María Arguedas). Allerdings hatte sich in dieser Zeit schon über die Verbreitung von Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen ein Leserpublikum für Kriminalromane herausgebildet (Sumalavia 2002: 127). Im Gegensatz zu Argentinien, Mexiko, Kuba und Brasilien fristete der Kriminalroman in Peru deutlich länger ein Schattendasein. Vergleichbar ist die zeitliche Entwicklung am ehesten mit der Chiles, da in beiden Ländern erst Mitte bis Ende der 1980er Jahren vermehrt Kriminalromane entstanden (Postboom). Im Ver105
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gleich zu Chile bleibt die Produktion in Peru jedoch bis zur Gegenwart dünner. Während des Kampfes gegen Sendero Luminoso etablierte sich das Genre allmählich. Es erschienen La muchacha del bello tigre (1983) von Carlos Meneses und der hard-boiled-Krimi Pólvora para gallinazos (1985) von Mirko Lauer alias C. C. García (Diegner 2007: 106-108). Aber auch Mario Vargas Llosa, der immer wieder sein Interesse für populäre Literaturformen gezeigt hat (man denke auch an La tía Julia y el escribidor, 1977), unternahm mit ¿Quién mató a Palomino Molero? (1986) und Lituma en los Andes (1993) zwei Ausflüge in das Genre des Kriminalromans, weswegen man behaupten darf, dass das Genre in Peru ab Mitte der 1980er Jahre salonfähig wurde.42 Das Thema "Terrorismus" wird jedoch erst in den Kriminalromanen der 1990er Jahre behandelt, beispielsweise in Lituma en los Andes (Sumalavia 2004: 114f.). In den 1990er Jahren kommt es zu einer gesteigerten Produktion von Kriminalromanen. Die peruanischen Autoren arbeiten weniger mit Parodie (als die argentinischen, brasilianischen und andere), sondern setzen vor allem auf Spannungserzeugung (Diegner 2007: 38). 1990 erschien La conciencia del límite último von Carlos Calderón Fajardo, ein Roman, in dem ein Krimineller die erfundenen Verbrechen eines Journalisten als Vorlage für seine eigenen Taten nimmt. Ein Jahr später folgte La medianoche del japonés von Jorge Salazar. Zu den produktivsten Kriminalromanautoren der 1990er Jahre gehört Alonso Cueto (El vuelo de la ceniza, 1995), der sich häufig mit dem Terrorismus sowie mit Korruption und institutionalisierter Gewalt auseinandersetzt, aber als Autor nicht auf den Kriminalroman reduziert werden kann.43 Der Großstadt-Krimi Caramelo verde (1992) von Fernando Ampuero gilt als der meistgelesene Kriminalroman Perus; allein dort hat er es zu sieben Auflagen gebracht (Sumalavia 2004: 116).44 Weitere Titel sind Alfredo Pitas Cazador ausente (1994), Javier Arévolas Instrucciones para atrapar un ángel (1995), Peter Elmores El enigma de los cuerpos (1995) und Las pruebas del fuego (1999), Goran Tocilovacs Trilogía parisina (1996) und Patrick Rosas’ Mademoiselle Moutarde (1999). Im neuen Jahrtausend wurden Siete pelícanos (2002) von Roberto Reátegui und Una penosa contingencia (2003) von Pedro Antonio Bedoya publiziert. Während die meisten dieser Autoren in Europa bisher weitgehend unbekannt geblieben sind, erlangte Santiago Roncaglio-
In den 1980ern wurden außerdem zwei Krimiserien für das Fernsehen produziert: Gamboa und Barragán (Sumalavia 2004: 113). 43 Alonso Cueto thematisiert in seinem Roman Grandes miradas (2003) die Korruptheit der FujimoriRegierung, vor allem seines Geheimdienstchefs Vladimiro Montesinos (siehe Kap. 5.3.2). 44 Eine kurze Untersuchung des Romans findet sich bei Aubes (1996). 42
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lo 2006 durch den Premio Alfaguara für Abril rojo internationale Aufmerksamkeit.45 2.4.7. Kolumbien Hubert Pöppel hat nicht nur eine Monografie zum brasilianischen, sondern auch zum kolumbianischen Kriminalroman verfasst (La novela policíaca en Colombia, 2001), und inventarisiert darin erstmals die kolumbianischen Texte. Ein auf den Handlungsort Bogotá zentriertes Kapitel ist in Contemporary Hispanic Crime Fiction (2008) von Glen S. Close enthalten. Margarita Jácome veröffentlichte ferner eine Untersuchung zur sogenannten novela sicaresca, die als eine Untergattung des Kriminalromans klassifiziert werden kann: La novela sicaresca: testimonio, sensacionalismo y ficción (2009).46 In Kolumbien gibt es ähnlich wie in Argentinien ein paar wenige Vorläufertexte im 19. Jahrhundert (Pöppel 2001: 25-48), deren Systemreferenz zum Kriminalroman jedoch unwahrscheinlich ist. Als die eigentlichen Gründertexte führt Pöppel aber zum einen den 1941 erschienenen Rätselroman El misterioso caso de Herman Winter (don Rodrigo de Arce, detective) von Ximénez (José Joaquín Jiménez) an, dessen Handlung einige unglaubwürdige Elemente enthalte, und zum anderen das Gemeinschaftswerk El misterio del cuarto 215 o la pasajera del hotel Granada (1944) von Lucas Caballero, Rafael Jaramillo Arango, Luis Vidales, León de Greiff, Ximénez, Guillermo Patiño und Alejandro Vallejo. Pöppel charakterisiert diesen Fortsetzungsroman als chaotisch, da die Kapitel nicht gut aufeinander abgestimmt seien (ebd.: 67-80). Die Rezeption übersetzter Kriminalerzählungen und -romane war in Kolumbien in den 1940er Jahren bereits etwas ganz Gewöhnliches, aber die Versuche, eine autochthone Kriminalliteratur zu erschaffen, scheiterten nicht nur, sondern blieben auch fast unbemerkt (ebd.: 57). Pöppel führt diese Verzögerung gegenüber Argentinien (andere lateinamerikanische Länder erwähnt er nicht) auf den unterschiedlichen Grad der Herausbildung einer einigermaßen stabilen Bürgerschicht zurück, in der eine Ermittlerfigur glaubhaft agieren kann.
Zu Abril rojo siehe Kap. 5.2.2. Als novelas sicarescas werden Romane bezeichnet, deren Protagonisten sicarios (Auftragsmörder der Drogenhändler) sind. Jácome untersucht aufgrund des enger gefassten Themas nur Romane, die nach 1985 erschienen sind. Ihr Fokus liegt außerdem auf der Behauptung, es handele sich bei diesen Romanen um ein eigenes Genre. Zu den novelas sicarescas liegt des Weiteren eine Reihe von Aufsätzen vor, vornehmlich zu La virgen de los sicarios von Fernando Vallejo und Rosario Tijeras von Jorge Franco (Buschmann 2009, Castro García 2004, López de Abiada/López Bernasocchi 2009, Orozco 2003, Segura Bonnett 2004, Walde 2000 und 2001).
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Während des Bürgerkriegs nach dem Bogotazo bildete sich eine literarische Form für den Umgang mit Gewalt heraus, die novela de la Violencia (z. B. bei Gustavo Álvarez Gardeazábal), deren Hauptmerkmal eine interiorisierende Darstellung der psychologischen Folgen von Gewalt ist. Der Kriminalroman konnte sich in diesem Kontext nicht etablieren, insofern sich diese Gattung mit dem Thema "Verbrechen" und nicht "(Bürger)Krieg" beschäftigt.47 Einige parodistische Kriminalromane führt Pöppel dennoch für die 1950er und 1960er Jahre an, beispielsweise den Roman Un muerto en la legación (1951) von Emilia Pardo Umaña, der allerdings in Madrid spielt, und Una mujer perdida (1958) von Arcadio Dulcey mit dem ersten kolumbianischen Privatdetektiv, Pedro Pablo Pérez (ebd.: 114f.). Außerdem enthält das Werk von Gabriel García Márquez Anleihen aus dem Genre, vor allem La mala hora (1961) und Crónica de una muerte anunciada (1967). García Márquez interessierte sich aber nicht so sehr für Kriminalliteratur wie Borges in Argentinien oder Vargas Llosa in Peru und half dem Genre daher nur wenig bei seiner Etablierung in Kolumbien. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, zu Zeiten des Boom, veröffentlichten die kolumbianischen Verlage verstärkt ausländische, vor allem formelhafte Thriller (z. B. Ian Flemings JamesBond-Romane und die von verschiedenen Autoren verfasste NickCarter-Serie). In den 1970er Jahren erschienen einige kolumbianische Nachahmungen dieser Modelle wie die Romane von Hernán Hoyos (008 contra Sancocho, 1970) und die parodistischen Spionage-Erzählungen von Roberto Araújo (Memorias póstumas del agente secreto Ramírez, funcionario del DAS, recopiladas y anotadoas por Elmer Sánchez, su peor enemigo, 1974). Nun wurden vor allem ältere, angelsächsische Rästel- und hard-boiledRomane herausgegeben (Conan Doyle, Chesterton, Christie, Hammett, Chandler, McBain, MacDonald), während die zeitgenössischen ausländischen Autoren bis in die 1990er Jahre hinein weitgehend unbekannt blieben, so dass ihre Rezeption in Kolumbien mit erheblicher Zeitverzögerung stattfand (ebd.: 60-63). Für die 1980er Jahre gibt Pöppel nur wenige Romane an (z. B. von Javier Echeverri Restrepo und Jairo Gómez Remolina). Germán Castro Caicedo schrieb in dieser Zeit Tatsachenromane, die mit dem Kriminalroman verwandt sind (El Karina, 1985). Erst in den 1990er Jahren, in denen der Drogenhandel mit seinen sicarios den Alltag in den kolumbianischen Großstädten prägte, gewann der Kriminalroman an Terrain. Die "neue Gewalt" eignet sich besser für das 47 In speziellen Fällen sind auch Kriminalromane in (Bürger)Kriegsszenarien denkbar. Ein Kriterium für die Einteilung müsste sein, inwiefern die Handlungen als Verbrechen fokussiert werden. Ein Soldat, der Gegner erschießt, ist aus der Sicht des Staates kein Verbrecher, sondern erfüllt seine Pflicht. Aus der Sicht des Staates wären jedoch die Guerilleros sehr wohl Verbrecher. Aber auch Soldaten und Offiziere können ihre Befugnisse überschreiten und zu Verbrechern werden. Der Übergang ist fließend. In der Regel kann auf dem Buchmarkt beobachtet werden, dass Romane über (Bürger)Kriege nicht als Kriminalromane vermarktet werden.
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Genre als die historische Violencia, da die Taten der narcos und sicarios eindeutig als Verbrechen klassifiziert werden können. Die novela de la nueva Violencia, die novela sicaresca und der Kriminalroman gingen daher in einem Genre auf. Dies geschah bei Autoren wie Javier Echeverri Restrepo (Besa mi tumba, 1990), Fernando Vallejo (La virgen de los sicarios, 1994), Óscar Collazos (Morir con papá, 1997), Rodrigo Argüello (Trancón sobre el asfalto, 1999), Jorge Franco Ramos (Rosario Tijeras, 1999)48, Arturo Alape Sangre ajena (2000) und Mario Mendoza (Satanás, 2002). Auch die erneute Aufarbeitung des Mordes an Gaitán in Erzählungen von Roberto Rubiano Vargas (El informe de Gálves, 1992) oder in dem chiffrierten Roman von Jorge C. Rivera (Volver a Exantú. Tras los misterios de un país enigma, 1995) vollzog sich nun im Genre der Kriminalliteratur. 1996 erschien Noticia de un secuestro von Gabriel García Márquez, ein Tatsachenroman über den Drogenring von Pablo Escobar. Eine Krimiserie entstand bei Gonzalo España mit Staatsanwalt Salomón Ventura als Serienheld (Implicaciones de una fuga síquica, 1995). Zu internationaler Aufmerksamkeit hat es 1997 außerdem Santiago Gamboa mit seinem Roman über Korruption, Perder es cuestión de método, gebracht. Auch historische Kriminalromane sind in Kolumbien erschienen. Sie handeln von der Zeit vor dem Bogotazo oder spielen im 19. Jahrhundert wie die Werke von Cano Gaviria (Prytaneum, 1981), Ramón Illán Bacca (Deborah Kruel, 1990), Germán Espinosa (Los ojos del basilisco, 1992) und Boris Salazars Roman über die letzten Monate im Leben von José Eustacio Rivera (La otra selva, 1991). Im Vergleich zu Argentinien und Brasilien sind im Kolumbien der Gegenwart Werke mit stark ausgeprägten metafiktionalen Reflexionen selten. Pöppel führt in dieser Kategorie nur Chaparro Valderramas El capítulo de Ferneli (1992) an. Zusammenfassend gesagt blickt Kolumbien auf eine ähnlich kurze Tradition in der Kriminalliteratur wie Peru zurück, da die Entwicklung dort fast drei Jahrzehnte durch die Violencia unterbrochen wurde. 2.4.8. Weitere lateinamerikanische Länder Noch kein Literaturwissenschaftler hat sich die Aufgabe gestellt, die Geschichte des Kriminalromans in den mittelamerikanischen Ländern zu rekonstruieren – insofern es überhaupt eine solche gibt. Lediglich Kokotovic (2006) und Coello Gutiérrez (2008) führen in ihren Aufsätzen einige Autoren und Werke an, die sie zueinander in Bezug setzen. Mackenbach und Ortiz Wallner (2008) liefern einen Überblick über die mittelamerikanische Violencia-Literatur der letzten Jahrzehnte, wobei sie
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Zu Francos Roman Rosario Tijeras siehe Kap. 5.1.2.
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Literarische Kontexte
teilweise darauf hinweisen, welche Romane Elemente der Kriminalliteratur enthalten. Die wirtschaftlich desolaten Länder mit hoher Armutsquote und hohem Analphabetismus konnten nur eine vergleichsweise dünne Literaturszene herausbilden. So ist es verständlich, dass die Produktion von Kriminalromanen mit zeitlicher Verzögerung einsetzte. Laut Coello Gutiérrez ist der erste Kriminalroman Mittelamerikas Castigo divino (1988) des international bekannten Nicaraguaners Sergio Ramírez. Der Roman liefert keine eindeutige Antwort auf sein whodunit, sondern konfrontiert verschiedene Hypothesen miteinander (Coello Gutiérrez 2008). Sergio Ramírez leistete bisher noch zwei weitere Beiträge zum Genre, die bei Coello Gutiérrez noch nicht erwähnt werden. Sombras nada más (2003) verarbeitet die Zeit des Somoza-Regimes und bewegt sich an der Genregrenze. Deutlicher kann El cielo llora por mí (2009) dem Kriminalroman zugeordnet werden. Darin wird durch die polizeilichen Ermittler Dolores Morales und Bert Dixon Aufklärungsarbeit im Rauschgifthandel betrieben. Managua, salsa city (2000) von dem gebürtigen Guatemalteken Franz Galich spielt ebenfalls in Nicaragua. Die Handlung vollzieht sich in der urbanen Unterwelt nach dem Bürgerkrieg, die von Gewalt und Armut gekennzeichnet und von Prostituierten, ehemaligen Sandinisten und Contras, korrupten Polizisten und Straßenkinder bevölkert ist (Kokotovic 2006: 19f.). Mitte der 1990er erschienen zwei Romane von Rodrigo Rey Rosa aus Guatemala. El cojo bueno (1996) erzählt die Entführung und Folterung des Sohns eines Angehörigen der Oberschicht und Que me maten si… (1997) spielt vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs. Coello Gutiérrez führt allerdings nur den neusten, sozialkritischen Kriminalroman von Rey Rosa auf, Caballeriza (2006). Es handle sich dabei um eine parodistische Replik auf die Fernsehserie Miami Vice, in der zahlreiche weitere Anspielungen auf Kriminalfilme enthalten sind (Coello Gutiérrez 2008). Ein anderer guatemaltekischer Autor, Dante Liano, konzentriert sich in El hijo de casa (2004) stärker auf den familiären Bereich des Verbrechens. Sein Folgewerk El hombre de Montserrat (2005) ist nach dem Ermittlungsschema geplottet. Die Romane von Horacio Castellanos Moya, der in Honduras geboren wurde, aber in El Salvador aufgewachsen ist, spielen größtenteils in El Salvador, aber auch Guatemala, Honduras und Mexiko. Obgleich Castellanos Moyas Werk nicht im Ganzen auf den Kriminalroman eingrenzbar ist, bewegt sich die Mehrheit seiner Texte innerhalb des hier vertretenen weit gefassten Gattungsverständnisses (z. B. Baile con serpientes, 1996; El arma en el hombre, 2001; Insensatez, 2004). Der Autor bearbeitet verschiedene Facetten der jüngeren mittelamerikanischen Vergangenheit, wie Bürgerkrieg, Gewalt und Massaker. Auch die Kompo110
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nente des Zufalls und der Bruch zwischen Motiv und Tat spielen in seinen Werken eine große Rolle. Aus El Salvador stammt überdies Rafael Menjívar Ochoa. Sein Protagonist in Los héroes tienen sueño (1998) ist ein Polizist, der es leid ist, mit korrupten Politikern zusammenzuarbeiten. Los años marchitos (1991) und Cualquier forma de morir (2006) werden aus der Perspektive der Opfer erzählt. De vez en cuando la muerte (2002) handelt von einem Serienmörder, wobei das Mordrätsel nicht gelöst wird, sondern in einem Spiel mit den verschiedenen Versionen und Perspektiven der Figuren gefangen bleibt (Coello Gutiérrez 2008). Der Autor Carlos Cortés kommt aus Costa Rica. In Cruz de olvido (2008) stellt er die Ermittlungen eines Privatmanns über die Ermordung seines Sohns dar und beleuchtet dabei die dunkelsten Seiten von San José. Miren Gutiérrez aus Panama erzählt in La ciudad de las cigarras (2007) von einem schweren Fall von Steuerhinterziehung, der auf wahren Gegebenheiten basiert. Abgesehen vom insgesamt schwachen Buchmarkt in Mittelamerika liegen die Gründe für das verspätete Einsetzen der Produktion von Kriminalromanen vermutlich ähnlich wie in Kolumbien: Im Kontext der Guerillakriege wurde das Thema "Gewalt" nicht unter dem Vorzeichen "Verbrechen" behandelt. Der mittelamerikanische Kriminalroman hat mittlerweile vor allem durch Horacio Castellanos Moya und Sergio Ramírez den Anschluss an die anderen Länder vollzogen, kann aber noch auf keine nennenswerte eigene Tradition zurückblicken. Einschlägige Forschungsergebnisse zur Geschichte des Kriminalromans in anderen lateinamerikanischen Ländern gibt es noch nicht. Das liegt vermutlich zum einen daran, dass diese Länder bisher nur eine sehr dünne und rezente Produktion an Kriminalromanen aufweisen und teils über schlechte Verlagsstrukturen verfügen. Zum anderen mangelt es aber offenbar auch an akademischem Interesse für das Thema. Seit der Jahrtausendwende gliedern sich jedoch Schriftsteller aus fast allen lateinamerikanischen Ländern ins Panorama der novela negrocriminal ein. Das sind beispielsweise in Uruguay Renzo Rosello (Trampa para angeles de barro, 2003), in Venezuela Marcos Tarre Briceño (Operativo victoria, 2000) und Eloi Yagüe Jarque (Cuando amas debes partir, 2006), in Ecuador Santiago Páez (Condena Madre, 2000) und Javier Váscones (La sombra del apostador, 1999) und in Bolivien Elvis Vargas Guerrero (Los fantasmas del abandono, 2003). 2.4.9. Bilanz und Ausblick Das Nachvollziehen der Entwicklungslinien des lateinamerikanischen Kriminalromans hat gezeigt, dass einige Gemeinsamkeiten, aber auch erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern bestehen. Die 111
Literarische Kontexte
Aneignung der Gattung vollzieht sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts häufig über Parodien (in Argentinien, Mexiko, Brasilien, Chile, Peru und Kolumbien). Das liegt sicher zum einen daran, dass zunächst viele angelsächsische Rätselromane nach Lateinamerika gelangten, in denen höchst artifizielle Fälle in verschlossenen Räumen auf unglaubwürdige Weise gelöst wurden, was die Autoren dazu veranlasste, diese Werke zu verspotten. Zum anderen könnte es aber auch an dem Stigma des Kriminalromans liegen, "trivial" zu sein, weswegen die Autoren einen ernsten Umgang mit der Gattung ablehnten. Ähnlich wie in den Ursprungsländern wurden in Lateinamerika die ersten Kriminalromane in Zeitungen und Zeitschriften als Fortsetzungsgeschichten publiziert und manchmal von verschiedenen Autoren in Teamwork verfasst (wie in Argentinien, Brasilien, Peru und Kolumbien). Außerdem ahmten viele Schriftsteller die angelsächsischen Modelle nach, ohne sie grundlegend zu transformieren. Eine Transkulturation durch eine Adaptation an den jeweiligen lebensweltlichen Kontext wurde erst in einer weiteren Phase geleistet. Wann dies gelang, hing einerseits von den Verlagsstrukturen und ihrer Editionstätigkeit ab, andererseits spielten auch die literarischen Traditionen im jeweiligen Land und die gesellschaftlichen Verhältnisse eine wesentliche Rolle. Das Leserbedürfnis wurde lange Zeit durch Übersetzungen befriedigt, welche die Produktionsmöglichkeiten für einheimische Schriftsteller blockierten (Simpson 1990: 16).49 Außerdem waren die Darstellung von Gewalt und Verbrechen in der lateinamerikanischen Literatur zwar häufig, diese Themen wurden aber lange in anderen, dem Höhenkamm näherstehenden Romangattungen verarbeitet: im mexikanischen Revolutionsroman, im kolumbianischen Violencia-Roman, im panamerikanischen Diktatorenroman, in testimonios bzw. Tatsachenromanen im Stil des investigativen Journalismus, in der nueva novela histórica und auch der nueva novela. Somit wurde das Bedürfnis nach einer Aufarbeitung von Gewalterfahrungen auf anderen Wegen kanalisiert, während sich der Kriminalroman in seinem Schattendasein als Subliteratur und zudem als ausländisches Genre nur schwer behaupten konnte. In der zweiten Hälfte des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts nehmen Gewalt und Verbrechen in Lateinamerika einen anderen Stellenwert ein als in den Ursprungsländern des Kriminalromans, wo die Menschen prinzipiell der Rechtsstaatlichkeit vertrauen. Die Generation der heute aktiven lateinamerikanischen Schriftsteller ist unter repressiven Militärdiktaturen oder bürgerkriegsähnlichen Zuständen aufgewach-
49 So war The Maltese Falcon von Dashiell Hammett in Brasilien das meistverkaufte Buch des Jahres 1984 (Simpson 1990: 62).
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sen.50 Viele haben Angehörige oder Freunde verloren, manche, wie Raúl Argemí, wurden sogar selbst Opfer.51 Gewalt und Verbrechen werden in Lateinamerika weiterhin als unberechenbar und willkürlich wahrgenommen, das heißt, das Vertrauen in die staatlichen Institutionen ist unterhöhlt. Nicht Individualverbrechen aus Eifersucht, Habgier oder Rache interessieren die Mehrzahl der lateinamerikanischen Autoren, da solche Taten von Formen institutionalisierter Gewalt, Guerillakampf, Terrorismus, Korruption und organisiertem Verbrechen überschattet werden. Allen lateinamerikanischen Ländern ist das Phänomen der Straflosigkeit aus der jüngeren Vergangenheit oder der Gegenwart bekannt, weil die Täter von Amnestiegesetzen geschützt werden, die staatlichen Sicherheitskräfte mit Verbrecherbanden kooperieren oder weil das Ausmaß des Verbrechens den Rahmen des Bekämpfbaren übersteigt. Das traditionelle sowie das pseudonormative Modell des Kriminalromans basiert jedoch auf der idealistischen Weltsicht, dass Gerechtigkeit grundsätzlich möglich ist, wenngleich auch nicht immer erreichbar. Dieses Prinzip verkehrt sich in Lateinamerika in sein Gegenteil: Ungerechtigkeit und Straflosigkeit gelten als der Normalfall; Gerechtigkeit scheint nur im Einzelfall möglich. Auch die Trennung von "gut" und "böse" wendet sich in ihr Gegenteil: Nicht der Staat garantiert die Ordnung und schützt vor "bösen" Verbrechern, sondern ist selbst der Verbrecher, vor dem sich die Menschen schützen müssen. Der eklatante Arm-Reich-Gegensatz verschärft in vielen Ländern die Situation zusätzlich, da er eine Keimzelle für Verbrechen unterschiedlicher Couleur darstellt. Aufgrund ihrer gemeinsamen Wurzeln, ihrer ähnlichen Geschichte und ihrer Entwicklungsprobleme im Windschatten der USA kämpfen die lateinamerikanischen Staaten in der Gegenwart mit einer Reihe von analogen gesellschaftlichen Problemen, was den Brückenschlag zwischen den Kriminalromanen aus den verschiedenen Ländern möglich macht. Erst in den späten 1980er bzw. in den 1990er Jahren finden Chile, Peru 50 Das Gros der zurzeit aktiven Autoren wurde Mitte der 1940er bis Mitte der 1960er geboren: Raúl Argemí (*1946), Paco Ignacio Taibo II (*1949), Élmer Mendoza (*1949), Roberto Ampuero (*1953), Leonardo Padura (*1955), Ramón Díaz Eterovic (*1956), Horacio Castellanos Moya (*1957), Patrícia Melo (*1962), Jorge Franco Ramos (*1962), Juan Hernández Luna (*1962), Pablo De Santis (*1963). Natürlich sind auch einzelne ältere Autoren wie Fonseca (*1925), Verissimo (*1936), Garcia-Roza (*1936) sowie jüngere wie Roncagliolo (*1975) darunter. 51 Ihre Erfahrung mit Diktaturen verbindet die lateinamerikanischen Länder mit Spanien und Portugal. Im Spanien Francos wurden nur wenige Texte veröffentlicht, die dem Genre zugerechnet werden können. Dazu gehören El inocente (1953) von Mario Lacruz und die Erzählungen und Romane von Francisco García Pavón über die Arbeit des Polizisten Plinio aus den 1960er Jahren. Manuel Vázquez Montalbáns Roman Tatuaje (1974) gilt als "novela fundadora del género negro español" (Tyras 2010: 60). Seine drei Transitions-Romane La soledad del manager (1977), Los mares del sur (1979) und Asesinato en el Comité Central (1981) beeinflussten viele lateinamerikanische Autoren, wie Roberto Ampuero und Élmer Mendoza bestätigen (Wieser 2010: 125 u. 175). Während der Transition begannen außerdem Andreu Martín und Juan Madrid Kriminalromane zu schreiben.
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Literarische Kontexte
und Kolumbien Anschluss an die schon fortgeschrittenere Entwicklung des Kriminalromans in Argentinien, Mexiko und Brasilien und beginnen, eine eigene Tradition auszubilden. In Kuba kann das Jahr 1991 mit dem Erscheinen von Leonardo Paduras Pasado perfecto als entscheidender Wendepunkt angesehen werden. Seitdem entstehen dort Werke, die nicht länger der Staatsideologie gehorchen, sondern die gesellschaftlichen Zustände vorsichtig hinterfragen. Die kolumbianische novela de la nueva Violencia geht in den 1990er Jahren im Kriminalroman auf, und in Mittelamerika entstehen erst in dieser Dekade erste originäre Werke. In den meisten Ländern kommt es in den 1990er Jahren zu einer großen Produktionssteigerung und Diversifizierung der Themen und Schreibtechniken. Das populäre Genre dient mehr und mehr dazu, die unterschiedlichsten Themen zu behandeln und sie an breitere Bevölkerungsschichten heranzutragen. Der Kriminalroman wird zur neuen novela social mit aufklärerischem Gestus oder sogar zum Medium für Gesellschaftskritik. Dabei kommt es immer wieder zu Überlappungen zwischen dem Großstadtroman, der urbane Themen im Allgemeinen behandelt, und dem Kriminalroman, der großstädtische Gewalt im Besonderen fokussiert. Dass der Kriminalroman in den meisten lateinamerikanischen Ländern seit gut zwanzig Jahren einen großen Aufschwung erlebt, ist zum einen den Massenmedien zu verdanken, die das Genre immer sichtbarer gemacht und ein schier unstillbares Bedürfnis danach erzeugt haben, zum anderen aber auch der wachsenden Literaturszene, den Vermarktungsstrategien der spanischen Verlage, dem großen Krimifestival Semana negra de Gijón, das seit 1987 unter anderem von Paco Ignacio Taibo II organisiert wird, und nicht zuletzt auch dem erstarkten Interesse der Literaturwissenschaft an dieser Gattung.52 Im neuen Jahrtausend erwartet die Autoren des Kriminalromans aller Länder eine Fülle an Themen, die durch die tiefgreifende Veränderung der Welt ab den 1990er Jahren entstanden sind, wie Moises Naim in seinem Schwarzbuch des globalisierten Verbrechens (2005) eindrucksvoll schildert. Durch die Öffnung der Märkte für den globalen Wettbewerb und die enorme Expansion des Welthandels stieg die international operierende Wirtschaftskriminalität exponentiell an. Nach dem Mauerfall wurde eine Vielzahl von Wirtschaftsreformen auf der ganzen Welt durchgeführt. Das Ziel bestand darin, eine "offene Volkswirtschaft" mit möglichst wenig Handels- und Investitionshindernissen herzustellen (Washingtoner Konsens). Importbeschränkungen wurden verringert, Zölle abgesenkt, Grenzen geöffnet. Als Kulminationspunkte dieser Entwicklung nennt Naim die Verabschiedung des Nordamerikanischen 52 Mittlerweile entsteht der Kontakt zwischen den lateinamerikanischen Genreautoren hauptsächlich in Spanien, wo sie sich auf Lesereisen, Symposien oder der Semana negra begegnen. Außerdem hat sich dadurch auch ihr Austausch mit den spanischen Genreautoren intensiviert.
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Freihandelsabkommens (NAFTA) 1994, die Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) 1995, den Beitritt Chinas in die WTO 2002 und die Erweiterung der EU von 15 auf 25 Staaten im Jahr 2004 (und schließlich auf 27 Staaten im Jahr 2007) (Naim 2005: 30). Die neuen Märkte bergen ungeahnte Chancen für Kriminalität jeder Art: Schmuggel, Menschenhandel, Drogenhandel, Produktpiraterie, Geldwäsche und vieles mehr. Gleichzeitig ermöglichen die Revolution der Informationstechnologien, die Echtzeit-Kommunikation übers Internet, die Verbilligung von Ferngesprächen, Flugtickets und Luftfrachten es Verbrecherbanden heute, grenzübergreifend mit niedrigem Risiko zu operieren, während die Regierungen dieser Entwicklung weitgehend machtlos gegenüberstehen. Im Zeitalter der Globalisierung basiert die illegale Wirtschaft auf einem hochkomplexen, stark dezentralisierten, atomisierten Netzwerk mit unzähligen autonomen Teilnehmern, so dass durch die Verhaftung einiger Köpfe das Netz nur temporären Schaden nimmt (Naim 2005: 249 u. 289). Daher ist es heute schwieriger denn je, die Frontlinien der Verbrechensbekämpfung zu bestimmen und die richtigen Prioritäten zu setzen (ebd.: 281). Nehmen die Autoren des Kriminalromans die Herausforderung an, auf diesen Kontext literarisch glaubwürdig zu reagieren, dann kann im Zentrum ihrer Werke nur noch das Scheitern der Verbrechensbekämpfung stehen. Denn solange mit illegalen Geschäften ein Vielfaches von dem zu verdienen ist, was mit legalen erwirtschaftet werden kann, wird es immer Menschen geben, die diese Nischen nutzen und sich den jeweils neuen Gegebenheiten anpassen. Verbrechen kann daher nie gänzlich getilgt, sondern allenfalls punktuell eingedämmt werden. Die Autoren der nueva violencia in Kolumbien, sowie die Autoren im Norden Mexikos, die über Drogenhandel schreiben, bearbeiten bereits Ausschnitte dieser veränderten Realität. Aber auch Roberto Ampuero aus Chile und Luis Fernando Verissimo aus Brasilien setzen sich mit internationalem Wirtschaftsverbrechen auseinander. Es ist zu erwarten, dass dies neben der Aufarbeitung der Vergangenheit eines der großen Themen der nächsten Jahrzehnte wird.
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3. Methodik und Korpus Der geschichtliche Abriss der Entwicklung des lateinamerikanischen Kriminalromans brachte zum Vorschein, dass es in den meisten Ländern ab der 1990er Jahre zu einem erheblichen Produktionsanstieg bei gleichzeitiger thematischer und formaler Ausdifferenzierung gekommen ist. Ausgewählte Werke dieses Krimi-Booms stehen im Zentrum der Kapitel 4 bis 6. Aufgrund der angeführten Argumente gehen die Romaninterpretationen von folgenden Thesen aus: Es existiert ein global gültiger Erwartungshorizont für das Genre des Kriminalromans, der durch Trivialliteratur und Fernsehserien generiert wird. Durch ihre schiere Menge erwecken diese Produkte den Eindruck, die Norm des Kriminalgenres zu verkörpern. Da ihre Eigenschaften jedoch vor allem von hochwertigeren Produkten nicht geteilt werden, wurde ihr Set an Formen und Ideologemen als Pseudonorm bezeichnet. Der lateinamerikanische Kriminalroman benutzt diese Pseudonorm als hypotextuelles Referenzsystem und fordert einen Modell-Leser ein, der sie ebenfalls kennt. Ziel der folgenden Kapitel ist es herauszuarbeiten, auf welche Weise sich die Autoren der ausgewählten Romane die Gattung angeeignet haben. Um dies zu erreichen, gilt es zu untersuchen, welche Themenkomplexe sie neben der Kriminalhandlung aufgreifen und welches gesellschaftskritische Potenzial sich darin verbirgt. Zum anderen ist zu erforschen, inwiefern sich die Romane hinsichtlich ihrer ideologischen Grundstruktur von der Pseudonorm absetzen. Folgende Leitfragen werden hierzu konkret an die Romane gerichtet: 1. Mit welcher Methode wird ermittelt? Unterliegt die Aufklärungsarbeit ideologischen Prämissen? Führt sie teleologisch zu einer Lösung in einem Showdown? Inwiefern beeinflusst oder verhindert der gesellschaftliche Kontext die Ermittlung? 2. Welchen gesellschaftspolitischen Stellenwert besitzen Gewalt und Verbrechen und mit welchen ästhetischen Verfahren werden sie dargestellt? 3. Wie werden die Subjekte (Ermittler, Täter, Nebenfiguren) konstruiert? Welche Diskurse spielen dabei eine Rolle? Alle in der nachfolgenden Untersuchung enthaltenen Romane kennzeichnen sich dadurch, dass sie äußerst ereignisreiche Geschichten erzählen, wohingegen Beschreibungen, Erzählerkommentare und Reflexionen vergleichsweise selten vorkommen.1 Ihre Analyse basiert daher 1
Dies kann als typisch für Kriminalromane gelten, ist jedoch nicht gattungskonstitutiv.
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Methodik und Korpus
notgedrungen in beträchtlichem Maße darauf, was passiert, und nur, wo dies möglich ist, auch darauf, was über das jeweilige Ereignis gesagt wird. Um die Romane angemessen charakterisieren zu können, müssen folglich einige Handlungsschritte resümiert werden. Das Spektrum der unter dem Begriff "Kriminalroman" subsumierten Texte ist so heterogen, dass es mit taxonomischen Kriterien kaum sinnvoll klassifizierbar ist. Aus der literarhistorischen Übersicht ging hervor, dass es eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt, die seit den 1990er Jahren entstandenen Romane thematisch zu gliedern. Es könnten beispielsweise Romane zusammengefasst werden, in denen es um Verbrechen im Drogenmilieu, in Armenvierteln oder in ländlichen Gegenden geht; genauso könnte nach dem Kriterium politisches Verbrechen oder Individualverbrechen unterschieden und entsprechende Feingliederungen vorgenommen werden. Dieses Verfahren würde das Textkorpus jedoch zu sehr aufsplitten und die anderen Aspekte, die hier zur Gattungsbestimmung verwendet wurden, ausklammern. Auch das verbreitete Modell einer Gliederung nach rein formalen Eigenschaften hat große Nachteile, da es dem Vorurteil, der Kriminalroman sei Formula-Literatur, Vorschub leistet und den systemreferenziellen Zusammenhang jenseits formal ähnlicher Werke vernachlässigt. Eine Mischung der Kriterien "Form", "Wirklichkeitsbezug" und "Systemreferenz" bietet demgegenüber eine sinnvolle Alternative. Setzt man jeweils eines dieser Kriterien als das dominante Merkmal einer Subkategorie an, so erhält man eine heuristische Dreigliederung des Korpus. Nutzt man außerdem die jeweils anderen beiden Kriterien für die Bestimmung sekundärer Eigenschaften, so ergibt sich folgende Einteilungsmöglichkeit: 1. Dominant: Form Sekundär: Wirklichkeitsbezug und Systemreferenz 2. Dominant: Wirklichkeitsbezug Sekundär: Form und Systemreferenz 3. Dominant: Systemreferenz Sekundär: Wirklichkeitsbezug und Form Wie in Kapitel 1.2 ausgeführt, kennt der Kriminalroman für diese drei Kriterien unterschiedliche Realisierungsformen. Das obige Schema ermöglicht es, bei der Bildung der Unterkategorien jeweils eine Realisierungsform zu fokussieren und im Anschluss zu fragen, ob die Romane auch sekundäre Merkmale miteinander teilen.2 Für die vorliegende Untersuchung werden die dominanten Kriterien so konkretisiert, dass sie gemessen an der Anzahl der passenden Romane möglichst große BereiEs ist nicht auszuschließen und sogar sehr wahrscheinlich, dass einige Romane in zwei verschiedene Kategorien passen. Wie sie einsortiert werden, liegt am Erkenntnisinteresse des Interpreten.
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Methodik und Korpus
che des Textkorpus abdecken. Das sind (1) Kriminalromane, deren Form sich an der Ermittlungsstruktur orientiert (im Folgenden "Ermittlungsromane" genannt), (2) Kriminalromane, die realitätsnah und glaubhaft gewaltreiche Kontexte darstellen ("Gewaltromane") und (3) Kriminalromane, in denen die Systemreferenz besonders stark ausgeprägt ist ("ludische Kriminalromane"). Um parallele Entwicklungen in den verschiedenen Ländern aufzeigen zu können, wurde bei der Auswahl der Texte versucht, die Herkunftsländer der Autoren möglichst weit zu streuen. Bekannteren Romanen, die schon in verschiedene Sprachen übersetzt wurden und Preise gewonnen haben, wurde außerdem der Vorzug gegeben. Die unter "Ermittlungsromane"3 zusammengefassten Werke (Kap. 4) sind Teil von Romanserien mit einem Titelhelden und charakterisieren sich in erster Linie durch die Aneignung einer bestimmten Plot-Struktur, über die sie ihre Systemreferenz herstellen: Sie beginnen mit einem Verbrechen, das im Laufe des Romans aufgeklärt wird (whodunit). Hier kommt es zu der in der Forschung häufig analysierten Verknüpfung zweier Geschichten, der gegenwärtigen, an der Oberfläche stattfindenden Geschichte der Ermittlung und der vergangenen, versteckten Geschichte des Verbrechens. Das Ermittlungsschema hat den Vorteil, dass der Polizist oder Detektiv Zeugen und Verdächtige unterschiedlicher sozialer Schichten und Milieus vernehmen kann, was die Darstellung einer komplexen Gesellschaftsstruktur erlaubt. Es eignet sich des Weiteren besonders gut für die Herausarbeitung epistemologischer und damit verbundener ideologischer Fragestellungen. Strukturell ähneln die "Ermittlungsromane" den police procedurals im Fernsehen, die insbesondere darauf abzielen, Rätselspannung zu erzeugen und diese in einem Showdown zu lösen. In Kapitel 4 werden drei exemplarische Werke interpretiert: Máscaras (1991) von Leonardo Padura aus Kuba, Cita en el Azul Profundo (2001) von Roberto Ampuero aus Chile und Achados e Perdidos (1998) von Luiz Alfredo Garcia-Roza aus Brasilien. Allen dreien ist als sekundäres Merkmal gemein, dass sie einen lebensweltlichen Kontext realitätsnah darstellen.4 Sie stehen daher in der Nachfolge der amerikanischen hard-boiled detective novel und fallen aufgrund ihrer gesellschaftskritischen Haltung auch in die umstrittene Kategorie der novela neopolicial. Explizite intertextuelle Verweise auf Einzelwerke der Gattung sind in diesen Romanen vergleichsweise selten. Ihre Systemreferenz ist jedoch durch die Ermittlungsstruktur eindeutig gegeben. Die "Ermittlungsroman" ist kein gängiger Terminus, er wird jedoch hier anstelle der Bergriffe "Rätsel-" oder "Detektivroman" verwendet, da es sich weder notgedrungen um Werke handelt, die besonderen Wert auf Rätselspannung legen, noch um solche, in denen notgedrungen ein (Privat)Detektiv ermittelt. 4 Die ausgewählten Romane sind Teil von Serien. Mir sind keine lateinamerikanischen "Ermittlungsserien" bekannt, die dieses sekundäre Kriterium nicht erfüllen. 3
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Methodik und Korpus
Romane enthalten zudem zum Teil eine metafiktionale Ebene, die systemreferenzielle Bezüge herstellt. Bei den unter dem Begriff "Gewaltromane"5 versammelten Werken (Kap. 5) dominiert eine besonders schonungslose Darstellung von Verbrechen und Gewalt in einem konkret identifizierbaren lebensweltlichen Kontext, was sie ebenfalls an die hard-boiled-Tradition anbindet. Die meisten dieser Romane verwenden freie Strukturen und Erzählverfahren, teilen also nicht durchgängig das sekundäre Merkmal des gleichen formalen Aufbaus. Ihr plot ist häufig auf den Ausgang der Handlung gerichtet (Zukunftsspannung), kann aber auch an eine Rätselfrage geknüpft sein oder diffus verlaufen und mehrere Höhepunkte aufweisen. Strukturell haben "Gewaltromane" daher nur wenig mit der Pseudonorm gemein. Im Gegensatz zu den "Ermittlungsromanen" wird in den Werken dieser Gruppe Gewalt nicht als Tatbestand und somit Ausgangspunkt für eine Ermittlung, sondern als allgemeines gesellschaftliches Phänomen fokussiert. Solche Romane werden meistens mit dem Begriff novela negra aber auch mit novela neopolicial belegt. Sie enthalten kaum explizite Intertextualitätssignale, sondern stellen ihre Systemreferenz in erster Linie über ihr Thema her. Da es sich bei dieser Gruppe um ein sehr großes Textkorpus handelt, sind thematische Untergliederungen hilfreich, sollen aber nicht als absolut gültig verstanden werden. Sie beziehen sich lediglich auf die im konkreten Fall ausgewählten Werke, die drei verschiedene Dimensionen von Gewalt in den Blick nehmen: Gewaltkriminalität als strukturelles Phänomen, staatlich institutionalisierte Formen der Gewalt und Attentate auf Politiker. In der Subkategorie "strukturelle Kriminalität" werden die Romane O Matador (1995) von Patrícia Melo aus Brasilien und Rosario Tijeras (1999) von Jorge Franco aus Kolumbien behandelt. Beide verwenden freie Erzählformen und thematisieren die Frage, unter welchen gesellschaftlichen Zuständen junge Menschen zu Profikillern werden. Unter den Begriff "institutionalisierte Gewalt" fallen die Romane Penúltimo nombre de guerra (2004) von Raúl Argemí aus Argentinien und Abril rojo (2006) von Santiago Roncagliolo aus Peru. Argemís Roman hält sich an keine klassischen Strukturformen; Roncagliolos Roman basiert hingegen im Wesentlichen auf dem Ermittlungsschema. Im Zentrum steht bei beiden die Darstellung von Verbrechen, die von oder unter dem Einfluss einer staatlichen Gewalt verübt werden. Schließlich behandeln die Romane Un asesino solitario (1999) von Élmer Mendoza aus Mexiko und Grandes miradas (2003) von Alonso Cueto aus Peru das Thema "politische Attentate". Strukturell haben sie gemeinsam, dass sie den Zeit-
Auch "Gewaltroman" ist kein gängiger Terminus. Seine Verwendung hat hier vor allem heuristischen Wert, ebenso wie der folgende Begriff "ludischer Kriminalroman".
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raum vor dem Attentat, also dessen Planung, darstellen. Die drei Subkategorien sind inhaltlich miteinander verbunden: Dort, wo bestimmte Strukturen Profikiller auf den Plan rufen, können diese auch für ein Attentat angeheuert werden. Und wo eine Staatsmacht mit Gewalt regiert, wird Gegengewalt im Volk möglich. Die Werke der Kategorie "ludische Kriminalromane" (Kap. 6) verbindet ihr spielerischer Umgang mit der Systemreferenz. Diese Strömung in der lateinamerikanischen Kriminalliteratur ist eng an des Erbe von Borges und Bioy Casares geknüpft. Die Werke sind in einer parodistischen, fantastischen oder humoristischen Schreibweise verfasst und etablieren einen viel weniger deutlichen Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, bisweilen auch gar keinen. Sie teilen daher auch ein sekundäres Merkmal miteinander. Sie orientieren sich im Wesentlichen ebenfalls am Rätselschema, halten sich aber weniger stark an pseudonormative Strukturmuster als die "Ermittlungsromane", so dass sie das zweite sekundäre Merkmal, das der Form, nur im Ansatz teilen. Romane dieses Typs findet man hauptsächlich in Argentinien und Brasilien. Sie gehören nicht zur novela neopolicial, da ihnen die deutliche Referenz auf einen lebensweltlichen Kontext fehlt und ihr sozialkritisches Potenzial chiffriert ist. In dieser Kategorie werden O Xangô de Baker Street (1995) von Jô Soares aus Brasilien, Filosofía y Letras (1998) von Pablo De Santis aus Argentinien und Borges e os Orangotangos Eternos (2000) von Luis Fernando Verissimo aus Brasilien behandelt. Die Romane der beiden brasilianischen Autoren arbeiten mit zahlreichen markierten intertextuellen Anspielungen und sind äußerst humorvoll. Pablo De Santis evoziert das Gattungssystem hingegen durch eine unmarkierte Bezugnahme auf die Kriminalerzählungen Borges’. Auffällig bei der Auswahl der Romane ist der quantitative Schwerpunkt auf den "Gewaltromanen". Dies ist jedoch kein Zufall, sondern spiegelt in etwa das tatsächliche Mengenverhältnis der veröffentlichten Werke in den verschiedenen Kategorien wider. Ein Grund für das Überwiegen der "Gewaltromane" liegt sicherlich in der gewaltreichen Gegenwart und Vergangenheit dieser Länder, die der Aufarbeitung bedarf. Das mangelnde Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei lässt "Ermittlungsromane" häufig unglaubwürdig erscheinen, und "ludische Kriminalromane" werden vermutlich deswegen weniger geschrieben, weil sie einerseits an eine spezielle literarische Tradition anknüpfen, die nicht auf dem ganzen Kontinent eine gleich starke Wirkung entfaltet (Borges), und andererseits der humorvolle Umgang mit den Themen Gewalt und Verbrechen zeitlicher Distanz bedarf, die oftmals nicht gegeben ist.
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4. Ermittlungsromane Kriminalromane, in denen ein whodunit gelöst wird, sind oft Teil einer Serie mit einem Titelhelden, der mit bestimmten Eigenschaften (darunter Spleens oder Marotten), inneren Konflikten, Wünschen und einer charakteristischen Lebensgeschichte ausgestattet ist. Außerdem verleihen einige Nebenfiguren und wiederkehrende Motive der jeweiligen Reihe ihre Identität. Viele Leser entwickeln sich dadurch zu Fans, die mit großer Spannung den nächsten Band erwarten, ähnlich wie Zuschauer von Fernsehserien. Sie identifizieren sich stark mit den Figuren, da sie sie über einen langen Zeitraum hinweg begleiten. Die erste mehrbändige Kriminalromanserie Lateinamerikas entstand ab Ende der 1970er Jahre an Paco Ignacio Taibos II Schreibtisch in Mexiko.1 Sein Titelheld, Héctor Belascoarán Shayne, ist Privatdetektv. Auch in der Heredia-Saga des Chilenen Ramón Díaz Eterovic2 und in Tony Bellottos dreibändiger Bellini-Serie3 aus Brasilien ermitteln Privatdetektive. Joaquim Nogueira (Brasilien) veröffentlichte zwei Romane mit dem Polizisten Venício4, Élmer Mendoza (Mexiko) zwei mit dem Polizisten Edgar "el Zurdo" Mendieta5, Ernesto Mallo (Argentinien) drei mit dem Polizisten Lascano6 und Gabriel Trujillo Muñoz (Mexiko) mehrere Kurzromane, in denen der Anwalt Miguel Ángel Morgado die Ermittlungen führt.7 Bei Gonzalo España (Kolumbien) ist der Titelheld dreier Romane der Staatsanwalt Salomón Ventura.8 Amir Valle (Kuba) hat außerdem mittlerweile sechs Romane vorgelegt, in denen ein Duo ermittelt, Kommissar Alain
Taibos Belascoarán-Serie besteht aus neun Kurzromanen: Días de combate (1976), Cosa fácil (1977), Algunas nubes (1985), No habrá final feliz (1989), Regreso a la misma ciudad y bajo la lluvia (1989), Amorosos fantasmas (1989), Sueños de frontera (1990), Desvanecidos difuntos (1991) und Adiós, Madrid (1997). 2 Die Heredia-Serie ist mit ihren 13 Bänden die bisher längste Kriminalromanserie Lateinamerikas. Das sind zwölf Romane: La ciudad está triste (1987), Nadie sabe más que los muertos (1993), Ángeles y solitarios (1995), Nunca enamores a un forastero (1999), Los siete hijos de Simenon (2000), El ojo del alma (2001), El hombre que pregunta (2002), Solo en la oscuridad (2003), El color de la piel (2003), A la sombra del dinero (2005), El segundo deseo (2006), La oscura memoria de las armas (2008). Außerdem erschien ein Band mit Heredia-Erzählungen: Muchos gatos para un solo crimen (2005). Díaz Eterovics Werk wurde bereits ausführlich von García-Corales und Pino (2002 und 2008) untersucht. 3 Das sind die Romane Bellini e a esfinge (1995), Bellini e o Demônio (1997) und Bellini e os Espíritos (2005). 4 Informações Sobre a Vítima (2002) und Vida Pregressa (2003). 5 Balas de plata (2008) und La prueba del ácido (2011). 6 La aguja en el pajar (2006) und Delincuente argentino (2007). 7 Die Kurzromane sind in den Bänden Mezquite Road (1995), Mexicali City Blues (1999) und El festín de los cuervos (2002) versammelt. 8 Die Titel von Gonzalo España lauten: Implicaciones de una fuga síquica (1995), La canción de la flor (1996) und Un crimen al dente (1999). Näheres zum Inhalt und zur Einordung der Romane siehe Pöppel (2001: 259-267). 1
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Bec und Ex-Mafioso Alex Varga.9 Besonders repräsentativ für die 1990er bis 2000er Jahre sind die Romanreihen von Leonardo Padura (Kuba), Roberto Ampuero (Chile) und Luiz Alfredo Garcia-Roza (Brasilien), die im Folgenden anhand je eines Romans untersucht werden sollen. Auffallend findet Close, dass es keine argentinische Kriminalromanserie gibt, obwohl gerade dieses Land eine besonders breite Kriminalliteratur besitzt (Close 2006: 153). Ob sich Ernesto Mallos zwei Lascano-Romane zu einer längeren Serie entwickeln scheint ungewiss. Kriminalromanserien sind in Lateinamerika im Vergleich zum angelsächsischen Sprachraum weniger häufig vertreten (Close 2006: 145). Close sieht darin einen allgemeinen Trend der novela negrocriminal weg vom heldenhaften Protagonisten als Garanten der bürgerlichen Moral oder Opfer sozialer Ungerechtigkeit hin zum kriminellen Protagonisten, der sich weniger als Serienheld eignet (ebd.: 146-147). Tatsächlich gibt es in Lateinamerika bisher keine Krimiserien mit einem Täter als Protagonisten; lediglich Patrícia Melo hat zwei Romane mit demselben kriminellen Titelhelden verfasst (O Matador, 1995 und Mundo Perdido, 2006), erweiterte das Projekt jedoch nicht zu einer mehrbändigen Serie. Innovativ in dieser Hinsicht sind jedoch diejenigen US-amerikanischen Fernsehserien, die in Kapitel 2.2.2 gerade nicht zur Pseudonorm gezählt wurden, z. B. The Sopranos (1999-2007), The Shield (2002-2008), Dexter (seit 2006) oder Breaking Bad (seit 2007). In diesen Serien werden dem Fernsehzuschauer erstmals über einen langen Zeitraum hinweg kriminelle Protagonisten zugemutet. Im Folgenden soll es aber zunächst um Ermittler als Protagonisten und positive Helden gehen. Leonardo Padura spricht in Bezug auf seine Kriminalromane von einer "utilización del género" (Wieser 2010 [2004]: 150) und umschreibt dabei ein Verfahren der Aneignung, das viele zeitgenössische lateinamerikanische Krimiautoren anwenden: Das Genre des Kriminalromans wird dazu "benutzt", gesellschaftliche Zustände aufzudecken und eine Reihe von Themen zu behandeln, die mit dem Kriminalfall nicht direkt oder nicht notgedrungen in Verbindung stehen. Auch Roberto Ampuero hebt hervor, dass sich der Kriminalroman besonders dafür eignet, Themen von gesellschaftlicher Relevanz zu untersuchen und versteckte Zusammenhänge ans Tageslicht zu fördern: "Esa es la gran ventaja que tiene la novela policial: […] la posibilidad de conocer la sociedad contemporánea, de conocer su subterráneo" (Wieser 2010 [2009]: 126). Die Verknüpfung gesellschaftlicher Themen mit der Ermittlungsarbeit erfordert vom Autor stets eine größere Kunstfertigkeit als rein auf Rätselspan-
Es handelt sich um folgende Romane: Si Cristo te desnuda (2001), Las puertas de la noche (2001), Entre el miedo y las sombras (2003), Últimas noticias del Infierno (2005), Santuario de sombras (2006) und Largas noches con Flavia (2008).
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nung ausgerichtete Romane, die sich in einem reduzierten, vom gesellschaftlichen Rahmen weitgehend abgekoppelten Setting bewegen. Da Padura, Ampuero und Garcia-Roza eine solche Verknüpfung gelingt, sind ihre Werke Gegenstand dieses Kapitels. Leonardo Paduras Roman Máscaras spielt vor dem Hintergrund der parametración, dem Versuch der Castro-Regierung, alle Bürger unter einer Gesinnung zu vereinen, das heißt, sie in bestimmte Parameter zu zwingen. Die Themen, die Roberto Ampueros Roman Cita en el Azul Profundo verarbeitet, lassen sich zum großen Teil unter dem Begriff "Globalisierung" subsumieren. Sein Fall handelt von makrokriminellen Strukturen internationaler Konzerne, fokussiert aber auch insbesondere die Lebenswege moderner Nomaden zwischen den Kontinenten. Mit "Marginalisierung" lässt sich der von Luiz Alfredo Garcia-Roza in Achados e Perdidos behandelte Themenkomplex fassen. In seinem Roman stehen Randgruppen der Gesellschaft im Zentrum und werden vor allem in ihrer Schutzlosigkeit dargestellt. Die ausgewählten Werke repräsentieren die jeweilige Romanserie besonders gut, weil sie viele ihrer charakteristischen Elemente vereinigen und besonders deutlich im gesellschaftlichen Kontext verankert sind. Dass es sich bei den hier als "Ermittlungsromane" bezeichneten Werken um Kriminalromane handelt, wird kaum jemand anzweifeln, erfüllen sie doch das als besonders typisch geltende Merkmal der Darstellung der Aufklärung eines Verbrechens. Trotzdem ist es spannend, einen Blick auf die Peritexte dieser Werke zu werfen, da sie Auskunft über die Markstrategien der Verlage geben. Ins Auge fällt, dass die Werke Paduras und Ampueros im Gegensatz zu denen Gracia-Rozas’ nicht in ausgewiesenen Kriminalromanreihen erscheinen. Paduras Conde-Romane erschienen auf Spanisch bei Tusquets im Programm Andanzas, einer breit angelegten Reihe von Gegenwartsliteratur. In allen Conde-Romanen fehlt die explizite Gattungsangabe auf dem Titel oder Innentitel. Im vorderen Klappentext innerhalb der Kurzbiografie des Autors sind jedoch die von ihm erhaltenen Krimipreise aufgelistet. Auf der Umschlagsseite vier (U4) stehen kurze Inhaltsangaben, deren Vokabular dem Leser keinen Zweifel daran lässt, dass es sich um Kriminalromane handelt ("cadáver", "crimen", "investigación", "policía", "un misterioso y urgente caso", etc.). Der Conde-Roman Adiós, Hemingway (2001) besitzt eine etwas andere verlegerische Geschichte. Padura schrieb ihn im Auftrag der brasilianischen Companhia das Letras eigens für eine Krimireihe namens Literatura ou Morte.10 Zwei Jahre später er10 Zu der Reihe gehören auch Borges e os Orangotangos Eternos (2000) von Luis Fernando Verissimo (siehe dazu Kapitel 6.3), O Doente Molière (2000) von Rubem Fonseca und Os Leopardos de Kafka (2000) von Moacyr Scliar.
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schien er auf Spanisch beim Norma-Verlag. Auf dem Umschlag des Norma-Verlags ist nicht nur der Name der brasilianischen Reihe (Literatura o Muerte), sondern auch die Gattungsbezeichnung "novela negra" angegeben. Im vorderen Klappentext wird Padura zusätzlich als Autor einer "serie de novelas policiales" bezeichnet. Die Peritexte des NormaVerlags sprechen also eine deutlichere Sprache als die des TusquetsVerlags. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Neuausgabe der Reihe bei Andanzas auf dem Titel ein Etikett trägt, in dem "Serie Mario Conde" steht und ein Aschenbecher mit einer qualmenden Zigarre abgebildet ist. Tusquets bewirbt die Romane folglich neuerdings ebenfalls offensiver als Kriminalromane.11 Ampueros Brulé-Serie ist im Planeta-Verlag in der Reihe "Biblioteca del Sur" erschienen; hier war also ein geografisches und nicht ein genologisches Kriterium ausschlaggebend. Weder auf Umschlag noch Innentitel wird die Gattung benannt. Der Umschlag der Erstausgabe von Quién mató a Cristián Kustermann signalisiert immerhin deutlich, dass es sich um einen Kriminalroman handelt. Er zeigt eine Hand, die einen Revolver direkt in Richtung des Betrachters richtet. Der Klappentext weist außerdem darauf hin, dass Ampuero ein Autor des "género negro" ist.12 Zwei Romane der Serie erschienen zudem in Spanien bei Verticales (ein Imprint des Norma-Verlags) als eigene Reihe mit schwarzem Umschlag: "Biblioteca Cayetano Brulé". Bei Cita en el azul profundo findet sich zudem ein Zitat Luis Sepúlvedas auf dem Umschlag, in dem Roberto Ampuero als "innovador de la novela negra" bezeichnet wird.13 Auch hier ist wieder zu beobachten, dass der Norma-Verlag (bzw. Verticales) wie im Fall der Conde-Reihe die mittlerweile etablierte Brulé-Serie, ganz gezielt in diesem Marktsegment anbietet.14 Anders verhält es sich mit der Espinosa-Reihe von Garcia-Roza. Sie ist beim Verlag Companhia das Letras innerhalb der "Série policial" erschienen, die sich durch ihre farbigen Buchrücken und Schnitte sowie ein in dunklen Grautönen gehaltenes Umschlagbild, das farblich auf Kriminalliteratur hindeutet, auszeichnet. Auf der U4 werden alle Romane darüber hinaus als "romances policiais" klassifiziert. Hier zeichnet sich also die Tendenz ab, dass "Ermittlungsromane" in Brasilien stärker unter diesem Etikett auf dem Buchmarkt angeboten werden als in His-
11 Auf Deutsch erschienen die Romane in der Spannungsreihe metro beim Unionsverlag, herausgegeben von Krimikritiker Thomas Wörtche. 12 Die U4 konnte ich bei den Bibliotheksexemplaren nicht einsehen, da die Bücher mit einem harten Umschlag versehen wurden. 13 Dasselbe Zitat wurde in der deutschen Übersetzung von El caso Neruda auf der U4 verwendet (Bloomsbury Verlag). 14 Im deutschsprachigen Raum wurde die Brulé-Reihe noch nicht systematisch herausgegeben; die meisten Bände sind noch nicht einmal übersetzt.
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panoamerika, wo sie innerhalb allgemeiner, breit aufgestellter Romanreihen erscheinen.15 Die nachfolgenden Interpretationen werden von einer knappen Einführung in Leben und Werk des Autors sowie einer Charakterisierung der Romanserie eingeleitet. Bei "Ermittlungsromanen" ist die erkenntnistheoretische Frage nach der Methode besonders interessant, weswegen im Folgenden der Schwerpunkt darauf gelegt wird.16
15 Vier der Espinosa-Romane erschienen in deutscher Übersetzung beim Berliner TaschenbuchVerlag. Auf dem Umschlag steht unmissverständlich jeweils "Der erste/zweite etc. Fall für Kommissar Espinosa". 16 Die Reihenfolge der Analysen erfolgt chronologisch in Bezug auf das Alter der Serien (nicht auf das Erscheinungsjahr des jeweiligen Romans): Padura veröffentlichte den ersten Roman 1991, Ampuero 1993 und Garcia-Roza 1996.
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4.1. Parametrisierung: Leonardo Padura: Máscaras (Kuba, 1997) Der Autor: Leonardo Padura Leonardo Padura Fuentes wurde 1955 in Havanna geboren, wo er bis heute lebt. Nach seinem Studium der Literaturwissenschaft arbeitete er als Journalist bei der Kulturzeitschrift El caimán barbudo und später bei der Tageszeitung Juventud rebelde. 1989 wurde er Chefredakteur der Gaceta de Cuba. Seit den 1980er Jahren hat er mehrere literaturwissenschaftliche Arbeiten unter anderem über El Inca Garcilaso de la Vega, Alejo Carpentier und den magischen Realismus veröffentlicht. Sein erster, im Vergleich zu den Folgewerken wenig bekannter Roman, Fiebre de caballo, erschien 1988. Ein Jahr später kam der Erzählband Según pasan los años heraus. Nachdem er häufig die mangelnde Qualität des kubanischen Kriminalromans kritisiert und mehr Tiefgang gefordert hatte (vgl. Padura 1988), veröffentlichte er 1991 mit Pasado perfecto einen Kriminalroman, mit dem er neue Maßstäbe für das Genre in Kuba setzte und mit der staatsideologischen Färbung seiner Vorgänger brach.1 Der Roman spielt im Januar 1989 und bildet zusammen mit Vientos de cuaresma (1994), Máscaras (1997) und Paisaje de otoño (1998) das Havanna-Quartett (Las cuatro estaciones). Jeder Roman wird mit einer Jahreszeit assoziiert, so dass alle vier zusammen das letzte Dienstjahr des Serienhelden Teniente Mario Conde umfassen. Leonardo Padura führte nach den ursprünglich geplanten Romanen die Mario-Conde-Serie durch eine Auftragsarbeit des brasilianischen Verlags Companhia das Letras mit Adiós, Hemingway (2003) fort. Darauf folgten La neblina del ayer (2005) und La cola de la serpiente (2011).2 In den letzten drei Romanen ist der Protagonist bereits aus dem Polizeidienst ausgetreten und gibt sich als Antiquar seiner Leidenschaft für Bücher hin. Obwohl Mario Conde weiterhin inoffiziell ermittelt, entfernen sich die Romane graduell immer mehr von der Gattung des Kriminalromans. Die Fälle sind keine in der Gegenwart verankerten Delikte mehr, sondern greifen auf längst verjährte Verbrechen aus den 1950er Jahren zurück (einen Mord auf Hemingways Finca Vigía und einen Mord an einer Bolerosängerin). Nur im neuesten Roman geht es wieder um einen aktuellen Fall und zwar in Havannas Chinesenviertel.
Näheres zu den Umständen des Erscheinens von Pasado perfecto in Kuba und zum Erfolg des Romans wurde in Kapitel 2.4.3 berichtet. 2 Bei La cola de la serpiente handelt es sich um die Ausarbeitung eines Kurzromans, den Padura 1998 bereits auf Kuba veröffentlicht hatte (Senabre 2011). 1
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Neben der Conde-Reihe veröffentlichte Padura die Romane La novela de mi vida (2002) über den kubanischen Dichter José María Heredia und El hombre que amaba a los perros (2009) über den Mörder Leo Trotzkis, die ebenfalls auf einer Ermittlungsstruktur basieren, sich aber über weite Strecken vom Thema "Verbrechen" entfernen. Der Serienheld: Mario Conde3 Teniente Mario Conde, der Titelheld von bisher sieben Romanen, trinkt gern zu viel, erwacht mit Kopfschmerzen, die er mit einer ordentlichen Dosis Kaffee bekämpft, ist undiszipliniert und bisweilen unverschämt, aber auch sensibel und mit großer Empathie für die Menschen ausgestattet, denen er bei seiner Arbeit begegnet. Die unschönen Einblicke in psychische Abgründe, die er dabei erhält, verarbeitet er durch lange Reflexionen (was der Pseudonorm entgegen läuft). Häufig drückt er seine Abneigung dagegen aus, die dunklen Seiten der menschlichen Existenz ans Tageslicht fördern zu müssen, obwohl er sich mit den Jahren daran gewöhnt hat, wie beispielsweise in Vientos de cuaresma deutlich wird: Después de tantos años trabajando en la policía se había acostumbrado a ver a las personas como casos posibles en cuyas existencias y miserias tendría que escarbar alguna vez, como un ave carroñera, y destapar toneladas de odio, miedo, envidia e insatisfacciones en ebullición (Padura 2001 [1994]: 49).
Da ihn dies belastet, quittiert er am Ende des Havanna-Quartetts nach zehn Jahren Arbeit bei der Polizei im Alter von 36 Jahren den Dienst. Der langwierige Prozess, der zu dieser Entscheidung führt, wird durch das ständige Aufwerfen der Frage begleitet, warum Conde Polizist geworden ist, denn eigentlich hegte er seit seiner Jugend schriftstellerische Ambitionen. Der Titelheld ist außerdem von einer Gruppe enger Freunde umgeben, die für ihn eine Art Familie darstellen und in deren Zentrum "el flaco Carlos" steht.4 Einen weiteren zentralen Bezugspunkt seiTeilaspekte der Mario-Conde-Serie wurden bereits von Castells (2000), Rosell (2000), Franzbach (2000), Peñate Rivero (2002), González (2004), Cusato (2006), Martín Escribà/Sánchez Zapatero (2007), Sartingen (2010), Barceló (2010), Ponce (2011) und Gallagher (2011) untersucht. Den von Uxó (2006) herausgegebenen Sammelband zum Werk von Leonardo Padura konnte ich leider nicht einsehen. Speziell zu Máscaras liegen die Analysen von Rosell (2001) und Wilkinson (2006) vor. Beide vergleichen den Roman mit dem Film Fresa y chocolate (Regie: Tomás Gutiérrez Alea/Juan Carlos Tabío, Drehbuch: Senel Paz, 1993). 4 Condes Freunde sind enttäuschte und unglückliche Figuren: Andrés, obwohl er als Arzt Karriere gemacht und eine Familie gegründet hat, ist unglücklich und entschließt sich, nach Miami auszuwandern. Candito el Rojo, ohne Studium und Beruf immer am Rande zur Armut stehend, wird Anhänger einer neukirchlichen Bewegung. Miki Cara de Jeva schafft es als Einziger, Schriftsteller zu werden. Seine Literatur ist allerdings opportunistisch und "condenada al más rampante olvido" (60). Diese Art von Literatur ist jedoch diejenige, die "dentro de la Revolución" schreibbar scheint. 3
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nes Privatlebens bildet Tamara, seine große, verflossene Liebe. Bei seiner Arbeit wird Conde darüber hinaus von Sargento Manuel Palacios, genannt Manolo, unterstützt. Manolo ist jünger und unbekümmerter, aber auch naiver als der Teniente und spielt im Vergleich zu Condes Freunden eine untergeordnete Rolle. Die Romane konzentrieren sich in der Summe mehr auf Condes Erkenntnisprozess seiner selbst und auf die Reflexion über die kubanischen Lebensumstände als auf den sozialen Aspekt des Kampfes gegen das Verbrechen, und stehen diesbezüglich im Kontrast zur Pseudonorm. Im Gegensatz zu den staatlich geförderten Krimiautoren stellt Padura überdies in den Reihen der Polizei und des Staates positive, negative und mittlere Figuren dar. Auch den Protagonisten selbst hat er mit einigen Defekten ausgestattet, die ihn von den Ermittlern der früheren Kriminalromane Kubas ebenso sehr unterscheiden wie von denen der USamerikanischen TV-Serien. Condes Schwächen dienen dazu, ihn besonders menschlich wirken zu lassen. Aber um als Serienheld funktionieren zu können, muss er im Kern sympathisch sein, damit eine Identifikation des Lesers mit der Figur wahrscheinlich wird. Dies erreicht Padura, indem er ihn als moralisch integer konzipiert: Lo fundamental es que Conde tiene una cualidad que era imposible de alterar en ninguno de esos libros, y es su decencia. Conde es un hombre decente. Tenía que ser incorruptible porque no podía tener los defectos que tenía y además ser un corrupto, ser una persona no decente. Por eso, yo trabajé con mucho cuidado la visión ética de él de la realidad. Puede ser un borracho, puede ser que una mujer lo haya engañado, puede ser que llegue tarde a una reunión, puede ser que haga cualquier desastre, pero en lo esencial Conde es un hombre de unos principios que son inamovibles. Eso era muy importante para que él pudiera ser quien juzgara a esas otras personas aparentemente incólumes, aparentemente perfectas (Wieser 2010 [2004]: 164).
Condes Integrität ermöglicht das, was zum Kernbereich von Paduras Projekt gehört: Verdienstvolle und scheinbar ehrliche und anständige Vertreter des kubanischen Staates als Verbrecher zu entlarven. Der wichtigste Wesenszug Condes ist aber seine Nostalgie, die Padura als die Nostalgie seiner Altersgenossen versteht. Diese Generation kennzeichnet sich dadurch, dass sie ihre Schul- und Studienzeit bereits innerhalb des revolutionären Prozesses absolvierte und 1989 beim bevorstehenden Zusammenbruch des Ostblocks und der damit beginnenden Wirtschaftskrise, dem Período Especial, in der Blüte ihres Lebens stand. Die Betroffenen konnten ihre Zukunftsprojekte nicht mehr verwirkli-
Die Lebenswege der Freunde stehen für die einer ganzen Generation, die ihre Träume nicht verwirklichen konnte, vor allem aufgrund der gesellschaftspolitischen Lage Kubas, aber auch aus persönlichen Gründen.
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chen und fühlten sich um ihre Träume betrogen.5 In den häufigen Analepsen erinnert sich Conde wehmütig an Zeiten, in denen die Zukunft noch vielversprechend aussah. Seine Reflexionen umfassen nicht nur seine eigenen Erinnerungen, sondern greifen auch auf die Erinnerungen seiner Eltern und Großeltern zurück. Der dünne Carlos resümiert in Máscaras, wie sich Condes Nostalgie äußert: "[…] era un cabrón sufridor, un incorregible recordador, un masoquista por cuenta propia, un hipocondríaco a prueba de golpes y el tipo más difícil de consolar de los que había en el mundo" (18).6 Zu den Themen, die besonders an Condes nostalgischer Sentimentalität rühren, gehört der kubanische Truppeneinsatz im angolanischen Bürgerkrieg, der meistens in Bezug auf den "dünnen Carlos" evoziert wird.7 Dieser ist als Kriegsveteran an den Rollstuhl gefesselt und leidet an gesundheitsgefährdendem Übergewicht, was Conde immer trauriger macht. Carlos’ Lähmung steht symbolisch für die Lähmung des Revolutionsprozesses, wie González treffend anmerkt (González 2004: 139). Die Knappheit an Fleisch und hochwertigen Lebensmitteln während des Período Especial ist ein weiteres rekurrentes Thema, das immer dann zur Sprache kommt, wenn Carlos’ Mutter Josefina von den Freunden für ihre Kochkünste gelobt wird, da es an ein Wunder zu grenzen scheint, dass sie all die nötigen Zutaten besorgen konnte.8 In der Romanserie spricht überwiegend ein heterodiegetischer Erzähler, der Mario Conde intern fokalisiert. Der Teniente vertritt als Polizist9 formal gesehen die Kontrollorgane des Staates, so dass seine Perspektive
Die Enttäuschung seiner Generation beschreibt der Autor wie folgt: "Todo eso conmovió la manera de pensar de la gente en Cuba y de mi generación en particular. Porque todo eso la sorprende en un momento que era supuestamente el gran ascenso de la generación. Si yo nací en el año 55, en el 90 tengo 35 años, es decir, estoy en el momento de la plenitud de mis posibilidades porque he terminado todos los aprendizajes pero a la vez soy joven todavía. Y de pronto el mundo se deshace, el mundo en general y en particular en Cuba. […] Creo que la literatura fue lo que me dio una estabilidad emocional. Pero eso no evita que sintamos una nostalgia por aquel tiempo en que pensamos que las cosas iban a ser mejores" (Wieser 2010 [2004]: 162f.). 6 Mit Condes Erinnerungen befasst sich insbesondere Gallagher (2011). 7 Nach der Unabhängigkeit Angolas von 1975 folgte ein Bürgerkrieg zwischen der União Nacional para a Independência Total de Angola (UNITA) und dem Movimento Popular de Libertação de Angola (MPLA). Der MPLA wurde von Kuba und der Sowjetunion unterstützt und die UNITA von Südafrika, den USA und anderen westlichen Ländern. 1991 schwor der MPLA offiziell dem Sozialismus ab, womit auch der kubanische Einsatz in Angola endete. 8 Das Zelebrieren gastronomischer Köstlichkeiten in Verbindung mit der Thematisierung gesellschaftlicher Zustände findet auch in den Carvalho-Romanen Manuel Vázquez Montalbáns statt, mit denen die Conde-Serie eine Reihe von weiteren Gemeinsamkeiten teilt wie z. B. ihre Tendenz zur Introspektion. 9 Einen Privatdetektiv statt einen Polizisten als Helden zu wählen wäre für Padura wohl aus politischen Gründen nicht einfach gewesen, da ein Privatdetektiv quasi an den Staatsorganen vorbei ermittelt, was in der Regel dazu führt, dass deren Ineffizienz aufgedeckt wird. Padura weist darauf hin, dass die Polizei, der Mario Conde angehört, nicht mit der real existierenden Polizei Kubas zu verwechseln ist (Wieser 2010 [2004]: 155f.). 5
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im Prinzip der Pseudonorm entspricht, mit dem Unterschied, dass der offizielle Diskurs ein autoritär sozialistischer und kein demokratischer ist. Mario Conde erfüllt seine berufliche Pflicht und handelt grundsätzlich im Sinne des Staates, auch wenn er sich manche Unregelmäßigkeiten in der Ermittlungsarbeit vorwerfen lassen muss. Er ist kein Regimegegner und äußert sich nie explizit zu den politischen Zuständen des Landes. Das kritische Potenzial der Romane geht zum einen von den Fällen selbst aus (Staatsdiener werden als Verbrecher entlarvt) und zum anderen von Condes enttäuschten Erwartungen an das Leben auf Kuba, für die er das Regime aber nicht ausdrücklich verantwortlich macht. Die interne Fokalisierung Condes konstituiert daher sowohl einen impliziten, dezenten Gegendiskurs zum offiziellen Diskurs Kubas als auch zum neoimperialistischen power-bloc, insofern als Conde trotz aller Enttäuschung an seiner Kubanität festhält. Neben dem dominanten heterodiegetischen Erzähler erteilt Padura immer wieder einzelnen Figuren das Wort, die er als autodiegetische Erzähler bestimmter Abschnitte einsetzt.10 Diese Passagen spielen in der Regel an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit und umfassen Erinnerungen von Verdächtigen oder Zeugen (Analepsen). Dadurch werden tiefere Einblicke in verschiedene Schicksale gewährt, als es bei einer Vernehmung durch den Ermittler möglich wäre. Der Roman: Máscaras Máscaras ist der dritte Roman des Havanna-Quartetts und spielt im August 1989. Der Titel kann einerseits als eine Metapher für das im Roman zu lösende Rätsel verstanden werden, andererseits benennt er aber auch das Leitmotiv der Maske, mit dem das Verhalten der Figuren verbildlicht und der Zustand der kubanischen Gesellschaft insgesamt charakterisiert wird. Im Zuge der Ermittlung begegnet Mario Conde verschiedenen Arten von Masken, manche sind materiell fassbar als Verkleidungen, andere Simulationen einer Identität durch vorgetäuschte Verhaltensweisen. Die Aufklärung des Mordfalls wird mit der Enthüllung dieser Masken eng verknüpft. Wie genau dies geschieht, soll im Folgenden untersucht werden. Dazu gilt es zunächst, die Ausgangslage (Rätsel und Verdächtige) zu bestimmen, um anschließend die Ermittlungsschritte nachvollziehen zu können.
10 Beispiele für Passagen mit einem autodiegetischen Erzähler sind in Máscaras die Erlebnisse des Marqués in Paris oder in Paisaje de otoño die Erinnerung Miriams, der Frau des Opfers, an ihre Zeit in Miami. (In Pasado perfecto werden Condes eigene Erinnerungen teils aus der Ich-Perspektive geschildert).
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Der Teniente erhält zu Beginn des Romans den Auftrag, den Mord an Alexis Arayán aufzuklären. Dieser wurde mit einem roten Seidenschal erdrosselt, in die Nähe des Flussufers im Bosque de la Habana geschleift und dort abgelegt. Der Tote ist als Frau verkleidet (er trägt das Kostüm der Electra Garrigó aus dem gleichnamigen Theaterstück von Virgilio Piñera) und weist keine Verletzungen auf. Lediglich Fäkalspuren werden auf seinem Kostüm festgestellt, was darauf hinweist, dass der Täter den After des Toten inspiziert und sich anschließend seine Finger abgewischt haben muss. Aufgrund dieser Indizienlage formuliert Conde drei zentrale Fragen, die den Verlauf der Ermittlungsarbeit strukturieren: a) "¿Por qué una persona se deja asfixiar sin resistirse?" (36) b) "¿Y por qué el asesino no lo tiró al agua?" (36) c) "¿Y para qué coño se puso a registrarle el ano?" (36) Die dritte Leitfrage modifiziert sich später, als sich herausstellt, dass der Täter dem Opfer zwei Münzen in den After gesteckt hat. Daher lautet sie nun: "¿Para qué le metió las monedas?" (58). In jeder Vernehmung, die Conde durchführt (zum Teil mit Manolos Unterstützung), behält er diese drei Fragen im Hinterkopf und formuliert sie aufs Neue. Die Mutter des Opfers verweist ihn an den zurückgezogen lebenden Dramaturgen und Theaterautor Alberto Marqués, bei dem Alexis seit einiger Zeit gewohnt hat. Marqués gibt bei der Vernehmung an, dass das Opfer eine Liebesbeziehung zu einem Maler namens Salvador K unterhielt, welcher mit einer Frau verheiratet sei und seine Homosexualität verheimliche. Die Hauptverdächtigen sind also zu Beginn der Ermittlungsarbeit zwei Angehörige der Literaten- und Künstlerszene, die in den Augen des Castro-Regimes als politisch suspekt gilt. Beide verstecken sich hinter einer Maske. Im Verlauf der Ermittlung werden zwei weitere Verdächtige eingeführt, die ebenfalls Masken tragen. Alexis Arayán als mutmaßlicher Selbstmörder und Faustino Arayán, Alexis’ Vater und "último representante cubano en la Unicef, diplomático de largas misiones, personaje de las altas esferas" (38). Er gehört der als respektabel und integer geltenden Klasse der ehemaligen Revolutionärsfamilien an, so dass er aus der Sicht der Staatsorgane zunächst nicht verdächtig erscheint. Daraus ergibt sich folgende Übersicht über die Verdächtigen und ihre jeweiligen Masken: A. Alberto Marqués, Dramaturg Seine Maske: Gibt vor, sich der Zensur und Repression unterworfen zu haben. B. Salvador K, Maler Seine Maske: Versteckt seine Homosexualität vor der Gesellschaft. 131
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C. Alexis Arayán als Selbstmörder, Sohn einer Revolutionärsfamilie Seine Maske: Hat sich als Frau verkleidet. D. Faustino Arayán, Diplomat Seine Maske: Gibt vor, ein vorbildlicher Revolutionär und Staatsdiener zu sein. Im Zuge der Ermittlungen verfolgt Conde nicht nur die Spuren der am Tatort gefundenen Indizien, sondern entwickelt auch Hypothesen, mit denen er das Verhalten der Verdächtigen innerhalb des kulturellen und politischen Kontextes zu erklären versucht, was ihm aufgrund seiner Empathiefähigkeit gelingt. Er taucht tief in die Lebensgeschichten der Beteiligten ein und engagiert sich stärker persönlich als von ihm bei der Polizei erwartet wird. Das Datum des Mordes, der 6. August, setzt Condes Erinnerungsarbeit in Gang. Im Katholizismus handelt es sich dabei um den Tag der Verklärung Jesu auf dem Berg Tabor, deren Bedeutung dem Teniente aus seiner Kindheit bekannt ist, da ihm Padre Mendoza beim Erstkommunionsunterricht von der Episode erzählt hat. Der Ermittler glaubt, einen Zusammenhang zwischen der Verklärung Jesu und der Verkleidung des Opfers zu erkennen und geht davon aus, dass das Datum des Mordes kein Zufall ist: El 6 de agosto es la fiesta de la Transfiguración para los católicos. Según la Biblia, ese día Jesús se transformó ante tres de sus discípulos en el monte Tabor, y Dios, desde una nube de luz, les pidió a los apóstoles que lo escucharan siempre. ¿No es demasiada casualidad que aparezca un travesti muerto un 6 de agosto? (34).
Auf diese Fährte gelangt Conde nur über sein kulturelles und religiöses Vorwissen, wodurch der Leser an einer viel breiteren Erfahrungswelt teilhat als nur an der, die unmittelbar in Bezug zum Verbrechen steht. Mittels dieser Erinnerungs- oder Analepsentechnik eröffnet Padura häufig tiefe Einblicke in die kubanische Wirklichkeit, verortet die Fälle realitätsnah in gesellschaftspolitischen Umständen und verleiht den Figuren psychologische Tiefe. Trotz der Skepsis des Sargento Manuel Palacios, der anführt, dass es sich bei Alexis’ Verkleidung auch schlicht um eine alltägliche Gewohnheit eines Transvestiten handeln könnte, hält Conde an seiner Idee fest. Manolo tritt immer wieder als die pragmatische Stimme des gesunden Menschenverstands auf und artikuliert die Zweifel, die auch die Leser bei Condes assoziativem und daher etwas dem Zufall überlassenem Ermittlungsstil empfindet. Verklärung und Verkleidung beruhen zwar beide auf einer Veränderung, aber dem Leser ist bewusst, dass diese Überlegung nicht den Stellenwert von empirischen Indizien in einer kriminalistischen Ermittlung besitzt. Aufgrund seiner extravaganten oder sogar abwegig erscheinenden Idee befragt Conde die Eltern des Opfers, Alberto Marqués und Salvador K nach Alexis’ Verhältnis zur Religion und erfährt, dass er eine Bibel besaß, gläubig 132
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war und sich zur Mystik hingezogen fühlte. Conde besucht sogar Padre Mendoza, um sich genauer über die Bedeutung der Verklärung Jesu zu informieren. Der Priester hebt hervor, dass Jesus an dieser Stelle begreift, warum die Jünger Angst vor der Erscheinung Gottes in der Wolke haben. Daher spreche er ihnen Mut zu: "Levantaos, no tengáis miedo" (85). Laut Mendoza wird Jesus außerdem von der Vorahnung seiner eigenen Angst vor der Kreuzigung erfüllt. Das Motiv der Angst verwandelt sich von da ab in einen Schlüssel der Ermittlungsarbeit und der psychologischen Deutung des Falls. Von Marqués erfährt Conde überdies, dass Alexis kein gewohnheitsmäßiger Transvestit war, sondern sehr unter seiner Homosexualität litt und suizidale Tendenzen hatte. Die Beziehung zu seinem homophoben Vater sei sehr schwierig gewesen. Auch habe er sich insgesamt in der Gesellschaft unwohl gefühlt, weswegen er in der Religion Zuspruch suchte. Als Manolo Alexis’ Bibel findet, stellt er fest, dass die Seite aus dem Matthäusevangelium über die Verklärung fehlt, so dass Condes Hypothese eine erste Rechtfertigung erfährt. Marqués findet die herausgerissene Seite später in seinem Exemplar der gesammelten Werken Virgilio Piñeras, versehen mit einer Notiz von Alexis: "Dios Padre, ¿por qué lo obligas a tanto sacrificio?" (162). Auf der Grundlage von Padre Mendozas Erläuterungen kann der Satz auf den Märtyrertod Jesu am Kreuz bezogen werden. Marqués greift Conde in der Hypothesenbildung vor und interpretiert: "Pretendía que lo crucificaran, señor amigo policía" (162). Zu diesem Schluss kommt er, da Alexis’ Glaube es ihm auf der einen Seite unmöglich macht, seine Homosexualität zu akzeptieren11, auf der anderen Seite verbietet er es ihm aber auch, sich durch Selbstmord von seinem Leid zu befreien. Aufgrund der Einschätzung des Dramaturgen verfolgt Conde von nun an die Hypothese, dass Alexis seinen Mörder absichtlich gereizt haben muss, damit ihn dieser umbringt. Obwohl die Assoziationen des Polizisten helfen, die psychische Verfasstheit des Opfers zu rekonstruieren, führen sie noch nicht zum Täter. Der Teniente ist jetzt aber in der Lage, die erste der eingangs gestellten Fragen zu beantworten: a) "¿Por qué una persona se deja asfixiar sin resistirse?" (36). Die Antwort lautet: weil er seinen Tod herbeisehnte. Er stand im Konflikt mit der homophoben Politik Castros sowie der katholischen Kirche. Der Dramaturg scheidet in Condes Einschätzung als Täter jedoch aus, da ihm die körperliche Kraft fehlt, einen Menschen zu erwürgen. Weitere Bausteine zur Lösung des Kriminalfalls liefert Alberto Marqués in denjenigen Abschnitten, in denen er auf einer intradiegetischen Ebe-
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Nach dem Buch Levitikus gilt Homosexualität als Sünde.
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ne12 als autodiegetischer Erzähler fungiert. Diese Passagen erfüllen zudem die Funktion, die Geschichte der kubanischen Homosexuellen aufzuarbeiten. Beiden Aspekten soll nun nachgegangen werden, bevor der Fort- und Ausgang der Ermittlung auf der extradiegetischen Ebene untersucht wird. Alberto Marqués’ Diskurs kann als ein an Conde gerichteter Bericht aufgefasst werden. Darin erzählt der Dramaturg von seinen Erlebnissen im April 1969: Er und zwei weitere homosexuelle Künstler, "el Recio" und "el Otro Muchacho", bewegten sich in Pariser Künstlerkreisen und besuchten Lokale in der Homo-Szene. "El Recio"13 erarbeitete dort eine Theorie zur Erklärung des Transvestismus, derzufolge der menschliche Transvestismus mit der Mimikry im Tierreich verglichen werden kann und folgende Funktionen besitzt: (1) die Metamorphose als Übertreffung des Modells ("ser cada vez más mujer, hasta sobrepasar el límite, yendo más allá de la mujer", 50); (2) die Camouflage als Form des Verschwindens ("tachadura del macho mismo en el clan agresivo, en la horda brutal de los machos", 50) und (3) die Verkleidung als Abschreckung ("paralizan o aterran, como ocurre con ciertos animales que utilizan su apariencia para defenderse o para cazar"; 50). Unter diesen Möglichkeiten erscheint Conde die Camouflage am wichtigsten für die Erklärung menschlichen Transvestismus: […] el problema creía entender el Conde, no era ser, sino parecer; no era el acto, sino la representación; ni siquiera era el fin, sino el medio como su propio fin: la máscara por el placer de la máscara, el ocultamiento como verdad suprema. Por eso le pareció lógica la identificación del travestimiento humano y del camuflaje animal, no ya para cazar o para defenderse, sino para ejecutar uno de los sueños eternamente perseguidos por el hombre: la desaparición (73f.).
Die Subjekte konstruieren sich nach dieser Theorie durch ihren "Schein" und nicht ihr "Sein". Die Repräsentation selbst wird zur eigentlichen Identität, zur "verdad suprema", hinter der die ontologische, aber nicht greifbare Essenz verschwindet. Alexis wollte "verschwinden", also im übertragenen Sinn sterben, schlussfolgert Conde. Anders ausgedrückt setzte er das Kostüm ähnlich ein wie eine harmlose Fliege, die die Farben einer Wespe mimt und damit signalisiert: "Ich bin giftig". "Giftig" scheint in der kubanischen Gesellschaft auch der Transvestit und Ho-
12 Ich verwende Genettes komplizierte Unterscheidung der narrativen Ebenen in einer vereinfachten, meiner Ansicht nach operativeren Form: Die Rahmen- bzw. die Haupthandlung bezeichne ich als (extra)diegetisch, Binnenhandlungen als intradiegetisch und Binnenbinnenhandlungen als metadiegetisch. Genette nennt die Binnenhandlung bereits metadiegetisch, weil er für den Erzählakt als solchen eine eigene (extradiegetische) Ebene ansetzt (vgl. dazu Genette 1998: 163-167). 13 Wilkinson weist darauf hin, dass sich in der Figur des "Recio" wahrscheinlich eine Anspielung auf Severo Sarduy (Wilkinson 2006: 236) verbirgt, da die Wortbedeutungen von "recio" und "severo" nahe beieinander liegen. Sarduy lebte ab 1960 in Paris, wo er 1993 an AIDS starb. Seine biografischen Daten passen zu den Angaben im Roman. Marqués weiß, dass "el Recio" schwer krank ist: "Dicen que le quedan unos meses…" (229).
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mosexuelle, der seine "Perversion" offen zur Schau stellt. Die Frauenkleider des Transvestiten können daher Aggressionen auslösen und gewalttätige Übergriffe heraufbeschwören. Durch solche Überlegungen kommt Conde abermals zu dem Schluss, dass Alexis seinen Tod gewollt haben muss. Der Fortgang der Paris-Episode liefert zwar keine neuen Bausteine für die Lösung des Kriminalfalls, vertieft aber die Thematik der Homosexualität und ihrer Verfolgung auf Kuba ("la larga historia nacional de homofobia que hemos vivido entre las cuatro paredes de esta isla", 163). Marqués erzählt, dass er und seine Freunde Kontakt zu verschiedenen Künstlern pflegten, unter anderem zu Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Dieser Kontakt verschärfte später Marqués’ prekäre Lage auf Kuba, da Sartre dort seit seiner Fürsprache für Heberto Padilla eine persona non grata darstellte (Wilkinson 2006: 225).14 In Paris diskutiert Marqués mit Sartre seine Idee, Electra Garrigó von Virgilio Piñera zu inszenieren.15 Hier taucht das Motiv der Maske erneut auf. In Anlehnung an die Transvestismus-Theorie des "Recio" plant Marqués, den Schauspielern griechische Masken "con caras muy habaneras" aufzusetzen, "tratando de que la máscara los mostrara y no los ocultara, que los revelara interiormente" (165).16 Die Maske soll durch ihre besondere Art der Expressivität eher in der Lage sein, die Essenz des Subjekts zum Vorschein zu bringen, als das unmaskierte Gesicht. Beide verschmelzen zu einem unauflöslichen Konstrukt, das in einem spezifischen gesell-
14 Zu Sartres Einsatz für Homosexuelle sowie seinem Verhältnis zu Kuba siehe ausführlich Betschart (2007). 15 Virgilio Piñera (1912-1979) gilt als Erneuerer des kubanischen Theaters während der BatistaDiktatur. Electra Garrigó war nicht sein erstes Stück (zuvor hatte er Clamor en el penal geschrieben), aber das erste, das tatsächlich aufgeführt wurde. Verfasst hat es Piñera 1941, uraufgeführt wurde es 1948. Es handelt sich um eine Mischung aus einer Tragödie und Komödie, durch die die antike Vorlage parodiert wird (Leal 1989: VII). Piñera transferiert den Stoff aus der griechischen Mythologie in ein kubanisches Setting, das im ersten Akt als "Portal con seis columnas que sigue la línea de las antiguas casas coloniales" beschrieben wird (Piñera 1989: 4). Die Handlung transformiert er dahingehend, dass die Befreiung der Kinder (Electra und Orestes) von den Eltern (Agamenón und Clitemnestra) im Vordergrund steht. Electra stiftet Clitemnestra und Egisto zum Mord an Agamenón an und anschließend Orestes zum Mord an Clitemnestra. Die Elterngeneration steht dabei für die traditionelle kubanische Gesellschaft, die Piñera mit diesem Stück kritisiert. 16 Piñera gibt Anweisungen für das Tragen von griechischen Kostümen, jedoch nicht explizit für das Tragen von Masken, wie es in der griechischen Tragödie üblich war. Der Autor sah beispielsweise vor, dass Agamenón im zweiten Akt mit "el traje y el casco de un jefe griego" auftritt (Piñera 1989: 19). Marqués Inszenierungsidee knüpft aber an eine Interpretation von Piñeras Stücken an, die unter anderem der Herausgeber seines Teatro completo, Rine Leal, formuliert. Er hebt hervor, dass ein Wesenszug von Piñeras Werken darin besteht, dass die Kommunikation zwischen den Figuren scheitert, und kommt zu folgendem Schluss: "Tal vez esta incomunicación se acentúe por ese juego de personalidades […], por ese intercambio de máscaras que fluye en su teatro, y que a veces toman el lugar del rostro verdadero. Desde Electra... a sus últimas obras, sus personajes parecen por momentos desdoblarse en su doble que lo niega" (Leal 1989: XIII).
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schaftlichen Kontext diskursiv geformt wird.17 Sartre, der den prekären Status der Meinungsfreiheit im Kuba des Jahrs 1969 kennt, versucht Marqués vor einer solchen Inszenierung zu warnen: ¿No es demasiado complejo lo que te propones?, empezó por preguntar, para decirme que tuviera cuidado con las revelaciones, pues siempre proponen diversas lecturas y esa diversidad podía ser peligrosa para mí […]: ya había oído decir a ciertos burócratas insulares que el arte en Cuba debía ser otra cosa y esa otra cosa no se parecía a mi Electra Garrigó y su disyuntiva de ser y no ser (166).
Nicht nur deutlich regimekritische Kunst wurde auf Kuba Opfer der Zensur, als suspekt galt schon eine zu große Offenheit für Interpretationen. Polyvalenz und Ambiguität schaffen, ähnlich wie Homosexualität, einen Raum für das "Andere", das nicht den Parametern der Revolution entspricht und potenziell subversiv gegen den offiziellen politischideologischen Diskurs wirkt. Hans Mayer hat dies in seiner literaturwissenschaftlichen Untersuchung Außenseiter (1975) anhand zahlreicher Beispiele gezeigt. Homosexuelle zählt er zusammen mit Frauen und Juden zu den "existentiellen Außenseitern", die aufgrund ihrer psychischen Veranlagung, ihrer Körperlichkeit oder ihrer Herkunft nicht der Norm entsprechen (im Gegensatz zu "intentionellen Außenseitern"). Für ihn ist die bürgerliche Aufklärung am verfehlten Umgang mit den "existentiellen Außenseitern" gescheitert: "Die Gleichheitsforderung mit der pathetischen Berufung auf alles, was Menschenantlitz trage, bleibt so lange widerspruchsvoll, wenn nicht unaufgeklärt, wie sie von einer scheinbaren Regelmäßigkeit des Menschlichen auszugehen sucht" (Mayer 1981 [1975]: 13). Die Gesellschaft müsse sich daher erst noch vor ihren "Monstren" bewähren, indem sie ihnen ihre Humanität zeigt und ihnen Lebensrecht und Würde zugesteht (ebd.: 11 u. 27). Dies gelang dem Sozialismus ebenso wenig wie anderen Gesellschaftsformen.18 Der "Otro Muchacho" wird schließlich in Paris verhaftet, weil er auf der Straße mit einem Transvestiten Aufsehen erregt hat, und zurück nach Kuba geschickt, wo er eine Erklärung für sein Verhalten abgeben muss. Unter diesem Druck der Repression outet er nicht nur seine Reisebegleiter als Homosexuelle, sondern gesteht auch, dass sie mit Personen "que mantenían actitudes críticas" (224) verkehren. Beides zusammen führt dazu, dass Marqués aus dem Theaterwesen ausgeschlossen wird und 17 Ähnlich wie Piñera, der in Electra Garrigó den kubanischen Staat der 1940er ironisch kritisiert, kann laut Wilkinson Paduras Roman als Kritik des Kuba der späten 1980er und frühen 1990er gelesen werden. Das wiederkehrende Motiv der Maske zeigt in dieser Parallelisierung, dass das Verhalten der Menschen sowohl vor als auch nach der Revolution ein Spiel des Scheins ist (Wilkinson 2006: 218f.). 18 Über Kuba resümiert Mayer in einem Satz: "Die Legislation und Propaganda Fidel Castros gegen Homosexuelle als Agenten des amerikanischen Imperialismus ist bekannt" (ebd.: 463, kursiv im Org.).
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Electra Garrigó nicht inszenieren kann. Anders als der Dramaturg setzt sich "el Otro Muchacho" eine Maske auf, indem er sich dem Diskurs des Castro-Regimes beugt und theaterkritische Essays schreibt, in denen er Marqués unerwähnt lässt und ihn somit aus dem kulturellen Diskurs ausschließt. Die Begründungen für Marqués’ Verweis vom Theater zitiert Padura fast wörtlich aus der Erklärung des Primer Congreso Nacional de Educación y Cultura von 1971, wie Wilkinson nachgewiesen hat (Wilkinson 2006: 239). Darin wird Homosexualität als "patología social" (zitiert nach Wilkinson 2006: 239) gewertet, weswegen Homosexuelle keinen Anteil an der Erziehung der Jugend haben und nicht künstlerisch aktiv sein durften. Häufig stieß man sie aus dem Schriftsteller- oder Journalistenverband beziehungsweise aus dem Theater aus, wodurch ihnen ihre Arbeit erschwert bis unmöglich gemacht wurde. Diese Erklärung steht am Beginn des quinquenio gris, während dem Homosexuelle und insbesondere homosexuelle Künstler wie Reinaldo Arenas, José Lezama Lima oder Virgilio Piñera Opfer von Verfolgung, Diskriminierung und Zensur wurden.19 Padura kritisiert diese Phase der kubanischen Geschichte, indem er an der Figur des Alberto Marqués stellvertretend das Schicksal vieler kubanischer Intellektueller nachzeichnet, die Opfer der Parametrisierung wurden. Marqués, der fortan in einer Bibliothek arbeiten muss, bleibt auch nach dem quinquenio gris stumm und zieht sich ins innere Exil zurück. Damit zeigt er, dass die erfahrene Demütigung nicht vergessen und wortlos verziehen werden kann. Für Mario Conde stellt der Kontakt zu dem homosexuellen Intellektuellen eine neue Erfahrung dar, die ihn auf einer persönlichen Ebene immer tiefer in den Fall involviert und die er als "[…] aquella manía tan poco profesional de empezar a sentirse implicado" (94) beschreibt. Anfangs spricht er nicht gern mit dem Dramaturgen, da er Vorurteile gegenüber Homosexuellen hegt: "[…] no quería establecer ningún tipo de relación con aquel personaje" (51). Durch die interne Fokalisierung Mario Condes zeigt Padura, wie weit das Kuba der 1990er Jahre noch davon entfernt ist, Homosexualität als Normalität anzuerkennen, auch wenn sie im öffentlichen Diskurs seit 1976 nicht mehr angeprangert wird. Zur Darstellung von Condes Lernprozess verwendet Padura wie19 Die bekanntesten der von den Restriktionen betroffenen Intellektuellen sind neben den genannten Pablo Armando Fernández, Jesús Díaz, Antón Arrufat, Norberto Fuentes, Miguel Barnet und Eduardo Heras León. Im Bereich des Theaters wurde besonders streng vorgegangen (Padura 2000: 151). Für die "Säuberung" der Theaterszene war Armando Quesada verantwortlich. Er schloss das Teatro Guiñol in Havanna und ließ Marionetten verbrennen (El País, 13.01.2007). In den 1960er Jahren waren die Zwangsarbeiterlager, Unidades Militares de Ayuda a la Producción (UMAP), das staatliche Mittel zur ideologischen Säuberung. Die Lager wurden jedoch aufgrund großer Proteste 1968 geschlossen, weswegen der fiktive Marqués, der erst 1969 durch den "Otro Muchacho" geoutet wurde, davon nicht mehr betroffen ist. Im August 2010 nahm Fidel Castro in einem Interview mit der mexikanischen Zeitung La Jornada die Verantwortung für die Verfolgung der Homosexuellen in Kuba auf sich (La Jornada, 13.08.2010).
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der die Erinnerungstechnik: Dem Ermittler fällt seine erste Begegnung mit einem Homosexuellen in seiner Jugend wieder ein. Einer seiner Mitschüler, Luisito, wurde von zwei Jugendlichen aus seinem Stadtviertel erst verspottet und mit Steinen beworfen und dann sexuell missbraucht. Conde erkennt jetzt, wie heuchlerisch und irrational das Rollenverständnis der kubanischen Männer ist, die versuchen, ihre Männlichkeit durch Vergewaltigungen gleichgeschlechtlicher Partner unter Beweis zu stellen, aber in Wirklichkeit mit ihren Opfern auch Zärtlichkeiten austauschen: "[…] la relación con Luisito había sido aceptado como una prueba de hombría alcanzada a punta de pene… Luisito sí; ellos no; como si la homosexualidad sólo se definiera por una aceptación de la carne ajena similar a la recepción femenina" (75f.). Im Zuge der Gespräche mit Marqués verspürt Conde immer mehr Respekt und sogar Bewunderung für den Intellektuellen, stellt sich dieser doch zunehmend als ein äußerst wortgewandter und anregender Gesprächspartner heraus: "Y tú sabes que yo no resisto a los maricones… Pero este tipo es distinto… El muy cabrón me ha puesto a pensar…" (58). Da seine Bewunderung für Marqués nichts mit dessen sexueller Orientierung zu tun hat, wird deutlich, dass Conde langsam den Menschen hinter der Rolle zu sehen beginnt, welche als diskursives Konstrukt einer homophoben Gesellschaft entlarvt wird: "[…] empezaba a atraerlo del modo que él prefería: como un desafío inteligente a su abulia y sus prejuicios" (72).20 In einer weiteren Analepse, die nicht in direkter Verbindung zur Ermittlungsarbeit steht, erinnert sich Conde an das Jahr 1971. Die Welle der Zensur, derentwegen Marqués Electra Garrigó nicht inszenieren konnte, bekam Conde in kleinerem Maßstab als 16-Jähriger auf der Oberschule (la Pre) zu spüren, als er eine Erzählung in der Schülerzeitung veröffentlichen wollte. Die Zeitung wurde vom Direktor eingezogen, bevor sie gedruckt werden konnte, da sie "relatos idealistas, poemas evasivos, críticas inadmisibles, historias ajenas a las necesidades actuales del país" (66) enthalten habe. Obwohl dieses Ereignis nicht Condes Existenz bedrohte, wie im Falle von Marqués, kann er den Rückschlag für seine literarischen Ambitionen nicht vergessen: "Cada vez que lo recuerda, el Conde recupera una vergüenza lejana pero imborrable […]: siente un
20 Sara Rosell beurteilt die Beziehung zwischen Conde und Marqués negativer. Obwohl der Dialog zwischen beiden als Versöhnungsdiskurs angelegt sei, dominiere am Ende die Darstellung des heterosexuellen Mannes innerhalb der revolutionären Ideologie (Rosell 2001: 43). Für Rosell repräsentiert Mario Conde den "hombre nuevo" des Regimes, der sich den homosexuellen Intellektuellen als Lehrmeister nimmt und so seinen Charakter durch kulturelles Wissen abrundet. Da Marqués am Ende Condes Begegnung mit dem Mädchen Poly ermöglicht, fungiere der Homosexuelle in letzter Konsequenz als Mittel, die Heterosexualität des Polizisten zu affirmieren. So rehabilitiere der Roman zwar die von der Zensur betroffenen homosexuellen Intellektuellen in ihrer Bedeutung für das kulturelle Leben, jedoch nicht in ihrer gesellschaftlichen Rolle als homosexuelle Männer (ebd.: 48).
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sopor maligno, unos deseos asfixiantes de gritar" (66). Die Analepsentechnik parallelisiert Condes und Marqués’ Erfahrungen und macht macho und maricón zu Leidensgenossen desselben gesellschaftspolitischen Kontexts, was die Vorurteile des macho verringert: "La mariconería de Alberto Marqués empezaba a preocuparle menos" (67). Der Teniente verarbeitet durch den Kontakt mit Marqués seine eigene Vergangenheit und fasst schließlich den Mut, seine literarischen Ambitionen wiederzubeleben und eine neue Erzählung zu verfassen. Anstatt die Ermittlung zügig voranzutreiben, interessiert er sich immer mehr dafür, hinter Marqués’ Maske zu blicken: "… quizá también era cierto que el caso había dejado de interesarle y en verdad sólo lo movía una curiosidad morbosa por meterse más en el mundo de Alberto Marqués" (160). Hinter diesem Interesse steht in letzter Konsequenz der Wunsch, sich selbst besser zu verstehen, das heißt die Frage zu klären, warum er damals nicht Schriftsteller, sondern Polizist geworden ist. Schließlich demaskiert sich Conde selbst vor Marqués und gewährt ihm Einblicke in seinen Schmerz über seine gescheiterte Schriftstellerkarriere. Es wurde deutlich, wie tief sich Padura mit der Aufarbeitung einzelner Aspekte der kubanischen Geschichte und Gegenwart auseinandersetzt und wie weit er sich dabei streckenweise vom Kriminalfall entfernt. Dennoch gelingt ihm immer wieder eine geschickte Verzahnung von Gesellschaftskritik und Fall, worauf im Folgenden noch näher einzugehen ist. Marqués gibt Details über seinen erzwungenen Ausschluss aus den Künstlerkreisen 1971 preis und eröffnet damit über das Motiv der Angst wieder eine Parallele zur Verklärung Jesu und damit zum Kriminalfall von 1989. Die staatlichen Vertreter riefen Marqués’ Schauspieler zu einer Versammlung im Theater ein, um sie über den Verweis ihres Dramaturgen abstimmen zu lassen. Nur zwei trauten sich, den Saal zu verlassen und damit zu zeigen, dass sie mit dem Vorgehen nicht einverstanden waren, "los dos que vencieron su propio miedo y se levantaron" (109). Sie taten das, was Jesus seinen Aposteln befiehlt: "Levantaos, no tengáis miedo" (85). Die Angst der Apostel vor der Epiphanie des Gottvaters spiegelt sich einerseits in Alexis’ Angst vor seinem Vater und der homophoben Gesellschaft wider, andererseits aber auch in der Angst der Intellektuellen vor Vater Staat. Der Machtdiskurs des Regimes wird mit dem Machtdiskurs der katholischen Kirche in diesem Punkt auf eine Ebene gestellt. Beide verurteilen Homosexualität und tun dem Individuum Gewalt an, indem sie es in die Kategorie des Pathologischen oder Sündhaften schieben. Padura gelingt es somit, die psychische Verfasstheit der Figuren in einem spezifisch kubanischen Kontext einzufangen, in dem sich diese Diskurse überlagern. Condes Hypothesen über den Zusammenhang zwischen der Verklärung Jesu und dem Transvestismus stellen keine kriminalistisch verwertbaren 139
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Beweise dar. Auf der anderen Seite verhärtet sich aber der Verdacht gegen den Maler Salvador K aufgrund von Indizien (der Mörder und Salvador K haben die seltene Blutgruppe AB). Jedoch verlässt Salvador K Havanna und taucht erst wieder auf, als Condes Verdacht bereits auf Faustino Arayán gefallen ist. Nach seiner Rückkehr entscheidet sich der Maler aus eigener Kraft dazu, seine Maske abzunehmen und seine Homosexualität mit einem Transvestiten offen auszuleben, was für ihn einen Akt der Befreiung darstellt: "Dice que el tipo parecía de lo más feliz de haberse vuelto maricón de capa y espada" (203). Er wagt diesen Schritt 1989, also erst zu einem Zeitpunkt, als die staatliche Repression Homosexueller aufgehört hat und das Vorurteil in den Köpfen der Menschen langsam aufbricht (wie bei Conde). Den Vater des Opfers verdächtigt der Teniente erst, als die Ermittlung aus Mangel an Beweisen ins Stocken gerät. Da im kubanischen Kriminalroman der 1970er und 1980er Jahre die ehemaligen Kämpfer der Revolution sowie Vertreter des Castro-Regimes nicht zu den Verdächtigen gehören durften, durchbricht Padura hier den spezifischen Erwartungshorizont der kubanischen Leser.21 Im Übrigen scheint es in einer Gesellschaft, in der der Familienzusammenhalt einen traditionell hohen Stellenwert besitzt, doppelt schwer vorstellbar, dass ein Vater seinen Sohn ermordet ("pero es su padre!", 173), wohingegen in der Pseudonorm die Täter oft aus dem engsten Familienkreis stammen. Ein erster Verdacht fällt auf Arayán, als Conde untersucht, wie der Anhänger von Alexis’ Halskette, den die Hausangestellte María Antonia gefunden hat, in sein Elternhaus gelangen konnte, obwohl Alexis seit einiger Zeit nicht mehr dort gewohnt hat. In Hinblick auf dieses Indiz formuliert Conde eine weitere Frage: d) Wer konnte den Anhänger ("la medalla") in die Schatulle im Haus der Eltern des Opfers legen? ("A ver, ¿quién pudo ponerla allí", 173). Da die Mutter diejenige ist, die Conde offen und ehrlich über die Bedeutung des Anhängers für Alexis informiert, schlussfolgert der Teniente, dass nur der Vater ihn in die Schatulle gelegt haben kann. Schließlich erhärtet ein Zigarrenstummel vom Tatort den Verdacht. Die verschmutzte Hose Faustinos und die daran klebenden Textilreste von Alexis’ Kleid führen schließlich zur Verhaftung Arayáns. Es verbleibt noch die Klärung des Mordmotivs. Conde, der überzeugt ist, dass Alexis seinen Tod heraufbeschworen hat, fragt sich diesbezüglich: e) "[¿…] qué le había dicho Alexis a su padre, qué palabras capaces de provocar su ira homicida […]?" (212). Aber der Ermittler glaubt nicht daran, dass die vollständige Wahrheit ans Tageslicht gefördert werden
21 Da die Theorie des Sozialismus Verbrechen innerhalb des Sozialismus ausschloss, konnten die Vertreter des Staates in den Romanen keine Täter sein und so schrieben es auch die Wettbewerbsregeln des MININT vor (mehr dazu Kapitel 2.4.3).
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kann: "[…] sabía que aquella verdad se había perdido para siempre con los miedos, los odios y la vida misma de aquel travesti ocasional" (212). Die Angst vor der Machtinstanz (Staat, Gott oder Vater), die die Menschen zum Tragen von Masken veranlasst, führt also letztlich dazu, dass die Wahrheit für immer verborgen bleibt. Als offizielles Motiv geht in die Akten ein, dass Alexis seinen Vater beschimpft und dieser ihn aufgrund seiner Homophobie ermordet hat. Nachdem Arayán sein Geständnis abgelegt hat, sind scheinbar alle verbleibenden Fragen gelöst: b) "¿Por qué el asesino no lo tiró al agua?" (36). "Dice que pasó una moto y se asustó" (216). c) "¿Para qué le metió las monedas en el ano?" (58). "Dice que tuvo miedo y de pronto se le ocurrió eso para despistar y se creyera que había sido cosa de homosexuales" (216). d) "A ver, ¿quién pudo ponerla [la medalla] allí" (173). "Dice que él pensó que tal vez nadie identificaría a Alexis, y por eso le quitó la medalla" (216). e) "[¿…] qué le había dicho Alexis a su padre, qué palabras capaces de provocar su ira homicida […]?" (212). "[…] le dijo que lo odiaba, que lo despreciaba, que era un oportunista y un hipócrita, y de pronto se lanzó para golpearle la cara" (215). Nach der Pseudonorm müsste der Roman hier enden. Mario Condes Neugier ist jedoch noch nicht befriedigt. Er hat das Gefühl, dass es einen anderen Hintergrund für die Tat gibt, da ihn die Antworten auf die Fragen c) und e) nicht überzeugen. Anders als pseudonormative Ermittler sieht er seine Aufgabe nicht nur als Arbeit an, nach deren Erfüllung eine weitere Reflexion nicht mehr nötig ist. Seine Anstrengungen, die letzten Gründe für den Mord zu verstehen, sind das eigentliche Kernstück seiner Ermittlungsarbeit, da sie dem Fall eine gesellschaftskritische und psychologische Dimension verleihen. Wie der Autor selbst sagt, interessiert er sich nicht für "quién mató a quién, sino […] por qué alguien mató a otro" (Wieser 2010 [2004]: 151). Folgerichtig rückt nun die Festnahme des Mörders und seine Übergabe an die Justiz in den Hintergrund. Conde ist dabei nicht zugegen, genauso wenig wie bei Faustinos Geständnis, von dem ihm sein Vorgesetzter im Nachhinein berichtet. Dadurch entzieht der Roman dem Leser die Möglichkeit, sich ein simplizistisches Bild von der Bestrafung des "Bösen" zu machen und seine unmittelbaren Affekte damit zu befriedigen. Eine solche Einlösung der Erwartungen würde auch dazu führen, dass die anderen Themen des Romans aufgrund des Wohlgefühls der Abgeschlossenheit schnell wieder vergessen werden. 141
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Nach der Verhaftung Arayáns besucht Conde Marqués noch einmal außerhalb seiner dienstlichen Pflichten und erhält die noch fehlenden Informationen. Nach Marqués’ These wusste Alexis, dass sein Vater Dokumente gefälscht hat, mit denen er sich als Widerstandskämpfer gegen Batista ausgab. Alexis habe seinem Vater wahrscheinlich damit gedroht, den Betrug anzuzeigen, weswegen dieser wütend wurde und ihn umbrachte. Auch der Mörder handelte also in letzter Konsequenz aus Angst vor dem Staat. Diese "Wahrheit" kann jedoch im Kuba Castros nicht bewiesen werden, da der Täter eine solche Aussage unter keinen Umständen offiziell zu Protokoll geben würde, damit seine Maske unbeschädigt bleibt. Die zwei Münzen im After des Opfers werden vor diesem Hintergrund als makabres Bestechungsgeld des Vaters an den Sohn für sein Schweigen interpretierbar. Marqués zeigt Conde am Ende seine Werke, die er seit seinem Verweis aus dem Theater im Geheimen geschrieben hat. Er setzt damit die Maske desjenigen ab, der der Literatur aufgrund der Repression abgeschworen hat. Obwohl er durch das lange Tragen seiner Maske sein eigenes Gesicht nicht mehr von der Maske unterscheiden kann ("Y asumí mi papel de fantasma vivo, actuando con máscara y todo, tanto tiempo, que ya usted lo ve: una máscara blanca es ahora mi propio rostro", 225), glaubt er noch daran, irgendwann, vielleicht erst posthum, dem offiziellen Diskurs Paroli bieten zu können: "Estas dos carpetas son mi mejor venganza" (226). Schlussfolgerungen Zur abschließenden Beantwortung der Frage nach der Ermittlungsmethode kann festgehalten werden, dass Conde grundsätzlich innerhalb eines auf Empirie basierenden Systems handelt. Als Polizist ist er verpflichtet, genügend Indizien und Beweise für die Festnahme des Verbrechers zu sammeln und sich an Vorschriften zu halten, die er zeitweise missachtet (wie seine US-amerikanischen Kollegen auch). Insofern erfüllt der Roman die Pseudonorm. Jedoch übersteigt Condes Ermittlungsmethode die forensische Spurensicherung und anschließende Zeugenbefragung bei Weitem. Sein Erfolg als Ermittler gründet auf seiner Gabe, kontextspezifisches Erfahrungswissen nutzbar zu machen. Er bezieht private, kulturelle und geschichtliche Aspekte des realen Umfelds über seine eigene Erfahrungswelt assoziativ in die Fälle ein, da er vom Wunsch getrieben wird, seine Welt und seine Generation besser zu verstehen. Nur durch eine gefühlsmäßige Anteilnahme am Schicksal der Personen und sein Einfühlungsvermögen gelingt es ihm letztendlich, die Indizien richtig zu deuten und die Fälle zu lösen. Dabei zeigt Padura 142
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von Roman zu Roman ein anderes Segment der kubanischen Wirklichkeit. Der politische Kontext behindert die Ermittlungsarbeit in zweifacher Hinsicht. Erstens erschwert er Condes Arbeit dadurch, dass der diskriminierende und homophobe staatliche Diskurs viele Akteure zwingt, Masken zu tragen, um sich vor ihm zu schützen, so dass ihr Verhalten nur mit Mühe richtig gedeutet werden kann. Der Schutzmechanismus der Maske verhindert letztendlich auch, dass das wahre Mordmotiv in die Akten eingeht. Überdies beeinflusst der offizielle Diskurs auch Condes Wahrnehmung, indem er bestimmte Segmente der Gesellschaft als besonders vertrauenswürdig und andere als besonders suspekt klassifiziert. Condes Verdacht fällt daher erst spät auf den Täter. Dieser wird zwar wie in der Pseudonorm des Genres am Ende der Justiz übergeben, zu einem Showdown kommt es aber nicht. Diesbezüglich enttäuschen Paduras Romane die von der Pseudonorm generierten Erwartungen. Aber in der nachträglichen Reflexion Condes über den Fall liegt unter anderem die Differenzqualität des Romans. Dadurch sowie durch die zahlreichen Rückblenden in die Erinnerungen der Figuren verwirklicht Padura sein Konzept der "utilización del género". Er nimmt den Kriminalfall zum Anlass, politische und gesellschaftliche Diskurse, die nicht in unmittelbarem Bezug zum Fall stehen, in den Roman einzuarbeiten. Da sie nicht immer in funktionaler Verbindung zur Ermittlungsarbeit stehen, wirken sie retardierend und verringern die Rätselspannung. Aber es gelingt Padura an einigen Stellen, Verbindungen zwischen den Erinnerungen und dem Fall zu knüpfen, wie bei der TransvestismusTheorie des "Recio" und dem Motiv der Angst. Gewalt und Verbrechen werden in Paduras Romanen in ihrer gesellschaftlichen Dimension dargestellt. Das offizielle Mordmotiv Faustino Arayáns (Homophobie) wird nicht als Verfehlung eines Einzelnen fokussiert, sondern als eine vom politischen Diskurs angeschürte Denkweise der ganzen Gesellschaft. Auch das inoffizielle, wahre Mordmotiv (die Angst vor der Demaskierung) ist ohne den kubanischen Kontext nicht verstehbar, da der Betrug Arayáns eine Reaktion auf einen politischen Diskurs darstellt, der nur solchen Menschen eine Karriere ermöglicht, die mit ihm konform gehen. Der Eindruck, das Verbrechen könne teleologisch getilgt werden, entsteht daher nur bei einer oberflächlichen Lektüre. Erkennbar wird letztendlich, dass es ein integraler Bestandteil des Systems ist. Hinsichtlich der Darstellungsweise von physischer Gewalt ist festzuhalten, dass derartige Szenen in Paduras Romanen kaum vorkommen. Beschrieben wird lediglich das Resultat der Gewaltanwendung, das heißt die Leiche (wie hier die von Alexis Arayán), wobei die Darstellung durch den technischen Blick des Ermittlers erfolgt und keine morbide (pseudonormative) Effekthascherei erlaubt. 143
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Durch die Figur des Faustino Arayán löst Leonardo Padura sein Projekt ein, Verbrechen innerhalb der Revolutionärsriege zu entlarven, bei Menschen, denen der Staat vollstes Vertrauen schenkt. Dazu Padura im Interview: Traté de mover el mundo del delito hacia otro sector de la sociedad. Es el sector de estos intachables, de estos perfectos que generalmente, cuando cometen un delito, lo cometen en unas proporciones mayores porque afectan a muchas personas. Mi intención desde el principio fue convertir estas novelas en una visión diferente de la realidad cubana a la que había dado la novela policíaca anterior (Wieser 2010 [2004]: 163).
In Máscaras kritisiert und bedauert Padura die Entwicklung der früheren Revolutionäre, ohne dabei so weit zu gehen, die Revolution oder das Regime an sich in Frage zu stellen. Er lenkt den Blick lediglich auf einige Prozesse, mit denen die Revolution den Menschen und letztendlich auch ihrem eigenen Ansehen im In- und Ausland geschadet hat. Der Versuch in den 1970er Jahren, alle Kubaner zu "parametrisieren", machte aus der kubanischen Gesellschaft eine Art angsterfüllten Maskenball, da viele Menschen, vor allem die "existentiellen Außenseiter", gezwungen wurden, sich nach außen anders zu geben als es ihren Neigungen entsprach. Aus Angst vor repressiven Maßnahmen simulieren sie auch nach der Lockerung der Repression ihre Identität weiterhin. Der Roman deutet außerdem an, dass sich der Staat durch seine homogenisierenden Bemühungen selbst übervorteilt, da sich in seinen eigenen Reihen ehrgeizige Opportunisten tummeln, die erkennen, dass sie die Regierungsinstitutionen betrügen müssen, um Karriere machen zu können. Zudem generiert er verbitterte Intellektuelle wie Marqués, die nach außen hin stillschweigen, im inneren Exil aber ihre Demütigung und Marginalisierung in subversive Literatur verwandeln und wie Zeitbomben ticken. Die Subjekte bewegen sich durch das Tragen von Masken im in between der Diskurse, so dass die Staatsmacht ihrer nie ganz habhaft werden kann. Die schwarz-weiß-malerische Darstellung von "guten" Revolutionären und "bösen" CIA-Agenten oder Exilanten ist einer innerkubanischen Enttäuschung über die Umsetzung und Fortführung der Revolution gewichen; ein Kuba, in dem die Positionen von "gut" und "böse" nicht unterscheidbar sind, da Masken als Effekt der Macht undurchsichtige Subjekte konstruieren.
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4.2. Globalisierung: Roberto Ampuero: Cita en el Azul Profundo (Chile, 2001) Der Autor: Roberto Ampuero Roberto Ampuero Espinoza wurde 1953 in Valparaíso geboren, wo er das Colegio Alemán besuchte. Als es 1973 zum Militärputsch kam, studierte er an der Universidad de Chile Literaturwissenschaft und Anthropologie und war Mitglied der Juventud Comunista. Durch ein Journalistikstipendium für die Karl-Marx-Universität Leipzig konnte er noch im selben Jahr das Land verlassen. In der DDR lernte er seine erste Frau kennen, eine Kubanerin, mit der er 1974 nach Kuba zog. Die Jahre auf der Karibikinsel stellten für seine politische Bildung ein Schlüsselerlebnis dar, da er dort erlebte, dass linke Regimes ebenso repressiv sein können wie rechte: En realidad, y esa es mi convicción, da lo mismo quien tenga el poder en una dictadura, para el individuo da lo mismo. Da lo mismo si el que te interroga y te juzga y te tortura fue formado en la Escuela de las Américas en Panamá por Estados Unidos o fue formado quizás por el KGB en Moscú o la Stasi de la RDA, da lo mismo. No importa si es de izquierda o de derecha lo que te oprime, pero hay que tomar partido por el individuo que es impotente frente a ese Estado y frente a sus policías. Eso es lo que trasciende en mis novelas, esa convicción profunda mía de que las dictaduras al final no tienen adjetivo. Son dictaduras simplemente. Pueden ser de izquierda o de derecha porque siempre tienen una razón para justificar su existencia (Wieser 2010 [2009]: 139f.).
Aufgrund dieser Einsichten, trat Ampuero 1976 aus der Juventud Comunista aus (Marún 2006: 9). 1979 kehrte er in die DDR zurück und besuchte dort die Jugendhochschule Wilhelm Pieck, eine Bildungsstätte der FDJ bei Bernau, um Marxismus-Leninismus zu studieren. 1982 zog er in die BRD um und arbeitete bis 1993 in Bonn als Journalist für die italienische Agentur IPS und als Redakteur und später Herausgeber der Zeitschrift Desarrollo y Cooperación. In dieser Zeit erschienen seine ersten beiden Bücher zunächst in deutscher Übersetzung: der Erzählband Ein Känguruh in Bernau (1984) und der Jugendroman Der Pfirsichkrieg (1985).1 1993 kehrte der Autor nach Chile zurück, publizierte seinen ersten Kriminalroman mit dem Privatdetektiv Cayetano Brulé, ¿Quién mató a Cristián Kustermann? (1993), und erhielt dafür den Premio revista de libros de El Mercurio. Seitdem avancierte die Cayetano-Brulé-Reihe zu einem gro-
1 Beide Titel wurden erst Jahre später auf Spanisch veröffentlicht: El hombre golondrina (1997) und La guerra de los duraznos (2001).
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ßen Publikumserfolg.2 Es folgten Boleros en La Habana (1994) und El alemán de Atacama (1996). Außerdem erarbeitete Ampuero während dieser Jahre das Drehbuch für die erste chilenische Krimifernsehserie, Brigada Escorpión.3 Von 1997 bis 2000 lebte er in Stockholm und schrieb den semiautobiografischen Roman Nuestros años verde olivo (1999), in dem er seine Erfahrungen mit Kuba verarbeitet. 2000 zog er nach Iowa-City, um an der Universität Literaturwissenschaft und creative writing zu unterrichten. Dort setzte er die Brulé-Reihe mit Cita en el Azul Profundo (2001), Halcones de la noche (2004) und El caso Neruda (2008) fort, schrieb aber auch andere Romane, die auf der einen Seite die Struktur der Ermittlung von Kriminalromanen verwenden, sich aber mehr auf die Darstellung moderner Partnerschaften und deren Intimsphäre konzentrieren (Los amantes de Estocolmo, 2003, Pasiones griegas, 2006, und La otra mujer, 2010).4 Der Serienheld: Cayetano Brulé5 Ampueros Serienheld, der Privatdetektiv Cayetano Brulé, ist der Protagonist von bisher sechs Romanen. Seine Biografie ähnelt der seines Schöpfers, insofern er in denselben Ländern gelebt hat. Geboren wurde Brulé 1945 in Havanna, zog mit seiner Familie 1956 während der BatistaDiktatur nach Miami, wo er die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, und war später als US-amerikanischer Soldat in Frankfurt am Main stationiert. Seit 1971 lebt er in Valparaíso, weil er eine Chilenin geheiratet hat, die sich aber 1973 kurz vor dem Putsch von ihm trennte, um nach Kuba in ein Ausbildungslager für Guerilleros zu gehen.6 Dementsprechend stellt sich der Detektiv im ersten Roman der Serie wie folgt vor: "[…] al final soy cubano, norteamericano y chileno" (Ampuero 1993a: 14). Cayetano Brulé vereint durch seine Biografie zwei geografisch und kulturell gegensätzliche Pole der lateinamerikanischen Kultur,
Nach Angaben des Autors hat er von den Romanen der Brulé-Serie allein in Chile bis zu 230.000 Exemplare verkauft, Raubkopien nicht mitgezählt (Wieser 2010 [2009]: 127). 3 Die Serie besteht aus 14 Episoden und wurde 1997 gefilmt. 4 Zu Ampueros Lebensweg, seiner politischen Position und seinen literarischen Einflüssen siehe insbesondere Franken Kurzen (2003: 94-105). 5 Die frühen Romane der Brulé-Reihe wurden von Bergenthal (1999) und Franken Kurzen (2002) untersucht. Franken Kurzen erweiterte seinen Aufsatz und integrierte ihn später in seine Monografie über den chilenischen Kriminalroman (2003: 94-127). Den Artikel von Franken Kurzen von 2004 konnte ich leider nicht einsehen (Franken Kurzen 2004a). Eine Interpretation zu Cita en el Azul Profundo legten bisher Canepa (2005) und Marún (2006) vor. 6 Diesen Teil der Lebensgeschichte Cayetanos Brulés verarbeitet Roberto Ampuero erst in seinem sechsten Brulé-Roman, El caso Neruda (2008). Bis dahin wird darauf zwar immer wieder angespielt, aber keine Details über die Trennung Brulés von seiner Frau berichtet. 2
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die Karibik und den Cono Sur, und verfügt über eine erweiterte Perspektive. Ampuero wollte nach eigener Aussage damit dem homogenisierenden Bild von Lateinamerika, das im Schulunterricht vermittelt wird, entgegen wirken: Muchas veces a los latinoamericanos se les enseña que los latinoamericanos son una gran masa, un continente homogéneo. Se subraya mucho, desde un punto de vista bolivariano digamos, la unidad latinoamericana (con excepción de Brasil por la lengua) y que somos todos más o menos lo único. Sin embargo en una visión mucho más detallada de la región te das cuenta que son muchos seres latinoamericanos con sensibilidades muy distintas, con influencias culturales muy distintas. Y yo lo que hice fue buscar los dos polos extremos: el mundo del Caribe y el mundo del Cono Sur. Eso me interesaba para al mismo tiempo ver las tensiones y las diferencias que existen (Wieser 2010 [2009]: 138f.).
Sein Lebensweg hilft Brulé bei den Ermittlungen, weil er sich je nach Bedarf als Kubaner oder als Chilene ausgeben kann. Dies weckt aber auch Misstrauen, da die Menschen seine politische Position nur schwer einschätzen können, wie eine Nebenfigur in Cita en el Azul Profundo zum Ausdruck bringt: "Si bien no eres un cubano revolucionario, tampoco eres un gusano de Miami" (134). Besonders schwierig ist seine politische Position in El caso Neruda. Der Roman spielt 1973 kurz nach dem Putsch. Die chilenische Rechte beäugt den Detektiv kritisch, weil er Kubaner ist, und die Linke, weil er in Miami gelebt und die US-amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hat. Durch den kulturell hybriden, lateinamerikanischen Protagonisten versucht Ampuero einen Gegendiskurs des Südens gegen den des Nordens zu artikulieren: […] estas novelas ofrecen la posibilidad de que el latinoamericano sea el protagonista, que el mundo sea visto desde el sur y que el relato cuente con una sensibilidad del sur, no con la sensibilidad hegemónica de alguien que está en Nueva York y mira hacia el sur o que está en Berlín y mira hacia el sur. Eso es importante, es como un contradiscurso […]. En ese sentido, yo veo mi contribución literaria, de devolverle el protagonismo a personajes o a culturas que han sido como en las películas solamente extras, que han sido actores terciarios […] (Wieser 2010 [2009]: 136f.).
Brulé kann außerdem als ein postkolonialer Detektiv klassifiziert werden, der sich nicht mehr auf seinen Ursprung aus der ehemaligen Kolonie reduzieren lässt, sondern auch die andere Seite, die der ehemaligen Kolonisatoren und neoimperialistischen Mächte kennt. Ampuero erschafft auf diese Art einen Helden, der sich sowohl in verschiedenen Gesellschaftsschichten bewegen kann als auch in verschiedenen Kulturen. Er ist rechtschaffen, wie Mario Conde, und löst nicht nur solche Fälle, die ihm finanziellen Erfolg versprechen (wie Chandlers Figur Phi147
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lip Marlowe), da er den inneren Drang verspürt, die Wahrheit zu enthüllen, auch wenn ihm dies niemand dankt. Der Wiedererkennungseffekt Cayetano Brulés beruht ferner auf seinem "bigotazo a lo Pancho Villa" (118), an dem er oft zurrt, seiner Dickleibigkeit und seinen finanziellen Engpässen. Trotz dieser nicht gerade schmeichelhaften Attribute hat er auch bei jüngeren Frauen Erfolg (zum Beispiel bei der Schwedin Kim in Cita en el Azul Profundo). Sein Büro liegt in dem touristisch bekannten Gebäude Turri in Valparaíso. Wie Mario Conde Manolo zur Seite steht, hat auch Cayetano Brulé seinen "Watson". Bernardo Suzuki ist Sohn eines japanischen Matrosen und einer Chilenin und betreibt nebenberuflich nachts noch eine Imbissbude am Hafen. Er ist darüber hinaus mit Madame Eloíse liiert, die in ihrem Massagesalon wertvolle Informationen für die Ermittlungen besorgt. Anders als Mario Conde ist Cayetano Brulé aber kein emsiger Leser der Weltliteratur, sondern der Literatur und vor allem der Literaturtheorie ziemlich abgeneigt.7 Da die Kriminalfälle stets im Zusammenhang mit Verbrechen internationalen Ausmaßes stehen, führen die Ermittlungen Cayetano Brulé in allen Romanen in unterschiedliche Länder, vor allem in die, in denen der Autor selbst gelebt hat. Die durch die Globalisierung verstärkt wirksame Makrokriminalität verbindet Ampuero in der Regel eng mit nationaler und internationaler Politik und Zeitgeschichte.8 Auf seinen Reisen verfolgt der Privatdetektiv meist eine dünne Spur, die immer wieder abzureißen droht, da der Erfolg oft nur an der Kooperationsbereitschaft einer einzigen Person hängt. Ampuero thematisiert auf diese Weise sowohl spezifisch innerchilenische Themen nach dem Übergang zur Demokratie, führt seinen Privatdetektiv aber auch in die Welt der ExilChilenen, deren unterschiedliche Lebenswege und politische Positionen ihn insbesondere interessieren.9 Einen weiteren thematischen Schwerpunkt bildet das Verhältnis der Menschen inner- und außerhalb Kubas zum Castro-Regime. Die Erzählperspektive der Romane bleibt durchgängig dieselbe. Das Geschehen wird von einem heterodiegetischen Erzähler geschildert, der Erst in El caso Neruda, dem bisher letzten Roman, der aber die Anfänge seiner Tätigkeit als Detektiv zeigt, liest Cayetano Brulé auf Nerudas Empfehlung Simenon und soll dadurch das Handwerk der Ermittlung erlernen. Dass das nur bedingten Nutzen hat, bemerkt er im Laufe seiner Arbeit. Ampuero macht dadurch auf die unterschiedlichen realen Kontexte seiner Romane und denen Simenons aufmerksam. 8 Makrokriminelle Verstrickungen zeigt Ampuero beispielsweise in Boleros en La Habana anhand von Drogenhandel, in El alemán de Atacama anhand von illegaler Giftmüllbeseitigung und in Cita en el Azul Profundo anhand von Wirtschaftskriminalität und internationalen Verschwörungen. 9 Canepa sieht in der Reisestruktur eine "estrategia de descentralización, de extraer el relato de las fronteras chilenas e internacionalizarlo para desautorizar así la narrativa nacional excesivamente centrípeda" (Canepa 2005: 113). 7
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die Ermittlerfigur intern fokalisiert. Cayetano Brulé repräsentiert jedoch nicht die Perspektive der Staatsorgane wie Mario Conde, da er als unabhängiger Privatdetektiv und nicht als Polizist arbeitet. Er lehnt Angebote der Polizei zur Zusammenarbeit stets ab, weil er seine Unabhängigkeit behalten will: "Si bien como detective privado no ganaba mucho, gozaba de una independencia que lo enorgullecía […]. Su libertad no tenía precio" (23). Der Roman: Cita en el Azul Profundo Azul Profundo ist der Name eines real existierenden Restaurants im Stadtviertel Bellavista in Santiago de Chile.10 Roberto Ampuero spielt damit, indem er die vier Teile des Romans mit "Azul Pacífico", "Azul Báltico", "Azul Caribe" und "Azul Profundo" betitelt. Jeder Teil spielt in einem anderen Land, an der Küste eines anderen Meeres: der erste in Chile (am Pazifik), der zweite in Schweden (an der zugefrorenen Ostsee), der dritte in Kuba und Mexiko (an der Karibik) und schließlich der letzte wieder in Chile. Im Folgenden soll zunächst wieder die Ausgangssituation geschildert werden: Um welchen Fall geht es? Vor welchen Fragen steht der Ermittler und wer sind die Verdächtigen? Cayetano Brulé erhält zu Beginn des Romans einen Anruf von einem Unbekannten, der ihn zu einem Treffen ins Azul Profundo bestellt. Der Anrufer erwähnt nur, dass der Auftrag etwas mit dem lateinischen Satz "Delenda est Australopitecus" (16) zu tun hat. Der Unbekannte wird jedoch vor dem Restaurant erschossen, noch bevor Brulé mit ihm sprechen kann. Der Privatdetektiv erfährt daher nicht, womit er hätte beauftragt werden sollen, streicht aber in den nächsten Tagen 4.700 Dollar ein, die der Tote zuvor als Scheck an ihn geschickt hat. Brulé fühlt sich aus diesem Grund veranlasst, etwas für sein im Voraus bezahltes Honorar zu leisten und zumindest den Mord an seinem Auftraggeber aufzuklären. Aus der Presse erfährt er, dass dieser ein US-amerikanischer Staatsbürger und Sohn von reichen Exilkubanern war. Sein Name ist Agustín Lecuona. Aus dieser Konstellation ergeben sich zwei zentrale Fragen, die Brulé an verschiedenen Stellen unterschiedlich formuliert und schrittweise verfeinert:
Das Azul Profundo taucht in den meisten Reiseführern als empfehlenswertes Seafood-Restaurant auf. Ampuero wählt häufig touristisch bekannte Orte als Schauplatz. Darunter befinden sich vor allem berühmte Lokale, z. B. Auerbachs Keller in Leipzig (¿Quién mató a Cristián Kustermann?), La Bodeguita del Medio in Havanna (Boleros en la Habana), das Vasa-Museum in Stockholm (Los amantes de Estocolmo und Cita en el Azul Profundo). Diese Vorgehensweise soll sicherlich einen Wiedererkennungseffekt produzieren und den Eindruck von Realitätsnähe steigern. Auf der anderen Seite erzeugt der Besuch von common places aber auch den Eindruck des flüchtigen Blicks eines Touristen und nicht des weltgewandten Bewohners globaler Räume. 10
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a) Weswegen war Lecuona in Chile? b) Was bedeutet "Delenda est Australopitecus"?11 Brulé verfolgt die Spur von drei Verdächtigen, die aus völlig unterschiedlichen Motiven gehandelt haben könnten. Auf den ersten stößt er durch einen Hinweis von Comisario Escorpión.12 Lecuona habe vor seinem Tod versucht, mit dem Leiter der Regierungsinstitution "la Casa", Ignacio Alcántara, genannt "el Conde Rojo", Kontakt aufzunehmen, sei aber von der Sekretärin abgewiesen worden. Der "Conde Rojo" könnte den Mord aus politischen Motiven begangen haben. Ein weiterer Verdächtiger stammt aus dem privaten Umkreis des Opfers. Lecuona hatte ein Verhältnis mit seiner Cousine Lourdes Cisneros, so dass deren Ehemann, Ramón Cisneros, den Mord aus Eifersucht begangen haben könnte. Als dritter Verdächtiger tritt Helmut Frosch in Erscheinung, da sein Wagen am Tatort gesehen wurde. Er ist der Besitzer der Firma Consultoría de Inversiones Transworld Ltda. mit Sitz in Santiago. Sein Motiv könnte wirtschaftlicher oder politischer Natur sein. So ergibt sich folgende Zusammenstellung: A. "El Conde Rojo", Leiter der "Casa" Art des Motivs: politisch B. Ramón Cisneros, Ehemann der Cousine des Toten Art des Motivs: privat (Eifersucht) C. Helmut Frosch, Besitzer der Consultoría de Inversiones Transworld Ltda. Art des Motivs: wirtschaftlich oder politisch Im Zuge der Ermittlungen kommen keine neuen Verdächtigen mehr hinzu, dafür aber eine große Zahl an Zeugen und Informanten. Da Unbekannte jedoch versuchen, Brulé einen Mord anzuhängen (sie haben eine Leiche und Kokainbriefchen in seiner Wohnung abgelegt), sieht sich der Detektiv zur Flucht genötigt und kann nicht länger im Umfeld von Ramón Cisneros ermitteln. Es gelingt ihm jedoch in Schweden, auf Kuba und in Mexiko Informationen über die anderen beiden Verdächtigen zu beschaffen. Auf seiner langen Reise kommen zusätzliche Themen zur Sprache, so dass der Roman deutlich mehr zu bieten hat als die Lösung eines whodunit. Dazu gehört in erster Linie die Ergründung der unterschiedlichen
11 Brulé sucht den Historiker Félix Inostroza auf, um ihn nach der Bedeutung des Satzes zu fragen. Dieser bezieht ihn auf Cato Ausspruch "Delenda est Cartago" während der Punischen Kriege. Über den Australopithecus weiß er, dass es sich um einen hochentwickelten Primaten des Pleistozän im Süden und Osten Afrikas handelt. Diese Erklärungen helfen Brulé bei der Ermittlung jedoch nicht. 12 Diese Figur kommt auch in der Fernsehserie Brigada Escorpión vor, für die Ampuero das Drehbuch geschrieben hat.
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Wege, die die chilenische Linke nach der Transition beschreitet. Des Weiteren versucht der Autor am Beispiel der fiktiven geheimen Wirtschaftsorganisation WPA beispielhaft aufzuzeigen, wie Großkonzerne aus mächtigen Industrienationen buchstäblich die Welt regieren und sich in soziale und ethnische Konflikte in den Entwicklungsländern einmischen. Und schließlich arbeitet Ampuero auch mit illusionsdurchbrechenden, metafiktionalen und ironischen Elementen, die dem Roman trotz des ernsten Themas Leichtigkeit verleihen. Die folgenden Ausführungen orientieren sich an diesen Themenkomplexen und nicht an der Chronologie der Ermittlungsarbeit, da diese zu viele Details birgt und alle Ermittlungsschritte auf derselben Methode basieren: Ampuero interessiert sich nicht für eine Überführung der Täter auf der Basis von empirischen Daten, sondern für die Gespräche des Ermittlers mit Zeugen, Verdächtigen und Mittelspersonen, deren politische Biografien er jeweils kurz umreist. Zum ersten Mal wird die Rolle der Linken in der chilenischen Demokratie anhand der fiktiven Institution "la Casa" und deren Leiter "el Conde Rojo" thematisiert. Die "Casa" ist im Roman eine mit dem Regierungsbeginn Patricio Aylwins (1990) gegründete Institution. Wahrscheinlich spielt Ampuero damit auf die 1993 gegründeten Geheimdienstbehörde Dirección de Seguridad Pública e Informaciones an, die im Volksmund mit "la Oficina" bezeichnet wird und 2004 in die Agencia Nacional de Inteligencia (ANI) überging. Die Aufgabe der fiktiven "Casa" besteht darin, alle staatsfeindlichen Gruppen ausfindig zu machen, vor allem ehemalige bewaffnete Widerstandskämpfer gegen Pinochet, die im Untergrund agieren, da sie dem neuen System nicht trauen und es als vom alten Regime infiltriert erachten. Damit thematisiert Ampuero die Tatsache, dass es bei der chilenischen Transition keinen richtigen Bruch mit den alten Machthabern und keine grundlegende Erneuerung der Regierungsinstitutionen gegeben hat.13 Die Hauptverantwortlichen der "Casa" sind ehemalige Guerilleros, die sich im Milieu gut auskennen. Unter den noch aktiven Gruppen gelten sie als Verräter oder "aburguesados" (39). Nach Cayetanos erster Einschätzung gehört "el Conde Rojo" zu den Emporkömmlingen der ersten Jahre der Demokratie. Früher ein überzeugter Linker, Offizier der kubanischen Fuerzas Armadas Revolucionarias (FAR) und Kriegsveteran aus Angola14 sowie Nicaragua, raucht "el Con-
13 Dazu Ampuero: "La transición en Chile de la dictadura a la democracia fue hecha sobre la base de acuerdos, acuerdos entre fundamentalmente la Concertación, partidos democráticos, que llevan veinte años en el poder en Chile, y los militares. No ocurrió en Chile una revolución ni un quiebre, no ocurrió lo que pasó en la RDA en Alemania. Es una transición pactada, y en ese sentido fueron establecidas muchas condiciones por el mismo Pinochet" (Wieser 2010 [2009]: 132). 14 Auch "el flaco Carlos" aus Paduras Conde-Reihe musste als Kubaner in Angola dienen. In Ampueros Roman wird jedoch nicht näher auf diesen Teil der Biografie des "Conde Rojo" eingegangen.
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de Rojo" heute kubanische Zigarren und trinkt in seinem gut bewachten Büro teure Weine. Menschen wie er stehen nach Brulés Auffassung zu sich selbst im Widerspruch, da sie entgegen ihren ehemaligen Idealen handeln: A Cayetano le pareció que el Conde Rojo era definitivamente un arribista social. Tras el retorno del país a la democracia, muchos tipos semejantes se habían enquistado en el poder. Habían jugado un papel importante en la lucha contra el régimen militar y eran los mismos que a fines de los años sesenta y a comienzos de los setenta demandaban la expropiación de la burguesía y los terratenientes. Ahora, después de que el exilio los había refinado y les permitía valorar en su justo término el Chivas Regal y el Napoleón, los trajes Hugo Boss y los perfumes Cartier, así como las calles sofisticadas de París y Roma, y tras ejercer durante un tiempo el poder en democracia, terminaban convertidos en burguesitos que viajaban en automóviles con chofer, vivían en condominios exclusivos, jugaban al tenis y al golf, poseían casas de veraneo en la costa e inauguraban consultoras que ofrecían servicios de cabildeo a los mismos empresarios que decenios atrás habían intentado expropiar (90).
Den Grund für den Sinneswandel solcher Menschen sieht Cayetano Brulé vor allem in den Annehmlichkeiten des bürgerlichen Lebens, in deren Genuss sie durch das Exil gekommen sind und auf die sie nicht mehr verzichten wollen. Brulés Ermittlungen ergeben des Weiteren, dass Agustín Lecuona in den 1970er Jahren der Brigada Antonio Maceo angehörte. Diese Brigade bestand aus jungen Exilkubanern, die mit Castro sympathisierten, als Erntehelfer auf die Insel reisten und dort von der kubanischen Dirección General de Inteligencia (DGI) als Spione rekrutiert wurden. Brulé vermutet daher, dass Lecuona als Agent Castros in den USA gearbeitet haben könnte, und seine Ermordung damit in Zusammenhang steht. Lourdes Cisneros entkräftet diese Vermutung jedoch schnell mit dem Argument, dass ihr Cousin schon lange vom kubanischen Regime enttäuscht war. Damit ist Lecuona einer von vielen Abtrünnigen (renegados), die immer wieder in Ampueros Romanen auftauchen. Sie stellen eine Generation von Desillusionierten dar, die der einen Seite abgeschworen haben, der anderen aber nicht angehören wollen und in einem perspektivlosen in between gefangen sind. Der politisch gemäßigte Brulé, der diese Zustände scharf beobachtet, aber selbst nie politisch aktiv war, kommentiert ironisch: De los arrepentidos es el reino de los cielos. El mundo está lleno de renegados. Mire en Chile, unos reniegan del comunismo, otros de la dictadura. Claro que me
Die Erwähnung Angolas dient lediglich dazu, den ideologischen Wandel der Figur mit historischen Ereignissen zu unterfüttern.
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temo que con gente así no se puede construir al final nada permanente, que digamos (72).
Eine Mitschuld am ständigen Auf und Ab der lateinamerikanischen Ökonomien und politischen Systeme tragen in Brulés Einschätzung also auch jene Wankelmütigen, die nach einer Enttäuschung für nichts mehr eintreten. Dabei hütet sich Ampuero stets, Brulé Partei ergreifen zu lassen. Seine Welt ist in Cita en el Azul Profundo vor allem von Linken und ehemals Linken bevölkert, die er kritisch unter die Lupe nimmt und von denen er sich gleichzeitig einmal mehr einmal weniger distanziert. Die politisch Rechten spielen in diesem Roman nur eine periphere Rolle, wobei aber immer deutlich spürbar bleibt, dass der Autor PinochetGegner ist.15 Ein weiteres Beispiel für die vielen Facetten der chilenischen Linken nach 1990 stellt die fiktive Splittergruppe Movimiento Revolucionario Auténtico (MRA) dar, die Brulé bei seiner Ausreise nach Schweden hilft. Der MRA ist eine jener Gruppen, die der chilenischen Demokratie nicht vertrauen und sich im Untergrund auf einen bewaffneten Kampf vorbereiten. Ihr Endziel definiert die Gruppierung als "autodisolverse en cuanto se instaurara la dictadura del proletariado en Chile" (43). Marcia, die Anführerin, erklärt ihre Position, indem sie auf den fehlenden Bruch mit den Machtstrukturen der Diktatur verweist: "Aquí lo único que ha cambiado desde el retorno de la democracia son los inquilinos temporales de La Moneda y los ministerios" (149). Brulé steht weder hinter dem Ziel noch den Methoden des MRA, muss aber dessen Hilfe annehmen, um mit einem falschen Pass ausreisen zu können. Durch die Vorbehalte des Detektivs wird der Sinn des linken, bewaffneten Widerstands stark angezweifelt und die Bekämpfung eines demokratischen Regimes aus dem Untergrund abgelehnt. Ergänzend beschreibt in Stockholm der Hotelportier Bo Johansson in einem Gespräch mit Brulé seinen Eindruck von der europäischen Linken und zeigt damit eine andere Facette derselben Problematik: En los años setenta, usted sabe, los jóvenes eran socialistas y apoyaban la lucha del Tercer Mundo. Hoy los antiguos revolucionarios, la generación de mis padres, trabajan para los consorcios internacionales y se aburguesaron. Igual que los revolucionarios chilenos de entonces –agregó sonriendo–, ahora que están en el gobierno, engordaron y perdieron el pelo y la memoria, una memoria folicular, por cierto (176).
15 In Los amantes de Estocolmo widmet sich Ampuero der Aufarbeitung des Erbes der Parteigänger Pinochets. Die Tochter eines ehemaligen Generals flüchtet nach Schweden, da sie als Schauspielerin aufgrund ihres Familiennamens in Chile immer in Verbindung mit der Diktatur gebracht wurde. Ihr Mann, Ich-Erzähler des Romans, kämpft indessen mit dem Erbe eines Vaters, der sich der Macht gefügt hat, ohne sie direkt zu unterstützen.
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Hier kommt Bedauern darüber zum Ausdruck, dass auch bei den Europäern der 68er-Bewegung die alten Ideale verschwunden und die ehemaligen Kämpfer für soziale Gerechtigkeit ins gemäßigte, bürgerliche Lager übergelaufen sind. Der Exilchilene Vladimir Lobos, der Brulé auf eine Schäreninsel zu einer Zeugenbefragung schifft, ergänzt das Farbspektrum durch eine neue Perspektive. Ihn beunruhigt, dass ihm durch sein langes Fernbleiben, das eigene Land fremd geworden ist, vor allem, weil dort Dinge geschehen sind, die er nicht für möglich gehalten hätte: No era fácil acostumbrarse a seres que habían sido sometidos a diecisiete años de dictadura, afirmó el capitán. Resultaba imposible comunicarse armónicamente con compatriotas que desconocían la tolerancia y la diversidad. Eso creaba un abismo insuperable, un exilio permanente. El retorno era un mito, sólo se retornaba a lo que se conocía, y el Chile de antes había desaparecido. Sí, él era hoy un nostálgico, un convencido de que todo Chile pasado había sido mejor (222).
Das Gefühl von Nostalgie, das Vladimir Lobos ausdrückt, erinnert in gewisser Weise an Mario Condes Nostalgie in den Romanen Leonardo Paduras. Die wehmütige Rückbesinnung auf das Vergangene wird in beiden Fällen durch gewaltsame politische Veränderungen ausgelöst, bei Vladimir Lobos durch die Pinochet-Diktatur und bei Mario Conde durch die unglückliche Fortführung der Revolution. Beide Länder erlebten eine Phase, in der "la tolerancia y la diversidad" staatlich unterbunden wurden, so dass eine Entfremdung eintrat. Wie Ampuero selbst sagt, spielt es für ihn dabei keine Rolle, ob die Gewaltherrschaft im Namen einer rechten oder einer linken Ideologie geführt wird. Auf der Schäreninsel trifft der Detektiv einen weiteren Exilchilenen, Patricio Sardiñas, den ehemaligen Führer der Acción Directa, die den bewaffneten Widerstand gegen Pinochet vorantrieb. Sein Schicksal besteht darin, dass er und sein Genosse Ferlocio auf einer Zwischenlandung in West-Berlin während seiner Reise nach Havanna zu einem Ausbildungslager für Guerilleros Anfang der 1980er Jahre festgenommen wurden. Durch die Erwähnung von Ferlocios Narbe auf der Brust kann ihn Cayetano Brulé als den "Conde Rojo" identifizieren, da er diesen vorher in Santiago in der Sauna gesehen hat. Er vermutet nun, dass die Westberliner Polizei die beiden Chilenen verhaftet hat, um mit deren Hilfe die Stasi zu infiltrieren. An dieser und vielen anderen Stellen wird deutlich, dass Brulé meistens politische Zusammenhänge hinter den Geschehnissen vermutet, und diese kann er nur über ein breites Weltwissen herstellen. Er traut – anders als Mario Conde – den Menschen die schlimmsten Taten zu, da er sich mit den Diskursen diktatorischer Regierungen, politischer Fanatiker, radikaler Kapitalisten und anderen Unholden der modernen Welt bestens auskennt. 154
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Die Spur führt Brulé schließlich nach Havanna. Während des Fluges denkt er über die Einstellung der mitreisenden Schweden nach: No podía concebir que aquellos seres de semblante sano y expresión ingenua, que disfrutaban del bienestar y la democracia social sueca, fuesen a Cuba a aplaudir un modelo que rechazaban para sí. En el fondo eran, pensó, unos racistas: el socialismo de la antigua Rumania o Bulgaria no estaba bien para los europeos, pero sí para los latinoamericanos (267).
Auch hier deckt Brulé Widersprüche im Denken der Menschen auf, was ihm vor allem dadurch möglich wird, dass er in verschiedenen Erdteilen gelebt hat und die Zustände aus eigener Anschauung kennt. Cayetanos Urteile sind nicht ideologisch, sondern pragmatisch und gründen auf seinen konkreten Erfahrungen mit der Realität. In den Kapiteln, die in Kuba spielen, weist Brulé auf das hin, was die schwedischen Touristen nicht sehen, und zwar wie der Kapitalismus in die Insel einbricht und die sozialistische Utopie verdrängt. Der dortige Kontaktmann des MRA, Federico Opazo, ebenfalls ein exilierter Chilene, interessiert sich nicht für Politik, sondern fürs "bizne". Er importiert Konservenbüchsen und arbeitet in der Tourismusbranche, um Dollars zu verdienen. Angesichts der Tatsache, dass es in der kubanischen Wirtschaft immer mehr ums Geschäftemachen geht, reflektiert Brulé spöttisch: A que si impulsaron la Revolución rusa para que al final los funcionarios comunistas terminaran dueños de las empresas fiscales, y la revolución sandinista para que Daniel Ortega y sus amigos se apoderaran de las casas y fincas de los somocistas, y esta revolución para que los barbudos del 59 se instalaran con chofer y criadas en el barrio de Miramar, y volvieran la prostitución y el capital extranjero. Me pregunto si no había en verdad una ruta más corta y menos dolorosa para todo eso. Mucho mejor hubiese sido mejor [sic] hablar claro desde un comienzo (281).
Brulé artikuliert hier seine Enttäuschung über die Fortführung der großen Revolutionen des 20. Jahrhunderts, eine Enttäuschung, die er im Grunde mit Mario Conde aus Leonardo Paduras Romanen teilt. Condes Unzufriedenheit bezieht sich jedoch nur auf die gesellschaftspolitische Entwicklung Kubas. Er zieht keine Vergleiche zu den Verhältnissen in anderen Ländern und spricht auch nicht direkt über politische Ideologien, sondern äußert seinen Missmut durch eine nostalgische Grundhaltung, die er eng an ganz persönliche, zerbrochene Jugendträume knüpft. Cayetano Brulé zeigt sich im Gegensatz dazu weniger persönlich betroffen. Als globaler Nomade steht er über diesen nationalen Enttäuschungen und beobachtet sie mit analytischer Distanz, aber auch Sarkasmus. Dies fällt ihm auch deswegen leichter als Conde, weil seine Wahlheimat Chile zum Zeitpunkt der Romanhandlung von einer demokratischen Regierung geführt wird. 155
Ermittlungsromane
Erst in den Kapiteln, die auf Kuba spielen, rückt der zweite wichtige Themenkomplex des Romans ins Blickfeld: die Macht der internationalen Großkonzerne. Brulé findet heraus, dass Lecuona einer Verschwörung der geheimen World Production Association (WPA) auf der Spur gewesen ist. Ein Informant, Ismael, beschreibt die WPA als "organización internacional secreta, que agrupa a empresas 'top' del mundo y vela por sus intereses a escala global" (296) sowie als "agrupación de grandes empresas del hemisferio norte que intercambia información y sesiona para imponer sus intereses" (296). Laut Ismael besteht das Hauptziel der WPA darin zu vermeiden, dass in einem Schwellen- oder Entwicklungsland ernst zu nehmende Konkurrenten für Produkte aus den Industrieländern entstehen. Sieht die WPA eine solche Gefahr, so versucht sie zunächst das jeweilige Land in der internationalen Presse in Misskredit zu bringen, indem sie auf die Verschmutzung seiner Küsten, auf den Einsatz von giftigen Pflanzenschutzmitteln oder die schlechten Arbeitsbedingungen vor Ort aufmerksam macht, so dass die Konsumenten der Industriestaaten die Produkte dieses Landes nicht mehr kaufen. Genügt dies nicht, so heizt die WPA bestehende Konflikte wie Grenzstreitigkeiten, Streiks, Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Ethnien oder Kämpfe von Drogenkartellen an. Dies erreicht sie, indem sie Agenten in die jeweiligen Konfliktherde infiltriert und Führungskräfte besticht. Die WPA führt außerdem Entführungen, Überfälle und terroristische Attentate durch. Laut Ismael kann der Organisation aber nie etwas nachgewiesen werden, da sie die Konflikte nicht schafft, sondern ihnen nur im richtigen Moment zur Eskalation verhilft, um so das jeweilige Land zu destabilisieren. Deswegen bewegt sie sich in der Zone zwischen Fiktion und Realität und viele Menschen, die von ihr hören, glauben nicht an ihre Existenz. Aus der Perspektive des linken Kubaners Ismael ist es sinnlos, gegen die WPA vorzugehen: "¿Y nosotros por qué habríamos de oponernos a ella? ¿Para preservar el sistema capitalista en Chile y en el mundo? Déjate de esperar quijotadas de los demás" (300). Diese Thematik wird mit den sozialen Konflikten in Chile verknüpft, von denen der Leser schon seit Beginn der Handlung in Form von Pressemeldungen erfahren hat. Am häufigsten wird das Problem der Mapuches erwähnt. Sie halten im Süden Chiles Waldgebiete besetzt, da deren Abholzung durch ausländische Firmen droht: "Los indígenas alegaban ser los propietarios de ellas [de las tierras] justo cuando una empresa pretendía iniciar allí el mayor proyecto de explotación maderera del hemisferio sur" (22). Diese Auseinandersetzung hat einen realen Hintergrund. Die Zwangsumsiedlung von Mapuche-Familien aufgrund des Baus des Wasserkraftwerks Ralco führte 1992 zur Gründung der radikalen Bewegung Consejo de Todas las Tierras, die seither die verfassungsmäßige Anerkennung der Ethnie als Volk sowie ihre weitgehende politische und kulturelle Autonomie fordert, was ihr der chilenische Staat 156
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bisher aber verweigert. In den Jahren 1999 und 2000 kam es verstärkt zu Konflikten im Zusammenhang mit Eigentumsrechten von Ländereien, die seit jeher von den Mapuches bewohnt werden, auf die sie aber seit 1920 keinen rechtlichen Anspruch mehr haben und die nun Energieund Holzwirtschaftskonzernen gehören (Rinke 2007: 181f.; Marún 2006: 100). Im November 2000 protestierten die Mapuches vor dem chilenischen Kongress in Santiago (Marún 2006: 101). Dieses Ereignis fällt bereits in den Entstehungszeitraum des Romans (Januar 2000 bis August 2001). In der fiktionalen Welt kann die Verschärfung des Mapuche-Konflikts, der im Wesentlichen auf historischen und sozialen Ursachen beruht, als eine Machenschaft der WPA gedeutet werden, die das Ziel verfolgt, Chile nicht als Holzproduzent erstarken zu lassen. Im Roman fordert die Europäische Union Chile außerdem dazu auf, den Anspruch der Indigenen auf die Ländereien anzuerkennen.16 Diese Ermahnung führt zu einer Situation, die Chile und damit auch den Mapuches mehr schadet als hilft: Gibt das Land dem internationalen Druck nach, verspielt es die Chance, wirtschaftliche Erfolge verzeichnen zu können, womit die WPA ihr Ziel erreicht hätte. Ampuero zeigt hier zum einen, wie schnell die Europäer dabei sind, andere auf Fehler hinzuweisen, nachdem sie Jahrhunderte lang ihre eigenen Wälder abgeholzt und ethnische Minderheiten unterdrückt und vernichtet haben. Zum anderen wird aber auch das philanthropische Gebaren der Industrienationen gegenüber Missständen der Dritten Welt als unterschwellige Methode deutbar, deren Wirtschaftswachstum zu hemmen.17 Die betroffenen Mapuches werden in ihren Forderungen nur scheinbar ernst genommen, in Wirklichkeit aber instrumentalisiert, um die Macht der Mächtigen zu erhalten. Die WPA benutzt einen humanitären und ökologischen Diskurs als Deckmantel für ihre neoimperialistischen Interessen. Um auf Leonardo Paduras Masken-Metapher zurückzukommen, könnte auch hier von einer Maske gesprochen werden, die das "Gute" simuliert und das "Böse" will. Sie ist also Tarnung (Camouflage). Dies ist ein Aspekt, den Padura nicht herausgearbeitet hat: Nicht nur der Macht ausgelieferte Subjekte simulieren ihre Identität mittels Masken, um sich zu schützen, sondern auch die
16 Die europäischen Regierungen sprechen folgende Ermahnung aus: "Varios gobiernos europeos – especialmente los de Berlín y París, liderados por socialdemócratas– solicitaban al mandatario chileno que diera muestras de prudencia y tolerancia ante los indígenas, y le recordaban que las tierras en disputa pertenecían a los mapuches desde tiempos inmemoriales" (30). 17 Auch die Pressemeldungen über den Streik der Saisonarbeiter bei der Obsternte werden als Machenschaften der WPA deutbar. Gleiches gilt für die Entführung nordamerikanischer Touristen, den Mord am Sohn eines Aktionärs einer kanadischen Minenbaufirma und der Entführung des Sohnes des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, von dem Brulé nur unter der Hand durch Escorpión erfährt.
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Macht selbst (wie die WPA) muss einen altruistischen Diskurs simulieren, um ihre Position, die sie egoistisch verteidigt, nicht zu verlieren. Auf der letzten Etappe seiner Reise kann Brulé seine zwei eingangs gestellten Fragen lösen, was jedoch nicht bedeutet, dass er die Mörder Lecuonas ausfindig macht. In Playa del Carmen (Mexiko) trifft Brulé einen ehemaligen Mitarbeiter der WPA, Roger Mike Parker. Dieser sagt aus, dass Helmut Frosch und "el Conde Rojo" der WPA angehören. Der verstorbene Lecuona habe sich in Chile an "el Conde Rojo" gewandt, um Informationen für seine Reportage zu sammeln. Dieses Vorhaben wurde ihm zum Verhängnis. Frosch sei der Drahtzieher der Verschwörung gegen Chile, die in der WPA als "Delenda est Australopitecus" bezeichnet wird. Von Parker erhält Brulé zudem eine Kopie des Verschwörungsplans, in dem die Angriffsmöglichkeiten auf die chilenische Wirtschaft erläutert, aber keine konkreten Maßnahmen beschrieben werden. Per E-Mail erhält er später den Aktionsplan.18 Zurück in Chile trifft sich Brulé mit einem Regierungsbeamten, dem "subsecretario del Interior", Ángel Medina Hirsch. Brulé sagt ihm mithilfe des Aktionsplans ein Attentat auf den Chef des Banco de Chile voraus. Medina Hirsch kann so den Anschlag verhindern und bekommt einen Orden dafür. Die Attentäter entkommen jedoch. Der Roman enthält außerdem eine metafiktionale Ebene, die bis hierher noch nicht untersucht wurde. An verschiedenen Stellen schafft Roberto Ampuero ein Moment der Selbstdistanzierung und Selbstironie, indem er Cayetano Brulé über das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion reflektieren lässt. Diese Stellen geben insbesondere darüber Auskunft, von welchen epistemologischen Grundüberzeugungen Brulé bei der Aufklärungsarbeit ausgeht. Im Flugzeug nach Stockholm liest er auf Empfehlung von Lourdes Cisneros einen literaturwissenschaftlichen Text über die Postmoderne. Die Welt oder Wirklichkeit wird dort als willkürliche und unzuverlässige "construcción artificial de la razón" (159) definiert und die Möglichkeit eines Erkennens ontologischer Wahrheiten in Abrede gestellt. Zu diesem Zeitpunkt der Ermittlung weiß Brulé noch nichts über die WPA und begreift den Sinn des Textes nicht. Um seinen Beruf mit Ernsthaftigkeit ausüben zu können, muss er daran glauben, dass die Wahrheit prinzipiell erkennbar ist:
18 Er besteht aus Zahlen, Daten, Titeln und Namen. Mithilfe von Professor Inostroza entziffert Brulé ihn: Die Titel stammen von Gemälden, die Zahlen sind ISBN-Nummern, die Daten die Tage der geplanten Anschläge. Buch und Gemälde zusammen ergeben das Ziel des Attentats. Mit diesem verschlüsselten Aktionsplan knüpft Ampuero an das häufig in der Kriminalliteratur zelebrierte Vergnügen am Enträtseln von Geheimschriften an, man denke an "The Gold-Bug" von Poe oder "The Adventure of the Dancing Men" von Conan Doyle.
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[…] todo aquello le parecía inútil. Claro, si su razón era arbitraria y el mundo una construcción artificial suya, entonces el esclarecimiento de crímenes era en verdad imposible y todo crimen perfecto. Admitió que él también elaboraba hipótesis y especulaciones, al igual que los teóricos literarios, pero mediante la investigación se veía obligado a fundamentar todo lo que sostenía, y la prueba definitiva de la identidad entre su modelo y la realidad radicaba en la confesión del criminal (159).
Wie die klassischen Ermittler der Kriminalliteratur sucht Brulé nach einem Beweis, der vor allen Dingen durch das Geständnis des Täters erbracht wird. Dass er einen solchen Beweis für die illegalen Aktionen der WPA nicht erhalten wird und sich seine eigenen Schlussfolgerungen am Ende im Nebel zwischen Fiktion und Realität bewegen, erahnt er jedoch noch nicht. Als er sich in Stockholm mit der jungen Schwedin Kim19 in einer Kneipe trifft, kommt es zu einer kurzen illusionsdurchbrechenden Überlappung der Ebenen der Narration und der Literaturproduktion. Am Nebentisch sitzen ein chilenischer Autor von Kriminalromanen und der chilenische Botschafter. Kim beschreibt die beiden mit folgenden Worten: El embajador de Chile y un escritor chileno de novelas policiales. No son de fiar, el primero informa su gobierno de lo que ocurre aquí, el segundo revela todo a través de sus libros […]. Así como los ve, eran revolucionarios en su juventud. Ahora viven apegados al poder. Es justo el tipo de gente que no me piace (180).
Mit dem "escritor chileno de novelas policiales" spielt Roberto Ampuero augenzwinkernd auf sich selbst an, da er nicht nur in Schweden gelebt hat, sondern dort auch mit José Goñi, dem damaligen Botschafter Chiles, befreundet war (und es immer noch ist).20 Im obigen Zitat wird der Literatur überdies eine große Kraft zugeschrieben und zwar die, die Wahrheit aufdecken zu können. Dieser Gedanke, der letzten Endes bis zu Aristoteles zurückreicht, für den Mimesis (Fiktion) etwas Philosophischeres und Ernsthafteres ist als Geschichtsschreibung, da sie nicht nur das Wahre, sondern auch das Wahrscheinliche und Mögliche darstellen kann, gehört zu den Grundüberzeugungen vieler lateinamerikanischer Kriminalschriftsteller. Wo Regierungen absichtlich Verbrechen und Korruption verschleiern, kann Literatur exemplarisch und glaubhaft diese Mechanismen enthüllen. In einem selbstironischen und -kritischen Gestus zählt sich der implizite Autor damit aber auch zu den Menschen, die Cayetano in seinen Büchern so häufig kritisiert: die ehemaligen Revolutionäre, die sich mit der Macht verbündet haben ("viven apegados 19 Marún untersucht das Verhältnis Brulés zu Kim ausführlicher. Sie wendet Zygmunt Baumans Begriff liquid love auf die flüchtige, aber intensive Beziehung zwischen den beiden an (2006: 109f.). 20 Roberto Ampuero widmet später seinen Roman Los amantes de Estocolmo José Goñi, der darin wieder in fiktionalisierter Gestalt auftritt.
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al poder") und ins gemäßigte bürgerliche Lager übergelaufen sind. Die jugendliche, unerfahrene Schwedin, die dies bemäkelt, hat die Gewaltexzesse der Linken selbst nicht miterlebt, weswegen ihr eine Rückkehr zu gemäßigteren Positionen unverständlich bleibt. Kims Kritik wiegt daher nicht allzu schwer, sondern zeigt vielmehr, wie blauäugig sie argumentiert. Die Überlappung der Seinsbereiche von Autor und Figuren wird weitergeführt, als Vladimir Lobos und Cayetano Brulé übers Eis zur Schäreninsel fahren. Cayetano stellt sich nun vor, eine Romanfigur zu sein und knüpft wieder an die literaturtheoretischen Texte an: Recordó los textos de teoría literaria de Lourdes, las afiebradas especulaciones sobre ficción y realidad de los literatos, y se estremeció. ¿Y si todas sus vicisitudes brotaban de la imaginación de un escritorzuelo insignificante y él no era nada más que un personaje de ficción en una extensa novela policial? […] podían ser resultado de la fantasía de un escritor anónimo, borrachín y angustiado por las hemorroides (221).
An dieser Stelle scheint die Romanfigur ein Bewusstsein darüber zu entwickeln, dass sie ein fiktionales Konstrukt ist. Selbstironisch legt der implizite Autor seiner Figur in den Mund, dass ihr Schöpfer womöglich auch noch "anónimo, borrachín y angustiado por las hemorroides" sei. Aber Brulé verwirft diese Gedanken schnell wieder. Fiktion und Wirklichkeit sind für den Detektiv zu diesem Zeitpunkt immer noch zwei unterschiedliche und unterscheidbare Ebenen. Nach und nach beschleichen ihn jedoch Zweifel. Was die postmodernen, konstruktivistischen Theorietexte behaupten, wird für ihn zur Realitätserfahrung: Le ocurrió como con los textos de Lourdes, no pudo continuar. Si fuese tan fácil delimitar los hechos ciertos de los meramente probables, la investigación detectivesca sería un juego de niños, pensó. […] aquel caso parecía envuelto en una nebulosa que disipaba los contornos entre la realidad y la ficción (239).
Cayetano revidiert sein Urteil über die Erkennbarkeit der Wirklichkeit, die nach heutigem, poststrukturalistischem und postmodernem Verständnis ein veränderliches Konstrukt aus Sprache und Diskurs ist. Eindeutige, klare Lösungen kann man seiner Ansicht nach ironischerweise nur noch von Kriminalromanen erwarten: "Debía aprender que sólo en las novelas policiales todos los enigmas tenían respuestas" (241). Dass Roberto Ampuero aber gerade keine eindeutigen Antworten liefert, entfernt den Roman von der Pseudonorm und verleiht ihm einen Mehrwert. All diese Überlegungen Brulés erfüllen eine Funktion in Bezug auf die Deutung der WPA, deren Existenz in der fiktionalen Welt selbst immer wieder angezweifelt wird. Sie scheint eine Organisation des perfekten 160
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Verbrechens zu sein, da keine ihrer Aktionen nachweisbar ist. Genau das, was die postmodernen literaturtheoretischen Texte behaupten, wird jetzt zur Gewissheit: Die Aufklärung der Verbrechen der WPA ist unmöglich. Sie wirkt wie eine reine Konstruktion des Verstandes. Die Machenschaften der WPA sind unsichtbar und werden von so vielen nichtsahnenden Akteuren ausgeführt, dass die Drahtzieher als nie belangbar im Nebel reiner Fiktion verschwinden. Dementsprechend pessimistisch gestaltet sich auch das Schlussszenario. Die Regierung hält den Fall unter Verschluss, nichts davon geht an die Presse, auch Cayetano wird zum Schweigen verpflichtet, damit das Ansehen Chiles nicht noch mehr beschädigt wird. Während geheime Kommissionen darüber debattieren, wie gegen die WPA vorgegangen werden kann, verschlimmern sich die sozialen Konflikte im Land. Der "Conde Rojo" wird nach Europa versetzt, also nicht bestraft, sondern nur aus dem Blickfeld entfernt. Sein Nachfolger erklärt Brulé hochmütig, dass er nicht an die Existenz der WPA glaube. Frosch ist untergetaucht; man vermutet ihn in Buenos Aires als Geschäftsführer einer "firma asesora de inversiones", also wieder im Interessensbereich der WPA. Ramón Cisneros, gegen den Brulé nicht weiter ermitteln konnte, hat in Santiago eine "oficina para la asesoría del capital extranjero, la que respalda también numerosas actividades culturales, medioambientales y obras de beneficencia" (405) eröffnet. Froschs Firma benutzte ja solche "guten" Projekte als Verschleierungsdiskurs, weswegen abschließend auch Ramón Cisneros als Agent der WPA gedeutet werden kann. Alle drei Verdächtigen gehören demnach vermutlich der WPA an und sind wahrscheinlich die Drahtzieher des Mordes an Lecuona, doch gegen keinen liegt ein Beweis vor. Die Führerin des linksradikalen MRA (Marcia) gliedert sich schließlich in die Reihen der "aburguesados" ein, da sie sich am "bizne" von Opazo auf Kuba beteiligt. Die tatsächlichen Vollstrecker des Mordes an Lecuona bleiben unbekannt. Schlussfolgerungen Die Ermittlungsarbeit erfolgt in Cita en el Azul Profundo selten auf der Basis von forensischen Indizien. Ihr Grundprinzip stellt die Zeugenbefragung dar, deren Ziel darin besteht, ein Geständnis zu erwirken. Insofern bricht Ampuero nicht mit der Pseudonorm. Brulés Erfolg gründet aber letzten Endes auf seinem Weltwissen, seiner Weltgewandtheit und seiner Kenntnis größerer politischer Zusammenhänge. Aufgrund seiner Lebensgeschichte verfügt er über die Vogelperspektive; er kennt die politischen Diskurse verschiedener Länder und hat es geschafft, sich im in between zu verorten, was ihn dazu befähigt, makrokriminelle Strukturen in einem internationalen Kontext zu durchschauen. Ähnlich wie 161
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Padura geht Ampuero also von einer pseudonormativen Methode aus und erweitert sie durch die individuellen Fähigkeiten des Protagonisten. Politische Diskurse beeinträchtigen Brulés Wahrnehmung im Gegensatz zu Condes nicht. In Ampueros Roman "maskiert" sich jedoch die Macht (die WPA), um ihre wahren Absichten zu verbergen, weswegen der Ermittler ihre Schuld letztendlich nicht beweisen kann. Canepa hebt richtig hervor, dass die Schuldzuweisung für einen politisch und gesellschaftlich informierten Leser trotzdem eindeutig ist (Canepa 2005: 118). Besonders deutlich setzt sich Ampueros Roman von der Pseudonorm an den Stellen ab, an denen Brulé in Anlehnung an postmoderne Theorien erkenntnistheoretische Skepsis äußert. Ein solcher Zweifel ist in der Pseudonorm nicht angelegt. Am Ende des Romans wird zwar ein weiteres Attentat abgewendet und ein Politiker dafür dekoriert (allerdings nur im Geheimen), aber kein Verbrecher überführt und bestraft. Ähnlich wie Padura verzichtet Ampuero somit auf einen reinigenden Showdown und eröffnet dadurch die Möglichkeit zur Reflexion. Das Ende ist aber lakonischer als bei Padura. Nach dem äußerst ereignis- und wortreichen Roman21 folgen nun keine langen Reflexionen mehr, sondern eine kurze Aufzählung der Fakten. Ampuero übergibt die Reflexionsarbeit direkt an den Leser, da der weitere Lebensweg der Personen nur angerissen, aber nicht fiktionsintern kommentiert wird. Verbrechen und Gewalt sind bei Ampuero wie bei Padura eng mit lebensweltlichen Kontexten verbunden. Entweder verfolgen die Täter politische Ziele (wie die Verfolgung der bewaffneten Linken durch "la Casa") oder wirtschaftliche Interessen auf dem globalen Markt (wie die Zerstörung neuer Märkte durch dir WPA). Obwohl die WPA als solche fiktiv ist, zeigt Ampuero glaubwürdig Mechanismen existierender Machtstrukturen auf. Kriminalität wird im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr von hierarchisch organisierten Mafias beziehungsweise Verbrechersyndikaten betrieben, sondern von hocheffizienten und hochflexiblen Netzwerken, die sich weder auf ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Branche spezialisieren, noch von einem fixen Ort aus organisiert werden. Eine Vielzahl von Verbrechen wird heute über anonyme EMail-Adressen von anonymen Internetcafés aus begangen. Diese Netze sind gleichzeitig global und lokal und daher kaum bekämpfbar. Ihre Akteure haben Bündnisse mit Politik und Wirtschaft geschlossen und können schnell und kostengünstig den Staat wechseln (Naim 2005: 4650). In dieses von Naim skizzierte Szenario schreiben sich Ampueros Romane ein. Der Kunstgriff des Autors besteht darin, das Vorgehen der transnationalen Konzerne glaubhaft zu entlarven und gleichzeitig als empirisch nicht nachweisbar darzustellen. Aus diesem Grund ist Ver21 Das Personeninventar ist bei Ampuero viel größer und unübersichtlicher als bei Padura. Einige Nebenfiguren wurden in dieser Analyse übersprungen.
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Roberto Ampuero: Cita en el Azul Profundo
brechen in der Welt des Cayetano Brulé auch niemals ausrottbar und wenn überhaupt, dann nur punktuell bekämpfbar.22 Ampueros ästhetische Verfahren zur Darstellung von Gewalt bestehen wie bei Padura nicht in einer offenen Beschreibung von Grausamkeiten. Physische Gewalt taucht in den Romanen nur am Rande auf; die Leichen werden bei der Tatortbesichtigung mit einem technischen Blick beschrieben. Beide Autoren vermeiden es, durch Gewaltdarstellung Emotionen auszulösen, die dazu führen können, dass Leser zu stark in den Kategorien von "gut" und "böse" denken. In Cita en el Azul Profundo und anderen Romanen Ampueros werden die Subjekte vor allem durch politische Diskurse konstruiert, ganz im Gegensatz zur Pseudonorm. Der Autor entwirft die Lebensgeschichten seiner Personen hinsichtlich politischer Ereignisse und ihres Aktivismus. Anhand der zahlreichen Nebenfiguren zeit er eine Palette möglicher Verhaltensweisen von Menschen auf, die unter der Pinochet-Diktatur oder dem Castro-Regime gelebt haben bzw. noch leben. Die politische Linke oder Rechte konstruieren sich im Prinzip aus internationalen Diskursen, die in den verschiedenen Ländern aber auf völlig unterschiedliche Realitäten stoßen und deren Inhalte immer anders umgesetzt werden. Roberto Ampuero weist in einem Interview darauf hin, dass links und rechts in der Politik je nach Situation mit anderen Maßstäben zu messen ist: Castro, Stalin, Ceaucescu, Pol Pot y Jaruszelski son de izquierda, y también Willy Brandt, Olof Palme, Felipe González y Salvador Allende. ¿Sirven aún las etiquetas? ¿Es Obama de izquierda o derecha, y qué son Putin y Chávez y las FARC? (Soto 2008).
Ampueros Romane zeigen immer wieder, dass die dichotomische Zuordnung "links gleich gut" und "rechts gleich böse" – wie sie in Lateinamerika jahrzehntelang in bestimmten (intellektuellen) Kreisen üblich war – im Falle von Chile und Kuba viel zu simplizistisch ist. Die betroffenen Subjekte bewegen sich zwischen einem Ideal und seiner Ausführung. Die Tatsache, dass die Umsetzung in großer Diskrepanz zur Theorie steht, führt sowohl zum Ablassen vom Ideal als auch zur Radikalisierung. Daher bevölkern Ampueros Romane "renegados", Verräter, Enttäuschte, zum Terrorismus neigende Fanatiker, Verfolgte und Verfolger. Unter Pinochet schienen die Fronten klarer zu sein. Für die Mehrzahl der Menschen gab es eine deutliche Gut-Böse-Trennung, so dass sich die Subjekte durch ihren politischen Diskurs konstruieren konnten: Ich bin WiderstandskämpferIn, ich bin SozialistIn. In der De22 Interessant ist diesbezüglich, dass fast zeitgleich ein Roman von Luis Fernando Verissimo erschienen ist (O Opositor, 2004), der ebenfalls die Theorie einer globalen Verschwörung fiktionalisiert. Im Vergleich zu Ampuero ist er jedoch in einem viel humoristischeren Ton verfasst.
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mokratie verschwimmen die früheren Grenzen jedoch, die Subjekte lösen sich auf, sie werden zu ehemaligen Widerstandkämpfern, ehemaligen Kommunisten, was für sie nicht bedeutet, dass sie nun Demokraten sind. Dies führt zum Identitätsverlust und die Betroffenen müssen sich mit einem in between der Ideologien abfinden. Dieses in between, die Demokratie, ist anstrengend, wie der Autor selbst sagt: "[…] la democracia es algo imperfecto que se puede ir perfeccionando si los ciudadanos se ponen de acuerdo y exigen una profundización de la democracia. Pienso que la democracia como tal es un objetivo en el horizonte, utópico" (Wieser 2010 [2009]: 140). Ampueros Romane sind politisch expliziter als Paduras und gewähren im Gegenzug weniger Einblick in den privaten Bereich der Personen. Der besondere Beitrag Roberto Ampueros zum lateinamerikanischen Kriminalroman besteht vor allem darin, dass er die Fälle gleichzeitig in einem chilenischen, kubanischen und internationalen Kontext verortet und es schafft, politische und ökonomische Diskurse verschiedener Länder in einem größeren Zusammenhang zu hinterfragen und globale Phänomene wie Exil, Migration und Makrokriminalität in den Blick zu nehmen. Dieser gegen den power-bloc gerichtete Gegendiskurs entlarvt die Mächtigen als die eigentlichen Verbrecher und zeigt im Unterschied zur Pseudonorm, dass gegen die internationalen Verbrechensstrukturen praktisch nichts unternommen werden kann.
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4.3. Marginalisierung: Luiz Alfredo Garcia-Roza: Achados e Perdidos (Brasilien, 1998) Der Autor: Luiz Alfredo Garcia-Roza Luiz Alfredo Garcia-Roza wurde 1936 in Rio de Janeiro geboren, wo er bis heute wohnt. Er war über 35 Jahre lang Dozent für Philosophie und Theorie der Psychoanalyse an der Universidade Federal do Rio de Janeiro (UFRJ) und hat als solcher einige wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht. Der große Erfolg seines ersten Kriminalromans O Silêncio da Chuva (1996, Prêmio Nestlé und Prêmio Jabuti) ermöglichte es ihm, fortan als vollberuflicher Schriftsteller zu arbeiten, so dass er weitere Romane ähnlichen Zuschnitts schrieb: Achados e Perdidos (1998),1 Vento Sudoeste (1999), Uma Janela em Copacabana (2001), Perseguido (2003), Espinosa Sem Saída (2006), Na Multidão (2007) und Céu de Origamis (2009). Der Protagonist all dieser Werke ist Delegado Espinosa. Neben der Espinosa-Serie erschien ein weiterer Kriminalroman, Berenice Procura (2005), in dem die Taxifahrerin Berenice als Ermittlerin fungiert. Alle Romane Garcia-Rozas spielen in Rio de Janeiro, sind aber inhaltlich unterschiedlich eng mit ihrem Setting verbunden und könnten großteils auch in Megastädten anderer Länder spielen. Der Autor ist nicht in erster Linie daran interessiert, die alltägliche Gewalt Brasiliens in den Favelas und im organisierten Verbrechen darzustellen und damit die strukturellen Zusammenhänge eines gewaltgenerierenden Systems aufzudecken. Er fokussiert auch nicht besonders auf die Unverhältnismäßigkeit der Gewaltanwendung von Seiten der Polizei und anderer Vertreter des brasilianischen Staates, sondern konzentriert sich vielmehr auf das Individuum, die Darstellung der Psyche des Verbrechers und der Schutzlosigkeit der schwächsten Glieder der Gesellschaft wie Straßenkinder oder Obdachlose. Seine langjährige Tätigkeit als Dozent für Theorie der Psychoanalyse trägt sicher dazu bei, dass er den Fokus auf diese Ebene richtet. Er selbst begründet seine Entscheidung damit, dass der Gewaltexzess in der brasilianischen Gesellschaft allzu offensichtlich sei und sogar das Interesse der Medien an diesem Thema nachgelassen habe: Ouvi algum tempo atrás que no Brasil acontecem 50 mil homicídios por ano, 50 mil, é uma guerra. Num país em que se mata desse jeito não há necessidade de nenhum ficcionista pegar isso, de trabalhar e elaborar. Porque isso é excessivo. Não há nenhuma necessidade de você chamar a atenção para isso. É tão óbvio, 1
Achados e Perdidos wurde unter der Regie von José Joffily verfilmt und feierte 2005 Premiere.
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até os jornais se cansam disso, até os documentaristas se cansam disso (Wieser 2010 [2006]: 113f.).
Es ist sicher zutreffend, dass eine gewisse Ermüdung oder Desensibilisierung in Bezug auf das Thema Gewalt eingetreten ist. Garcia-Rozas Romane besitzen daher eine verhältnismäßig schwache gesellschaftspolitische Dimension und beschäftigen sich dafür stärker mit allgemein menschlichen Themenkomplexen. Mit diesem Fokus setzt sich der Autor von einer breiten Strömung der brasilianischen Gegenwartsliteratur sowie der Filmproduktion ab.2 Der Serienheld: Espinosa3 Delegado Espinosa von der zwölften Delegacia de Polícia (12o DP) in Rio de Janeiro ist der Serienheld von bisher acht Kriminalromanen. Er lebt im Stadtteil Peixoto, arbeitet in Copacabana, zehn Gehminuten von seiner Wohnung entfernt, und ist zwischen 40 und 50 Jahre alt. Er gilt als ein ehrlicher und unbestechlicher Polizist, der sein Verhalten nach ethisch-moralischen Wertvorstellungen hinterfragt. Mit diesen Eigenschaften konterkariert er das negative Bild, das die Cariocas von der real existierenden Polizei haben. Die Vorstellung der Cariocas dürfte in etwa der Sichtweise der junge Malerin Kika in Achados e Perdidos entsprechen: É que, como a maioria das pessoas, quando penso na polícia a imagem que me vem à cabeça é a de um troglodita, camisa aberta quase até a cintura, peito cabeludo com una grossa corrente dourada, anéis nos dedos, pulseiras, unhas feitas, voz rouca e acafajestada (91).
Dieses Stereotyp wird großteils auch in brasilianischen Filmen perpetuiert und dominiert folglich die fiktionale Vorstellungswelt ebenso stark wie die reale. Ähnlich wie viele andere lateinamerikanische Kriminalschriftsteller musste sich Garcia-Roza damit auseinandersetzen, dass ein positiv konzipierter Polizist die Leser nicht ohne Weiteres überzeugt, da er gemessen an den Alltagserfahrungen nicht glaubwürdig erscheint.
Entscheidende Impulse für den literarischen Umgang mit dem Phänomen Gewalt gab Rubem Fonseca bereits in den 1970er Jahren durch seine Erzählungen und in den 1980ern durch seine Romane. Fonseca zeigt durch die Darstellung roher Gewalt verschiedener Akteure, dass die brasilianische Gesellschaft tiefe, hasserfüllte Gräben durchziehen. Ähnlich geht seine Nachfolgerin Patrícia Melo ab den 1990ern vor (siehe Kapitel 5.1.1). Eine Reihe von Filmen wie Cidade de Deus (2001, Fernando Meirelles und Kátia Lund), Carandiru (2003, Hector Babenco), Tropa de Elite (2007, José Padilha) oder die Fernsehserie Cidade dos Homens (2002-2005) behandeln außerdem seit der Jahrtausendwende dieses Thema mit unterschiedlichen ästhetischen Mitteln. 3 Garcia-Rozas Werk wurde noch so gut wie nicht erforscht. Lediglich zu Uma Janela em Copacabana liegt eine Einzelinterpretation vor (Pellegrini 2005); unterschiedliche Aspekte seiner Espinosa-Serie spricht außerdem Gonçalves (2005) an. 2
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Luiz Alfredo Garcia-Roza: Achados e Perdidos
Jedoch befindet sich das negative Stereotyp des Polizisten in Brasilien laut Garcia-Roza bereits in Auflösung (Wieser 2010 [2006]: 115f.), weswegen er die Konstruktion eines positiven Polizisten, in den sich der Leser hinein versetzen kann, dennoch riskierte: Quando eu optei por fazer do meu personagem um delegado de polícia e não um investigador privado, eu pensei: mas como que vou fazer com que o público leitor tenha alguma empatia com um delegado de polícia? Então eu imaginei que já encontrei alguns que realmente eram pessoas com as quais se podia ter uma relação simpática. Por que não construir a imagem de um policial cuja característica básica seja a ética dele? É uma figura ética e não um corrompido ou corruptor. E o nome só podia ser Espinosa, porque no meu juízo, Spinoza foi o pensador mais ético que a história da filosofia ocidental produziu (Wieser 2010 [2006]: 116).
Der Erfolg der Romane zeigt, dass die Figur von vielen Lesern angenommen wurde. Delegado Espinosas moralische Grundhaltung ist ähnlich wie die Mario Condes4, er hadert aber weniger als dieser mit seiner Arbeit und den unschönen Einblicken, die er dabei erhält. Espinosas und Mario Condes Perspektive ähneln sich auch insofern als beide die Staatsorgane repräsentieren (im Gegensatz zu Cayetano Brulé5). Dies tun sie jedoch in Ländern mit unterschiedlichen politischen Systemen. Der brasilianische Polizist, der wenig über die politischen Zustände reflektiert, stellt den offiziellen Diskurs seines Landes und dessen politisches System nicht in Frage. Dies tut Conde zwar auch nicht explizit, er drückt jedoch durch seine Nostalgie implizit die Enttäuschung seiner Generation aus. Delegado Espinosa lebt in der Wohnung seiner Eltern, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind, als er 14 war. Danach zog seine Großmutter zu ihm, starb aber fünf Jahre später ebenfalls. Diese Erlebnisse werden in den Romanen immer wieder angesprochen. Espinosas Schmerz macht ihn sensibel für die Menschen, denen er bei seiner Arbeit begegnet. Mögliche Erfahrungen mit der brasilianischen Geschichte (als über 40-Jähriger hat er auch die Militärdiktatur miterlebt) fließen jedoch nicht in die Romane ein. Unter dem Einfluss seiner Großmutter, die ihm eine große Zahl Bücher hinterließ, hat Espinosa eine Faszination für Literatur entwickelt: Auch Leonardo Paduras Serienheld Mario Conde ist Polizist. Padura erklärt jedoch im Interview, dass die kubanische Polizei nicht im Ruf steht, besonders repressiv zu sein (Wieser 2010 [2004]: 156). Er stieß in Kuba folglich mit einer von positiven Eigenschaften dominierten Figur wie Mario Conde nicht von vorn herein auf ein Glaubwürdigkeitsproblem bei den Lesern. 5 Anders als Padura und Garcia-Roza entschied sich Roberto Ampuero bewusst gegen einen Polizisten als Helden. Auch er wollte einen Protagonisten mit positiven Eigenschaften erschaffen, dieser sollte aber nicht mit der chilenischen Diktatur in Verbindung gebracht werden. Die real existierende Polizei Chiles war nämlich in den 1990er Jahren immer noch von Personen dominiert, die mit der Diktatur zusammengearbeitet hatten. So erschien es ihm günstiger, einen Privatdetektiv zu erfinden, der freier agieren kann (Wieser 2010 [2009]: 130). 4
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Devia a ela seu gosto pela leitura. Inicialmente, com a fome dos despossuídos, lia qualquer coisa. Aos poucos fora dirigindo o interesse para escritores de língua inglesa. Apesar da intimidade com os livros, não tem muita simpatia por intelectuais e eruditos. Gosta de ler, mas nutre secreto desdém pela crítica e pela teoria literária. Sua leitura inclui tanto Melville, Chandler e Hemingway como boa parte da mais autêntica pulp fiction. […] integra-se ao livro duplicando sua trama e estendendo o âmbito da aventura (37).
Seine Liebe zur Literatur teilt der Delegado mit Mario Conde, dessen schriftstellerische Ambitionen entwickelt er jedoch nicht. Dass er Literaturwissenschaft und -theorie misstraut, erinnert außerdem an Cayetano Brulés epistemologische Skepsis. Als eine von Espinosas Marotten kann darüber hinaus sein improvisiertes Bücherregal angeführt werden: Tempos antes, o espírito de iniciativa fizera com que, na falta de uma estante, fosse empilhando os livros que acumulara durante vinte anos, comprados e herdados, despondo-os verticalmente tal como se estivessem numa prateleira, sendo que no lugar da tábua da prateleira ele colocava livros na horizontal e, em cima destes, iniciava outra fileira de livros na vertical. Resultou dessa improvisação uma estante-sem-estante que já estava com mais de metro e meio de altura e ocupava toda a extensão de uma das paredes da sala sem que tivesse utilizando madeira nenhuma (69).
Zwar bekundet Espinosa immer wieder die Absicht, sich ein Regal zu kaufen, verschiebt das Vorhaben aber ständig, was ihn einerseits als unstet und unkonventionell charakterisiert, andererseits aber auch ein Indiz dafür ist, dass er seiner Arbeit fast hundertprozentige Aufmerksamkeit schenkt und seine eigenen Wünsche dafür zurückstellt. Zur Lektüre kommt er wegen seines anstrengenden Jobs äußerst selten. In den Ticks oder Spleens des Scharfsinnhelden spiegelt sich eine Tradition der Kriminalliteratur wieder. Die Spleens charakterisieren die Ermittlerfigur in der Regel als Einzelgänger und Exzentriker und besitzen einen großen Wiedererkennungseffekt.6 Auch Mario Conde und Cayetano Brulé besitzen diesen Wiedererkennungseffekt. Bei Conde sind es beispielsweise Alkohol- und anschließender Kaffeekonsum; bei Brulé das Zurren am Schnurrbart und seine Abscheu gegen Filterkaffee. Bei Espinosa kommt eine Vorliebe für Tiefkühlkost und Fastfood hinzu. Ferner wird Espinosa auch von der privaten Seite gezeigt. Seine Ex-Frau und sein Sohn wohnen in den Vereinigten Staaten, so dass er kaum Kontakt zu ihnen pflegen kann. Er unterhält eine lose Beziehung zu Irene und verliebt sich von Roman zu Roman auch in weitere Frauen. Typisch für Espinosas Ermittlungsmethode ist das assoziative Gedankenexperiment, bei dem er sich hintereinander mehrere hypothetische
Dieses Verfahren beginnt mit Sherlock Holmes: Einige seiner Attribute sind die Meerschaumpfeife, sein Geigenspiel, sein Kokainkonsum und seine chemischen Experimente.
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Tathergänge ausmalt, die er aber bald wieder verwirft, weil sie ihn nicht überzeugen. Es dauert in der Regel sehr lange, bis er auf die richtige Spur stößt. Dieses Vorgehen entlehnt Garcia-Roza aus der Psychoanalyse: "O psicanalista age desta maneira. A matéria prima com a qual ele trabalha é o imaginário do outro. Através destas aproximações sucessivas você vai chegando ao nó da questão" (Wieser 2010 [2006]: 116). Espinosas Gedankengänge sind aber auch vor dem Hintergrund seiner Faszination für erzählende Literatur interpretierbar, da der Delegado Geschichten rund um die Fälle erfindet, das heißt, mit fiktionalen Versatzstücken ausstaffiert. Espinosas Helfer ist in den meisten Romanen Detetive Welber7 ein junger, sympathischer und tüchtiger Polizist (ähnlich wie Mario Condes Assistent Manolo), aber auch Inspector Ramiro und andere Kollegen wie im Fall von Achados e Perdidos Maldonado und Chaves. Das Team, das ihn umgibt, ist größer und seine diversen Helfer weniger eng auf einer freundschaftlichen Ebene an ihn gebunden als Manolo an Mario Conde und Suzuki an Cayetano Brulé. Die Handlung der Romane wird von einer heterodiegetischen Erzählinstanz geschildert, die zwar überwiegend Espinosas Perspektive einnimmt und ihn intern fokalisiert, jedoch auch zu anderen am Kriminalfall beteiligten Personen wechselt, so dass von einer variablen internen Fokalisierung gesprochen werden kann. Dieses Verfahren unterscheidet die Romane Garcia-Rozas von denen Paduras (bei dem der point of view deutlich seltener wechselt) und Ampueros (bei denen er konstant bleibt) und hat verschiedene Effekte. Erstens tritt die Perspektive des Ermittlers zugunsten der Wahrnehmung verschiedener Personen etwas zurück, und zweitens wird durch dieses Verfahren dem Leser manchmal ein Wissensvorsprung gegenüber den Kenntnissen des Ermittlers gewährt (was Garcia-Roza vor allem in O Silêncio da Chuva nutzt). Der Roman: Achados e Perdidos In Achados e Perdidos erreicht Garcia-Roza die engste Verflechtung zwischen Kriminalfall und realem Kontext, weswegen der Roman für diese Untersuchung gewählt wurde. Weniger deutlich als in anderen Romanen ist hier allerdings Espinosas Methode der assoziativen Hypothesenbildung beziehungsweise seine Angewohnheit, die Hintergründe der Fälle zu erfinden.8 Der Titel Achados e Perdidos bezieht sich auf die Aus-
7 In Achados e Perdidos kommt Welber nicht vor, da der ehemalige Polizist Vieira, der selbst in den Fall verwickelt ist, die Rolle des Helfers übernimmt. 8 Besonders ausführlich wird die Methode in Perseguido und Vento Sudoeste dargestellt.
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gangssituation, in der eine Brieftasche, um die sich zwei Fälle ranken, verloren und gefunden wird. Diese Fälle sollen zunächst erläutert werden, bevor auf das zentrale Thema der Marginalisierung sowie die rudimentär angelegte metafiktionale Ebene eingegangen wird. Der Roman beginnt nicht aus der Perspektive des Ermittlers, sondern mit der internen Fokalisierung eines Straßenjungen. Der Junge liegt in einem Pappkarton auf dem Gehweg und beobachtet, wie ein betrunkener Mann und eine Frau aus einem Restaurant kommen. Beim Einsteigen ins Auto fällt die Brieftasche des Mannes auf den Boden. Nachdem das Auto weggefahren ist, nimmt der Straßenjunge das Geld aus der Brieftasche, erschrickt aber, als er feststellt, dass sie die Dienstmarke eines Polizisten enthält, und wirft sie wieder auf die Straße. Nach einer Weile findet sie ein finster aussehender Mann. Den Jungen beschleicht das Gefühl, die Brieftasche sei an den Falschen geraten, weswegen er beschließt, den Mann zu verfolgen. Die Taten, die mit dem Verlust der Brieftasche zusammenhängen, werden im Folgenden als der Fall "Brieftasche" bezeichnet. In einem der darauffolgenden Abschnitte wird der Besitzer der Brieftasche intern fokalisiert. Es handelt sich um Delegado Vieira, einen pensionierten Polizisten, der mit der Prostituierten Magali unterwegs war, als er die Brieftasche verloren hat. Magali wohnt in einem von ihm finanzierten Apartment und ist für ihn mehr als eine Prostituierte und doch weniger als eine Partnerin. Am darauffolgenden Morgen meldet Magalis Freundin Flor bei der Polizei, dass sie Magali ermordet in deren Wohnung gefunden hat. Sie wurde erst mit einem Gas betäubt, dann gefesselt. Der Täter hat ihr anschließend eine Plastiktüte über den Kopf gezogen, so dass sie erstickte. Ereignisse, die damit in Zusammenhang stehen, werden im Folgenden als Fall "Magali" bezeichnet. Vieira ist zu Beginn der einzige Verdächtige im Fall "Magali", da er der letzte ist, der die Prostituierte lebend gesehen hat. Zwei Indizien belasten ihn: In seinem Auto wurde eine Dose Nervengas gefunden und die Fesseln der Toten waren mit Vieiras Gürtel am Bett befestigt. Allerdings leidet der pensionierte Delegado wegen des Alkoholkonsums an einer Amnesie und kann keine Aussage machen. Aber auch auf die Finderin der Leiche fällt nach einer Weile Verdacht, da ihre Fingerabdrücke auf der Plastiktüte über dem Kopf der Toten gefunden wurden und sie sich bei Vernehmungen auffallend ausweichend gibt. Bei keinem von beiden ist ein Tatmotiv ersichtlich. Die Verdächtigen und die Indizien lassen sich im Fall "Magali" daher wie folgt zusammenfassen: A. Vieira, ehemaliger Polizist und besonderer Kunde der Toten Belastende Indizien: Nervengas in seinem Auto, Gürtel am Tatort 170
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B. Flor, Prostituierte und Freundin der Toten als "suspeita secundária" (146) Belastende Indizien: Fingerabdrücke auf der Plastiktüte Espinosa übernimmt die Aufklärung des Falls "Magali" im Rahmen seiner Dienstpflichten. Er weist Vieira an, sich aus der Ermittlung herauszuhalten, woran sich dieser jedoch nicht hält. Espinosa verdächtigt seinen früheren Kollegen nur der Form halber, glaubt aber im Grunde an seine Unschuld. Er weiß, dass Vieira fähig ist, eine Gewalttat zu verüben, in diesem speziellen Fall jedoch ist er der Ansicht, dass er Magali wirklich geliebt hat: "Espinosa não duvidava de que Vieira fosse capaz de cometer um crime: duvidava de que tivesse cometido aquele crime" (33). Flor bemüht sich gleich nach Magalis Tod intensiv um Vieira. Sie bezeichnet sich als das Erbe, das Magali Vieira hinterlassen hat, und nimmt deren Platz ein. Da sie jung und äußerst attraktiv ist, verfällt der pensionierte Polizist schnell ihren Reizen. Magali bleibt nicht das einzige Mordopfer des Romans. Im Fall "Brieftasche" häufen sich bald die Leichen: Ein schlafender Straßenjunge wird mit Benzin übergossen und bei lebendigem Leibe verbrannt und zwar genau an genau der Stelle, an der der erste Junge die Brieftasche gefunden hat. Espinosa vermutet daher, dass der Täter aus Versehen den falschen Jungen umgebracht hat. Der erste Junge, der Vieiras Brieftasche gefunden hat, wird am Strand getötet, ein Unbekannter zerschmettert ihm den Kopf an einem Felsen. Der Straßenarbeiter Clodoaldo, der den Jungen an Espinosa verwiesen hat, wird erschossen und zwar mit Espinosas Dienstwaffe, die ihm zuvor ein Eindringling in seiner Wohnung abgenommen hat. Dazu kommen Angriffe auf Vieira und Espinosa. Der einzige Verdächtige im Fall "Brieftasche" ist zunächst der Unbekannte, der zu Beginn die Brieftasche an sich genommen hat. Dieser wird jedoch im letzten Drittel des Romans tot aufgefunden. Es stellt sich heraus, dass er Vieiras Dienstmarke dazu benutzt hat, Geschäfte zu machen. Aufgrund seines frühen Todeszeitpunkts kann er die Morde an den beiden Jungen und Clodoaldo nicht verübt haben. Espinosas Überlegungen führen jedoch zu der vagen Vermutung, dass der Täter ein Profi, möglicherweise ein Polizist sein könnte, denn der Eindringling in seiner Wohnung und der Mann, der Vieira zusammengeschlagen hat, wirkten äußerst professionell. Der Delegado konzentriert seine Ermittlungen daher auf Polizisten. Im Fall "Brieftasche" ergibt sich somit folgende Konstellation der Verdächtigen: C. Unbekannter Träger der Brieftasche mit Vieiras Polizeimarke Wird ermordet bevor die anderen Morde begangen werden. D. Unbekannter Profi, vielleicht ein Polizist Hinweise: sein professionelles Vorgehen 171
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Aufgrund der Sachlage kann Espinosa zunächst keine auf Indizien basierten Fragen stellen wie Mario Conde, da die Indizien in erster Linie Vieira belasten, der an Gedächtnisverlust leidet. Als Espinosa Flor zum Fall "Magali" befragt, versucht sie, seinen Verdacht auf irgendeinen Freier Magalis zu lenken. Da der Delegado sich nicht vorstellen kann, aus welchem Grund Flor ihre Freundin hätte ermorden sollen, verfolgt er diese Spur nicht intensiv: "A hipótese de Flor ou Vieira terem matado Magali para ficarem um com o outro era absurda" (118). Espinosas Fragen kreisen daher ähnlich wie die Cayetano Brulés mehr um die Klärung der Umstände und Zusammenhänge der Taten als um Indizien. Folgende Fragen stellen die Achsen der Ermittlung dar: a) Was verbindet die Morde an den zwei Straßenjungen, Clodoaldo und dem Träger von Vieiras Polizeimarke? Verbindet sie überhaupt etwas? (Fall "Brieftasche") b) In wessen Auftrag arbeitet der Mörder des Falls "Brieftasche"? c) Haben die Morde des Falls "Brieftasche" etwas mit dem Fall "Magali" zu tun? Die interne Fokalisierung wechselt von Abschnitt zu Abschnitt zwischen dem ersten Straßenjungen, Vieira, Espinosa und Flor, so dass sich verschiedene, unterbrochene und lückenhafte Handlungsstränge durch den Roman ziehen. Espinosa ist der Verbindungspunkt dieser Handlungsstränge, da alle Figuren mit ihm in Kontakt stehen. Der Mann, der Vieiras Polizeimarke an sich genommen hat, wird jedoch nicht intern fokalisiert, sondern bleibt das von außen aus der Entfernung betrachtete Objekt der Ermittlung.9 Im Laufe der Handlung werden zwei Randgruppen der Gesellschaft näher in den Blick genommen, die Prostituierten und die Straßenkinder (letztere deutlicher und anschaulicher als erstere). Die Prostituierten werden vor allem durch Flor repräsentiert. Typisch an ihrer Lebensgeschichte ist, dass sie aus einer armen Familie aus Pernambuco stammt und mit 14 Jahren von einem Mann aus der Oberschicht mit nach Rio genommen wurde, um bei ihm als Hausangestellte zu arbeiten. Jedoch setzte sie die Hausherrin wegen ihrer sexuellen Beziehung zum Hausherrn bald auf die Straße. Ihr Gönner finanzierte ihr fortan ein Apartment und sie wurde Prostituierte. Flor betont, dass diese Arbeit und das Leben in Rio für sie einen sozialen Aufstieg darstellt, weswegen sie stolz auf ihre Tätigkeit ist: "Não encarava a prostituição como uma profissão igual às outras. Considerava-a superior" (31). Sie bezeichnet sich selbst Eine weitere Nebenfigur ist die junge Malerin Kika, die im Freien ihre Bilder zum Verkauf anbietet. Bei ihr sucht der Straßenjunge Schutz, als er verfolgt wird. Auch aus Kikas Perspektive wird nie erzählt. Sie wird durch Espinosas Augen gesehen, der sich in sie verliebt.
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als Künstlerin ("ela se julgava uma artista", 57) und fühlt sich frei in ihren Entscheidungen. Flor entspricht in dieser Hinsicht wohl nicht dem Stereotyp der Prostituierten aus armen Verhältnissen, die Opfer der Umstände ist und sich aus purer Not prostituiert. Obwohl sie für die Gesellschaft ein Mensch zweiter Klasse darstellt, besitzt Flor ein großes Selbstwertgefühl. Sie widersetzt sich dem pejorativen Diskurs über Prostituierte, indem sie sich diesen aneignet und in ihrem Sinne umdeutet: "Além do mais, dizem que é a profissão mais antiga do mundo, e se existe há tanto tempo é porque é boa" (31).10 Flor pocht nicht nur auf ihre Würde, sondern ist zudem sehr geschäftstüchtig, strategisch und berechnend: Sabia que podia dividir os homens em dois grandes grupos: os que procuram a prostituta que exibe o estereótipo da profissão – vestido preto colante e decotado, sandálias de salto alto, muito pintura no rosto e nas unhas das mãos e dos pés, além de outros detalhes mais – e os que procuram não a prostituta, mas a moçapadrão de classe média que não conseguem conquistar e que pagam para ter por uma noite. Flor optara pelo segundo padrão, por motivo estritamente comercial (185).
In ihrer Verbindung mit Vieira sieht sie große "kommerzielle" Vorteile, weswegen sie sich ihm nach Magalis Tod aufdrängt. Indem sie sich bewusst nach dem Geschmack und den Wünschen ihrer Freier wie eine "moça-padrão de classe média" kleidet und verhält, macht sie sich selbst zur Ware. Auf dem Markt, auf dem sie sich anpreist, trägt sie also eine Verkleidung (oder Maske), mit der sie sich einen Platz in der Gesellschaft sichert, der dem einer "echten" Frau aus der Mittelschicht streckenweise sehr nahe kommt, so dass Schein und Sein nahezu verschmelzen. Von Vanessa, einer anderen Freundin Magalis, wird Flor als "folha de taioba" fremdcharakterisiert. Mit dieser Metapher soll Gefühlskälte ausgedrückt werden: "você enfia n’água e ela sai seca" (133). Der geübte Leser von Kriminalromanen wird in dieser Charakterisierung einen Hinweis auf Flors Schuld vermuten. Bei den Ermittlungen im Fall "Brieftasche" spielt vor allem die Randgruppe der Straßenkinder eine Rolle, die anhand der beiden Jungen und den Aussagen des Straßenarbeiters Clodoaldo thematisiert wird. Wie auch in anderen Romanen zeigt Garcia-Roza hier anschaulich, dass die Marginalisierten der Gesellschaft fast ohne ihr Zutun in Verbrechen
10 Ihre Strategie ähnelt einem typischen Verfahren, das Randgruppen anwenden, um diskriminierende Diskurse zu durchbrechen. Die abwertende Fremdbezeichnung wird dadurch überwunden, dass die betroffenen Subjekte sie sich aneignen und sich selbst damit bezeichnen. Ein beliebtes Beispiel dafür ist die positive Umwertung der Bezeichnungen "schwul" oder "lesbisch" in den 1970er Jahren durch Selbstbezeichnung. Verschiebungen im gesellschaftlichen Diskurs können solche Strategien jedoch nur bewirken, wenn eine große Zahl von Individuen daran teilnimmt.
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hineingezogen werden und mit ihrem Leben dafür bezahlen.11 Obdachlose, Transvestiten, Prostituierte und Straßenkinder bewegen sich in einer Stadt wie Rio de Janeiro, in der Verbrechen zum Alltag gehört, stets am Rande zum Abgrund, da viele von ihnen leichte Opfer sind, die von niemandem protegiert werden.12 Auf der untersten Stufe stehen jedoch die Straßenkinder. Der Junge, der nichts weiter getan hat, als eine Brieftasche vom Bürgersteig aufzuheben und das Geld herauszunehmen, ahnt schnell, dass er dadurch sein Leben aufs Spiel gesetzt hat: Dormiu com medo da polícia e do ladrão. Tinha mais medo da polícia, ou dos que faziam o serviço sujo para ela. Era de opinião que adiantava pouco procurar proteção junto aos outros meninos; quando querem liquidar um deles, liquidam todos. Menino de rua é tudo igual. Além do mais, se não fosse perseguido pela polícia corria o risco de um vagabundo qualquer descobrir que estava com todo aquele dinheiro; tinha mais ódio de mendigo e vagabundo do que de polícia (22).
Der Junge ist dem Gesetz der Straße ausgeliefert. Für einen Dieb oder Bettler ist es sehr einfach, einem kleinen Jungen Geld abzunehmen und ihn dabei zu verletzen oder sogar zu töten. Dass er sich auch nicht an die Polizei wenden möchte, entspricht wieder dem eingangs erwähnten negativen Bild der (realen sowie literarisch und filmisch dargestellten) brasilianischen Polizei. Clodoaldo kostet es große Mühe, den Jungen davon zu überzeugen, dass Espinosa vertrauenswürdig ist. Der Junge spricht schließlich mit dem Delegado und erzählt ihm, wie er den Mann mit der Brieftasche bis zu seinem Wohnhaus verfolgt hat. Bei der erstbesten Gelegenheit verschwindet er jedoch wieder, da er von der Polizei keine weitere Hilfe erwarten kann: A relação de um menino de rua com a polícia é muito ambivalente, ele pode ter ficado em dúvida quanto a ser efetivamente protegido. O que iria acontecer depois que eu e a moça [Kika] fôssemos para nossas casas? Iríamos levá-lo conosco? O máximo que poderíamos fazer seria entregá-lo a uma instituição para menores abandonados, e isso certamente é a última coisa que deseja na vida. Preferiu fugir (94).
Hier wird deutlich, dass die Polizei, auch wenn sie Ansprechpartner für ein konkretes Problem werden kann, dennoch nie die existenziellen Probleme eines Straßenkindes lösen wird. Aus dem vorangegangenen Zitat geht außerdem hervor, dass Straßenkinder oft nicht als Individuen wahrgenommen werden, sondern als Spezies ("Menino de rua é tudo igual"). Ein Indiz dafür ist auch, dass der
11 In O Silêncio da Chuva gerät der mittellose, kleinkriminelle Max durch Zufall an einen Tatort und versucht Profit daraus zu schlagen. 12 Obdachlose und Bettler kommen vor allem in Berenice Procura und Espinosa Sem Saída vor, Transvestiten ebenfalls in Berenice Procura.
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Name des Straßenjungen nicht erwähnt wird. Niemand fragt ihn danach, nicht einmal Espinosa oder die junge Malerin Kika.13 So verwundert es auch nicht, dass der Täter die Kinder verwechselt und zuerst einen falschen Jungen umbringt. Da Straßenkinder für die im Roman skizzierte Gesellschaft nur eine Masse völlig unnützer Lebewesen darstellen, haben sie kein Gesicht. Greift man auf die Metapher der Maske aus Paduras Roman zurück, so könnte man es wie folgt ausdrücken: Der gesellschaftliche Diskurs setzt allen Straßenkindern dieselbe Maske auf, und zwar eine solche, die keinerlei individuelle Züge besitzt. Die so konstruierten Subjekte haben jedoch in ihrer Kondition als verarmte, marginalisierte Kinder, als Parias der Gesellschaft, keine Möglichkeit, einen Gegendiskurs zu artikulieren, wie dies beispielsweise Flor als erwachsene Prostituierte zumindest im kleinen Rahmen kann. Schlimmer noch formuliert Clodoaldo die Position der Straßenkinder: "Não são propriamente gente, não para o resto da sociedade. São uma espécie de quase-gente, e ninguém se preocupa com eles; quando muito aparece uma senhora caridosa oferecendo pão e leite" (172). Wenn sie in den Augen der sozial höher stehenden Menschen nicht einmal den Status einer Person erreichen, verwundert es kaum, dass ein toter Straßenjunge eigentlich keinen Anlass für die Polizei bildet, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Auch Magalis Tod wäre an und für sich kein Grund, Ermittlungen anzustrengen, wäre nicht Vieira in die Sache verwickelt: "[…] assassinatos de prostitutas e meninos de rua não constituem acontecimentos significativos para a instituição" (115). Vor dem Hintergrund dieser Einstellung der Gesellschaft zu ihren schwächsten Gliedern wirkt Espinosas Vermutung, die Morde könnten eine soziale Säuberungsaktion darstellen, alles andere als abwegig: Até agora, mataram o que consideram lixo da sociedade. Consideram estar fazendo algo semelhante ao departamento de limpeza urbana […]. Meninos de rua, mendigos, travestis, para eles não fazem parte da humanidade, assemelham-se tanto aos humanos quanto uma lata de lixo se assemelha a um prato de comida servido num restaurante (230).
In der Parallelisierung von "meninos de rua, mendigos, travestis" und "lata de lixo" beziehungsweise "humanidade" und "prato de comida servido num restaurante" wird der Status der Marginalisierten nochmals als erbärmlich charakterisiert. Schlimmer noch als in der Entmenschlichung der Straßenkinder in Clodoaldos Ausdruck "quase-gente", wer-
13 Der zweite Junge heißt Washington, das erfährt Espinosa vom Straßenarbeiter Clodoaldo, dem einzigen, der sich intensiv mit den Kindern beschäftigt (98).
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den sie hier mit dem Müll der Gesellschaft gleichgesetzt, der entsorgt werden muss.14 Espinosa tappt sowohl in Bezug auf den Mord an Magali als auch in Bezug auf die anderen Morde lange Zeit im Dunkeln. Er weiß nicht einmal, ob die Fälle etwas miteinander zu tun haben, und fragt sich deshalb, ob ein und derselbe Täter die beiden Jungen und Clodoaldo ermordet hat, in seine Wohnung eingedrungen ist und Vieira zusammengeschlagen hat: "Nada tinha a ver com nada. O nonsense culminava com a invasão do seu apartamento e o roubo da arma que seria utilizada depois no assassinato de Clodoaldo" (218). Das Hinauszögern der Lösung ermöglicht ein langes Tüfteln des Ermittlers. Dieser deckt viele Details auf, die die Funktion der Spannungssteigerung erfüllen, sich aber letztendlich als irrelevant erweisen.15 Wie eingangs erwähnt, basiert Espinosas Ermittlungsmethode in erster Linie auf einer assoziativen Hypothesenbildung. Er lässt sich dabei weniger von der Vernunft leiten, sondern neigt dazu, die Fälle mit viel Vorstellungskraft auszuschmücken und sie in Fiktionen zu verwandeln, die er aber alsbald wieder verwerfen muss: […] sabia da dificuldade que tinha para manter o pensamento dentro dos padrões mínimos de racionalidade; não que fosse ou se julgasse louco, em absoluto, era até mesmo apontado pelos colegas como exemplo de policial que usava mais a cabeça do que as mãos; mas o que os colegas não sabiam era que nele o imaginário atropelava de tal modo o raciocínio lógico que chegava a duvidar de ter empreendido algum dia uma seqüência de pensamento considerada por ele como puramente lógica (128).
Ein weiteres Beispiel für die Beschreibung der Methode ist folgende Textstelle: Pensar, para Espinosa, não era articular conceitos logicamente, mas um enfrentamento mortal entre a racionalidade pura e o imaginário sem limites que dominava de forma quase absoluta o que ele próprio considerava atividade mental. Entre o racionalista frio e o fantasista semidelirante, ele situava a si mesmo entre os segundos, embora aparentasse o oposto (268).
In beiden Zitaten fallen Wörter, die Espinosas Gedankengänge mit etwas Krankhaften in Verbindung bringen. Zwar weist er von sich, "lou-
14 Hinsichtlich der Stellung der Straßenkinder wäre ein Vergleich mit Jorge Amados Capitães da Aréia (1937) interessant. Die Situation der Straßenkinder Salvadors wird darin hoffnungsträchtiger dargestellt; einige von ihnen schaffen den Sprung in ein erfolgreiches Berufsleben. 15 Beispiele für solche letztendlich unnützen Ermittlungsergebnisse sind folgende: Magali besaß einen Ersatzschlüssel zu Flors Apartment. Diesen hat Flor nach dem Mord aus Magalis Wohnung entfernt. Laut Vanessa drohte Vieira im Streit, Magali umzubringen. Vanessa, Flor und Magali teilten eine Telefonleitung mit drei Apparaten, so dass sie die Gespräche untereinander mithören konnten.
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co" zu sein, aber dies bezeugt nur, dass er sich in der Nähe des Wahnsinns positioniert. Im zweiten Zitat bezeichnet er sich als "fantasista semidelirante", was ihn ebenfalls auf die Schwelle zum Pathologischen stellt. Espinosas Methode wird in Achados e Perdidos zwar mehrmals beschrieben, der Leser erhält aber nur kurze Einblicke in die Hypothesen des Ermittlers. In den anderen Romanen wird das Verfahren deutlicher, da Espinosas Fantasielösungen dort in inneren Monologen mitgeteilt werden. Liest man Achados e Perdidos isoliert, so bleibt die Selbstcharakterisierung Espinosas als "fantasista semidelirante" eine bloße Behauptung, die nicht am Verhalten des Delegado verifiziert werden kann. In der Gesamtschau der Romane wird jedoch die Absicht des Autors deutlich. Er möchte aufzuzeigen, dass Indizien, Zeugenaussagen und Verhaltensweisen immer auf mehrere unterschiedliche Weisen interpretiert werden können und zur vollständigen Rekonstruktion der Tat stets Informationen fehlen. In Achados e Perdidos tüftelt Espinosa zum Teil zusammen mit Vieira, der sich nicht davon abhalten lässt, selbst inoffiziell zu ermitteln und somit als Dialogpartner für Espinosa eine Art Watson-Funktion einnimmt.16 Die Hypothesen der Ermittler bringen sie zumindest im Fall "Brieftasche" weiter. Espinosa und Vieira schlussfolgern, dass die Mörder des unbekannten Mannes, in dessen Besitz sich Vieiras Polizeimarke befand, aus diesem herauspressen wollten, mit wem er zusammenarbeitet. Da er aber allein arbeitete, nannte er die Leute, die ihm gefolgt waren (den Jungen, Clodoaldo und Vieira) und machte sie damit zu unschuldigen Opfern. Einen Beweis dafür haben Espinosa und Vieira jedoch noch nicht. Vieira resümiert später an Flor gewandt: "Flor, sabe que nessa história toda têm acontecido coisas com as pessoas erradas? […] O menino que morreu queimado foi morto por engano; tenho quase certeza de que apanhei por engano; só falta descobrirem que Magali foi morta por engano" (178). Hier kommt Vieira der Wahrheit sehr nahe, denn der Tod Magalis wird sich später tatsächlich als eine Art "engano" erweisen. Die Hypothesen zum Fall "Brieftasche" werden schließlich dank Vieiras Kontakten zur Unterwelt mit beweiskräftigen Aussagen unterfüttert. Der Mörder wurde von einer Gruppe Polizisten beauftragt, die mit den Drogendealern zusammenarbeiten. Er sollte den Mann, der mit Vieiras Polizeimarke arbeitete und ihnen damit in die Quere gekommen war, aus dem Weg räumen. Verantwortlich für die vielen Morde an Unschuldigen ist letztlich also die Polizei, deren schlechter Ruf an dieser Stelle eine Rechtfertigung erfährt. 16 In den Gesprächen der beiden wird noch einmal auf die Methode der Hypothesenbildung angespielt: "Espinosa e Vieira discutiram, durante mais de uma hora, as várias hipóteses sobre a série de acontecimentos desde a perda da carteira. Em vez de a cada hipótese surgir uma possível conclusão, surgiam novas hipóteses para cobrir as lacunas deixadas pelas hipóteses anteriores" (146).
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Da sich damit auch die Fälle "Magali" und "Brieftasche" als voneinander unabhängig erweisen, hat der Roman zwei Enden, die beide in der Form von Showdowns präsentiert werden. Der Showdown im Fall "Brieftasche" wird aufwändig vorbereitet und mit viel Spannung erzählt. Er kulminiert in einer Schießerei im Fahrstuhl eines Hotels, bei der der Täter zu Tode kommt und Espinosa und Vieira verletzt werden. Eine Übergabe des Täters an die Justiz ist nicht mehr möglich, da die Polizisten ihn bereits "gerichtet" haben. Der Fall "Magali" löst sich am Morgen darauf in Vieiras Wohnung. Espinosa konfrontiert Flor mit seinen Hypothesen über den Tathergang. Er behauptet, sie habe in der Tatnacht Magali geholfen, Vieira ins Bett zu bringen, und sei dann mit ihr in Vieiras Auto nach Hause gefahren. Zum Spaß habe sie mit Magalis Nervengas hantiert und ihre Freundin versehentlich betäubt. Dann sei sie in Panik geraten und habe Magali die Plastiktüte über den Kopf gezogen und mit Vieiras Gürtel gefesselt, um den Verdacht auf Vieira zu lenken. Als Flor anfängt, Espinosa wegen dieser Anschuldigungen zu beschimpfen, erschießt Vieira sie, weil er sich von ihr getäuscht und ausgenutzt fühlt. Auch im Fall "Magali" erfolgt also keine strafrechtliche Verfolgung der Täterin, die letztendlich nicht gestanden hat. Der gesetzlich vorgesehene Prozess wird durch einen Akt von Selbstjustiz des Geschädigten ersetzt, ein Ende, das in der Kriminalliteratur nicht ungewöhnlich ist, jedoch in den US-amerikanischen Ermittlungs- und Anwaltsserien (Pseudonorm) schon, da darin ein Protagonist einen solchen Verstoß nicht begehen könnte. Schließlich verbleibt noch die Untersuchung der metafiktionalen Ebene, die Garcia-Roza in Achados e Perdidos anlegt und die ihn mit Padura und Ampuero verbindet. Espinosa liest zwischen den Ermittlungsarbeiten Lord Jim von Joseph Conrad. Das Buch gehört zu den von seiner Großmutter geerbten Büchern und hatte schon einen früheren Besitzer, der Notizen darin hinterlassen hat, und zwar steht vorne: "Comecei a ler em 22.2.40 (quinta-feira)", und hinten: "Terminei dia 24.2.40 (sábado) às 23h30. Achei um pouco monótono…" Weiter unten steht eine Anmerkung jüngeren Datums desselben Lesers: "21.3.54 (domingo) – Acabei de reler este livro e agora o considero um dos melhores que tenho lido" (79f.). Der Vorbesitzer hat bei seiner zweiten Lektüre, Jahre nach der ersten, seine Meinung über das Buch zum Positiven hin verändert. Espinosa wird durch diese Notizen neugierig und will wissen, zu welchem Urteil er selbst kommt. Jedoch lenken ihn seine Ermittlungen zu sehr vom Lesen ab. Am Ende hat er praktisch nichts von Lord Jim gelesen, weswegen auch nicht geklärt wird, wie das Buch auf ihn wirkt. Genauso wenig wird eine mögliche inhaltliche Verbindung zwischen der Ermittlungsarbeit und Lord Jim geknüpft. Zwar kann der mit postmoderner Kriminalliteratur vertraute Leser die handschriftlichen Notizen in dem Buch auf den Akt der Ermittlung im Sinne einer immer subjektiven, 178
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ambiguen Interpretation übertragen, im Roman finden sich aber keine weiteren Hinweise, die eine solche Lesart nahelegen würden. Ein aufmerksamer Leser wird daher am Ende enttäuscht, da durch die Passage über Lord Jim die Erwartung entsteht, dass dies funktional mit den Kriminalfällen und ihrer Lösung in Verbindung gebracht wird. Schlussfolgerungen In Achados e Perdidos spielen Indizien eine untergeordnete Rolle für die Aufklärungsarbeit. Espinosas Methode der freien Assoziation und Hypothesenbildung eröffnet den Blick darauf, dass Indizien und vor allem auch Zeugenaussagen auf unterschiedliche Weise gedeutet werden können und zur Aufdeckung der vollen Wahrheit immer Informationen fehlen, die unwiederbringlich verlorengegangen sind. Folgerichtig basiert auch Espinosas Lösung des Falls "Magali", die als die "richtige" suggeriert wird, nicht auf forensischen Spuren, sondern auf der Menschenkenntnis und Intuition des Ermittlers, der durch seine Hypothesen eine Reaktion bei der Täterin auslöst, die einem Geständnis gleicht. In anderen Romanen wie Perseguido, Vento Sudoeste und Uma Janela em Copacabana bleibt die Lösung sogar im rein Hypothetischen, da der Verdächtige nicht gesteht und einige Restfragen unbeantwortet bleiben. Darin sieht Garcia-Roza ein Merkmal des "Rätsels", das für ihn im Gegensatz zum "Problem" keine eindeutige Lösung kennt. O crime para mim não é o problema, o crime para mim é o enigma. Eu acho que a natureza do enigma é exatamente a ambiguidade, o fato de não ter apenas uma solução. Ou melhor, o enigma não tem solução. O problema tem solução, o enigma não. O enigma tem uma decifração. E toda decifração é ambígua. Então é isso que me interessa (Wieser 2010 [2006]: 114).
Die hier angesprochene Entzifferung erfolgt in den Romanen durch die assoziative Vorstellungskraft des Ermittlers, mit der er sich schrittweise der Lösung nähert. Im Gegensatz zu Paduras Roman wird bei GarciaRoza die Wahrnehmung des Ermittlers nicht durch einen politischen Diskurs beeinträchtigt. Auch bei Ampuero war dies nicht der Fall. Die Ermittlung Espinosas wird jedoch einerseits durch einen negativen Diskurs über die Polizei erschwert, da dieser dazu führt, dass vor allem marginalisierte Subjekte (wie der Straßenjunge) ihr nicht vertrauen. Andererseits wird die Arbeit der Polizei aber auch von innen sabotiert, da die Institution von korrupten und kriminellen Polizisten durchsetzt ist, die gegen ihre Kollegen arbeiten und mit Verbrecherbanden paktieren.17 17 Die Kritik am Polizeiapparat gehört zum Programm des Autors (z. B. auch in O Silêncio da Chuva, Uma Janela em Copacabana).
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Ermittlungsromane
Darin unterscheiden sich Garcia-Rozas Romane übrigens kaum von der Pseudonorm, da auch in der Trivialliteratur und in Krimifernsehserien immer wieder Verbrecher in den Reihen der Polizei entlarvt werden. Die Romane des Brasilianers wollen in erster Linie unterhalten, indem sie Spannung erzeugen, eine Kunst, die der Autor hervorragend beherrscht. Er baut viele falsche Fährten ein, die dazu führen, dass der Fall immer unlösbarer scheint, und zögert die Aufklärung so lange wie möglich hinaus. Die Romane Garcia-Rozas sind deutlich stärker auf die Lösung eines whodunit und einen Showdown am Ende zugeschnitten als die Leonardo Paduras und Roberto Ampueros. Durch die aufwändige Vorbereitung des Showdowns (vor allem im Fall "Brieftasche") werden die Nerven und Erwartungen des Lesers stark angespannt und Emotionen erzeugt, in denen die Gefahr eines zu einfachen moralischen Urteils nach den Kategorien von "gut" und "böse" steckt, da Showdowns generell das Bedürfnis des Lesers nach Reflexion schwächen und einen Eindruck von Abgeschlossenheit und Ordnung vermitteln. Garcia-Rozas Romane lösen insofern mehr Lesererwartungen ein und enthalten weniger retardierende Reflexionen. Den gesellschaftlichen Stellenwert von Verbrechen und Gewalt arbeitet Garcia-Roza etwas nicht so deutlich heraus wie die anderen beiden Autoren. In Achados e Perdidos wird anhand der Darstellung der Situation der Straßenkinder und (etwas weniger prägnant) der Prostituierten gezeigt, dass die Gesellschaft bestimmte Randgruppen ablehnt und der Gewalt ausliefert. Garcia-Roza interessiert sich jedoch nicht besonders für eine Erklärung der wirtschaftlichen, politischen oder sozialen Prozesse, die Kinder in Rio de Janeiro zu Straßenkindern werden lassen. Dies gehört wahrscheinlich in den Bereich, den der Autor für allzu offensichtlich hält. Es geht ihm vielmehr darum zu zeigen, wie schutzlos und ausgeliefert sie sind und was dies in ihrer Psyche bewirkt. Als Marginalisierte und zudem noch als Minderjährige stehen sie am untersten Rand der Gesellschaft und werden nicht als Menschen mit Persönlichkeitsrechten wahrgenommen. Im Fall "Brieftasche" verknüpft der Autor die Verbrechen mit dem gesellschaftlichem Kontext insofern, als sie nur in einem urbanen Setting denkbar ist, in dem Polizeibanden und Drogendealer ihre potenziellen Feinde und sogar Kinder kaltblütig ermorden. Was daran spezifisch brasilianisch ist, bleibt aber unscharf. Der Fall "Magali" enthält dagegen kaum gesellschaftskritisches Potenzial, da zwar das Innenleben einer Marginalisierten dargestellt wird, die Tat selbst sich aber letztendlich als fahrlässige Tötung beziehungsweise als "engano" erweist und mit der sozialen Stellung der Täterin als Prostituierte nichts zu tun hat. Damit ist das Tötungsmotiv vom gesellschaftlichen Kontext abgekoppelt und frei von subversivem Potenzial.
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Luiz Alfredo Garcia-Roza: Achados e Perdidos
Im Vergleich zu den Romanen Paduras und Ampueros spielt das Thema Gewalt in Achados e Perdidos eine größere Rolle. Die Zahl der Toten ist deutlich höher und die Opfer werden zudem als wehrlos und unschuldig charakterisiert, wodurch die Grausamkeit der Tat besonders deutlich hervortritt und beim Leser Betroffenheit auslöst.18 Die Zuspitzung des Endes auf einen Showdown führt außerdem ähnlich wie in der Pseudonorm zum Eindruck, dass Verbrechen tilgbar ist, wenn all seine Akteure ausgeschaltet werden. Dieser Gefahr versucht Garcia-Roza entgegenzuwirken, indem er Espinosa über seine Tätigkeit als Polizist nachdenken lässt: Considerava a polícia uma instituição que opera num espaço de fronteira entre a ordem social e o crime, assim como o hospital psiquiátrico opera na região que separa e articula a sanidade e a loucura. Não são dois mundos externos um ao outro, mas contíguos, ou até mesmos superpostos. Loucura e crime não são originários de um mundo estrangeiro, mas de potências internas ao próprio homem. Ambos são nossos íntimos. Podemos tentar ignorá-los, ou confrontá-los (92).
Die Frage der Subjektkonstruktion kann in Achados e Perdidos bezüglich der Straßenkinder und Polizisten beantwortet werden. Die Straßenkinder sind als Opfer eines Diskurses über sie zu fassen. In diesen Diskurs können sie selbst nicht eingreifen, da sie zu jung und zu machtlos sind. Er setzt jedem einzelnen von ihnen dieselbe ausdruckslose Maske auf, macht sie damit zu einer grauen Masse, in der die Individuen nicht unterscheidbar und nichts wert sind. Sie sind ein Beispiel für solche Subjekte, die Gayatri Spivak (1988) als Subalterne bezeichnet und denen es nicht möglich ist, eine eigene, vom Diskurs der herrschenden Klassen losgekoppelte Stimme in der Gesellschaft hörbar zu artikulieren. Das Subjekt des Ermittlers und der anderen Polizisten wird durch einen negativen Diskurs über die Polizei konstruiert. Das so geschaffene Vertrauensdefizit bekommt der Ermittler zu spüren, wenn er mit Verdächtigen spricht. Auf diese Weise tritt Garcia-Roza mit verschiedenen Diskursen und den in ihnen angelegten Weltanschauungen in Dialog und kritisiert ihre diskriminierende Haltung.
18 Die Thematisierung von Gewalt verbindet Garcia-Rozas Werk nur oberflächlich mit den im folgenden Kapitel behandelten Romanen. Zwar werden in seinen Romanen viele Gewaltverbrechen begangen, die Verzahnung mit einem ganz spezifisch bestimmbaren lebensweltlichen Kontext ist jedoch nicht so deutlich wie bei den "Gewaltromanen".
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5. Gewaltromane Ein großer Teil der lateinamerikanischen Kriminalschriftsteller schreibt einen Romantyp, bei dem die Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen von Gewalt in einem spezifischen gesellschaftlichen Kontext im Vordergrund steht. Die Zustände, auf die die Romane Bezug nehmen, unterscheiden sich hinsichtlich des Stellenwerts von Gewalt und Verbrechen beträchtlich von denen, auf die nordamerikanische und europäische Kriminalromane referieren.1 Lateinamerikanische "Gewaltromane" spielen nicht nur vor dem Hintergrund von organisiertem Verbrechen, sondern auch von staatlich institutionalisiertem Terror und bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Typisch ist außerdem das urbane Setting, weswegen es zu Überlappungen zwischen dem Großstadtroman im Allgemeinen und dem "Gewaltroman" qua Kriminalroman kommt. Neben den Werken, die im Folgenden behandelt werden, passen in diese Kategorie beispielsweise auch die Romane von Rubem Fonseca (Brasilien), Horacio Castellanos Moya (El Salvador), Juan Hernández Luna, Eduardo Monteverde (Mexiko), Guillermo Saccomanno, Leonardo Oyola (Argentinien), Fernando Vallejo, Arturo Alape (Kolumbien) und vielen anderen.2 Die Autoren von "Gewaltromanen" verfolgen in der Regel das Ziel, gesellschaftliche Missstände aufzudecken, ein Anliegen, das sie mit den Autoren der "Ermittlungsromane" teilen. Beide halten die Gattung der novela policial oder negra für besonders geeignet, diese Absicht umzusetzen. Raúl Argemí erklärt seine Affinität zum Kriminalroman folgendermaßen: "Las historias que en el fondo yo cuento en todas mis novelas tienen que ver con la violencia implícita, la violencia en la vida cotidiana. Y la novela negra creo que es el mejor modo de poder contarla" (Wieser 2010 [2008]: 40). Santiago Roncagliolo äußert sich ähnlich: "La novela negra se convirtió en la mejor manera de hablar de un tema que a mí me interesaba, el tema de la guerra, de la violencia, de la muerte" (Wieser 2010 [2008]: 224). Élmer Mendoza hält den Kriminalroman ebenfalls für das ideale Vehikel, sich literarisch mit gesellschaftlichen Realitäten auseinandersetzen: Creo que hoy la novela negra es de los géneros más fuertes, de los más leídos en el mundo y también uno de los que tiene la oportunidad de retratar en todos sus aspectos el tejido social que vivimos. Cada sociedad engendra sus delincuentes, y
In Kapitel 2.1 wurde ausgeführt, worin die Unterschiede im Wesentlichen bestehen und welche Schwierigkeiten sich daraus für die Aneignung der Gattung ergeben. 2 In Kapitel 2.4 wurde ebenso eine Vielzahl von Werken genannt, die als "Gewaltromane" klassifizierbar sind. 1
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Gewaltromane
ellos dan información del tipo de sociedad a la que pertenecen (Farfán Cerdán 2008).
Da in der lateinamerikanischen Politik viel vertuscht und verheimlicht wird, hält Alonso Cueto die Nähe des zeitgenössischen lateinamerikanischen Romans zum Kriminalroman nur für natürlich: "[…] en general América Latina es un continente que es proclive a la novela negra porque la realidad es negra, en muchos casos" (Wieser 2010 [2009]: 209). "Gewaltromane" sind eine Weiterentwicklung der amerikanischen hardboiled detective novel,3 mit der sie ihr Anspruch einer realitätsnahen und glaubhaften Darstellung von Gewalt und Verbrechen sowie ihr eher pessimistisches Weltbild verbindet. Auch die hohe Frequenz an physischer Aktion und Gewaltszenen basiert in erster Linie auf der amerikanischen Traditionslinie des Genres. Dieses Erbe wird in den lateinamerikanischen "Gewaltromanen" radikalisiert, der Glaube an das Gute, an Moral und Gesetz über Bord geworfen und durch das Recht des Stärkeren und das Gesetz des Ellenbogens ersetzt. Positive Helden wie Philip Marlowe, dem die Helden der "Ermittlungsromane" ähneln, werden in den "Gewaltromanen" durch Antihelden wie Auftragsmörder und Mafiosi ersetzt. Die Aneignung der Gattung erfolgt bei den "Gewaltromanen" in der Regel nicht durch die Übernahme einer bestimmten Struktur aus der Gattungstradition und Pseudonorm. Ihr systemreferenzieller Bezug entsteht in erster Linie durch das Thema "Verbrechen" und insbesondere "Gewaltverbrechen". Die Transformation der Tiefenstruktur der Gattung (Verbrechen – Täter – Opfer) in eine Oberflächenstruktur wird auf unterschiedliche Weise vollzogen. Häufig erfolgt die Darstellung aus der Perspektive eines Täters, der im Laufe der Handlung mehrere Delikte verübt. Eine Ermittlung findet in "Gewaltromanen" vergleichsweise selten statt. Die sechs Romane, die im Folgenden untersucht werden, rücken verschiedene Dimensionen von Gewalt in den Blick. In den Werken von Patrícia Melo und Jorge Franco, O Matador (1995) und Rosario Tijeras (1999), wird Verbrechen durch ökonomische und soziale Marginalisierung generiert, weswegen die Romane unter dem gemeinsamen Nenner "strukturelle Kriminalität" zueinander in Beziehung gesetzt werden können (Kap. 5.1). Soziale Ungleichheit, der scharfe Gegensatz zwischen Arm und Reich und die Abwesenheit der staatlichen Ordnungskräfte Wie in Kap. 2.1 gezeigt beruht diese Einordnung unter anderem auf Selbstaussagen mancher Autoren. Die traditionellen hard-boiled detective novels sind nach dem Ermittlungsschema aufgebaut, wobei der Ermittler die Rolle des autodiegetischen Erzählers übernimmt. Täter als Protagonisten gab es zum einen schon Anfang des 20. Jahrhunderts in Frankreich (Arsène Lupin, Fantômas), bei James M. Cains Klassiker The Postman Always Rings Twice (1934), bei Patricia Highsmith in den 1950er Jahren (Tom Ripley) oder auch bei Jim Thompson. Bei Cain und Thompson sind die Täter sogar Ich-Erzähler der Romane.
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Gewaltromane
führen in diesen Romanen zum Entstehen von Gewaltkulturen mit Profikillern. In Raúl Argemís Penúltimo nombre de guerra (2004) und Santiago Roncagliolos Abril rojo (2006) werden Formen der staatlich verübten, das heißt "institutionalisierten" Gewalt thematisiert (Kap. 5.2). Sie referieren auf lebensweltliche Kontexte, in denen der Staat sein Gewaltmonopol missbraucht, Menschenrechte missachtet und Gewalt und Mord als Mittel der Politik einsetzt. Raúl Argemís Roman geht der Frage nach, zu welchen Taten Menschen fähig sind, deren Charakter unter Terrorregimes geformt wird, und Santiago Roncagliolos Roman befasst sich mit den Schwierigkeiten, unter solchen Bedingungen Straftaten aufzuklären. Im letzten Teilkapitel werden Romane untersucht, in denen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Situationen Attentate auf Politiker verübt werden. Bei Élmer Mendozas Roman Un asesino solitario (1999) handelt es sich um ein politisch motiviertes Attentat mit einem realhistorischen Hintergrund und bei Alonso Cuetos Grandes miradas (2003) um einen Racheakt einer Frau aus dem Volk für einen staatlich verübten Mord. Bei den "Gewaltromanen" ist die genologische Klassifizierung am strittigsten, da sie sich am weitesten von den großen historischen Traditionslinien der Kriminalliteratur wegbewegen. Häufig ist zu beobachten, dass die Romane in den Ursprungsländern nicht über ihre Peritexte als Kriminalromane ausgewiesen, jedoch beim Import in den deutschen Markt mit diesem Label belegt werden. Bezüglich der Epitexte fällt auf, dass diese Werke sowohl in den Ursprungsländern als auch im deutschsprachigen Raum häufig innerhalb der Kriminalliteratur verortet werden. Dennoch zeichnet sich insgesamt ab, dass sie erst ihre Internationalisierung und gleichzeitige Lösung aus dem nationalen Kontext zu Kriminalromanen im engeren Sinn werden lässt. Dieser Befund entkräftet auch ihren zwingenden Bezug zur "Pseudonorm" qua Erwartungshorizont. In ihren Ursprungslesern werden lateinamerikanische "Gewaltromane" wohl tendenziell weniger stark vor dieser Folie gelesen als außerhalb. O Matador ist beim Verlag Companhia das Letras erschienen und zwar nicht innerhalb der "Série policial" wie die "Ermittlungsromane" Alfredo Garcia-Rozas, sondern im allgemeinen Programm. Eine Gattungsangabe auf dem Umschlag oder Innentitel fehlt und auch das Umschlagbild enthält keinen entsprechenden Hinweis. Im vorderen Klappentext wird der Roman als "uma versão sangrenta do modelo clássico do Bildungsroman" bezeichnet. Seine Erstvermarktung fand also nicht unter dem Vorzeichen "Kriminalroman" statt. Auch die deutschen Ausgaben von Klett-Cotta (1997) und dtv (1999) integrieren den Roman keineswegs in eine Krimi-Reihe. Bei beiden findet sich auf dem Umschlag die Gattungsangabe "Roman"; die Umschlagbilder deuten allenfalls vage auf den Kriminalroman hin. Dies kann dem Umstand geschuldet sein, dass die Autorin sich gegen eine Kategorisierung als Krimiautorin wehrt und 184
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einer Herausgabe ihrer Werke in der "Série policial" womöglich nicht zugestimmt hätte.4 Anlässlich des Erscheinens ihres Romans Ladrão de Cadáveres (2010) betont sie in einem Fernsehinterview, dass sie ihre Literatur nicht für Kriminalliteratur hält (Sempre Um Papo 2010). Damit zeigt sie aber gleichzeitig, dass sie häufig mit dieser Zuschreibung konfrontiert wird. Sowohl in Brasilien als auch in Deutschland kategorisieren Literaturkritiker und Leser Melos Romane immer wieder als Kriminalliteratur. Im brasilianischen Internetportal Romancespoliciais.com.br, wo der Roman rezensiert wurde, wird Melo als Autorin bezeichnet, die "principalmente obras policiais" schreibt. Dasselbe Statement findet man in der portugiesischsprachigen Wikipedia, die als Gradmesser für die Wahrnehmung von halbprofessionellen Lesern gelten darf. Im deutschsprachigen Raum wird die Autorin beispielsweise auf dem meinungsbildenden Internetportal Krimi-Couch.de aufgeführt. Dort ist fast ihr gesamtes Werk, also auch O Matador, unter der Kategorie "Krimis von Patrícia Melo" aufgelistet. Des Weiteren führt die Berliner Krimibuchhandlung Hammett die Autorin auf ihrer Internetseite auf.5 Als letzter Hinweis auf die epitextuelle Zuschreibung von Melos Werk zur Kriminalliteratur sei noch erwähnt, dass die Autorin 1998 den Deutschen Krimipreis für O Matador gewann. Die Paratexte zu Francos Rosario Tijeras sind von allen hier vorgestellten Beispielen am wenigsten aussagekräftig. Der Roman erfuhr in Lateinamerika mehrere Ausgaben, keine davon innerhalb einer Krimireihe. Die Erstausgabe bei Plaza & Janés (1997) in Bogotá enthält keine peritextuelle Gattungsangabe. Auch die Umschlaggestaltung weist nicht in diese Richtung. Der Text auf der U4 enthält immerhin Stichwörter wie "violencia del narcoterrorismo", "aventura", aber auch "historia de amor". Dasselbe gilt für die zwei Ausgaben beim Planeta-Verlag (Planeta Argentina, 1999; Planeta Colombiana, 2005) sowie die spanische Ausgabe bei Mondadori (2000). Auch dort ist der Roman weder in eine Krimireihe integriert, noch wird eine Gattungsbezeichnung vergeben oder eine diesbezüglich aussagekräftige Umschlaggestaltung präsentiert. Lediglich der Umschlag der Mondadori-Ausgabe kann als Signal gedeutet werden (Totenkopf und Spruchband mit "Before Death Dishonor"). Immerhin enthalten auch diese Ausgaben wieder die Stichwörter "violencia" und "amor". Deutlich der Kriminalliteratur zugeordnet wurde das Werk allerdings im deutschen Sprachraum, wo es in der Reihe metro des Unionsverlags erschien. Metro sowie der Name des Herausge-
Eine Abwehr gegen diese Kategorisierung ist bei vielen Autoren zu konstatieren. Sie hängt sicher damit zusammen, dass sie ihre Literatur nicht in ein zu enges Korsett geschnürt sehen wollen, da das Vorurteil, Kriminalliteratur folge bestimmten Regeln oder Formeln, nach wie vor weit verbreitet ist. 5 Auf die erwähnten drei Portale wurde zuletzt am 29.02.2012 zugegriffen. 4
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bers und einflussreichen Krimikritikers, Thomas Wörtche, stehen für das Genre Kriminalliteratur.6 Diese Platzierung beeinflusst natürlich auch den Umgang mit dem Werk in den Epitexten, wobei auch hier seine Klassifizierung als Kriminalroman vergleichsweise selten ist. Ein erster Hinweis ist der Eintrag bei Krimi-Couch.de. Der Unionsverlag führt in seinem Internetportal außerdem Statements von Literaturkritikern auf, die eine Gattungszuschreibung vornehmen: In einer Rezension in der Weltwoche vom 01.01.2002, wurde der Roman als "ein Krimi und gleichzeitig eine Sozialstudie" bezeichnet und Stephan Schwammel spricht von einem "Kriminalroman der ganz besonderen Art" in Fritz Frankfurt am 01.05.2004.7 Auf der U4 der Ausgabe bei metro wird darüber hinaus Ulrich Noller vom WDR zitiert, der in Rosario Tijeras einen "extrem schnelle[n] und hochgradig poetische[n] Kriminalroman" sieht. Ein weiteres Indiz für die Gattungszuschreibung ist die Verleihung des Premio Hammett für Rosario Tijeras auf der Semana Negra de Gijón im Jahr 2000. Dies spricht dafür, dass man auch in Spanien gewillt ist, den Roman innerhalb dieser Kategorie zu lesen. Die meisten von Raúl Argemís Romanen, so auch Penúltimo nombre de guerra, erschienen beim spanischen Verlag Algaida, der keinen Vertrieb in Lateinamerika unterhält, weswegen keine Aussagen über die paratextuelle Schleuse in Argentinien getroffen werden kann.8 Algaida integriert Argemís Romane zwar in keine Krimireihe, benennt die Gattung "novela negra" aber jeweils explizit auf der U4.9 Die paratextuelle Zuschreibung ist somit viel klarer als im Falle Francos und auch Melos, obwohl Argemís Romane auch keine engeren strukturellen oder inhaltlichen Bezüge zu den großen Traditionslinien der Kriminalliteratur aufweisen als O Matador oder Rosario Tijeras. Dies könnte zum einen damit zusammenhängen, dass die Romane in Spanien erschienen sind, wo die "novela negra" zum Importlabel funktionalisiert wird, zum anderen aber Näheres zur Konzeption der Reihe erklärt Thomas Wörtche in seinem Aufsatz "The making of metro…" (Wörtche 2008: 131-139). Besonders wichtig war ihm nach eigenen Angaben, nicht nur solche Romane herauszugeben, die bestimmten vorgeformten Erwartungen entsprachen: "Crimefiction bei metro war von Anfang an eine gezielt schubladenfreie Veranstaltung" (ebd.: 133). Meine eigene Herangehensweise an den Roman wurde maßgeblich von Thomas Wörtches Zuschreibung geleitet. 7 Die Rezensionen sind bei den Zeitungen online nicht mehr einsehbar. Die Internetseite des Unionsverlags (unionsverlag.ch) wurde zuletzt am 29.01.2012 konsultiert. 8 Dies kann nur in Bezug auf Raúl Argemís ersten Roman, El Gordo, el Francés y el Ratón Pérez (1996), geschehen. Er erschien in Argentinien bei Catálogos Editora. Auf der U4 wird er als "policial" ausgewiesen. 2008 verließ Argemí Algaida. Retrato de familia con muerta (2008) erschien bei Roca Editorial und La última caravana bei Edebé. 9 Argemí stimmt der Gattungsbezeichnung generell zu, jedoch nicht im Fall von Patagonia Chu Chu: "La editorial la vende como novela negra porque a ella le conviene, pero ahí de novela negra no hay nada, en tanto lo que yo entiendo como novela negra" (Wieser 2010 [2008]: 40). Auf dem Buchrücken wird der Roman wie folgt charakterisiert: "[…] Patagonia Chu Chu es tanto una novela negra de corte clásico como un relato ácido y no exento de humor sobre la más reciente realidad argentina […]". 6
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auch damit, dass die Gattung in Argentinien auf eine ausgeprägtere Tradition blickt als in Brasilien und Kolumbien und Verleger daher eher geneigt sind, die Gattung beim Namen zu nennen. Auf Deutsch erschien Penúltimo nombre de guerra sowie ein weiterer Roman Argemís (Siempre la misma música) bei metro. Aufgrund der klaren Aussage der Peritexte erübrigt sich bei Argemí die Suche nach zusätzlichen Hinweisen in den Epitexten. Eindeutig ist auch die Gattungszuschreibung im Fall von Abril rojo von Santiago Roncagliolo. Der Grund dafür ist sicherlich die Tatsache, dass es sich hierbei um einen Roman handelt, in dem die Komponente der Ermittlung eine zentrale Rolle spielt. Zwar erschien der Roman in der allgemeinen Reihe von Alfaguara und auch die Umschlaggestaltung verweist nicht auf Kriminalliteratur, auf der U4 wird die Gattungszuschreibung jedoch explizit. Dort wird der Autor selbst zitiert: "Siempre quise escribir un thriller, es decir, un policial sangriento con asesinos en serie y crímenes monstruosos". Verlag und Schriftsteller scheinen sich also über die Klassifizierung einig zu sein. Die deutsche Ausgabe erschien bei Suhrkamp 2008, das heißt, ein Jahr bevor der Verlag seine eigene Krimireihe lancierte. Es lässt sich annehmen, dass er andernfalls in die Reihe mit aufgenommen worden wäre. Auf der U4 der deutschen Ausgabe wird Abril rojo als "psychologisch eindringliche[r] Thriller" bezeichnet. Dazu kommen Teaser wie "mörderischer Spuk" und "grausig verstümmelte Leiche". Auch hier erübrigt sich daher eine Untersuchung der Epitexte. Élmer Mendozas Romane erscheinen, wie die Conde-Romane Paduras, bei Tusquets in der Reihe Andanzas (1999). Der Verlag verfährt bei Mendoza ähnlich wie im Falle Paduras. Klare Gattungsbezeichnungen scheint er ungern zu vergeben, auch bei solchen Romanen nicht, in denen eine Ermittlung angestrengt wird, wie in Paduras Romanen oder in Mendozas Balas de Plata. Die zweite Ausgabe von Balas de Plata wurde jedoch mit einer Buchschleife (Bauchbinde) verkauft, auf der eine Rezension von J. Ernesto Ayala-Dip aus El País zitiert wird. Darin wird der Roman als "novela negra como la hubiera concebido Hammett" bezeichnet.10 Im Falle von Un asesino solitario weist der Titel bereits auf seine mögliche Zugehörigkeit zur Kriminalliteratur hin. Ähnlich wie bei Padura finden sich aber auch bei Mendozas Romanen auf der U4 Stichwörter mit genologischem Wert. Bei Un asesino solitario sind das unter anderem "asesinato", "atentado", "narcotraficantes" und "policías judiciales". Die Umschlaggestaltung signalisiert bei Mendoza meist klarer, dass
10 Genette weist allerdings auf die Kurzlebigkeit der Bauchbinden hin, da sie als zur Verpackung gehörig in der Regel schnell entsorgt werden und bei späteren Auflagen weggelassen oder ausgetauscht werden können (Genette 2001 [1989]: 33).
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Gewaltromane
es sich um Kriminalliteratur handelt, als bei Padura. Un asesino solitario zeigt ein Pop-Art-Bild von Gustavo Chávez, auf dem einem Mann eine Pistole an die Schläfe gehalten wird. In einer Denkblase steht geschrieben "Mar. 23 1994", das Datum des Anschlags auf den mexikanischen Präsidentschaftskandidaten Colosio (siehe dazu Kapitel 5.3.1).11 Sehr deutlich ist auch die Botschaft des Umschlagbilds von Balas de plata. Es zeigt einen Fotoausschnitt von einem Mann mit einer Zigarette im Mund, einem Waffenhalfter über dem Hemd und einer Pistole in der Hand. Auf Deutsch erschienen von Mendoza lediglich Balas de plata (Silber) und La prueba del ácido (Das Pazifische Kartell) und zwar in der Krimireihe des Suhrkamp-Verlags, daher können keine Aussagen über die paratextuelle Schleuse in Deutschland zu Un asesino solitario getroffen werden. Alonso Cuetos Werk ist auf mehrere Verlage verstreut: Apoyo, Peisa, Pretextos, Alfaguara, Seix Barral, Planeta, Anagrama und andere.12 Nur manche von Cuetos Romanen stellen Verbrechen ins thematische Zentrum und können daher als Kriminalromane bezeichnet werden. Obwohl in El vuelo de la ceniza eine Ermittlung und Verbrecherjagd dargestellt wird, vergibt der peruanische Verlag Apoyo (1995) bei der Erstausgabe die Gattungsbezeichnung nicht. Aber auf der U4 finden sich wieder aussagekräftige Stichwörter ("cacería", "un detective", "han decidido detenerlo"). In der späteren spanischen Ausgabe von Seix Barral (2007) wird der Begriff "novela negra" auf der U4 genannt, wobei ein weiteres Mal beobachtet werden kann, dass der Import dieser Literatur nach Europa am besten mithilfe der Gattungsangabe funktioniert. Grandes miradas erschien 2003 bei Peisa in Peru und 2005 bei Anagrama in Spanien, beides Mal nicht in einer Krimireihe. Beide Verlage verzichten auf eine Gattungsbezeichnung; bei Peisa fehlen sogar die richtungsweisenden Schlüsselwörter auf der U4, denn außer "víctima" und "vengarlo" signalisiert der Text dem Leser nicht, dass es sich um einen Kriminalroman handeln könnte. Stärker in diese Richtung tendieren die Schlagwörter Seix Barral: "es asesinado", "busca a los asesinos" und "violencia". Übersetzt wurde der Roman noch nicht. Die Vermutung liegt aber nahe, dass sich Grandes miradas für den Import im Segment Kriminalliteratur eignet, da der Roman inhaltlich-strukturell sehr gut an die Traditionslinien der Kriminalliteratur anschließbar ist. Dennoch findet eine entsprechende Klassifizierung bisher auch in den Epitexten eher selten statt. Im von mir mit dem Autor geführten Gespräch bezeugt Cueto aber zum einen 11 Der Roman erschien zwei Jahre später in der Reihe Fábula im selben Verlag. Bei beiden Ausgaben wurde dasselbe Umschlagbild und derselbe U4-Text verwendet. 12 Die meisten seiner Werke erschienen erst bei einem peruanischen und danach bei einem spanischen Verlag. Aufgrund dieser großen Streuung kann nicht auf die Paratexte aller Romane eingegangen werden. Exemplarisch wird der "Ermittlungsroman" El vuelo de la ceniza herausgegriffen und der im Folgenden untersuchte Grandes miradas.
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Gewaltromane
den großen Einfluss, den einige Klassiker der Kriminalliteratur auf ihn ausgeübt haben (Wieser 2010: 200f.), und zum anderen die Tatsache, dass in Grandes miradas die Komponente der Ermittlung eine Rolle spielt (ebd.: 211).13 Da das dominante Merkmal der hier untersuchten Romane die realitätsnahe Darstellung lebensweltlicher Kontexte ist, wird vor jeder Textanalyse die jeweilige gesellschaftliche Situation umrissen. Die zentrale Achse der Interpretationen bildet die Untersuchung dessen, wie in den Romanen das Zustandekommen von Gewalt erklärt wird. Des Weiteren werden die in Kapitel 3 vorgestellten Leitfragen wieder systematisch berücksichtigt: Bei den "Gewaltromanen" ist die Frage nach der Ermittlungsmethode jedoch nahezu hinfällig, da keine Aufklärung erfolgt oder sie zumindest nicht im Mittelpunkt steht (mit Ausnahme von Roncagliolos Roman). Insofern wird hier zu untersuchen sein, wie und warum die Aufklärung unterlassen beziehungsweise unterbunden wird. Die Frage nach dem gesellschaftspolitischen Stellenwert von Gewalt und Verbrechen sowie den ästhetischen Verfahren ihrer Darstellung betrifft das Kernthema der "Gewaltromane" und ist daher besonders relevant. Auch die Untersuchung der Identitätskonstruktion der Subjekte ist von Bedeutung, da in den Romanen durch Gewaltstrukturen gebeugte und verformte Individuen gezeigt werden.
13 Kurioserweise zeigt eine Suche nach Grandes miradas bei Google, wie stark ich selbst durch die Interviewfragen und die online Veröffentlichung des Gesprächs auf Deutsch und Spanisch bereits selbst an der epitextuellen Gattungszuschreibung mitgewirkt habe.
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5.1. Strukturelle Kriminalität 5.1.1. Patrícia Melo: O Matador (Brasilien, 1995) Die Autorin: Patrícia Melo1 Patrícia Melo wurde 1962 in Assis im Bundesstaat São Paulo geboren. 1994 erschien ihr erstes Buch, Acqua Toffana. Es enthält zwei längere Erzählungen über Bluttaten in einem urbanen Umfeld. Ein Jahr darauf veröffentlichte sie den Kriminalroman O Matador (1995) und erhielt dafür den Prix Deux Océans (1997) sowie den Deutschen Krimi Preis (1998).2 Es folgte Elogio da Mentira (1998), ein Kriminalroman voller ironischer, intertextueller Anspielungen, in dem ein drittklassiger Krimiautor einer Schlangengiftexpertin hilft, deren Ehemann umzubringen. Ihr bisher ambitioniertestes Werk, Inferno (2000, Prêmio Jabuti) erzählt den Werdegang eines Favela-Kindes in Rio, das zu einem gefürchteten Drogenboss heranwächst.3 2003 verlässt Patrícia Melo mit Valsa Negra das Terrain der Kriminal- und "Gewaltromane" und richtet ihren Fokus auf Beziehungsprobleme in der gehobenen Mittelschicht.4 Mit Mundo Perdido (2006) knüpft sie an die Handlung von O Matador an. Darin versucht Profikiller Máiquel zehn Jahre nach der Handlung des ersten Romans, seine ehemalige Geliebte und seine Tochter zu finden, und wird abermals zum vielfachen Mörder. In Jonas, o Copromanta (2008), einem humorvollen Roman voller intertextueller Anspielungen, (der allerdings kein Kriminalroman ist), liest ein Bibliothekar aus seinen Fäkalien die 1 Der folgende biblio-biografische Abriss basiert auf einem beim Culturmag erschienenen Autorenporträt (Wieser 2008). 2 Rubem Fonseca schrieb das Drehbuch für die Verfilmung des Romans, bei der sein Sohn, José Henrique Fonseca, die Regie übernahm. Der Film O Homem do Ano feierte 2003 Premiere. 3 Der Roman berührt viele Themenkomplexe, die auch in Cidade de Deus (1997) von Paulo Lins vorkommen, weswegen ein Vergleich beider Werke naheliegt. 4 Patrícia Melo gehört als erfolgreiche Schriftstellerin und Frau eines Dirigenten (John Neschling) selbst zur gehobenen Mittelschicht oder sogar zur Oberschicht. Ihre eigene soziale Stellung steht daher im Kontrast zur Stellung ihrer marginalisierten Protagonisten. Die Lebensverhältnisse, die sie in O Matador und Inferno darstellt, hat sie also selbst nur von außen beobachtet. In dieser Hinsicht unterscheidet sich ihr Werk von der sogenannten literatura marginal der Autoren aus den suburbanen Zonen vor allem São Paulos und Rios. Einer der bekanntesten Exponenten dieser in den späten 1990er Jahren entstandenen Strömung, Ferréz, sieht die gesellschaftliche Aufgabe kultureller Produkte der Peripherie darin, die Menschen zu mehr Selbstverantwortlichkeit zu erziehen und ihnen eine Stimme zu verleihen (Ferréz 2006). Das Thema Gewalt spielt in seinen Romanen zwar auch eine wichtige Rolle, ist jedoch nicht so zentral wie in O Matador. Es geht vielmehr darum, verschiedene Lebenswege von Favelabewohnern aufzuzeigen, die nicht notgedrungen in Gewalt enden. Im direkten Vergleich verstärkt Melos Literatur tendenziell das Vorurteil, alle Favelabewohner seien gewalttätig, während Ferréz es relativiert.
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Zukunft und beschuldigt den fiktionalisierten Rubem Fonseca des Plagiats. Ihr neuster Roman, O Ladrão de Cadáveres (2010), spielt erstmals in einer anderen Region, Corumbá (Mato Grosso do Sul), und handelt von einem jungen Mann, der den Leichnam eines verunglückten Drogendealers vom Unfallort verschwinden lässt. Patrícia Melo ist nicht nur Romanautorin, sondern schreibt auch Drehbücher5 und Theaterstücke und arbeitet zeitweise als Dramaturgin. 2011 hat sie erstmals einen Band mit Erzählungen veröffentlicht (Escrevendo no Escuro). Sie ist eng mit Rubem Fonseca befreundet und verknüpft ihre Werke häufig intertextuell mit seinen. Interviews mit Patrícia Melo waren lange Zeit rar. Seit dem Erscheinen von Jonas, o Copromanta (2009) trat die Autorin jedoch häufiger an die Öffentlichkeit.6 Im Fernsehprogramm Sempre Um Papo erklärt sie 2011, dass sie als Jugendliche viel Kriminalliteratur gelesen hat, sich selbst jedoch nicht als Kriminalschriftstellerin sieht: "Eu me recuso de me encaixar nesse rótulo de literatura policial porque a literatura policial ela tem características próprias" (Sempre Um Papo 2011: 35'09", meine Transkription). Etwas später ergänzt sie: "Eu acho que dos meus oito romances nenhum deles a rigor pode ser classificado como romance policial" (ebd.: 36'04"). Im Verlauf des Gesprächs wird deutlich, dass Melos Konzept vom Kriminalroman eng an die britische und amerikanische Traditionslinie rückgebunden ist, zu der von ihrem Werk aus freilich keine direkten Verbindungslinen führen. Sie betont die Überlappung oder Vermischung von Kriminalliteratur und urbaner Literatur in Brasilien, was zu einer terminologischen Konfusion führe: "A literatura policial no Brasil acabou sendo quase que sinónomo de literatura urbana." (ebd.: 34'51"). Die Themen Großstadt, Gewalt, Verbrechen, Armut, Neurosen, Obsessionen bis hin zu pathologischen Verhaltensmustern gehören zu den erzählerischen Hauptinteressen der Autorin. Ihr ästhetisches Programm besteht darin, viele Seiten und Facetten von Gewalt aufzuzeigen, den Anteil unterschiedlichster Akteure herauszuarbeiten und ihre Prägung durch ein bestimmtes Milieu verständlich werden zu lassen. Erzähltechnisch lehnt sich die Autorin stark an Rubem Fonsecas narrativa brutalista an.7 Beide stellen häufig Täter-Figuren dar, die zwar aus der Ich-Perspektive die Geschehnisse schildern, jedoch nur einen beschränkten Einblick in ihre Psyche gewähren.
Unter anderem verfasste sie die Drehbücher für die Verfilmungen von O Caso Morel und Bufo & Spallanzani von Rubem Fonseca sowie O Xangô de Baker Street von Jô Soares (zu letzterem siehe Kapitel 6.1). 6 Siehe z. B. Portal da Literatura (30.11.2009), Morales (07.01.2010), Sempre Um Papo (25.08.2010) und Saraiva (13.09.2010). 7 Der Begriff wurde von Alfredo Bosi geprägt (Bosi 2006 [1976]: 18). 5
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Der Kontext: Gewalt in den brasilianischen Großstädten O Matador spielt in einem Umfeld, in dem Gewalt und Mord zum Alltag gehören (vgl. auch Kap. 2.3). Im Jahr 1995, dem Erscheinungsjahr von O Matador, wurden in São Paulo 5.722 Morde registriert (Schönenberg 2010: 270). Oft führen Lappalien zu Gewaltexzessen: zu laut gestellte Musik, ein Kratzer am Auto, ein Überholmanöver, ein Paar Nike Turnschuhe, wenige Reais Schulden oder eine Zigarette. Amendola (2005) berichtet in seiner soziologischen Studie zur Banalisierung der Gewalt in Brasilien von einigen Fällen, bei denen solche Kleinigkeiten zu Tötungsdelikten geführt haben. Die Gründe dafür sind komplex und können hier nur kurz angerissen werden. Amendola nennt Alkohol- und Drogenkonsum als die häufigsten unmittelbaren Auslöser. Doch die wahren Ursachen für die Hemmungslosigkeit und Sorglosigkeit, mit der in brasilianischen Großstädten gemordet wird, sitzen tiefer. Eine Rolle spielt die extreme Kluft zwischen den gesellschaftlichen Sektoren, die an der immer deutlicheren sozialräumlichen Trennung von Oberschichts- und Unterschichtsvierteln sichtbar wird. Während sich die Reichen in ihren bewachten "Zitadellen" einbunkern, werden die Vorstädte immer mehr zu Ghettos der Armen (Coy 2010: 57). Ein Drittel der Brasilianer gilt nach Angaben des Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE) als arm und sozial ausgeschlossen. Das sind über 50 Millionen Menschen, die mit einem halben Mindestlohn (70 Euro) auskommen müssen. Aus ihrer sozialen Klasse werden immer neue Verbrecher rekrutiert (Paul 2010: 221).8 Jugendliche aus ärmeren Schichten erleben früh, wie wenig ihr Leben wert ist. Daher entscheiden sie sich dafür, in der kurzen Zeit, die ihnen gegeben scheint, alles mitzunehmen, was das Leben bietet, all das, was die Kinder der reicheren Schichten genießen können. Gewalt ist oft die einzige Option, dieses Ziel zu erreichen. Da das eigene Leben sowieso kurz zu werden verspricht, gehen sie jedes Risiko ein. Jugendliche aus der höheren Mittel- und Oberschicht hingegen wachsen häufig in materiellem Überfluss bei gleichzeitiger emotionaler Armut auf. Sie wähnen sich durch ihre Abstammung und weiße Hautfarbe unantastbar, weswegen sie hemmungslos auf andere Gewalt ausüben und so ihre Überlegenheit ausspielen (Amendola 2005: 66ff.). Das Verhalten der Jugendlichen beider Schichten wird durch eine Kultur bedingt, in der der äußere Schein über allem steht. Viele junge Leute wollen an der schillernden Welt des Konsums und scheinbaren Glücks teilhaben, auch diejenigen, denen das Geld dazu fehlt. Werbeplakate suggerieren ihnen, dass teure Markenprodukte von "coolen Typen" benutzt werden. Wer solche Produkte nicht vorzeigen kann, gilt als minDie Einkommensverteilung ist nur in wenigen der ärmsten Ländern der Welt noch gravierender als in Brasilien, z. B. in Lesotho, Sierra Leone und Swasiland (Boekle 2010: 429).
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derwertig und ist ein Niemand. Wenn ein Paar Markensportschuhe einen Moment des Glücks in einem Leben ohne Perspektiven garantiert, dann wird Mord zu einer Option, dieses Glück zu erreichen (Amendola 2005: 60f.). Die Medien spielen dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Viele Fernsehsendungen verharmlosen Gewalt und härten Kinder und Jugendliche dagegen ab. Gewalttätige Filmhelden umgibt häufig eine attraktive Aura von Glamour. Reality Shows über Unfälle, Überfälle und Morde stacheln den morbiden Voyeurismus der Zuschauer an und erzielen hohe Einschaltquoten. Die dazwischen geschaltete Werbung verheißt sozialen Aufstieg und Glück durch Konsum. Diese ständige Berieselung härtet einerseits gegen Gewalt ab und erweckt andererseits Neid und Gier (Amendola 2005: 72ff.).9 Amendolas Interpretationsansätze für den Gewaltexzess im heutigen Brasilien erklären das Phänomen sicherlich nicht erschöpfend, sind aber sehr nützlich für eine Untersuchung von O Matador, da in diesem Roman emotionale Armut und das Verlangen nach Konsumgütern ebenfalls als gewaltgenerierende Faktoren ausgewiesen werden. Der Roman: O Matador10 O Matador handelt vom Werdegang eines Profikillers, wie der Titel schon vermuten lässt. Giassone bezeichnet den Roman deswegen auch als Bildungsroman, dessen Anti-Held eine "educação sentimental do ódio" durchläuft (Giassone 2000: 73).11 Nach Angaben der Übersetzerin Barbara Mesquita führte die Autorin viele Interviews mit Mördern in Gefängnissen, wodurch es ihr gelang, die Handlung äußerst glaubwürdig und realitätsnah zu gestalten (Mesquita 1998: 40). Profikiller Máiquel ist der autodiegetische Erzähler des gesamten Romans. Direkte Figurenrede wird häufig versatzstückartig in seinen Diskurs eingebaut, meist mit einem verbum dicendi eingeleitet, aber nicht grafisch gekennzeichnet. Die interne Fokalisierung des Ich-Erzählers wirkt wie ein starker Filter, der die Darstellung von Dialogen und Handlungen selektiert und wertet. Charakteristisch für den Roman ist außerden, dass der Akt des Erzählens aus einer unbestimmten zeitlichen Distanz erfolgt, von der aus Máiquel über die Ereignisse reflektieren kann, da er deren Ausgang Beispielhaft dafür steht Fonsecas Thematisierung des negativen Einflusses der Medien in der Erzählung "O Cobrador": "Fico na frente da televisão para aumentar meu ódio. Quando minha cólera está diminuindo e eu perco a vontade de cobrar o que me devem eu sento na frente da televisão e em pouco tempo meu ódio volta" (Fonseca 2004 [1979]: 275). 10 Es liegen bereits mehrere Aufsätze zu O Matador vor: Faraco (1998), Giassone (2000), Silveira (2000), Leitner (2005), Pellegrini (2005), Dantas (2006), Wieser (2007) und Johnen (2009). Schwamborn (1998) geht ebenfalls kurz auf den Roman ein. 11 Da sich die Handlung dieses "Gewaltromans" mit der Tiefenstruktur des Bildungsromans überlagert, kann er als Hybridform bezeichnet werden. 9
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bereits kennt (narration ultérieure). Dies führt zu einer Vermischung des Diskurses des erlebenden und des erzählenden Ich, wobei beide Ebenen nicht immer deutlich voneinander trennbar sind.12 Um die Entwicklung des Protagonisten möglichst gut nachvollziehen zu können, werden im Folgenden die wichtigsten Etappen der Handlung in chronologischer Reihenfolge untersucht. Bevor dies geschehen kann, muss jedoch die Ausgangssituation geklärt werden. Der 22-jährige Máiquel, der bei einem Gebrauchtwagenhändler in São Paulo arbeitet, erzählt nichts über seine Herkunft und Kindheit. Sein aus dem Englischen übernommener und orthografisch ans Portugiesische angepasster Name (Michael – Máiquel) deutet jedoch darauf hin, dass er aus einer sozial und ökonomisch benachteiligten Schicht stammt, in der diese Verballhornung ausländischer Namen häufiger vorkommt als in der Mittel- und Oberschicht. Weitere Hinweise auf seine Herkunft sind zwei Aspekte, die sich leitmotivisch durch den Roman ziehen. Zum einen stellen Schuhe für Máiquel und seine Schicht ein wichtiges Statussymbol dar. Er schämt sich immer wieder über seine zerschlissenen Treter, aber ein neues Paar übersteigt seine finanziellen Möglichkeiten. Als wohlhabende Kunden sich beim Autohändler umsehen, ist er völlig auf deren Schuhe fixiert: "Pessoas como essa mulher me deixam com vergonha dos meus sapatos, o namorado dela tinha um sapato tão bonito, com correntinha dourada, e eu com aquele sapato azul-marinho todo fodido" (26).13 Das zweite Leitmotiv ist Máiquels Zahnweh. Er kann sich eine Behandlung nicht leisten und leidet unter heftigen Schmerzen, die er mit großen Mengen des Schmerzmittels Novalgina betäubt.14 Die Juxtaposition von Schmerzen, Schmerzmittelkonsum und Gewaltausbrüchen suggeriert einen Ursache-Folge-Zusammenhang, der dem Erzähler selbst jedoch nicht bewusst wird. In einer rezeptionsästhetischen Lesart kann hier von Leerstellen (Iser) gesprochen werden, die den Leser dazu auffordern, das im Text angelegte Wirkungspotenzial zu aktualisieren und an der Sinnkonstitution mitzuwirken (Appellstruktur). Die Verwandlung Máiquels in den matador verläuft in mehreren Schritten, die auf dasselbe Grundmuster zurückgeführt werden können: ZuDiesen narratologischen Aspekt hat Dantas (2006) im Detail untersucht. Auf dem Buchumschlag von O Matador sind blau-schwarze Mokassins abgebildet, von denen die Farbe etwas abblättert. Das Motiv kommt in der brasilianischen Literatur häufiger vor. In Plínio Marcos Theaterstück Dois Perdidos Numa Noite Suja (1965) werden die Schuhe beispielsweise zum Gegenstand eines tödlichen Streits zwischen zwei Tagelöhnern. Auch in Ferréz’ Roman Capão Pecado bewundern junge Männer Adidas-Schuhe (Ferréz 2002: 119). Plakativ wird der Wunsch nach Markensportschuhen bei Heranwachsenden außerdem in der Mini-Fernsehserie Cidade dos Homens (Folge 4, 2002) vorgeführt. 14 Giassone hat gezeigt, dass die Zähne in Rubem Fonsecas Erzählungen "O Cobrador", "Intestino grosso" und "O caso de F. A." sowohl für Elend als auch für Gewalt stehen, da einerseits die Patienten ihre Zähne nach und nach gezogen bekommen, wenn sie sich keine Plomben leisten können, und Zähne andererseits auch als Waffe eingesetzt werden (Giassone 2000: 69f.). 12 13
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erst kündigt er unreflektiert und impulsiv eine Gewalttat vor Zeugen an. Die Appellstruktur des Textes suggeriert jeweils, dass die Ursache dafür seine zerschlissenen Schuhe oder sein Zahnweh sind. Hinterher bereut der Protagonist seinen Übermut, muss aber Wort halten, da sein Stolz und seine Scham es ihm nicht erlauben, einen Rückzieher zu machen. Zu seiner Entwicklung trägt außerdem die positive Sanktion seiner Gewalttaten durch seine Mitmenschen bei, die ihn immer wieder zu neuen Taten motiviert. Zu Beginn des Romans verliert Máiquel eine Wette und lässt sich deswegen die Haare blondieren. Sein neuer look ist als äußeres Zeichen für den Beginn seiner Verwandlung in den matador deutbar: Sempre me achei um homem feio. Há muitas curvas em meu rosto, muita carne também, nunca gostei. Meus olhos de sapo, meu nariz arredondado, sempre evitei espelhos. Naquele dia foi diferente. Fiquei admirando a imagem daquele ser humano que não era eu, um loiro, um desconhecido, um estranho. Não era só o cabelo que tinha ficado mais claro. A pele, os olhos, tudo tinha uma luz, uma moldura de luz […] Era aquela luz que a gente vê em imagens religiosas, luz de quem é iluminado por Deus. Foi assim que me senti, próximo de Deus (10).
Da sein Selbstbewusstsein erst durch die blondierten Haare zu erwachen beginnt, liegt der Schluss nahe, dass Máiquels Selbstwahrnehmung vom Schönheitsideal der weißen Oberschicht sowie der Werbung beeinflusst ist, in der hellhäutige und blonde Menschen dominieren. Auch sein Name weist schon auf die Vorbildfunktion der weißen, insbesondere der US-amerikanischen Kultur hin. Der Anblick seines Spiegelbildes bewirkt nun eine innerliche Spaltung ("não era eu"), die es ihm ermöglichen wird, Gewalttaten zu verüben. Das göttliche Licht, das er zu erblicken glaubt, kündigt seine diabolischen Handlungen bereits antithetisch an. Máiquels neu erlangtes Selbstvertrauen wird zudem durch die Bekanntschaft mit Cledir gesteigert, einer jungen Frau, die er in einem Kaufhaus kennenlernt. In Gonzagas Bar, seiner Stammkneipe, trifft er jedoch auf jemanden, der sein Selbstbild in Frage stellt, wodurch zum ersten Mal der oben beschriebene Mechanismus in Gang gesetzt wird. Der dunkelhäutige Suel, ein Kleinkrimineller, kommentiert Máiquels neuen look mit den Worten: "É engraçado, porra. Parece um gringo". In Suels Spott wird deutlich, dass das von der Werbung und der Oberschicht vertretene Schönheitsideal nicht dem natürlichen Aussehen der Mehrheit der Brasilianer entspricht. Für Suel überwiegen sogar negative Konnotationen ("gringo"). Máiquels Selbstvertrauen gründet jedoch auf seiner Annäherung an dieses Ideal, weswegen er gereizt zum Gegenangriff übergeht: "Vai ver que você pensa que sou veado". Trotz Suels Einwand, er habe ihn "gringo" und nicht "veado" genannt, ist Máiquel nicht mehr zu versöhnen. Da er außerdem vor Cledir seine Männlichkeit unter Beweis 195
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stellen möchte, fordert er Suel zu einem Duell am folgenden Abend auf. Diesen Schritt bereut er jedoch am nächsten Morgen: No dia seguinte, acordei com dor de dente e não fui trabalhar. Estava arrependido de ter proposto o duelo, aquilo tinha sido uma bobagem, uma estupidez sem fim. Quis dar uma de bacana para impressionar Cledir e me ferrei tudo. Suel era um negro de foder […]. Senti medo. Eu nunca tinha pego numa arma (14).
Die Erwähnung des Zahnwehs lässt die Deutung zu, dass die Schmerzen seine Fähigkeit, Situationen richtig einzuschätzen, beeinträchtigen und seine Emotionen verstärken: Einmal lösen sie Kurzschlussreaktionen aus (wie in der Kneipe), und an anderen Stellen intensivieren sie seine Angst (wie hier). Cledir versucht zwar, ihn vom Duell abzubringen, doch Máiquel hält daran fest, ohne selbst zu durchschauen, warum: Realmente não dá para entender como é que um sujeito faz uma bobagem dessas. Só há uma explicação: Destino. Antes da gente nascer, alguém, sei lá quem, talvez Deus, Deus define direitinho como é que vai foder a sua vida. É isso. Era a minha teoria. Deus só pensa no homem quando tem que decidir como é que vai destruílo (15).
Diesen Deutungsversuch artikuliert Máiquel rückblickend vom Standpunkt des erzählenden Ich aus. In Ermangelung einer besseren Erklärung schreibt er sein Verhalten dem Schicksal oder Gottes Bestimmung zu. Wie das göttliche Licht in seinem Spiegelbild seine Gewalthandlungen als matador angekündigt hat, so wird auch hier das Göttliche mit dem Bösen, Zerstörerischen assoziiert. Deswegen spricht Leitner auch von einer "Pulp-Theodizee", in der der Täter seine eigene Verantwortung auf das Schicksal oder einen böswilligen Gott überträgt (Leitner 2006: 80). Schließlich erschießt Máiquel Suel wie ein Feigling von hinten, als dieser ihm beim Gehen den Rücken zuwendet. Was ihn letztendlich dazu bewegt, bleibt ihm abermals schleierhaft, da er nicht in der Lage ist, seine Psyche selbstreflexiv zu durchdringen:15 "Por que eu matei Suel?, eu queria saber, eu queria que alguém me explicasse por que eu matei Suel" (18). Máiquel ist trotz der Leichtigkeit und Unbekümmertheit, mit der er Suel erschossen hat, zumindest anfangs nicht gewissenlos. Nach der Tat fühlt er sich unwohl und wünscht sich, gerichtet zu werden: "Queria ser preso, julgado e condenado. Queria que o Suel tivesse um irmão para me matar ali mesmo" (18). Doch seine Umwelt reagiert vollkommen anders auf die Tat als er (und mit ihm der Leser) es erwartet. Die Men15 Diesbezüglich spricht Dantas mit Genette von einer Paralipse, die darin besteht, dass der Erzähler etwas verschweigt, das er weiß, aber nicht preisgeben möchte (Dantas 2006: 85f.). Der Terminus scheint hier verfehlt, da dem erzählenden Ich seine eigene Psyche keineswegs klar ist und somit auch nicht von einer absichtlichen Omission gesprochen werden kann.
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schen aus seinem Stadtviertel sanktionieren den Mord positiv. Sie beglückwünschen ihn und danken ihm, das Viertel vor einem gefährlichen Verbrecher befreit zu haben: Ele [Gonzaga] estava feliz porque eu tinha matado o Suel. O Suel é um miserável filho da puta, roubou o toca-fitas do carro da minha irmã, todo mundo odeia o Suel, eu odeio o Suel, ele disse. Fiquei surpreso, eu só queria um café, pensava em pagar pelo café, a partir de agora, aqui, você não paga mais nada (20).
Der Mörder genießt von nun an Privilegien wie die kostenlose Verpflegung in Gonzagas Bar. Ein Junge überbringt ihm außerdem zum Dank ein Ferkel. Máiquel beschließt, es als Haustier zu halten, gibt ihm den Namen Gorba und entwickelt eine emotionale Bindung zu ihm, wodurch er seine Schwierigkeiten kompensiert, zu Menschen bleibende Beziehungen aufzubauen.16 Die Glückwunschkarten, die die weiteren Geschenke begleiten, geben Aufschluss über die Einstellung der Menschen des Stadtviertels: "Tinha um bilhete também, com letra de criança: Obrigado, Máiquel. Outro: Bem feito para o Suel, letra de mulher. Bandido tem que morrer, letra de homem. Morreu porque não servia para a sociedade, à máquina" (23f.). Da die Schreiber der Glückwunschkarten eine radikale Selbstjustiz in Form einer sozialen Säuberungsaktion unterstützen, indem sie Ermordung als angemessene Strafe für einen einfachen Dieb einstufen, liegt der Schluss nahe, dass es sich um ein Stadtviertel mit hoher Kriminalitätsrate handelt, in dem sich reichere und ärmere Bevölkerungsschichten gegenüberstehen. Zivile Vollstrecker wie Máiquel fungieren dabei sogar als informelle Helfer der Polizei, die es nicht schafft oder nicht gewillt ist, die Verbrecher der Justiz zu übergeben. Ein Polizist beglückwünscht Máiquel und lobt ihn für seinen Mut: "[…] o PM já estava dando um tapinha nas minhas costas e dizendo que admirava os homens corajosos" (20). In den darauffolgenden Tagen wird Máiquel bewusst, dass er von nun an Straffreiheit genießt: "Os policiais não me procuraram no dia seguinte e nem nos outros dias. Quando me viam, sorriam" (25). Aber er versteht das Verhalten der Polizei nicht, weil er noch nicht begriffen hat, dass die Polizei von Kriminellen durchsetzt ist und mit Kriminellen zusammenarbeitet. Daher fragt er sich naiv: "A função da polícia não é prender assassinos? Eu era um assassino, um filho da puta, eu matei um homem sem motivo, deixei aquela garota [Érica] sozinha, chorando sobre o cadáver do namorado" (23). Dieser Anflug moralischer Bedenken wegen Érica, der Freundin Suels, verfliegt schnell. Aus der Reaktion seiner Umwelt leitet Máiquel ab, dass er das Richtige getan hat und folg-
In der Fortsetzung, Mundo Perdido, erfüllt diese Funktion ein Straßenköter, den Máiquel anfährt, mitnimmt und versorgt.
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lich auf der Seite der "Guten" steht: "Entrei no carro e disse para mim mesmo: eu sou forte. Eu sou bom. Eu sou inocente. Não há motivos para fugir" (21). Er verfügt folglich über keine stabilen moralischen Maßstäbe, die es ihm erlauben, eigenständig über seine Tat zu reflektieren, sondern eignet sich die Aussagen der rassistischen und menschenverachtenden Gesellschaft an. Obwohl seine Tat nur positive Folgen für ihn hat, überkommt ihn eine große Traurigkeit, die er sich nicht erklären kann: "[…] eu estava triste. Não sei por quê. Estava tudo bem, mas eu estava triste para caralho" (24). Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass Máiquels Charakter und mehr noch seine Psyche für ihn selbst während des ganzen Romans im Halbdunkeln bleiben.17 Der zweite Schritt in der Entwicklung des matador ist die Vergewaltigung Cledirs. Die junge Frau möchte mit ihm schlafen, er lehnt jedoch zunächst wegen seines starken Zahnwehs ab. Erst als Cledir zu weinen beginnt, weil sie sich zurückgestoßen fühlt, erwacht Máiquels Verlangen und er vergewaltigt sie: "O desejo veio de um lugar escuro, um lugar que não conheço e não domino, veio de lá meu desejo e explodiu, venceu a dor de dente e explodiu" (29). Auch auf diese Gewalttat folgt wieder Reue und Unverständnis seiner selbst: "Tomei uma dose maior de Novalgina, coitada da Cledir, por que eu fiz aquilo?" (29). Eine positive soziale Sanktion für die Vergewaltigung bleibt freilich aus, weil die Tat nicht publik wird. Jedoch erhält Máiquel im Anschluss ein zweites Mal Lob für den Mord an Suel und zwar vom Zahnarzt Dr. Carvalho, so dass auch hier auf die Gewaltausübung ein positives Erlebnis folgt. Die Figur des Dr. Carvalho übernimmt Patrícia Melo aus einer Erzählung Rubem Fonsecas. In "O Cobrador" schießt ein mittelloser und zahlungsunwilliger Patient einem Dr. Carvalho ins Knie. Auf dieses Ereignis wird in Melos Roman explizit Bezug genommen: "O dr. Carvalho era manco, tinha levado um tiro na perna quando morava no Rio de Janeiro" (30).18 Ausgehend davon konstruiert Melo den Zahnarzt als einen hasserfüllten Menschen, der Angehörige niederer sozialer Schichten pauschal zu Verbrechern abstempelt. Während er Máiquels Zähne in Augenschein nimmt, erklärt er ihm seinen Standpunkt: Ele me disse que era a favor da pena de morte. Dou uma banana para quem pensa o contrário. Essa história de direitos humanos é uma piada. Eles não são humanos, os estupradores, os seqüestradores, eles não são humanos. O senhor precisava ver o cara que me deu o tiro no joelho. Os olhos dele. Um animal. Depois
17 Die Übernahme seiner Perspektive von Seiten des Lesers wird dadurch erschwert. Die rätselhaften Leerstellen in der Erklärung seiner Handlungsweise erzeugen eine diffuse Spannung, die sich weniger auf den Ausgang der Handlung richtet als auf die Ergründung dieses dunklen Charakters. Siehe dazu Wieser (2007). 18 Details dieser intertextuellen Verknüpfung hat Giassone (2000) herausgearbeitet.
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que levei um tiro na perna virei lombrosiano, o senhor sabe quem foi Lombroso? Lombroso inventou a teoria do criminoso nato. Um gênio o Lombroso (30).
Der radikale Dr. Carvalho spricht Verbrechern ihren Status als Menschen ab und beruft sich zur Legitimierung seiner Position auf verschiedene Diskurse, die er ganz in seinem Sinne verzerrend auslegt: Erstens bezieht er sich auf Lombrosos Kriminologie, nach der die Neigung zur Kriminalität an der Schädelform des Menschen erkannt werden könne, aus der jedoch keineswegs hervorgeht, dass Straftäter außergerichtlich hingerichtet werden dürfen. Zweitens versucht Dr. Carvalho, seine Einstellung durch einen religiösen Diskurs zu untermauern. Er zitiert aus der Apostelgeschichte (Kapitel 25,10) den Satz des Paulus "Convém que eu seja julgado aqui, diante do tribunal de César" und leitet daraus ab, dass der Mensch auf Erden selbst richten darf: "Ele quis dizer que o julgamento na terra é justo, é aceitável. É correto. Não é só Deus que pode julgar. O homem pode, o homem deve julgar" (31). Das Bibelzitat, in dem von einem Gericht ("tribunal de César") die Rede ist, eignet sich in Wirklichkeit ebenso wenig für die Legitimierung einer außergerichtlichen sozialen Säuberung.19 Drittens rechtfertigt Dr. Carvalho seine radikale Einstellung damit, dass demokratische Länder der Ersten Welt, namentlich die USA und Japan, über Schwerverbrecher die Todesstrafe verhängen. Auch hier pervertiert der Arzt letztendlich das Vorbild, da er selbst ja dafür eintritt, Verbrecher außerhalb eines legalen Systems hinzurichten. Carvalho behandelt Máiquel schließlich kostenlos, um seinen Dank für den Mord an Suel auszudrücken: "Você não precisa pagar. Gostei de você. Gostei do que você fez com Suel. Aquele preto filho da puta merecia morrer. Eu odeio preto, sou racista mesmo, esses pretos estão acabando com a vida da gente" (32). Diese Selbstcharakterisierung lässt deutlich werden, dass der Arzt sich nicht einmal um political correctness in seiner Ausdrucksweise kümmert, sondern im Gegenteil, seinen Hass als Solidarisierungsmittel einsetzt.20 In der Zahnarzt-Episode wird außerdem der dritte Schritt von Máiquels Verwandlung initiiert: Er erhält seinen ersten Mordauftrag. Dr. Carvalho stellt ihm eine kostenlose Komplettbehandlung seiner Zähne in Aussicht, wenn er Ezequiel, den Vergewaltiger seiner Tochter, umbringt. Máiquel als erlebendes Ich sieht sich jedoch noch nicht in der Rolle eines Auftragsmörders, aber die Zahnschmerzen bringen ihn dazu einzuwilli-
19 Auch auf Thomas von Aquin beruft sich Carvalho und verzerrt den Diskurs in seinem Sinne: "O que ele [Tomás de Aquino] quer dizer é que quem mata em nome da justiça não é um criminoso porque isso não é crime, deu para entender?" (31). 20 Faraco (1998) interpretiert den Roman hinsichtlich des Zusammenspiels verschiedener sozialer Sprachen: der des mittel- und perspektivenlosen jungen Manns aus der Peripherie der Großstadt und derjenigen skrupelloser Angehöriger der Mittel- und Oberschicht (Dr. Carvalho und seine Freunde). Faraco bezieht sich dabei auf Bachtins Konzept der Dialogizität.
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gen: "Não achava nada boa a idéia de ter que matar outro cara. Mas meu dente doía para caralho" (33). Er spricht sich nun selbst Mut zu: "Posso vender sapatos, descascar batatas, qualquer coisa. Foda-se. Posso matar também. É fácil matar, você pega o revólver, aperta o gatilho e pronto, um gesto simples, morrer é que é diffícil" (34f.). Indem er den Mord zu einer mechanischen Handlung abwertet, zeigt er gleichzeitig, dass noch innerliche Widerstände in ihm vorhanden sind. Sein Verhaltensmuster beginnt sich nun zum dritten Mal zu wiederholen: Er erzählt seinen Freunden von seinem Mordplan und bereut dies anschließend.21 Sein Bedürfnis zu prahlen, um seine Männlichkeit zur Schau zu stellen, werden ihm wieder zum Verhängnis und zwingen ihn letzten Endes dazu, die Tat auszuführen. Aber auch die Aussicht auf die Zahnbehandlung und die ungewohnte Achtung, die ihm die Leute jetzt entgegen bringen, beeinflussen seinen Entschluss: "Eu mataria Ezequiel porque era importante para mim. Dentes bons, cavalo dado, caça. Não era preciso ter medo" (37). Im Gegensatz zum ersten Mord ist ihm sein Motiv dieses Mal also völlig klar. Máiquel plant, Ezequiel von hinten zu erschießen, wie er es mit Suel getan hat. Der medial geprägte Ehrenkodex, nachdem sich Männer frontal gegenübertreten müssen, bekümmert ihn nicht. Jedoch erweist sich der zweite Mord als schwieriger als der erste und es kommt zu einem besonders heftigen und kaltblütigen Gewaltausbruch: […] puf, errei o primeiro tiro. […] Puf, errei o segundo, o terceiro pegou na coxa, o quarto no peito, ele caiu, errei mais dois tiros, Ezequiel continuava vivo, gemendo, sofria, queria se levantar, falar alguma coisa, queria ir para casa jantar com a mamãe, eu não tinha mais balas. Ele não poderia ficar vivo, não agora, arranquei um pedaço de pau que servia de cerca para uma árvore e fui para cima dele, dei na cabeça, martelei, martelei, furei os olhos dele, Ezequiel continuava vivo, meus braços doíam, espetei a lança de madeira no coração do estuprador, eu já tinha visto esta cena na televisão, a mocinha matando vampiro, Ezequiel vomitou sangue e morreu (48f.).
Der Mord an Ezequiel wirkt äußerst stümperhaft. Weil Máiquel mit der Pistole nicht trifft, muss er sein Opfer vor dem Todesstoß brutal foltern, indem er ihm die Augen aussticht. Dass er sich das Durchbohren der Brust des Opfers aus Vampirfilmen abgeschaut hat, ist ein Beispiel für den Einfluss von Fernsehen und Kino auf die Gewaltbereitschaft junger Menschen, die Amendola anführt.22 Wie Suels Tod wird auch Ezequiels
21 Seine Reue zeigt sich in folgender Textstelle: "Eu ainda não tinha certeza se ia matar o Ezequiel. Não devia ter falado. Falei porque estava com raiva do Marcão, do Robinson. Falei porque não tinha nada para falar" (36). 22 O Matador enthält relativ wenige explizite Bezüge zu Filmen und Kriminalromanen. Neben der hier zitierten Stelle vergleicht sich Máiquel einmal mit dem Schauspieler Charles Bronson, dem
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Ableben im Stadtviertel gefeiert. In Gonzagas Bar erzählt ein Augenzeuge von Máiquels "Heldentat": Um rapaz contou que estava passando pela rua quando eu matei Ezequiel, vi tudo, vou contar como foi. As pessoas gostaram da parte em que eu martelei a cabeça e furei os olhos de Ezequiel. As mães adoraram e eu achei normal que elas adorassem (55).
Die Mitbürger zeigen hier eine weitere Facette ihrer Einstellung. Sie feiern nicht nur den Tod des Verbrechers, sondern ergötzen sich auch noch an einer detailgenauen Beschreibung seiner Agonie. Sogar Frauen, die im Allgemeinen stärker für den Schutz des Lebens eintreten als Männer, bestärken Máiquel in seinem Handeln, da sie glauben, er könne durch Gewalt für mehr Sicherheit sorgen. So wird der Ich-Erzähler langsam zum Instrument seines Umfelds, ohne es zu merken, da er sich auf einmal beliebt und geachtet fühlt. Aus zeitlicher Distanz erklärt das erzählende Ich, dass ihm der innere Antrieb zum Mord zu diesem Zeitpunkt noch gefehlt hat: "Acontece que, nessa época, eu ainda não tinha aprendido a odiar. Falavam o diabo do Ezequiel e tudo o que eu via na minha frente era um pobre coitado" (43). Máiquels Hass entsteht erst nach und nach infolge der systematischen Manipulation durch Dr. Carvalho. Zunächst hegt der Protagonist keine persönlichen Aversionen gegen sein Opfer Ezequiel, auch nicht gegen dessen Hautfarbe, Lebensführung, soziale Schicht oder Ähnliches, denn diese Art von Diskursen ist ihm fremd: "Ezequiel saía por aí fodendo mulheres e o problema não era meu. Eu não sentia ódio. O dr. Carvalho queria que eu odiasse Ezequiel, mas eu não odiava Ezequiel, meu coração estava livre" (44). Máiquel durchschaut Carvalhos Absicht, ihn zu seiner Waffe zu machen, lange nicht. Er hält ihn vielmehr für einen "guten", hilfsbereiten und sogar ehrlichen Menschen, dem er bereitwillig gehorcht.23 Der vierte Schritt auf Máiquels Weg zum Auftragskiller wird ebenfalls von Dr. Carvalho angestoßen. Dieser lädt Máiquel nach seinem Mord an Ezequiel zu einem üppigen Abendessen ein, um ihn Dr. Sílvio, einem Industriellen, vorzustellen. Doch Máiquel fühlt sich äußerst unwohl in der Runde. Ihn plagen Minderwertigkeitskomplexe und die Scham wegen seiner Schuhe:
Vorbild für seinen Schnauzbart (9), und berichtet von einem Krimi, den er gelesen hat, an dessen Titel und Autor er sich aber nicht erinnern kann (118f.) 23 Als Beleg kann folgende Textstelle dienen: "O dr. Carvalho não era o meu patrão, mas eu obedecia porque ele era um homem bom, honesto e estava cumprindo a sua parte no trato, obturar os dentes podres" (44).
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[…] eu não parava de olhar os sapatos, fingia que estava olhando o meu prato, mas olhava os sapatos, pratos, o do dr. Carvalho tinha um penduricalho de couro, o do dr. Sílvio era de amarrar, as solas grossas de borracha, a esposa usava sapatilhas de pelica, todos engraxados, brilhando, e o meu sapato parecia que tinha dormido dentro da privada, parecia um barco, afundei (61).
Dr. Sílvio, der nicht weniger radikal und rassistisch als Dr. Carvalho ist, möchte Máiquel einen weiteren Mordauftrag erteilen, doch Máiquel ist übel. Anstatt Sílvio eine Antwort zu geben, flüchtet er ins Badezimmer: Vomitei pensando no dinheiro que eu ia ganhar se matasse o negro. Eu estava desempregado. Pragas. Eu estava sem dinheiro nenhum, eu precisava daquele dinheiro. Negros. Vomitei pensando no que eu poderia comprar com aquele dinheiro. Sapatos. Vomitei tudo (64).
Wieder verwendet Patrícia Melo die Technik der Parallelschaltung zweier Themen durch die Juxtaposition von Sätzen und Satzteilen, zwischen denen der Erzähler keinen kausalen Nexus herstellt. Máiquel erbricht und denkt gleichzeitig an den Mordauftrag und das Honorar. Das Erbrechen kann zwar als instinktives Ablehnen des Auftrags gedeutet werden, dieser Zusammenhang wird aber vom Ich-Erzähler selbst nicht artikuliert, genauso wenig wie der Zusammenhang zwischen seinen zerschlissenen Schuhen oder seinen Zahnschmerzen mit dem Mord an Suel und der Vergewaltigung Cledirs. Diese Technik weist auf eine Dissoziation von Körper und Verstand hin und erinnert an die Szene, in der sich Máiquel im Spiegel betrachtet und eine Spaltung seines Ich konstatiert ("não era eu"). Der Körper des matador rebelliert gegen etwas, dessen Tragweite sein Verstand nicht völlig erfasst. Máiquel lehnt den Auftrag schließlich ab und fühlt sich daraufhin befreit, ein Gefühl, das ihm suggeriert, das Richtige getan zu haben. Auf dem Nachhauseweg träumt er von einem geregelten, bürgerlichen Leben mit Cledir. Für einen Moment scheint es, er könne der Gewaltspirale durch Standfestigkeit entfliehen und sich auf sein privates Glück konzentrieren. Er heiratet Cledir, die ihm die Vergewaltigung verziehen hat und schwanger ist, nimmt Ezequiels Job in einer Tierhandlung an und füllt so das Loch, das sein Opfer in der Gesellschaft hinterlassen hat.24 Máiquels privates Umfeld kann seine tiefsitzenden Minderwertigkeitskomplexe und seine emotionalen Defizite jedoch nicht ausgleichen. Ein schmerzhaftes Erlebnis treibt ihn zurück in die Arme Dr. Carvalhos. An seinem 23. Geburtstag bereitet Cledir ein Essen für ihn zu. Sie serviert 24 Auch an dieser Stelle wiederholt sich sein Verhaltensmuster. Máiquel äußert moralische Bedenken und überlegt, sofort wieder zu kündigen, was er dann aber nicht über sich bringt: "Não consegui porque eu tenho vergonha de voltar atrás, tenho vergonha de seguir em frente, tenho vergonha de perguntar, de receber, de pedir, perder, tenho vergonha de ser pobre, de ser fodido, tenho vergonha de não ter onde cair morto. E dos meus sapatos também" (74).
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Gorba als Spanferkel, ohne dies vorher mit Máiquel abgesprochen zu haben. Daraufhin nennt Máiquel sie voller Schmerz und Zorn "vaca assassina" und bezeichnet das Ferkel als "meu amigo Gorba" (82), womit er den Status von Mensch und Tier vertauscht. Der Erzähler empfindet einen unverhältnismäßig tiefen Schmerz ob des Verlusts des (vermenschlichten) Tieres, gemessen daran, dass er selbst (die durch Carvalhos Diskurs animalisierten) Menschen ermordet hat. Die Schräglage seiner psychischen Stuktur wird hier besonders deutlich.25 Máiquels Wut steigert sich zusätzlich, als Cledir vor den Geburtstagsgästen erzählt, dass sie mehr Geld verdient als er, und ihn dadurch erniedrigt. Er weist Cledirs Geburtstagsgeschenk, ein neues Paar Schuhe, in einem symbolischen Akt zurück und verlangt nach seinen alten Schuhen. Damit signalisiert er, dass gesellschaftliche Erniedrigung nicht durch privates Glück ausgeglichen werden kann. In dieser gereizten Stimmung driftet Máiquel in eine Situation ab, die den fünften Entwicklungsschritt in Gang bringt. Ohne darüber nachzudenken, geht er zu Dr. Carvalho, wo er freundlich empfangen wird. Impulsiv und unüberlegt nimmt Máiquel nun einen Auftrag Dr. Sílvios an: Er soll einen 12-jährigen Jungen umbringen. Einmal mehr folgen auf den vorschnellen Entschluss Skrupel: "[…] criança eu não matava. Nem mulher grávida" (85). Aus der zeitlichen Distanz gesehen, versteht das erzählende Ich jedoch, dass es von Dr. Carvalho und Dr. Sílvio benutzt wurde, wie die japanischen Kamikaze-Piloten im Zweiten Weltkrieg, von denen Érica ihm erzählt hat: "Os caras me transformaram num kamikaze, um kamikaze ignorante que não sabia que o avião iria explodir" (88). In den Plänen der Reichen besitzt Máiquels als Person keinen Eigenwert. Er dient lediglich dazu, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Ob er dabei stirbt oder nicht, spielt keine Rolle: Eles me deram uísque, me deram abacaxi tropical, eles fizeram com que eu me sentisse um cachorro molhado, me fizeram sentir vergonha de ter os sapatos fodidos, então eu pensei, porra, esses caras são legais, eu sou um fodido e eles são legais, abaixe a cabeça porque eles são legais […]. Eles me humilharam e eu disse, vocês são legais. Eles me fizeram ter vergonha de ser o que era, de ter vindo de onde vim, de ter o que eu tinha, e eu disse, vocês são legais (88).
Im Wunsch, in die Reihen der Reichen aufgenommen zu werden, um seine traumatische Scham und seine Minderwertigkeitskomplexe hinter sich zu lassen, besteht die letztendliche Antriebsfeder seines Verhaltens. 25 Leitner analysiert die Rolle Gorbas ausführlicher. Sie konstatiert einen Spezies-Diskurs, der im ganzen Roman beobachtet werden kann. Dieser Diskurs aktualisiere "die in der Tradition der Kriminalliteratur nicht ungewöhnlichen, für Schockeffekte oder aber Beklemmung sorgenden Unterwanderungen der humanistisch-anthropozentrischen Mensch-Tier-Unterscheidung mit neuer Schärfe" (Leitner 2006: 77). Mit dieser Argumentation gelingt Leitner eine überzeugende Deutung der im Roman praktizierten Nichtachtung des menschlichen Lebens.
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Die Zusammenarbeit mit den Reichen in einem perfiden Plan, erweckt seine Hoffnung, die Seite von den Unglücklichen zu den vermeintlich Glücklichen wechseln zu können. Érica, mit der Máiquel ein Verhältnis angefangen hat, durchschaut die Zusammenhänge schon zum Zeitpunkt der Handlung deutlich besser als er: Você vai aprender. Vai aprender a latir. A atacar. A morder. A farejar cocaína. A receber restos de comida. É isso, você aprende, ódio é uma coisa fácil de aprender. É mais fácil você aprender a odiar do que a cozinhar ou usar computador. Eles dizem, aquilo é uma merda, você acredita, aquilo é uma merda (89).
Éricas Vergleich von Máiquels Stellung mit der eines Hundes veranschaulicht, dass der underdog niemals in die Reihen der Reichen als Ihresgleichen aufgenommen werden wird. Genauso wie Dr. Carvalho Verbrecher nicht in die Kategorie "Mensch" einordnet, wird auch Máiquel für ihn nie zu diesem Rang aufsteigen. Stattdessen wirft er ihm nur Leckerbissen hin und schmeichelt ihm, um ihn nach seinem Willen "abzurichten" und ihm seine reaktionäre Ideologie und seinen Hass einzupflanzen. Anders als bei den vorhergegangenen Entwicklungsschritten bringt sich Máiquel dieses Mal nicht durch Prahlerei in Zugzwang. Seinen Entschluss fasst er jetzt aufgrund eines schmerzhaften Erlebnisses, das nach dem Verlust Gorbas den Rest an Geborgenheit in seinem Privatleben zerstört. Sein Cousin Robinson wird infolge von Máiquels Mord an Suel erschossen: "Eu matei o Suel. Matei o Ezequiel porque matei o Suel. Eles mataram Robinson porque eu matei Suel. Agora eles iriam me matar" (91). War Máiquel bisher reizbar, impulsiv und beeinflussbar, so hat ihm doch noch der nötige Hass gefehlt, der es ihm ermöglicht hätte, alle Skrupel abzuschütteln und den Mord an dem 12-Jährigen Neno auszuführen. Nun gehen seine ohnehin schon brüchigen moralischen Kontrollmechanismen in die Knie und er erschießt Neno. Durch diese Tat vervollständigt sich seine Verwandlung in den matador: "[…] a partir de agora, eu sou o matador. Eu sou a grade, o cachorro, o muro, o caco de vidro afiado. Eu sou o arame farpado, a porta blindada, Eu sou o Matador. Bang. Bang. Bang" (92). In seiner metaphorischen Selbstaffirmation nennt er all jene Elemente, die die scharfe Trennung der Armen von den Reichen markieren. Zäune, Hunde und mit Glasscherben bespickte oder von Stacheldraht gekrönte Mauern gehören zum alltäglichen Bild brasilianischer Großstädte. Sie versinnbildlichen den Hass und die Angst auf beiden Seiten, begrenzen das Terrain der Reichen sowie der Mittelschicht und verweisen die Marginalisierten zurück an den Rand der Gesellschaft. Ein weiterer Freund Dr. Carvalhos, der Gynäkologe Júlio, befürwortet sogar die Sicherung der Reichen durch Mauern in einer hyperbolischen Vision von einem Zaun, der den brasilianischen Norden und Nordosten vom Rest des Landes abtrennt: "[…] para mim, o 204
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governo federal devia pôr uma grade ali por volta de Minas e o Norte do país que se foda. Deixa os pobres lá, deixa eles morrerem esturricados no Nordeste. Odeio o Ceará. Odeio folclore. Odeio preto" (111).26 Máiquel verfügt nun über alle psychischen Voraussetzungen, um als Profikiller zu arbeiten. Er wird von einem weiteren Freund Dr. Carvalhos, dem Polizisten Delegado Santana, engagiert. Santana lässt ihm zunächst wieder die positive soziale Sanktion zuteilwerden und lobt ihn mit euphemistischen Ausdrücken für seine Morde: "Filantropia para a polícia, é isso o que você faz" (123). Dann schlägt er die Gründung einer "firma de segurança patrimonial" (123) vor. Máiquel soll mit einem Team von Männern Schutzgelder von den ortsansässigen Firmen erpressen. Er willigt ein; die Firma Ombra ("Serviços de Segurança e Vigilância Patrimonial S. C. Ltda.") wird in Santo Amaro, in der südlichen Peripherie São Paulos, gegründet und bald leitet der matador ein Team von vierzig Männern. Ombra funktioniert nach dem bekannten Muster: Widersetzt sich einer der Firmeninhaber, für den Schutz zu bezahlen, brechen Máiquels Männer bei ihm ein oder ermorden das Wachpersonal. Skandalöserweise nutzt die Polizei Ombra auch dafür, Jugendliche Straftäter aus dem Weg zu räumen: "Quando algum delinqüente passava pela delegacia para ser encaminhado para o SOS Criança, os investigadores tiravam fotos e faziam uma ficha, onde colocavam o nome, apelido, idade, área de atuação e mandavam para a Ombra" (133). Durch seine Arbeit in der Sicherheitsfirma erlangt Máiquel so großen Ruhm, dass er vom ortsansässigen Sportclub zum Mitbürger des Jahres, "Cidadão do Ano" (148), gewählt wird.27 Geht es auf der einen Seite steil bergauf mit seiner Karriere, so bricht auf der anderen Seite sein Privatleben vollends in sich zusammen. Er ermordet Cledir, weil Érica droht, ihn sonst zu verlassen. Doch Érica verlässt ihn trotzdem. Aus Frust bringt Máiquel wahllos einen 15-jährigen Jungen aus der Oberschicht um und lässt bei der Leiche versehentlich seine Visitenkarte liegen. Máiquel muss fliehen, versteckt sich in Santanas Landhaus und beginnt, über die Vorkommnisse nachzudenken. Das erzählende Ich rekapituliert aus der Distanz, dass sein Erkenntnisprozess zu diesem Zeitpunkt be-
26 Besonders eindringlich wird die Wirkung einer Mauer zwischen Arm und Reich auch in T.C. Boyles Roman The Tortilla Curtain (1995) beschrieben. Darin debattieren die Bürger aus der Mittelschicht von Los Angeles darüber, ob sie ihr Wohnviertel durch eine Mauer schützen sollen. Nachdem die Mauer gebaut ist, wird sie für illegale Einwanderer aus Mexiko zu einem Hindernis, das sie beinahe ihr Leben kostet. Dass die Phantasien Júlios nicht so weit hergeholt sind, zeigt auch die Grenzsicherung zwischen den USA und Mexiko. Da es sich dort um eine Mauer zwischen zwei Staaten handelt und nicht eine innerhalb eines Landes, mag diese Mauer eine andere "Berechtigung" haben, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass es sich im Grunde um einen Schutz der Reichen vor den Armen handelt. 27 Daher trägt die Verfilmung von José Henrique Fonseca den Titel O Homem do Ano.
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reits eingesetzt hat, er aber noch nicht in der Lage war, alle Zusammenhänge zu begreifen: Eu não estava muito longe de entender que existe o lado de lá e o lado de cá, e que não se muda de lado. Nunca. Você pode até pensar que mudou, eles fazem você pensar isso, entre e feche a porta, eles dizem, você entra, você acha que está ali, você fecha a porta, você acha que mudou, mas não, na verdade não é uma mudança, se você está do lado de lá é porque eles estão precisando de alguém para lavar o banheiro de mármore deles (180).
Dr. Carvalhos Haus scheint für Momente eine Schwelle zu dieser anderen Seite zu bilden. Es stellt sich am Ende jedoch heraus, dass die Treffen des Mörders mit seinen Auftraggebern nicht wirklich in einem "dritten Raum" stattgefunden haben, da nicht beide Seiten diesen Raum nutzen, um ihre Position im Machtgefüge neu zu bestimmen. Vielmehr ist Máiquel ein kurzzeitiger Gast im Raum der Macht, in dem die Hierarchie der Akteure niemals in Frage steht. Eine soziale Anerkennung und somit ein dauerhafter Aufstieg bleibt ihm verwehrt. Nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt beginnt Máiquel Rache zu üben. In einem lakonischen Showdown erschießt er Santana und Carvalho und flieht schließlich mit dem Auto. Eine Großfahndung wird eingeleitet. Ob der matador entkommen wird oder nicht, das heißt, ob seine Verbrechen strafrechtlich sanktioniert werden oder nicht, lässt der Roman offen.28 Aus der zeitlichen Distanz beurteilt das erzählende Ich seine Rolle schließlich so wie Érica sie ihm vorher schon beschrieben hat: Você é um cachorro filho da puta e você ignora que é um cachorro filho da puta, porque isso também faz parte do jogo, ignorar. E depois tem a segunda parte do jogo, que é assim: você leva um tiro na bunda, eles nem ligam, ora, um tiro na bunda faz parte do jogo, eles dizem. Você leva um tiro no peito, eles dizem: ora, faz parte do jogo. E quando você cai morto, eles dizem: é assim mesmo, faz parte do jogo (160).
Im Nachhinein versteht der matador, dass er tatsächlich die Rolle des "Hundes", des underdog und Kamikaze-Piloten gespielt hat und dabei von den Auftraggebern für dumm verkauft wurde. Sein Ruhm hat ihn blind gemacht für die wirklichen Absichten der Reichen: "[…] o homem quando lambe a fama, perde o caráter. É isso. Você fica famoso e o problema da fama é que ela faz você acreditar no que os outros dizem de você" (202).
Die Fortsetzung in Mundo Perdido zeigt jedoch einen Máiquel, der überlebt hat und sich zehn Jahre vor der Justiz verbergen konnte.
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Schlussfolgerungen O Matador wirft weder ein Mordrätsel auf noch stellt der Roman eine polizeiliche Ermittlung dar. Er zeigt vielmehr, wie der Mörder von den einfachen Leuten, der Oberschicht und der Polizei gefördert und in seinem Tun bestärkt wird. Máiquels Verbrechen werden von seinen Mitbürgern positiv sanktioniert, da sie daran glauben, durch die Liquidierung der Straftäter könne die Kriminalität eingedämmt werden – eine Utopie, die die Pseudonorm des Genres nährt, aber von der Romanhandlung deutlich widerlegt wird. Im Verhalten der Bevölkerung wird augenfällig, dass die Polizei ihre Funktion als Kontrollorgan verloren hat und andere Kräfte diese Lücke scheinbar füllen. Vertreter der Polizei treten nur in wenigen Szenen des Romans auf, einmal, um Máiquel für seinen ersten Mord zu beglückwünschen und ihm dadurch zu zeigen, dass er mit keinen Konsequenzen zu rechnen hat, und schließlich in der Person des Delegado Santana, der zusammen mit Vertretern der Oberschicht die mafiöse Sicherheitsfirma gründet, die Schutzgelder erpresst und jugendliche Straftäter exekutiert. Die Polizei hat also kein Interesse daran, Verbrechen aufzuklären, sondern agiert rein zugunsten ihrer persönlichen Bereicherung. Melos Roman enthält kein Positivbeispiel eines rechtschaffenen Polizisten als Gegengewicht, ganz im Gegensatz zur Pseudonorm, nach der nur einzelne Vertreter des Staatsapparats als Verbrecher entlarvt werden, das System an sich jedoch nicht in Frage gestellt wird. Ein dritter Faktor, der die Verbrechenseindämmung behindert, ist das Agieren der Oberschicht, vertreten durch die Ärzte Carvalho, Sílvio und Júlio. Auch sie glauben nicht daran, dass die Polizei über die nötigen Mittel oder den Willen verfügt, Verbrecher ihrer Strafe zuzuführen, und befürworten eine soziale Säuberung in Form von Selbstjustiz. Dazu benutzen sie ungebildete junge Männer aus der Unterschicht wie Máiquel und instrumentalisieren diese für ihre Zwecke. Solche Männer sind äußerst billig zu "kaufen", da sich ihre Wünsche auf die Konsumgüter der Mittel- und Oberschicht projizieren und über diese Äußerlichkeiten ihr Selbstwertgefühl herstellen. Melo zeigt in O Matador eine Gesellschaft, in der die Kontrollorgane des Staates so sehr versagt haben, dass weder die ärmeren noch die reicheren Schichten bei ihnen Hilfe suchen können, sondern auf radikale Lösungen zurückgreifen, dadurch das Menschenleben entwerten und die Spirale der Gewalt immer weiter in die Höhe treiben. Symptomatisch dafür ist der Showdown, in dem der Täter über seine Auftraggeber triumphiert und entkommt. Gewalt und Verbrechen werden in O Matador durch das Zusammenwirken verschiedener gesellschaftlicher Kräfte generiert. Alle Bereiche der Gesellschaft machen sich mitschuldig, indem sie Máiquel beglückwünschen, ihm Aufträge erteilen, seinen Hass schüren, ihn zum kaltblütigen 207
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Profikiller "abrichten" und schließlich ins organisierte Verbrechen eingliedern. Eine "Gut/Böse"-Trennung wie in der Pseudonorm lässt Patrícia Melo nicht zu. In O Matador gibt es keine "guten" Figuren, sondern bestenfalls mehr oder minder unschuldige Opfer der Situation wie die weiblichen Figuren Cledir und Érica. Gewaltszenen werden sehr direkt in ihrer Brutalität dargestellt. Sie zeigen die Wahrnehmung des Mörders, der aus der Ich-Perspektive erzählt, nicht wegsieht, aber auch nicht länger hinsieht als es die Ausführung des Auftrags erfordert. Dadurch werden für den Leser zwar Schockeffekte produziert, diese gleichen allerdings nur oberflächlich denen aus splatter-Filmen. Im Gegensatz zur Effekthascherei oder auch dem kriminaltechnischen Interesse an Verletzungen in der Pseudonorm haben Gewaltszenen bei Melo eine gesellschaftliche Stoßrichtung, da sie den psychischen Abhärtungsprozess des Täters offenlegen, der von der Gesellschaft in Gang gesetzt wurde. Die Subjektkonstruktion erfolgt im Falle Máiquels vor allem durch äußere Einflüsse. Seine Grundverfassung vor seiner Verwandlung in den matador besteht aus zwei Gefühlen, Scham und körperlichem Schmerz, symbolisiert durch die abgetragenen Schuhe und das Zahnweh. Ihm mangelt es auch deswegen an Selbstwertgefühl, weil sein Äußeres nicht dem Schönheitsideal der weißen Oberschicht entspricht. Aber er hat Wünsche: ein Leben als Familienvater mit einem guten Auskommen – ein würdevolles Leben. Nach dem Blondieren seiner Haare scheint ihm sein Spiegelbild zum ersten Mal einen Menschen zu zeigen, der vor Glück strahlt. In der Folge seines ersten Mordes – einer Kurzschlusshandlung, die ihm selbst ein Rätsel bleibt – beginnt die Gesellschaft, ihm einen weiteren Spiegel vor Augen zu halten: den eines Helden, eine Rolle, in die er gerne schlüpft. Ein drittes Spiegelbild zeig ihm Dr. Carvalho: das des Erfolgs. Da der Arzt ihn mit einer kostenlosen Behandlung und Honoraren für Morde kauft, kann sich Máiquel bald einen gehobeneren Lebensstil leisten. Die Bilder seiner selbst, die ihm von außen entgegengehalten werden, bestimmen sein Verhalten so sehr, dass seine moralischen Kontrollmechanismen gebrochen werden. Der matador erkennt viel zu spät, dass er von Menschen instrumentalisiert wird, die ihn im Grunde verachten und ihm die gesellschaftliche Anerkennung verwehren. So wird der Täter am Ende selbst zum Opfer. Diesen Mechanismus und seine sozio-ökonomischen Gründe durchschaut er zwar aus der zeitlichen Distanz, seine eigene psychische Konstitution bleibt ihm jedoch unklar. Das Schema (Scham/Schmerz – Prahlerei – Reue – Zugzwang), das seine Instrumentalisierung erst ermöglicht, hinterfragt er nicht. Würde er dies tun, so müsste er erkennen, dass die
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Gründe für seine Manipulierbarkeit in seiner eigenen Psyche liegen.29 Sein mangelndes Selbstwertgefühl und seine Unfähigkeit dauerhafte Bindungen einzugehen (die zur Überreaktion beim Tod des Haustiers führte) werden von einem gesellschaftlichen Diskurs generiert, der sehr viel subtiler ist als der offen diskriminierende Diskurs Dr. Carvalhos. Máiquels Reifungsprozess ist daher nicht abgeschlossen, die psychologische Distanz zum Erlebten aber immerhin so groß, dass er das Verhalten seiner Auftraggeber durchschaut. Die Auftraggeber konstruieren ihre Identität vor Máiquels Augen auf der Grundlage von wissenschaftlichen und religiösen Diskursen. Diese verzerren und pervertieren sie jedoch, um damit ihre egoistischen Interessen und die Perpetuierung ihrer sozialen Stellung rechtfertigen zu können. Indem sie andere Menschen als unheilbar zum Verbrechen veranlagt stigmatisieren, stellen sie ihr eigenes Leben über das der anderen und setzen sich auf den Stuhl eines Richters. Patrícia Melo subvertiert in O Matador auf diese Art alte Diskurse aus Europa, richtet ihre Kritik aber nicht gegen das heutige Europa, sondern gegen die brasilianische Mittelund Oberschicht, die diese Diskurse in einem postkolonialen Reflex für ihre Zwecke missbrauchen.
29 Indem Patrícia Melo bezüglich der psychischen Struktur des Täters interpretationsbedürftige Leerstellen lässt, bleibt sie stark Rubem Fonsecas Erzählweise verbunden, denn auch dieser erklärt in Erzählungen wie "O Cobrador" oder "Feliz ano novo" den plötzlichen Ausbruch von Gewalt nicht explizit, legt aber im Text eine Wirkungsstruktur an, die den Leser dazu auffordert, eine Beziehung zwischen bestimmten Textelementen herzustellen.
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5.1.2. Jorge Franco: Rosario Tijeras (Kolumbien, 1999) Der Autor: Jorge Franco Jorge Franco Ramos wurde 1962 in Medellín geboren. Er begann Ingenieurswissenschaften und danach Werbewesen zu studieren, brach aber beides ab und absolvierte stattdessen sein Studium in London an der der International Film School. Während dieser Zeit begann er zu schreiben. Sein ursprünglicher Traum, an Kinofilmen mitzuarbeiten, verwandelte sich in einen anderen: "Descubrí allá algo evidente: esas mismas historias que quería hacer en la pantalla también las podía contar con otros elementos, por medio de la escritura…" (Betancourt 2009). Nach seiner Rückkehr nach Kolumbien studierte er Literaturwissenschaft an der Pontificia Universidad Javeriana in Bogotá und nahm an verschiedenen Kursen für kreatives Schreiben teil. Mit seinem ersten Buch, dem Erzählband Maldito amor (1996), gewann er den Concurso Nacional de Narrativa Pedro Gómez Valderrama. Ein Jahr später erschien sein erster Kriminalroman, Mala noche (1997), der im XIV Concurso Nacional de Novela Ciudad de Pereira prämiert wurde. Der Roman spielt im Rotlichtmilieu einer namenlosen Stadt und handelt von der Aufklärung einer mysteriösen Mordserie an Prostituierten. Mit Rosario Tijeras (1999), seinem zweiten Kriminalroman, gelang Jorge Franco der internationale Durchbruch. Für dieses Werk erhielt er das nationale Literaturstipendium in Kolumbien und 2000 den Premio Hammett.1 Der Roman, Paraíso Travel (2001), konnte diesen Erfolg nicht wiederholen. Er erzählt die Geschichte von zwei kolumbianischen Immigranten in New York.2 Melodrama (2006), das bisher ambitionierteste Werk Francos, lehnt sich strukturell an die Telenovela an und handelt von einem Kolumbianer, den ein französischer Graf als Alleinerbe einsetzen möchte. In seinem neusten Roman, Santa suerte (2010), beschäftigt sich der Autor mit den unterschiedlichen Lebenswegen dreier junger Frauen. Jorge Franco ist kein Schriftsteller, der sich ausschließlich dem Kriminalroman verschrieben hat. Neben den angesprochenen Themen behandelt er meist gleichzeitig das Thema Liebe, weswegen seine Kriminalromane als Hybridformen bezeichnet werden können. Gewalt erscheint in seinen Werken außerdem häufig in einem so grotesken Kontext, dass seiner Literatur Züge des magischen Realismus zugesprochen wurden. 1 Rosario Tijeras wurde außerdem von Emilio Maillé unter demselben Titel verfilmt (2005) und gelangte zu großer Popularität, auch weil Popstar Juanes ein Lied zur Filmmusik beigesteuert hat (enthalten im Album Mi sangre von 2005). 2 Auch dieser Roman wurde verfilmt und zwar unter der Regie von Simon Brand (2008).
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Tatsächlich aber handelt es sich keinesfalls um magische Elemente, sondern um äußerst realitätsnahe, wie der Autor immer wieder betont: Lo que yo he venido diciendo es que la realidad nuestra ha llegado a un punto de ser tan exagerada, tan absurda, que ya no tienes que modificarla para que parezca mágica. Creo que nuestra realidad está llena de hechos contundentes todos los días, que te muestran que tenemos una realidad alucinante, casi inverosímil, que el problema que muchas veces tienes como escritor es cómo contarla para que no parezca un exabrubto [!], una cosa así, a lo realismo mágico (Dávalos 2006).
Der Kontext: Das Sikariat von Medellín Rosario Tijeras spielt in der Hochphase des Drogenkartells Pablo Escobars. Es werden zwar keine Jahreszahlen angegeben, aber im Roman wird Medellín von Bombenterror heimgesucht, was auf den Zustand Ende der 1980er Jahre hindeutet.3 Pablo Escobar (1949-1993), der seine Karriere als Autodieb und Schmuggler unter dem Mafioso "El Padrino"4 begonnen hatte, baute im Laufe der 1970er einen internationalen Kokainring auf. Die Nachfrage nach der Droge stieg beständig, vor allem in den USA, so dass das Geschäft von Jahr zu Jahr lukrativer wurde. In den 1980ern erweiterte Escobar sein Drogenkartell mit so großer Professionalität und Unerbittlichkeit, dass er zeitweilig 80% des KokainWeltmarktes kontrollierte und laut Forbes Magazine 1989 einer der reichsten Männer der Welt war.5 Escobar und seine Capos hatten zwei Gesichter: das des Gangsters und das des Volkshelden. Einerseits waren sie skrupellose Verbrecher, die alle Menschen, die ihnen in die Quere kamen (Politiker, Beamte, Polizisten, Militärs, Inhaber großer Firmen etc.), mit hohen Summen bestachen, tausende ihrer Feinde und Verräter kaltblütig ermordeten und hunderte von Menschen entführten. Escobar verfügte über ein Heer von sicarios (jugendlichen Auftragskillern), das paramilitärische MAS (Muerte a Secuestradores), das er 1981 zur Befreiung von Marta Ochoa, die zu seiner Bande gehörte und von der Guerillabewegung M-19 entführt worden war, gegründet hatte (Salazar 2001: 83). Auf der anderen Seite inszenierBesonders folgende Textstelle lässt diese zeitliche Verortung der Romanhandlung zu: "Era cierto que la ciudad se había 'calentado'. La zozobra nos sofocaba. Ya estábamos hasta el cuello de muertos. Todos los días nos despertaba una bomba de cientos de kilos que dejaba igual número de chamuscados y a los edificios en sus esqueletos. " (64). 4 Der Schmuggler hatte sich tatsächlich in Anlehnung an Mario Puzos Il Padrino (1969) so nennen lassen. Auch Pablo Escobar schaute sich viel von literarischen und filmischen Mafiafiguren ab. So übernahm er die Großzügigkeit von Salvatore Giuliano, dem "Robin Hood Siziliens", den Mario Puzo in seinem Roman The Sicilian portraitiert hat (Salazar 2001: 81). Laut eines Gerüchts hat Escobar sogar das Auto gekauft, in dem Bonny und Clyde erschossen wurden (ebd.: 27 u. 98). 5 Escobar besaß beispielsweise eine Hacienda von 3.000 Hektar mit einem Privatzoo, mehreren Swimmingpools, eigenem Helikopterlandeplatz und einem Flugplatz (Mollison/Nelson 2007: 38). 3
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te sich Escobar aber auch als Wohltäter und Volksheld. Er baute eine ganze Siedlung für Bedürftige (das Viertel Moravia), legte Fußballplätze an und errichtete Krankenhäuser und Schulen. Die an der Peripherie Medellíns lebenden Armen, die vor dem Bürgerkrieg aus ihren Dörfern in die Städte geflüchtet waren und sich von der Regierung allein gelassen fühlten, feierten Escobar als ihren Wohltäter. Ihn umgab der Nimbus eines sozialen Rebellen, der den Leuten das gab, was der Staat ihnen verwehrte, weshalb er auch "el Robin Hood paisa" genannt wurde (ebd.: 97). Seine Capos badeten in der Verehrung des Volks und stellten ihren Reichtum mit Genuss zur Schau (ebd.: 78). Das Geld aus dem Drogenhandel ließ in Medellín eine Schicht von Neureichen entstehen, die sich Villen in den teureren Wohnvierteln leisten konnten. Ab Mitte der 1980er Jahre bekämpften die USA sowie die kolumbianische Regierung das Kartell verstärkt. Laboratorien wurden vernichtet und die Kokainplantagen mit Pflanzengiften gespritzt. 1984 veranlasste Pablo Escobar die Ermordung des Justizministers Rodrigo Lara Bonilla, der den Kampf gegen den Drogenhandel am entschiedensten vorangetrieben hatte (ebd.: 123f.). Darüber hinaus begann das Kartell die Guerillagruppierung FARC mit Waffengewalt zu bekämpfen, da diese für die Kokapflanzungen und den Betrieb der Laboratorien Steuern eingetrieben und Bandenmitglieder entführt hatte (ebd.: 122). Der Eintritt der narcos in die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Staat, Guerilla und Paramilitärs führte zu neuen Ausmaßen des Schreckens im ganzen Land. Medellín verwandelte sich in einen Hexenkessel, in dem Gruppen von jugendlichen sicarios Polizisten, Richter, Beamte und Firmeninhaber ermordeten. Rund 180 Banden verschiedener Milizen kämpften gegeneinander. Escobar setzte eine Belohnung von 2.000 bis 5.000 Dollar für jeden toten Polizisten aus, woraufhin die sicario-Banden eine grausame Jagd betrieben, die in der Regel straflos blieb. So wurde neben dem Kokainhandel Mord zu einem lukrativen Geschäft. Die meisten Mitglieder der Jugendbanden stammten aus niederen Schichten und lebten oben in den barrios altos auf den Hügeln um die Stadt. Zwar wurden die ersten dieser Banden von den narcos gegründet, dann aber auch von anderen Sektoren der Gesellschaft und sogar von Privatleuten angeheuert (Salazar 1990: 185-193). Den unbändigen Wunsch der Jugendlichen, zu einer solchen Bande zu gehören, erklärt Salazar damit, dass die Gesellschaft ihnen kaum andere Möglichkeiten ließ, auf legale Weise Geld und Ansehen zu erlangen (ebd.: 187).6
Ganz ähnliche Beweggründe führt Amendola (2005) für das hohe Gewaltniveau unter marginalisierten Jugendlichen in den brasilianischen Großstädten an (siehe Kap. 5.1.1). Ähnlich wie in Rio de Janeiro bildeten sich auch in den kolumbianischen Städten Volksmilizen, die die Verbrecherbanden abzuwehren versuchen (Ziss 1997: 220).
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1988 betrug in Medellín das durchschnittliche Alter der Mordopfer 20 bis 25 Jahre. 1990 verzeichnete die Stadt 6.000 Morde.7 Von 1980-1990 belief sich die Ziffer insgesamt auf 50.000. 1991 stellte sich Escobar der Polizei, kam ins Gefängnis, floh aber und wurde 1993 bei einer Razzia erschossen. Zu seiner Beerdigung kamen 20.000 Menschen. Der Roman: Rosario Tijeras8 Rosario Tijeras gehört zu einer Reihe von Romanen, die manchmal als novelas sicarescas oder narconovelas bezeichnet werden und zu denen auch Ganzúa (1987) von Luis Fernando Macías, El pelaíto que no duró nada (1991) von Víctor Gaviria, La virgen de los sicarios (1994) von Fernando Vallejo, Morir con papá (1997) von Óscar Collazos, Los hijos de la nieve (2000) von José Libardo Porras, Sangre ajena (2000) von Arturo Alape und La ciudad de todos los adioses (2001) von César Alzate gezählt werden können.9 All diese Romane setzen sich mit der Zeit von Pablo Escobars Drogenkartell auseinander und machen die sicarios zu einer neuen literarischen Figur. Margarita Jácome (2001) behandelt die novela sicaresca in ihrer Monografie wie eine eigenständige Romangattung.10 Die Problematik des sicario erreichte erstmals das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit durch den Dokumentarfilm Rodrigo D: no futuro (1989) von Víctor Gaviria, sowie das Buch No nacimos pa’ semilla (1990) von Alonso Salazar J., der 1989 und 1990 viele jugendliche sicarios interviewt und die Im vorangegangenen Kapitel wurde berichtet, dass die Situation in São Paulo auch sehr gravierend ist (5.722 Morde im Jahr 1995). Gemessen an der Bevölkerungszahl des ganzen Landes war die Mordrate in Kolumbien in den Jahren 1986-1992 jedoch dreimal so hoch wie in Brasilien (77,5 gegen 24,6 pro 100.000 Einwohner) (Ziss 1997: 214). 8 Rosario Tijeras wurde schon mehrfach untersucht, meist im Vergleich mit Fernando Vallejos Roman La virgen de los sicarios sowie anderen narconovelas oder novelas sicarescas: Orozco (2003), Segura (2004), Castro García (2004), Shuru (2005), Goodbody (2008), López de Abiada/López Bernasocchi (2009), Close (2009), Jácome (2009) und Rivero (2011). Von der Walde (2001) spricht den Roman nur kurz an. Torres (2009) und Osorio (2010) gehen vor allem auf die Unterschiede zwischen dem Roman und seiner Verfilmung ein. Skar (2007) vergleicht die Verfilmung zudem mit einem anderen kolumbianischen Film zum Thema Drogenhandel (María llena eres de gracia). 9 Interpretationsansätze zu Ganzúa, Hijos de la nieve und La ciudad de todos los adioses – sowie zu La virgen de los sicarios und Rosario Tijeras – finden sich bei Castro García (2004). Jácome untersucht in ihrer Monografie die Romane La virgen de los sicarios, Sangre ajena, Rosario Tijeras und Morir con papá. 10 Für Untersuchungen, deren Ziel es ist, Besonderheiten der kolumbianischen Literatur herauszuarbeiten, ist Jácomes Vorschlag sinnvoll, da er die Innovationsleistung dieser Romane vor dem Hintergrund der kolumbianischen Literatur hervorhebt. Stellt man diese Werke jedoch in einen internationalen Kontext, so können sie als Untergattung des Kriminalromans gelesen werden, da sie eine systemreferenzielle Beziehung zur Kriminalliteratur herstellen, insofern es schon lange vor der novela sicaresca Kriminalromane gab, deren Protagonist ein Täter oder sogar ein jugendlicher Täter ist, wie beispielsweise Tom Ripley bei Patricia Highsmith. Segura vergleicht die literarische Figur des sicario außerdem mit der des pícaro, da sie eine Reihe von Merkmalen teilen: Beide sind sehr jung und bewegen sich als Marginalisierte in einer urbanen Welt. Sie verkörpern die Widersprüche einer Gesellschaft und die Krise ihrer Werte im Zusammenspiel mit pragmatischem, kapitalistischem Ideengut (Segura 2004: 115). 7
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Gespräche in Form von Erzählungen zusammengefasst hat (Von der Walde 2000: 224).11 Rosario Tijeras erzählt die Geschichte zweier junger Männer aus der gehobenen Mittelschicht Medellíns und ihrer Freundschafts- bzw. Liebesbeziehung zu Rosario Tijeras, einem Mädchen aus den barrios altos, die als Auftragsmörderin für namenlose, hochrangige Mitglieder der Drogenmafia arbeitet. Der homodiegetische Erzähler des Romans ist einer der beiden Freunde, Antonio, der nur ein einziges Mal namentlich genannt wird. Er ist der enge Vertraute Rosarios, während Emilio, ihr offizieller novio, ihr zwar körperlich näher kommt, aber weniger über sie weiß, weil sie sich ihm gegenüber kaum öffnet. Der Ich-Erzähler befindet sich während des gesamten Romans in einem Krankenhaus, in das Rosario mit lebensgefährlichen Schusswunden eingeliefert wurde, und wartet auf eine Nachricht des Arztes. Diese Situation bildet den extradiegetischen Rahmen für eine intradiegetische Erzählung, die in Form von Erinnerungen Antonios dargeboten wird. Es liegt also auch hier wie in Melos Roman O Matador eine Distanz zwischen erzählendem und erlebendem Ich vor mit dem Unterschied, dass bei Franco beide Ebenen deutlicher voneinander getrennt sind. Für die Binnenhandlung, die mehrmals zurück zur Rahmenhandlung blendet, ist besonders charakteristisch, dass die Ereignisse achronologisch und assoziativ erzählt werden, so dass die story einige Leerstellen aufweist und nicht eindeutig rekonstruiert werden kann. Die Binnenhandlung enthält viele Dialoge mit grafisch gekennzeichneten Redebeiträgen, die es dem Leser streckenweise erlauben, das Geschehen unmittelbar mitzuverfolgen (im Unterschied zu O Matador, in dem der Erzähler die Ereignisse stark filtert und die Dialoge mit seinem Diskurs verschmelzen, da eine grafische Kennzeichnung fehlt). Häufig bleiben Ort und Zeitpunkt der Dialoge vage oder werden überhaupt nicht genannt. Dies geschieht vor allem dann, wenn sich der Erzähler an Momente erinnert, in denen er Rosario seine Liebe gestehen will, wobei er sich völlig auf sein Gefühl konzentriert und die Umwelt ausblendet. Trotz der Dialoge bleibt der Roman durch die temporale Fragmentiertheit und die assoziativen Reflexionen des Erzählers näher am narrativen als am dramatischen Modus. In manchen Passagen öffnet sich außerdem eine weitere (metadiegetische) Erzählebene. Dies geschieht, wenn der Ich-Erzähler die wörtliche Rede Rosarios zitiert, in denen sie summarisch ihre Erinnerungen schildert, welche eine Binnenbinnenhandlung erzeugen.
11 Jorge Franco hat nach eigenen Angaben sowohl die Romane von Luis Fernando Macías und Fernando Vallejo als auch das Werk von Salazar gelesen, bevor er Rosario Tijeras verfasst hat (rabodeaji o. J.).
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Der Autor musste nach eigenen Angaben das tatsächliche Ausmaß der Gewalt in seinem fiktionalen Text auf ein erträgliches Maß reduzieren, um Raum für die Liebesgeschichte zu schaffen (Dávalos 2006). Tatsächlich stellt die Liebesgeschichte in Rosario Tijeras ein wichtiges Element dar, sie ist jedoch nicht vom gewaltreichen Kontext lösbar und erhält ihre ganze Dramatik erst durch die leitmotivische Verbindung mit dem Tod, weswegen die Klassifizierung des Romans als Kriminalroman thematisch gerechtfertigt ist.12 Wie eng die Romanhandlung an lebensweltliche Zustände anknüpft, erklärt Jorge Franco in einem Interview: La historia tuvo su primer latido cuando leí una tesis de la facultad de Psicología de la Universidad de Antioquia, que trataba el tema de la religiosidad y el sicariato. Allí encontré unos testimonios conmovedores de unas niñas metidas en pandillas de sicarios, y algunas de ellas ya cargaban varios muertos encima. En ese momento creí que ahí había una historia para contar. Comencé a investigar, a buscar todo lo que hubiera sobre el tema, pero el dilema era cómo contar una historia de ficción, cuando nuestra realidad y la de estos muchachos, es tan absurda e inverosímil que parece ella misma una historia de ficción. Entonces decidí no basar el personaje en ningún testimonio en particular, sino que comencé a darle vida a un personaje literario con una historia propia (rabodeaji o. J.).
Die Figur der Rosario Tijeras speist sich also aus einer ganzen Reihe von Erfahrungsberichten junger Frauen, die in Medellín Banden von sicarios angehörten. Was bei Jorge Franco übertrieben oder sogar magisch wirkt, basiert auf einem konkreten lebensweltlichen Kontext, in dem die alltägliche Gewalt ein kaum vorstellbares Ausmaß erreicht hat. Daher wirken Rosarios Geschichten auf Antonio auch wie Fiktionen: "Ella era la que me las contaba, como se cuenta una película de acción que a uno le gusta, con la diferencia de que ella era la protagonista, en carne viva, de sus historias sangrientas" (14). Der Titel des Romans entspricht dem Namen der Figur, auf die sich alle Gedanken des Erzählers richten. Sowohl Vor- als auch Nachname sind sprechend. Rosario, "Rosenkranz", kann auf die Religiosität der sicarios bezogen werden, die versuchen, sich durch Anhänger und Armbänder mit religiösen Symbolen und den Porträts von Heiligen (escapularios) vor einem schmerzhaften Tod zu schützen, und die Pistolenkugeln in Weihwasser abkochen, bevor sie sie benutzen: "El caso es que Rosario tenía como costumbre, aprendida de los suyos, hervir las balas en agua bendita antes de darles un uso premeditado" (127).13 Die Verbindung
12 Für Jácome überwiegen die Merkmale des Liebesromans oder gar der novela sentimental. Sie kommt zu diesem Schluss außerdem deswegen, weil sie eine sehr enge Gattungskonzeption für den Kriminalroman vertritt. Für sie sind nur solche Romane Kriminalromane, die ein Mordrätsel enthalten, was bei Rosario Tijeras nicht der Fall ist (Jácome 2001: 139). 13 Auch in Fernando Vallejos Roman La virgen de los sicarios kochen die sicarios die Kugeln in Weihwasser ab. Zu weiteren Merkmalen der Subkultur der sicarios siehe auch Jácome (2001: 25-46).
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von Religiosität und Mord zeigt den Bruch der sicarios mit dem traditionellen Katholizismus, den sie uminterpretieren und in den Dienst ihrer Verbrechen stellen. Sie "missbrauchen" die Jungfrau Maria dafür, das Gelingen von Morden und das schmerzfreie Sterben zu erbitten.14 "Tijeras" ist nicht Rosarios tatsächlicher Nachname. Diesen gibt sie nicht preis, obwohl Emilio und Antonio sie danach fragen. Vor allem Emilio wünscht sich, ihren richtigen Namen zu erfahren. Weil seine eigene Identität auf einer langen Familientradition beruht, glaubt er, Rosarios Identität durch ihren Namen besser erfassen zu können. Rosarios Spitzname "Tijeras" verrät aber tatsächlich viel mehr als ihr wirklicher Name, da er auf ihre Taten statt auf ihre Abstammung verweist. Als junges Mädchen kastrierte sie ihren Vergewaltiger mit einer Schneiderschere: Pero Tijeras no era su nombre, sino más bien su historia. Le cambiaron el apellido, contra su voluntad y causándole un gran disgusto, pero lo que ella nunca entendió fue el gran favor que le hicieron los de su barrio, porque en un país de hijos de puta, a ella le cambiaron el peso de un único apellido, el de su madre, por un remoquete. Después se acostumbró y hasta le acabó gustando su nueva identidad. –Con el solo nombre asusto –me dijo el día en que la conocí–. Eso me gusta (12).
Tatsächlich kennt Rosario ihren Vater nicht. Sie weiß nur so viel, dass unter ihren vielen Geschwistern nur ihr Bruder Johnefe vom selben Mann gezeugt wurde. Ansonsten wechselt die Mutter ihre Liebhaber sehr schnell und hat ihrer Tochter nichts Gutes mit auf den Weg gegeben, keine Liebe, keine Orientierung, keine Geborgenheit. Das Tragen des Spitznamens verweist nicht nur auf Rosarios Gewaltpotenzial, sondern ist auch ein Indiz dafür, dass sich die Kernfamilien in den comunas auflösen. Da dies den traditionellen Vorstellungen zuwider läuft, nennt der Erzähler Kolumbien abschätzig und doppeldeutig "un país de hijos de puta".15 Im Gegensatz zu Rosario stammen Antonio und Emilio aus der wohlhabenden Mittelschicht, Emilio sogar aus der Oberschicht, in der der Name für eine lange Tradition steht, und eine Identität generiert und garantiert:
14 Es existieren zahlreiche reale Belege für den besonderen Umgang der sicarios mit der Religion. Der Mörder Lara Bonillas betete vor dem Attentat im Santuario de María Auxiliadora in Sabaneta zur Jungfrau María und bat sie, ihn unbeschadet aus Bogotá zurückkehren zu lassen. Dem amtierenden Pfarrer dieser Kirche, Ramón Arcila, wurde nachgesagt, er könne Wunder vollbringen. Bei einer seiner Messen sei die Jungfrau Maria auf dem Altar erschienen. Die Kirche verwandelte sich in einen Pilgerort der sicarios, die ihrer Schutzheiligen hohe Summen Opfergeld reichten. Der Pfarrer segnete sogar die Motorräder der sicarios (Salazar 2001: 127f.). Ein anderer Pfarrer aus Medellín sieht im Marienkult der sicarios die Anbetung eines weiblichen permissiven Gottes, der jegliches Verbrechen, auch Mord, vergibt, wenn man ihn darum bittet (Salazar 1990: 198). 15 Pablo Escobars Mitarbeiter trugen für gewöhnlich Decknamen (Salazar 2001: 29). Auch diese Funktion kann Rosarios Spitzname übernehmen.
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En la oscuridad de los pasillos siento la angustiosa soledad de Rosario en este mundo, sin una identidad que la respalde, tan distinta a nosotros que podemos escarbar nuestro pasado hasta en el último rincón del mundo, con apellidos que producen muecas de aceptación y hasta de perdón por nuestros crímenes. A Rosario la vida no le dejó pasar ni una; por eso se defendió tanto, creando a su alrededor un cerco de bala y tijera, de sexo y castigo, de placer y dolor (13).
Antonio und Emilio verleiht der Name ihrer Eltern einen gehobenen Platz in der Gesellschaft unabhängig von ihren individuellen Leistungen, ihren Eigenschaften und ihren Handlungen. Angedeutet wird sogar, dass ein guter Name Straffreiheit gewährt. Im Gegensatz dazu kann sich Rosario auf nichts berufen. Als marginalisierte, in Armut lebende Bewohnerin der comunas ist sie de facto vogelfrei und dem Rechtsspruch oder der Willkür der Justiz genauso ausgeliefert wie den Schüssen auf der Straße. Das Fehlen eines schutzgebietenden Familiennamens kompensiert sie durch physische Gewalt ("un cerco de bala y tijera") sowie durch körperliche Reize. Über Emilios Familienverhältnisse erzählt Antonio außerdem: La familia de Emilio pertenece a la monarquía criolla, llena de taras y abolengos. Son de esos que en ningún lado hacen fila porque piensan que no se la merecen, tampoco le pagan a nadie porque creen que el apellido les da crédito, hablan en inglés porque creen que así tienen más clase, y quieren más a Estados Unidos que a este país. Emilio siempre trató de rebelarse contra el esquema […]. Y como casi siempre sucede, ganó el esquema. Después de Rosario, Emilio volvió a nadar con destreza en sus aguas. Ahora gana bien, trabaja con su padre, mide sus palabras y tiene una novia a la que quiere todo el mundo, menos él (47).
Als Jugendlicher empfindet Emilio seine Abstammung noch als eine Bürde und versucht – wie alle Jugendlichen – gegen seine Eltern zu rebellieren. Am Ende besiegt jedoch die Tradition die Rebellion, was nur in dieser Textpassage kurz angedeutet wird. Emilios Beziehung zu Rosario hat demnach keine negativen Konsequenzen für sein späteres Leben, das so geregelt verläuft, wie es für seine Klasse üblich ist. Die Erinnerungen des Protagonisten erfüllen eine ähnliche Funktion wie die Ermittlungsarbeit in einem Rätselroman. Antonio rekonstruiert die Umstände, die zu Rosarios Verletzung und schließlich zu ihrem Tod führen.16 Eine polizeiliche Ermittlung findet jedoch nicht statt. Nur in der Rahmenhandlung tritt kurz ein Polizist in Erscheinung, um den IchErzähler zu vernehmen. Antonio zeigt in einem einzigen Satz, dass die Polizei ihre Rolle als Hüter von Recht und Ordnung nicht wahrnimmt, sondern selbst verbrecherisch organisiert ist: "Con la displicencia que aprendieron sueltan su interrogatorio como si yo fuera el criminal y no 16 Ein Unterschied zum Rätselroman besteht darin, dass Rosario tatsächlich zu Beginn noch nicht tot ist und die Rekonstruktion der Tat während ihrer Agonie stattfindet.
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ellos" (25). Im Gegensatz zum pseudonormativen Ermittlungsschema ist Antonios Rekonstruktion der Vergangenheit am Ende nicht vollständig. Rosarios Leben wird zwar blitzlichtartig erhellt, zwischen der letzten Begegnung des Ich-Erzählers bis zum Zeitpunkt von Rosarios Einlieferung ins Krankenhaus sind jedoch drei Jahre vergangen. Die genauen Umstände des Mordes bleiben daher im Dunkeln. Der Leser erfährt lediglich, dass Rosario auf dieselbe Weise ermordet wurde, wie sie selbst immer gemordet hat, mit einem Schuss aus nächster Nähe, "a quemarropa", während sie das Opfer küsste. Die Identität ihres Mörders spielt in diesem Kontext keine Rolle, da Rosario den typischen frühen Tod der sicarios stirbt. Die Motivation des Erzählers, Rosario über Jahre hinweg zu begleiten und über sie nachzudenken, entspringt aus seiner brennenden Liebe zu ihr. Er ist der stille, schüchterne, verlässliche Freund, dem es an Mut fehlt, seine Liebe zu gestehen. Rosario vertraut ihm einige ihrer Erlebnisse an, verheimlicht aber auch vieles und bleibt für den Erzähler wie für den Leser ein Geheimnis. In ihrem Verhalten spiegelt sich der Kodex von mafiösen Organisationen, deren Mitglieder ihren engsten Freunden und Verwandten grundsätzlich nie gefährliche Informationen anvertrauen, um sie nicht zu Mitwissern ihrer Verbrechen zu machen. Antonio fühlt sich teils privilegiert, da Rosario ihm mehr erzählt als Emilio, teils benachteiligt, weil sein Verhältnis zu ihr weitgehend platonisch bleibt. Nur ein einziges Mal gesteht er ihr seine Liebe, woraufhin sie sich ihm körperlich hingibt. Rosario ist jedoch nicht nur die verführerische sicaria, sondern steht auch allegorisch für die Stadt Medellín. Beide entfachen Liebe und Hass bei den Menschen, wie Jácome (2001: 142) und Orozco (2003: 98f.) herausgearbeitet haben. Das Inferno des Drogenkriegs und die Schönheit der Stadt stehen in Kontrast zueinander: […] es una relación de amor y odio, con sentimientos más por una mujer que por una ciudad. Medellín es como esas matronas de antaño, llena de hijos, rezandera, piadosa y posesiva, pero también es madre seductora, puta, exuberante y fulgurosa. El que se va vuelve, el que reniega se retracta, el que la insulta se disculpa y el que la agrede las paga […]. Medellín siempre termina ganando (91).
Einen inneren Kampf wie diesen führt Antonio in Bezug auf Rosario: Er versucht sich immer wieder von ihr zu entfernen, verfällt aber ihrem Liebreiz stets aufs Neue. Der Symbolcharakter Rosarios dehnt sich an einer Stelle sogar noch weiter aus. In ihrer Existenz kondensiert die gewaltreiche Geschichte Kolumbiens: La pelea de Rosario no es tan simple, tiene raíces muy profundas, de mucho tiempo atrás, de generaciones anteriores; a ella la vida le pesa lo que pesa este
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país, sus genes arrastran con una raza de hidalgos e hijueputas que a punta de machete le abrieron camino a la vida, todavía lo siguen haciendo […] (32).
Die Figur Rosarios schreibt sich in eine Geschichte und Gegenwart ein, die seit der Conquista von Gewalt und Tod und dem Kampf der Klassen und Rassen gegeneinander beherrscht wird und deren vorläufig letzter Kulminationspunkt der Drogenkrieg darstellt. Francos Idee, eine Frau zur Protagonistin des Romans zu machen und sie in einer traditionellen Männerrolle darzustellen, bietet die Möglichkeit, die Ausübung von Gewalt an eine feminine Erotik zu knüpfen, was in Kriminalromanen selten ist. Der Kontrast zwischen Rosarios Kaltblütigkeit und ihrem Liebreiz löst Zwiespalt im Leser aus, da scheinbar Unvereinbares zusammengeführt wird.17 Die enge Verbindung von Liebe und Tod, Eros und Thanatos, zieht sich leitmotivisch durch den ganzen Roman. Schon der erste Satz führt in diesen Motivkomplex ein: "Como a Rosario le pegaron un tiro a quemarropa mientras le daban un beso, confundió el dolor del amor con el de la muerte" (9).18 Wie Medellín, die Stadt, die ihre Einwohner verzaubert aber auch ermordet, küsst Rosario ihre Opfer bevor sie sie erschießt, um ihnen den Tod zu versüßen: "–Siento lástima por ellos –nos explicó Rosario–. Creo que se merecen al menos un beso antes de irse" (35).19 Als Emilio Rosario zum ersten Mal küsst, empfindet er, dass ihre Küsse nach Tod schmecken (vgl. 82). Dies kann nur metaphorisch gedeutet werden, zum einen als Antonios Ahnung, dass Rosario anderen Menschen den Tod bringt, und zum anderen als das Vorgefühl, dass ihr Leben an einem seidenen Faden hängt und sie bald selbst den Tod finden wird. Auch Antonio "schmeckt" den Tod beim ersten und einzigen sexuellen Kontakt mit ihr
17 Jácome (2009), Close (2009), López de Abiada und López Bernasocchi (2009) und Rivero (2011) charakterisieren Rosario als Archetyp einer femme fatale, da sie bei Antonio und Emilio eine Art Sucht und Abhängigkeit auslöst. Jácome untersucht außerdem die Geschlechterrollen in dem Roman genauer und konstatiert eine Vermännlichung Rosarios und eine Verweiblichung Antonios (Jácome 2009: 145-153). Shuru (2005) geht vor allem auf die erotische Wirkung Rosarios im Zusammenspiel mit Gewalt ein. 18 Diese Art und Weise, den Roman zu beginnen, erinnert an Gabriel García Márquez, der in manchen Werken zu Beginn den Tod seiner Protagonisten ankündigt. So lautet der erste Satz von Cien años de soledad (1967): "Muchos años después, frente al pelotón de fusilamiento, el coronel Aureliano Buendía había de recordar aquella tarde remota en que su padre lo llevó a conocer el hielo". Crónica de una muerte anunciada (1981) beginnt mit: "El día que lo iban a matar, Santiago Nasar se levantó a las 5.30 de la mañana para esperar el buque en que llegaba el obispo". Durch diese proleptische Vorwegnahme wird ein Kreis geöffnet, der sich am Romanende (oder früher) durch den Tod der Figur schließt. 19 Für López de Abiada und López Bernasocchi (2009: 159) sind Rosarios Küsse als Judasküsse zu klassifizieren. Der Vergleich ist insofern zulässig, als Judas mit dem Kuss Jesus seinen "Mördern" ausgeliefert hat. Der Judaskuss steht jedoch im Allgemeinen für den Verrat und die Habgier des Judas. Der Ausdruck wird für eine Handlung verwendet, mit der man einen Freund oder Angehörigen einem Feind ausliefert, aber nicht für die eines Mörders, der damit seine eigene Tat ankündigt.
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("[…] tus besos saben a muerte, Rosario Tijeras", 152) und geht an einer Stelle sogar soweit, Rosario mit dem Tod gleichzusetzen: "[…] Rosario y muerte eran dos ideas que no se podían separar. No se sabía quién encarnaba a quién pero eran una sola" (88).20 Ihre Entschlossenheit und Professionalität, mit der sie ihre Feinde umbringt, löst bei Antonio jedoch keine Ablehnung aus, sondern führt dazu, dass er sich im gewalttätigen Medellín an ihrer Seite sicher fühlt: "Cuando salí del shock después de saber que Rosario mataba a sangre fría, sentí una confianza y una seguridad inexplicables. Mi miedo a la muerte disminuyó, seguramente por andar con la muerte misma" (67). Mit dieser allegorischen Ausweitung der Figur auf den Tod, wird sie über den kolumbianischen Kontext hinaus deutbar. Rosario Tijeras wäre auf universeller Ebene als ein Roman über eine Liebe zu lesen, die geprägt ist vom Bewusstsein ihrer eigenen Vergänglichkeit sowie der Vergänglichkeit des geliebten und liebenden Subjekts. So hat Antonio häufig das Gefühl, an seiner Liebe zugrunde zu gehen, da er sich wie ein Drogensüchtiger nach Rosario verzehrt und im wahrsten Sinne des Wortes "liebeskrank" ist: [Mis padres] pensaron que yo quería salvarme de la droga que contamina el cuerpo y las venas y no de la otra, la que entra por debajo y por los ojos, la que se enquista en el corazón y lo corroe, la maldita droga que los más ingenuos llaman amor, pero que es tan nociva y mortal como la que se consigue en las calles envuelta en paqueticos (96).
Antonios Liebe zu Rosario mündet in die Todessehnsucht eines Liebenden, dessen Gefühle nicht erwidert werden. Dies wird an mehreren Stellen des Romans in unterschiedlicher Weise angesprochen, beispielsweise als Rosario am Grab ihres Bruders Johnefe weint: "[…] con un gesto triste le lanzó un beso largo, con tanto amor que ya hubiera querido yo estar acostado ahí" (118); oder als sie Antonio als Geldkurier zu missbrauchen versucht: "[…] ya no me importaba morir por Rosario" (99). Am Ende des Romans werden Liebe und Tod noch einmal besonders eng zusammengeführt. Dies geschieht durch die Juxtaposition der ein20 Rosario kann bezüglich ihrer Mordmethode als intertextueller Reflex der Salome gelesen werden. Der biblische Stoff wurde von Oscar Wilde in einem Theaterstück bearbeitet (1891) und von Richard Strauss in eine Oper verwandelt (1905). Darin verspürt Salome ein großes Verlangen, den eingekerkerten Jochanaan (Johannes den Täufer) zu berühren und zu küssen. Da dieser sie vehement abweist, schmiedet sie einen Racheplan. Sie führt für ihren Stiefvater, König Herodes Antipas, einen Tanz auf. Als Gegenleistung verlangt sie den abgehackten Kopf des Jochanaan auf einem Silberteller. Als sie diesen erhält, küsst sie die Lippen des Toten. Auf Anweisung des Herodes wird Salome daraufhin von den Soldaten getötet. Was bei Salome jedoch ein Racheakt ist, ist bei Rosario ein Auftrag. Daher küsst Rosario ihre Opfer vor dem Tod und Salome danach. Die enge Verbindung zwischen Kuss und Tod ist auch aus dem Tierreich bekannt. Die Weibchen der Schwarzen Witwe sowie der Gottesanbeterin fressen ihre Männchen manchmal nach der Paarung auf, da sie sie wegen ihrer geringeren Größe als Beute einstufen. Dieses Verhalten ähnelt eher dem Rosarios, da auch ihre (stets männlichen) Opfer die Funktion einer Beute erfüllen, ermöglichen sie ihr doch ein finanzielles Auskommen.
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zigen Liebesnacht Antonios mit Rosario (Binnenhandlung) und ihrem Tod im Krankenhaus (Rahmenhandlung). Über den Leichnam gebeugt erinnert sich Antonio an die Momente der Lust sowie an Rosarios Verhalten, das ihm deutlich gezeigt hat, dass es keine Fortsetzung der Affäre geben würde, weswegen er seinen Tod herbeisehnt: "[…] para morirme como quería en ese instante, junto a ella y después de haber tocado el cielo, muerto de amor como ya nadie se muere, seguro de no poder vivir ya más con el desprecio" (155). Im Krankenhaus empfindet er unheimliches Verlangen, sie ein letztes Mal zu küssen, was er jedoch aufgrund seiner Schüchternheit, die seine ganze Beziehung zu Rosario dominiert hat, nicht tut. Das Verlangen sie zu küssen und das Verlangen mit ihr zu sterben fließen im selben semantischen Feld ineinander: "me muero por besarla, 'ya te dije: te voy a querer siempre', me muero por morirme con ella" (155). Trotz der engen Verbindung von Rosario und dem Tod wirkt die sicaria lange Zeit unverwundbar. Weder für sie selbst ("–A mí nadie me mata – dijo un día–. Soy mala hierba", 10) noch für Antonio und Emilio ist ihr Tod vorstellbar: "La creíamos a prueba de balas, inmortal a pesar de que siempre vivió rodeada de muertos" (10). Dieser Eindruck entsteht, weil sie mit aller Kraft tagtäglich ums Überleben im Drogenkrieg kämpft und sich dabei als äußerst wehrhaft erweist. Ihren Überlebenskampf deutet Antonio jedoch an einer anderen Stelle als ein ledigliches Hinauszögern ihres Todes: "Rosario podía contar mil historias y todas parecían distintas, pero a la hora de un balance, la historia era sólo una, la de Rosario buscando infructuosamente ganarle a la vida" (32). Wie bei der Untersuchung von Máiquels Werdegang in Patrícia Melos Roman O Matador sollen im Folgenden einige Entwicklungsschritte Rosarios rekonstruiert werden. Ihre Kindheit, von der sie ausschnittsweise berichtet, legt den Grundstock für ihre Karriere als sicaria, da sie sehr früh Gewalt erfahren und als Reaktion darauf Gewalt ausgeübt hat, wodurch sie gleichzeitig als Täterin und als Opfer einer bestimmten gesellschaftlichen Situation lesbar wird – ähnlich wie Máiquel. Ihre Eltern kamen vom Land in die Stadt auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen. Die Mutter, Doña Rubi, ist Näherin (modista) und hat immer Scheren im Haus, die sie nicht nur für ihre Arbeit verwendet, sondern auch zur Abwehr gegen ihre Männer. Mit acht Jahren wird Rosario von einem der vielen Liebhaber der Mutter mehrmals vergewaltigt. Die Mutter glaubt Rosario jedoch nicht: "Ésos son cuentos de la niña, que ya tiene imaginación de grande" (22). Die Reaktion der Mutter macht deutlich, wie lieblos sie mit ihrer Tochter umgeht. Antonio reflektiert über den entstandenen seelischen Schaden Rosarios: Cuanto más temprano conozca uno el sexo, más posibilidades tiene de que le vaya mal en la vida. Por eso insisto en que Rosario nació perdiendo, porque la vio-
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laron antes del tiempo, a los ocho años, cuando uno ni siquiera se imagina para qué sirve lo que le cuelga (21).
Rosarios älterer Bruder Johnefe, der bereits für die narcos arbeitet und ein respektierter Bandenchef ist, beauftragt schließlich jemanden, den Vergewaltiger zu bestrafen, was die Wunde nicht jedoch nicht heilen kann, wie Antonio anmerkt: "Aunque al hombre lo dejaron sin su arma malvada, a ella nunca se le quitó el dolor, más bien le cambió de sitio cuando se le subió para el alma" (22). Der Erzähler schließt keine weiteren psychologischen Erklärungen an seine Beobachtungen an, sondern belässt es bei Reflexionen, die direkte oder metaphorische Zusammenhänge zwischen Rosarios Kindheit und ihrer Gewaltbereitschaft herstellen. Dies verhindert zwar ein tieferes Verständnis dieser Zusammenhänge, ist aber narratologisch gesehen konsistent, da Antonio über keinerlei Spezialwissen diesbezüglich verfügt. Rosarios Gewaltbereitschaft nimmt infolge einer weiteren Vergewaltigung eine neue Dimension an. Im Alter von 13 wird sie das Opfer zweier junger Männer aus ihrem Viertel. Die Menschen, die ihre Hilferufe hören, drehen sich verängstigt weg: "[…] vos sabés que por allá cuanto más grite uno, la gente más se asusta y más se encierra" (29). An dieser Stelle wird Rosarios Verlassenheit und Schutzlosigkeit deutlich, die ihr keine andere Wahl zu lassen scheinen, als sich mit Gewalt selbst zu verteidigen. Einige Monate nach dem Vorfall schneidet sie einem ihrer Vergewaltiger in einem Akt von Selbstjustiz die Hoden ab und erhält ihren Spitznamen "Tijeras". Eine Anzeige bei der Polizei und eine Bestrafung des Täters durch die Justiz werden an keiner Stelle auch nur in Erwägung gezogen. Über Johnefe, ihren ersten festen Freund Ferney und deren Bande steigt Rosario ins organisierte Verbrechen ein. Die jungen Männer erledigen Aufträge für eine mafiöse Organisation, die im Roman schlicht La Oficina21 genannt wird und deren Anführer mit los duros de los duros bezeichnet werden. Es fallen keine Namen und die Geschäfte, die diese Mafia abwickelt, werden nicht spezifiziert. Der reale Kontext sowie die spärlichen Erklärungen Rosarios lassen aber den Schluss zu, dass es sich um die oberste Ebene von Pablo Escobars Drogenkartell handelt: "–¿Quiénes son ellos, Rosario? –le pregunté una vez. –Vos los conocés. Salen todo el día en los noticieros" (58). An keiner Stelle wird deutlich gesagt, welche Art von "Arbeit" Rosario genau für die duros erledigt. Es wird jedoch suggeriert, dass sie sowohl als deren Prostituierte als auch als sicaria
21 Dies scheint ein gängiger Ausdruck für die Schaltstellen der Drogenmafia zu sein, denn auch Salazar (2001) benutzt ihn.
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tätig ist. Der Kontakt zu den duros verändert Rosarios Leben radikal, wie Antonio zusammenfasst: Todavía no la conocía pero sé que ese día la perdimos todos. Y hasta ella misma perdió lo que antes era y todo lo que había sido quedó convertido solamente en el sumario de su conciencia. A partir de ese momento su vida dio el vuelco que la sacó de sus privaciones y la lanzó junto a nosotros, a este lado del mundo […] (126).
Antonio sieht in Rosarios Zusammenarbeit mit den duros ihren Untergang, sie selbst sieht darin die einzige Möglichkeit, ihrer Armut zu entrinnen und den Sprung in die Welt der Reichen zu schaffen. Rosarios "Arbeit" für die duros können Antonio und Emilio nur anhand von Symptomen erahnen, die sich schematisch wiederholen. Die sicaria entfernt sich ohne Verabschiedung und kehrt Wochen oder Monate später zurück in ihre Wohnung. Danach nimmt sie stark an Gewicht zu und anschließend wieder ab. Daran erkennen die Freunde ungefähr, in welcher Verfassung sie sich befindet, ohne zu wissen, welche Tat sie begangen hat. Wie viele Menschenleben sie auf dem Gewissen hat, bleibt ihr Geheimnis: También nos quedamos sin saber a cuántos mató. Supimos que antes de conocerla tenía varios en su lista, que mientras estuvo con nosotros había "acostado", como ella decía, a uno que otro, pero desde que la dejamos hace tres años hasta esta noche, cuando la recogí agonizante, no sé si en uno de sus besos apasionados habrá "acostado" a alguien más (16f.).
Zwei Ereignisse in Rosarios Leben als Erwachsene lösen ein Gefühl großer Verlassenheit in ihr aus. Der Tod ihres Bruders Johnefe und der ihres Exfreundes Ferney. Beide sterben im Zusammenhang mit der Drogenmafia, wobei die konkreten Gründe und der Tathergang nicht erklärt werden. Diesbezüglich tauchen die schon erwähnten "magisch" anmutenden Elemente auf. Nach Johnefes Tod zieht Rosario mit der Bande (combo) und dem Leichnam mehrere Tage durch die Kneipen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen: "Después de que lo mataron nos fuimos de rumba con él, lo llevamos a los sitios que más le gustaban, le pusimos su música, nos emborrachamos, nos embalamos, hicimos todo lo que a él le gustaba" (117). Salazar erzählt in No nacimos pa’ semilla von einem realen Fall, bei dem die Freunde eines toten sicario genau dies gemacht haben (Salazar 1990: 203). Ebenso surreal oder magisch wirkt die Beschreibung von Johnefes Grab, das von zwei Männern bewacht wird und in dem ein CD-Player Tag und Nacht seine Lieblingsmusik spielt.22 An solchen Stel-
22 Dass dies kein magischer Realismus ist, bezeugt auch der Autor selbst: "Por ejemplo, yo contaba que el hermano de Rosario era enterrado en un mausoleo que tenía música 24 horas, un mausoleo grande con lámparas, asi como la describo. Pues en la vida real hay unos sicarios de Pablo Escobar
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len zeigt Franco, dass die sicarios zur Bewältigung der spezifischen Realität ihre eigenen Rituale ausgebildet haben, die häufig die Gestalt von fiestas annehmen, wie Salazar ausführt (ebd.: 204). Bezüglich der Gewaltdarstellung ist festzuhalten, dass Rosarios Morde fast vollständig aus der Romanhandlung ausgeblendet werden. Nur von einem wird genauer berichtet. Zwar sind auch hier Antonio und Emilio keine Augenzeugen, Antonio gibt den Vorfall jedoch szenisch wieder auf der Basis dessen, was Rosario darüber erzählt. Auf der Toilette einer Diskothek erschießt sie einen Mann aus Ferneys Bande, der sie wegen ihrer Beziehung zu Emilio gemaßregelt hat. Vorher lässt sie ihn Kokain aus ihrem Gesicht lecken und gibt ihm einen Zungenkuss. Durch diesen Mord wird Antonio und Emilio klar, mit welcher Art von Frau sie es zu tun haben. Emilios Traum vom schönen, attraktiven, geheimnisvollen Mädchen aus einer anderen Welt wird von der Realität jäh eingeholt: "Más que afectarlo el crimen, lo que lo tenía fuera de sí era darse cuenta de que Rosario no era un sueño, sino una realidad" (37). Die beiden Freunde sind jedoch Rosarios Reizen so sehr verfallen, dass sie sich nach diesem Schock nicht von Rosario entfernen, sondern sich immer tiefer in den Albtraum ihrer Existenz hineinziehen lassen: "[…] nosotros nunca supimos en qué momento descartamos el sueño y nos volvimos parte de la pesadilla" (37). Im ganzen Roman wird Gewalt mehr suggeriert als gezeigt.23 Die wenigen Gewaltszenen sind so sparsam dosiert, dass sie zwar einen Einblick in die Realität der sicarios gewähren, aber keinen morbiden Voyeurismus zulassen. Neben der Kastration mit der Schere und dem Mord auf der Toilette der Diskothek zeigt eine Episode im Kino, welche absurden Ausmaße die Gewalt im Drogenmilieu angenommen hat. Dieses Mal ist nicht Rosario die Täterin, sondern Ferney. Er bringt einen Zuschauer im
muy cercanos a él que tienen un mausoleo en el cementerio con lámparas, manteles, mesas y música 24 horas. No estaba exagerando pero eso parecía —me lo dijo una periodista española— una continuación del realismo mágico. Entonces yo tuve que decirle que eso no era una invención sino que ese mausoleo realmente existe" (Dávalos 2006). 23 Für Von der Walde ist das Fehlen von expliziteren Referenzen auf den gewalttätigen Kontext ein Grund, den Roman negativ zu beurteilen: "Para Franco, éste [el sicariato] es apenas un escenario, un telón de fondo para una historia de amor que, a su vez, no logra traspasar el nivel de lo puramente deíctico" (Von der Walde 2001: 28). Es gelinge dem Autor außerdem nicht, das Konfliktpotenzial auszuschöpfen, das aus der Liebe zwischen Angehöriger verschiedener Schichten entsteht (ebd.: 29). In der Tat erschließen sich die gesellschaftlichen Zustände aus dem Roman nur bruchstückartig, weswegen der Leser auf Kontextwissen angewiesen ist. Doch Franco hat den Roman ursprünglich für kolumbianische Leser geschrieben, die keine zusätzlichen Informationen benötigen. Dies erklärt der Autor selbst in einem Interview: "Confieso que pensé que Rosario Tijeras sería una historia local, para el lector colombiano de Medellín, para el lector paisa. Pero me sorprendí porque tiene un eco muy grande, primero en toda Colombia y luego comienza a cruzar fronteras y sigue haciéndolo" (Betancourt 2009). Eine Narration mit weniger Leerstellen und mehr erklärenden Reflexionen könnte jedoch nicht aus Antonios limitierter Perspektive eines noch wenig gebildeten Jugendlichen aus der Mittelschicht erzählt werden. Insofern ist Francos Roman in sich schlüssig.
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Kino um, weil er mit einer Chipstüte raschelt: "Nadie se dio cuenta porque el balazo de Ferney se perdió en la balacera tan berraca que había en la pantalla" (79). Im Unterschied zur italienischen Mafia, bei der willkürliche Gewalttaten unter Mitgliedern nicht gut angesehen waren, stellten Pablo Escobars sicarios tatsächlich eine übertriebene, arbiträre Grausamkeit zur Schau. Gewalt galt ihnen als Fest, als Feier des Todes, und verhalf ihnen zum Aufstieg (Salazar 2001: 173). Die Grausamkeit Ferneys kommt in die Nähe dessen, was Jan Philipp Reemtsma (2008: 117) als "autotelische Gewalt" bezeichnet, eine Gewalt, die keine andere Funktion als sich selbst hat.24 Wie die realen Drogendealer wird Rosario Tijeras aufgrund ihrer Gewalttaten sogar zu einer Berühmtheit in den comunas: En las comunas de Medellín, Rosario Tijeras se volvió un ídolo. Se podía ver en las paredes de los barrios: "Rosario Tijeras, mamacita", "Capame a besos, Rosario T.", "Rosario Tijeras, presidente, Pablo Escobar, vicepresidente". Las niñas querían ser como ella, y hasta supimos de varias que fueron bautizadas María del Rosario, Claudia Rosario, Leidy Rosario […]. Su historia adquirió la misma proporción de realidad y ficción que la de sus jefes (70).
Ein ähnliches Phänomen konnte in Patrícia Melos Roman beobachtet werden: Profikiller Máiquel wird zum homem do ano gekürt und von den Leuten verehrt und bewundert. Im Falle Rosarios geht diese Bewunderung sogar soweit, dass sich die Leute Geschichten über ihr Leben erzählen, in denen sich Realität und Fiktion legendenhaft mischen. Rosario weigert sich aber, Antonio darüber aufzuklären, was der Wahrheit entspricht und was nicht und verhält sich damit ähnlich wie Filmstars, die Klatschgeschichten absichtlich nicht entkräften, da diese ihre Popularität erhöhen. Durch den Kontakt mit den duros überschreitet Rosario scheinbar die Grenze zwischen zwei Sphären, das heißt zwei räumlich und hierarchisch getrennten Welten: die Welt der marginalisierten Bewohner der comunas auf den Hügeln, auf denen der Drogenkrieg tobt, und die Welt der Mittel- und Oberschicht, die in ihren eigenen Stadtvierteln weiter unten im Talkessel wohnen. Der neue Reichtum Rosarios scheint eine Brücke zwischen diesen zwei Welten zu schlagen: Ellos [los duros] la bajaron de su comuna, le mostraron las bellezas que hace la plata, cómo viven los ricos, cómo se consigue lo que uno quiere, sin excepción,
24 Buschmann hat die Rolle autotelischer Gewalt in La virgen de los sicarios herausgearbeitet (Buschmann 2009). Im Vergleich zu Vallejos Roman ist diese Gewaltform in Rosario Tijeras selten. Ein weiteres Beispiel autotelischer Gewalt ist folgende Episode: Rosario bremst ihr Auto abrupt ab. Ein Mann fährt ihr hinten auf und beschwert sich höflich, woraufhin sie aussteigt und ihn vermutlich erschießt. Dies können Antonio und Emilio jedoch nicht sehen (94f.).
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porque todo se puede conseguir si uno quiere. La trajeron hasta donde nosotros, nos la acercaron, nos la mostraron como diciendo miren culicagados que nosotros también tenemos mujeres buenas y más arrechas que las de ustedes, y ella ni corta ni perezosa se dejó mostrar, sabía quiénes éramos, la gente bien, los buenos del paseo […] (20).
Der hier beschriebene Kontakt zwischen den beiden Welten findet unter gegenseitiger Anziehung und Ablehnung statt. Beide hassen sich und beide eifern einander nach: Die Bewohner der comunas tun dies wegen des Geldes und des vermeintlichen Glücks, das man sich damit kaufen kann, die Jugendlichen aus den reicheren Schichten aus Abenteuerlust wegen der Drogen. Kontaktzone zwischen beiden Sphären sind teure Diskotheken, die sich die einen leisten können, weil sie reiche Eltern haben, und die anderen aufgrund ihrer Drogendollar: La discoteca fue uno de esos tantos sitios que acercaron a los de abajo que comenzaban a subir, y a los de arriba que comenzábamos a bajar. Ellos ya tenían plata para gastar en los sitios donde nosotros pagábamos a crédito, ya hacían negocios con los nuestros, en lo económico ahora estábamos a la par, se ponían nuestra misma ropa, andaban en carros mejores, tenían más droga y nos invitaban a meter –ése fue su mejor gancho–, eran arriesgados, temerarios, se hacían respetar, eran lo que nosotros no fuimos pero en el fondo siempre quisimos ser (26).
Die hier angesprochene Trennung von los de abajo und los de arriba besitzt zwei Lesarten. Auf der einen Seite sind topografisch gesehen los de arriba die Bewohner der comunas auf den Hügeln, soziologisch gesehen aber die Reichen, die in der gesellschaftlichen Hierarchie weiter oben stehen. Auf der anderen Seite können mit los de abajo diejenigen gemeint sein, die unten im Talkessel wohnen, oder aber die, die unten in der Gesellschaftshierarchie stehen. Wer hier auf- und wer absteigt ist zweideutig. Für beide bedeutet der Kontakt mit der anderen Klasse einen Aufstieg in eine mit Sehnsüchten verbundene Stellung, aber auch einen Abstieg in die Schrecken einer gewaltreichen Realität, die durch den Aufprall der zwei Sphären entsteht, einer reichen Ersten Welt, die Drogen kauft und konsumiert und einer armen Dritten Welt, die sie produziert und vertreibt. In der Diskothek als einer Schwelle, auf der sich beide Räume überschneiden, sind ihre Bewohner äußerlich nicht mehr voneinander zu unterscheiden, da sie Verhalten und Styling einander angepasst haben.25
25 Aus dem obigen Zitat geht hervor, dass die Leute aus den comunas sich dem Kleidungsstil der wohlhabenden Schichten anpassen. An einer anderen Stelle jedoch konstatiert Antonio, dass auch das Gegenteil der Fall ist: Emilio und er imitieren die Kleidung und den Haarschnitt von Rosarios Freunden (vgl. 54f.).
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Die temporäre Durchdringung der beiden Welten vollzieht sich auch in Rosarios Apartment. Anders als Máiquel in O Matador, der nur ein kurzzeitiger Gast in einem scheinbaren Schwellenraum zwischen den Gesellschaftsschichten sein darf, handelt es sich in Rosario Tijeras tatsächlich um einen "dritten Raum". Diese Orte werden von Subjekten beider Schichten gleichermaßen bewohnt, so dass sie in der Begegnung ihre Identitäten ständig neu aushandeln müssen. Jedoch sind diese Räume instabil, da sie durch den jähen Tod ihrer Bewohner täglich zu kollabieren drohen, aber durch die Macht des Mammons genauso schnell wieder auferstehen und neue Subjekte beherbergen.26 Die Identitätskrise Emilios und Antonios in diesem "dritten Raum" findet ihren Ausdruck darin, dass sie damit ringen, welcher der beiden Welten sie ihre Loyalität schenken: Con Rosario metida en nuestro bando o nosotros en el de ella, no sabíamos qué posición tomar, sobre todo Emilio, porque yo ya no podía decidir, tenía que aceptar el bando, el único posible, que siempre escoge el corazón. Sin embargo nunca tomamos parte de ningún lado, nos limitamos a seguir a Rosario en su caída libre, tan ignorantes como ella del porqué de las balas y los muertos, gozando como ella de la adrenalina y de los vicios inherentes a su vida […] (64f.).
Die beiden jungen Männer bleiben insofern unparteiisch, als sie nicht in den Lauf der Dinge eingreifen, das heißt, nicht selbst im Drogenmilieu arbeiten und auch nicht aktiv versuchen, Rosario aus diesem Milieu zu lösen. Sie beschränken sich auf ihre Liebe und Abenteuerlust, die Rosario in ihnen anregt, bleiben ansonsten aber unpolitisch, und urteilen auch nicht über die Verbrechen Rosarios, Johnefes oder Ferneys. Im Grunde genommen sind sie nicht viel mehr als schaulustige Zaungäste eines Krieges und die Freier seines Kanonenfutters. In letzter Konsequenz gelingt keinem der Akteure der Übertritt in die jeweils andere Sphäre. Zwar überschreitet Rosario die topografisch markierte Grenze, indem sie in Antonios und Emilios Viertel zieht. Auch die ökonomische Kluft überwindet sie durch ihre Drogendollar, aber gesellschaftlich anerkannt wird sie von der Mittel- und Oberschicht deswegen nicht.27 Dies wird deutlich, als Emilio Rosario mit zur Hochzeit einer Cousine nimmt, um sie seinen Eltern und Verwandten vorzu-
26 Segura vergleicht die Diskothek mit dem Fegefeuer als Raum zwischen Himmel und Hölle (Segura 2004: 122). Der Vergleich hinkt also etwas, da die meisten Bewohner dieses Raums nicht von ihren Sünden gereinigt in ein besseres Leben (den Himmel) übertreten, sondern im Gegenteil erst recht ins Inferno abstürzen. 27 Ähnlich erging es Pablo Escobar in der realen Welt. Auch er wurde von der Oligarchie Medellíns nie als Ihresgleichen akzeptiert, wie Salazar berichtet: "Por aquellas buenas épocas con múltiples relaciones sintió que podía ingresar a la alta sociedad. Para su sorpresa, le cerraron las puertas. 'Pero si la plata mía vale igual que la de ellos', rezongaba, dolido de la oligarquía, de su doble moral; e iba cultivando un fino espíritu de resentimiento" (Salazar 2001: 25).
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stellen. Emilios Mutter zeigt Rosario jedoch deutlich die Grenze zwischen ihren Welten, indem sie sich weigert, mit ihr zu sprechen. Rosario fühlt sich durch diese Ablehnung erniedrigt, was sie in Wut versetzt: "[…] apenas llegué, me sale esta hijueputa vieja mirándome como si yo fuera un pedazo de mierda" (49). Als einige Gäste sich erkundigen, wo Rosario wohnt und was sie studiert, antwortet Emilio an ihrer Stelle. Auch dies erniedrigt sie und zeigt ihr den unüberwindlichen Graben zwischen ihrer und Emilios Schicht: "Me dijo que iba a dejar a Emilio, que ahí no había nada que hacer, que ellos eran muy distintos, de dos mundos diferentes" (50). Genauso wenig wie Emilios Mutter Rosario als Schwiegertochter akzeptieren kann, nimmt Rosarios Mutter Emilio als Freund ihrer Tochter an: "Doña Rubi la previno de todo lo que le podía pasar con 'esa gente', le vaticinó que después que hicieran con ella lo que estaban pensando hacer, la devolverían a la calle como a un perro y más pobre y más desprestigiada que una cualquiera" (51). Die Reaktionen der Mütter zeigen das tiefe gegenseitige Misstrauen der Gesellschaftsschichten exemplarisch auf. Schließlich scheitert die Beziehung zwischen Emilio und Rosario und damit die Kommunikation zwischen den Schichten: Finalmente, las dos señoras acertaron en adivinar lo pronosticado, pese al gran esfuerzo de Emilio y Rosario por mantener la relación. Pero insisto, no fueron ni la cantaleta ni la presión, fuimos nosotros, sí, nosotros tres, porque la relación se sostenía en tres pilares, como siempre ocurre: el del alma, el del cuerpo y el de la razón. […] ya no podíamos con el peso de lo que habíamos construido. Sin embargo, ellos no pudieron escaparse de los aborrecibles "te lo dije" (51f.).
Auch wenn der Ich-Erzähler in diesem Gedankengang betont, dass die Beziehung aufgrund der schwierigen Dreierkonstellation zerbrochen ist, gibt der Roman viel Anlass dazu, den Bruch auch auf den Zusammenprall der beiden Welten, die sich verständnislos gegenüberstehen, zurückzuführen. Als Rosario schließlich beschließt, in Miami auf eigene Faust mit Drogen zu handeln und Antonio und Emilio als ihre Partner ins Boot holen möchte, übertönt Antonios und Emilios Vernunft ihren Liebestaumel, so dass die beiden sich von Rosario lösen. Schlussfolgerungen Die vielen Morde, die in Rosario Tijeras begangen werden, sind an keiner Stelle Gegenstand einer polizeilichen Ermittlung und strafrechtlichen Verfolgung, wie sie die Pseudonorm vorsieht. Obwohl der Erzähler und mit ihm der Leser nur sehr wenig über Rosarios Morde und ihre eigene Ermordung erfahren, wird das whodunit nie als Frage formuliert. Das Tatmotiv ist in der Lebenswelt der sicarios im Grunde immer dasselbe 228
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und daher für die Figuren wie für den Leser uninteressant. Es handelt sich um Auftragsmorde im Zusammenhang mit der Drogenmafia. Dieser spezifische lebensweltliche Kontext wird jedoch durch die Optik Antonios nur bruchstückartig greifbar. Antonio weiß wenig über das Leben in den comunas und Rosario behält viele ihrer Erlebnisse für sich. Daher fungiert die Figur der sicaria als das Rätsel und Antonios Erinnerung als Ermittlungsarbeit. Im Unterschied zu O Matador wird in Rosario Tijeras die Absenz der Polizei beziehungsweise ihre Verstrickung ins organisierte Verbrechen nicht thematisiert. Rosario scheint sich in einem rechtsfreien Raum zu bewegen, in dem Konflikte durch Auftragsmorde gelöst werden und der Staat sein Gewaltmonopol völlig verloren hat, was in pseudonormativen Produkten undenkbar wäre. Da Gewalt in dieser Welt von keiner Instanz bekämpft wird, wird der Mythos von ihrer Bekämpfbarkeit vollständig aufgegeben. Auch in der Welt des Máiquel erfüllt die Polizei ihre Aufgabe nicht, jedoch befasst sich Melo stärker als Franco mit den Mechanismen, die solche Zustände generieren: mit der Psyche des Auftragsmörders, der Angst der Bevölkerung sowie der reaktionären Ideologie der Auftraggeber. Diese Aspekte werden bei Rosario Tijeras nur am Rande oder gar nicht thematisiert. Rosarios Psyche bleibt unschärfer als die des matador. Ein (pseudonormativer) Showdown fehlt bei Rosario Tijeras gänzlich und ließe sich auch nicht mit der fragmentarischen Struktur des Romans vereinbaren. Zwar stirbt die Täterin am Ende, dadurch entsteht aber nicht der Eindruck, das Gewaltniveau könne verringert werden, da deutlich wird, dass Rosarios Tod nur einer in der langen Reihe der sicarios darstellt und Polizei und Staat nichts zur Verbesserung der Situation unternommen haben.28 In Rosario Tijeras liegen die Ursachen für Gewalt und Verbrechen in den gesellschaftlichen Strukturen. Die sozial benachteiligten Bewohner der comunas sehen in der Kriminalität die einzige Möglichkeit, ihrer Armut zu entkommen. Rosarios Antriebsfeder ist in letzter Konsequenz dieselbe wie die Máiquels. In beiden Romanen wird eine Welt dargestellt, in der extreme Gewalt zum Alltag der Menschen geworden ist und Auftragsmörder von der Bevölkerung gefeiert werden. Aber auch hier unterscheidet sich Francos Roman wieder von Melos darin, dass er weniger Einblicke in die psychologischen Ursachen für das Verhalten der Menschen gewährt. Selbst die Haltung des Erzählers bleibt bis zu einem gewissen Punkt unverständlich: Er artikuliert an keiner Stelle einen moralischen Zwiespalt hinsichtlich seiner Liebe zu einer Mörderin und urteilt auch nicht über ihre Tätigkeit als sicaria, sondern fokussiert sie vorrangig als Objekt seiner Liebe. Einige Morde aus Rosario Tijeras sind 28 Rivero ist hier anderer Ansicht: "[…] la muerte de Rosario ofrece una lectura tranquilizadora a la burguesía, pues con el fallecimiento de la sicaria […] ve cómo los perturbadores de la paz son asesinados" (Rivero 2011: 179).
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prinzipiell genauso schockierend wie die in O Matador. Ihre Darstellung ist jedoch weniger direkt, da Antonio bruchstückartig rekonstruieren muss, was Rosario ihm erzählt hat, und selbst kein Augenzeuge wird. Über manches spekuliert er nur oder erfährt es von Dritten, wohingegen Máiquel seine Morde aus der Innenperspektive heraus direkt darstellt. Weil Rosarios Erzählungen zusätzlich durch magisch wirkende (aber tatsächlich realitätsnahe) Elemente gespickt sind, nehmen die Gewaltexzesse der sicarios beinahe die Gestalt von Anekdoten an, die an die Übertreibungen aus Kinofilmen erinnern. Antonio wirkt wie ein Zuschauer dieser Fiktionen, der sich an das Gewaltpotenzial gewöhnt hat und es "konsumiert", ohne dass es ihn in Gedanken später verfolgt. Rosario konstruiert ihre Identität durch ihre Taten. Sie setzt sich als Kind gegen all jene zur Wehr, die ihr auf unterschiedliche Weise Gewalt antun, vor allem ihren Vergewaltiger, den sie mit der Schneiderschere kastriert. Dadurch erhält sie ihren Spitznamen und ihren Ruf. Die sicaria ist deutlich weniger abhängig von dem, was die Leute über sie sagen als Máiquel, dessen Selbstwertgefühl erst erstarkt, als ihm die Menschen ein positives Spiegelbild seiner Selbst vor Augen halten. Rosarios Selbstwertgefühl entsteht dagegen in dem Moment, in dem sie sich mit Gewalt zur Wehr setzt und nicht länger auf die Hilfe anderer hofft. Im Gegensatz zur Titelheldin können Antonio und vor allem Emilio auf eine lange Familientradition zurückblicken. Ihnen verleiht ihr Name und damit ihre Abstammung Identität. Sie brauchen nichts durch Taten unter Beweis zu stellen, sondern gehen mit einem hohen Startguthaben an Geld und Status ins Leben hinaus. Beide Klassen treffen sich in Schwellenräumen wie der Diskothek oder Rosarios Apartment. Dort handeln sie ihre Identitäten für eine bestimmte Zeitspanne neu aus, indem sie ihre Loyalität der anderen Seite schenken, ihre materiellen und sexuellen Wünsche auf sie projizieren und sich äußerlich aneinander angleichen. Die Überschreitung der Barriere zwischen den Klassen gelingt jedoch nicht auf Dauer und die Figuren werden am Ende in ihre eigene Schicht zurückgeworfen: Antonio, weil er den Kontakt zu Rosario verliert, Emilio, weil er den von seinen Eltern vorgegebenen Lebensweg einschlägt, und Rosario durch ihren frühen, vorgezeichneten Tod. Ähnlich ergeht es dem matador bei Patrícia Melo. Er glaubt sich zeitweilig in einem Schwellenraum zu bewegen, wird aber am Ende von seinen Auftraggebern fallengelassen.
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5.2. Institutionalisierte Gewalt 5.2.1. Raúl Argemí: Penúltimo nombre de guerra (Argentinien, 2004) Der Autor: Raúl Argemí1 Raúl Argemí wurde 1946 in La Plata geboren. Während seiner Kindheit und Jugend kam es zu einer Reihe von Militärputschen (1955, 1962 und 1966), so dass er in einem Klima von Unterdrückung und Terror aufwuchs. Anfang der 1970er Jahre sah er im bewaffneten Widerstand die einzige Möglichkeit, dieser Realität zu begegnen, und schloss sich dem ERP-22 de agosto (Ejército Revolucionario del Pueblo) an.2 1974 wurde er festgenommen und verbrachte daraufhin zehn Jahre als politischer Häftling im Gefängnis. Während dieser Zeit bildete er sich über Gespräche mit anderen politischen Gefangenen unterschiedlichster Berufsgruppen weiter und verfolgte das Tagesgeschehen über Berichte, die die Besucher hinein schmuggelten. Außerdem begann er ernsthaft mit dem Schreiben und musste gleichzeitig einen konstanten innerlichen Kampf gegen die Schikanen der Gefängnisaufseher führen.3 Erst 1984, nach der Wiedereinführung der Demokratie, wurde Argemí freigelassen. Im Anschluss arbeitete er in Buenos Aires als Journalist für die Zeitungen Claves und Le monde diplomatique und zog 1986 nach General Roca (Patagonien), wo er bei der Tageszeitung Río Negro angestellt wurde. Die Landschaft und das Leben Patagoniens beeindruckten ihn so sehr, dass er die Handlung fast aller seiner Werke in dieser Region ansiedelt. 1996 erschien sein erster Roman, El Gordo, el Francés y el Ratón Pérez, in dem eine erpresserische Entführung mit der brutalen Massakrierung eines reichen Firmeninhabers endet. In Los muertos siempre pierden los zapatos (2002) ermittelt ein Journalist und Ex-Guerillero zusammen mit Der folgende biblio-biografische Abriss erschien bereits in einer ausführlicheren Fassung beim Culturmag (Wieser 2008). 2 Im Interview spricht er über diese Entscheidung: "Cuando era chico, hubo varios golpes militares, bombardeos, muertes, torturas. Me crié en esa relación de fuerza y política. Lo que hace que en definitiva fuera absolutamente lógico que terminara en la guerrilla, la lucha armada y luego en la cárcel; no terminé muerto de casualidad" (Wieser 2010 [2008]: 50). 3 Über diese Zeit sagt er: "Ahí te encuentras con que el ser humano es capaz de todo, de las cosas más angélicas y de las hijoeputadas más horrorosas. Todo está allí. Te muestra que eres capaz de casi todo lo posible. Yo creo que si en la cárcel te dicen que te vas a quedar diez años, te mueres. Lo que pasa es que también tienes un lugar de lucha, tratas de que no te pasen por arriba. Lo que intentaron sobre todo en la dictadura militar fue quebrarte, romperte internamente con presiones sicológicas, con presiones físicas, con el aislamiento de tu familia, con hacerte comer solo... Tu espacio de lucha es que no lo consigan" (Wieser 2010 [2008]: 56). 1
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seinem jungen Kollegen in einem Fall, in dem Politik und Verbrechen unauflöslich verschmelzen. In Patagonien begann Argemí darüber hinaus mit den Arbeiten an Penúltimo nombre de guerra (2004) und Patagonia Chu Chu (2005). Jedoch erst nach seinem Umzug nach Spanien im Jahr 2000, konnte er diese beiden Romane abschließen. Für Penúltimo nombre de guerra erhielt er vier Preise, darunter den Premio Hammett. Patagonia Chu Chu ist eine humoristische Mischung aus Abenteuerroman und argentinischem Western, ganz im Gegensatz zur Ernsthaftigkeit, Härte und Brutalität der vorhergehenden Romane. Die Idee zu Siempre la misma música (2006) entstand während Argemís Gefängnisaufenthalt. Der Roman erzählt die Geschichte gemeiner Verbrecher, die sich zu Zeiten der Diktatur mit der Politik verbünden müssen, um ihre Geschäfte weiter tätigen zu können. Retrato de familia con muerta (2008) handelt vom Mord an einer Frau aus der argentinischen Oberschicht in einem Country (einem bewachten Reichenviertel) von Buenos Aires und dem grotesken Versuch ihrer Nächsten, die Tat zu vertuschen. Sein bisher letzter Kriminalroman, La última caravana (2008), spielt wieder in Patagonien und verbindet die Erzählung von einem Banküberfall mit der Aufarbeitung der Vergangenheit und der Darstellung der Wirtschaftskrise der letzten Jahre. In der Regel werden Argemís Romane aus der Täterperspektive erzählt.4 Der Kontext: Argentiniens guerra sucia Penúltimo nombre de guerra spielt im Argentinien nach der Militärdiktatur. Ein genaues Jahr wird nicht genannt. Es entsteht jedoch der Eindruck, dass viele Jahre seit dem "schmutzigen Krieg" vergangen sind, da die Personen ihre Erinnerungen nur nach und nach rekonstruieren können. Die Rückblicke auf ihre Taten und ihre Stellung während der Diktatur stellen jedoch die Basis für das Verständnis ihrer Handlungen in der Gegenwart dar. Nach dem Militärputsch von 1976 bildeten die drei Generäle Videla, Massera und Agosti eine Junta und erschufen ein staatsterroristisches Regime. Videla übernahm von 1978 bis 1981 das Amt des Präsidenten. Unter der euphemistischen Bezeichnung Proceso de Reorganización Nacional gestaltete das Regime die staatliche, illegale Gewaltanwendung, die ein Ausmaß annahm, das aus den vorhergehenden Militärregierungen nicht bekannt war. Die Doctrina de Seguridad Nacional, die zur Abwehr von kommunistischen Gruppierungen erlassen wurde, diente nun als Grundlage für die Legitimation des Staatsterrors, dessen Ziel darin beIn den vergangenen Jahren hat Argemí außerdem eine humoristische Serie von Kinderbüchern begonnen, deren Titelheld der junge Ritter Pepé Levalián ist.
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stand, nicht nur die subversiven Guerilleros zu töten, sondern auch deren Kollaborateure und Sympathisanten (Riekenberg 2009: 174f.). Um dieses Ziel zu erreichen, wurden illegale Gefangenen- und Vernichtungslager wie die Escuela de Mecánica de la Armada (ESMA)5 in Buenos Aires eingerichtet. Das Regime griff außerdem zu einer besonders demoralisierenden Maßnahme: Die Sicherheitskräfte überfielen Menschen in ihren Wohnungen oder auf der Straße und brachten sie in eines der Lager, ließen aber deren Angehörige im Ungewissen über ihr Schicksal. Schätzungen zufolge wurden etwa 2.000 desaparecidos aus Flugzeugen über der Mündung des Río de la Plata abgeworfen. In den Gefängnissen geborene Kinder nahmen die Aufseher ihren Müttern weg und gaben sie Offiziersfamilien zur Adoption.6 1978 gelang dem Regime die Zerschlagung fast aller Guerillagruppen und bis zum Ende der Militärdiktatur wurden laut Angaben von Menschenrechtsorganisationen etwa 30.000 Menschen getötet (ebd.).7 Der Roman: Penúltimo nombre de guerra8 Protagonist des Romans ist der Täter, Cacho, ein Mensch, dessen besondere Gabe darin besteht, andere perfekt nachzuahmen und sich ihre Identitäten anzueignen, weswegen er auch el Camaleón genannt wird.9 Die Idee zu dieser Figur kam Argemí bei der Begegnung mit einem Häftling während seiner Zeit im Gefängnis. Dieser hatte irgendeine gewöhnliche Straftat begangen, gab sich jedoch als Widerstandskämpfer aus, weil er der Illusion verfallen war, so sein Strafmaß reduzieren zu können. Sein Verhalten beschreibt Argemí im Interview folgendermaßen: Era un mitómano. Hablaba tres veces con un médico, iba a hablar con otra persona y a esta persona le contaba que era médico. Le chupaba hasta los gestos a las personas. Estos gestos que te hacen sentir mejor cuando ves al médico y ya te sientes fenómeno. Era como un camaleón, sabes, chupaba […]. Y lo que me lla-
Im November 2007 wurde in der ESMA ein Erinnerungsmuseum eröffnet: Espacio para la Memoria y para la Promoción y Defensa de los Derechos Humanos (www.derhuman.jus.gov.ar/espacioparalamemoria). 6 Die Adoption eines Kindes von Guerilleros durch eine Offiziersfamilie thematisiert beispielsweise Ernesto Mallo in seinem Kriminalroman La aguja en el pajar (2006). 7 Das Militärregime versuchte, die Bevölkerung durch unterschiedliche Ereignisse vom inneren Terror abzulenken. Eine willkommene Gelegenheit bot die Fußballweltmeisterschaft von 1978 (Argentinien war schon 1966 als Austragungsort bestimmt worden). Dass die argentinische Nationalmannschaft den Weltmeistertitel gewann, kam der Propaganda besonders zupass (Riekenberg 2009: 176). 8 Argemís Werk wurde von der Literaturwissenschaft noch kaum wahrgenommen. Eine Kurzinterpretation zu Penúltimo nombre de guerra hat bisher lediglich Sébastien Rutés (2010) vorgelegt. 9 Die deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel Chamäleon Cacho, was die Eigenschaft der Figur noch stärker in den Vordergrund rückt. 5
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maba la atención de él es que cuando alguien lo ponía en evidencia, él tenía un sufrimiento espiritual profundo porque había una parte en él que sí creía esa mentira. Él se había apropiado de ese personaje, él era ese personaje. Entonces cuando lo descubrías era como que algo se le rompía (Wieser 2010 [2008]: 44f.).
Der Autor ist hier wohl einer Person mit einer pathologischen Persönlichkeitsstörung begegnet. Menschen mit mitomanía, das heißt Pseudolismus oder Pseudologie, leiden unter einem krankhaften Zwang zum Lügen und Übertreiben. Der Pseudolismus gilt als eine Sonderform der narzisstischen Persönlichkeitsstörung.10 Im Roman bleibt unklar, welches Bewusstsein die Figur über ihre Krankheit besitzt.11 Cacho agiert unter verschiedenen Decknamen, nombres de guerra. In seinem autodiegetischen Bericht gibt er sich in gut der Hälfte der Kapitel als Manuel Carraspique aus. Der Titel deutet an, dass es sich dabei um seinen "vorletzten Decknamen" handelt. Der echte Carraspique, ein Journalist, ist bei einem Autounfall, an dem Cacho beteiligt war, ums Leben gekommen. Nun liegt el Camaleón schwerverletzt im Krankenhaus. Der Leser glaubt ihm notgedrungen, dass er Carraspique ist, weil es zunächst keine anderen Instanzen gibt, die dies entkräften könnten. Cacho alias Carraspique erzählt nun von dem Patienten, mit dem er das Krankenzimmer teilt. Es handelt sich um einen Mann mit schweren Brandwunden, dessen Körper fast vollständig verbunden ist. Seine Fingerkuppen sind so verschmort, dass die Polizei keine Abdrücke nehmen und seine Identität nicht feststellen kann. Das Krankenhauspersonal sowie die Polizei gehen jedoch davon aus, dass es sich um den Mapuche-Indianer Prudencio Márquez handelt, der in seiner religiösen Verblendung Frau und Kind Gott geopfert hat und dessen Vorname ironisch auf seine Unvernunft anspielt. Cacho alias Carraspique träumt davon, mit einer Reportage über Márquez als Journalist ganz groß herauszukommen, und versucht ihm deshalb, Informationen über seinen Unfall zu entlocken. Zunächst erweckt der Protagonist den Eindruck, dass er selbst glaubt, Carraspique zu sein. Was ihm Márquez zu berichten scheint, wird von einem heterodiegetischen Erzähler in der anderen Hälfte der Kapitel dargestellt, wobei die unterschiedlichen Personen intern fokalisiert werden: Padre Carlos, der Arzt Gómez, Cacho als Drogendealer, der Drogenabhängige Orlando
10 Der Begriff wird von pseudulus ("Lügenmaul") abgeleitet. Im Lexikon der Psychologie von Gerd Wenninger wird das Krankheitsbild wie folgt beschrieben: "[K]rankhafte Lügensucht mit orgiastischem Erleben phantasierter sexueller Handlungen: mögliche Thematik z. B. auch bei sexuellem Mißbrauch […]. Die Pseudohaftigkeit bzw. das Fiktive der Handlung ist dabei zumeist bewußt, wobei der Schreibende oder Erzählende die erfundenen sexuellen Handlungen in einer Art Wachtraum durchlebt" (Wenninger 2001: 327). Cachos Lügengeschichten sind allerdings nur manchmal mit sexuellen Handlungen verbunden. 11 Auch Rutés (2010: 50) vertritt diese Anschauung.
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und Federico, ein polizeilicher Ermittler von der policía federal, der Cacho aus den Zeiten der Militärdiktatur unter dem Decknamen Teniente Cacho kennengelernt hat. Dass es sich bei Carlos, Gómez und Cacho um ein und dieselbe Person handelt, bleibt lange im Dunkeln. Die verschiedenen Handlungsstränge sind so eng miteinander verzahnt, dass der Leser immer wieder daran zweifelt, ob er die Ereignisse den Personen richtig zuordnet, und erst zum Schluss ein kohärentes Ganzes konstruieren kann. Obwohl der Roman das Thema der institutionalisierten Gewalt nicht im Vordergrund behandelt, kann er ins Paradigma der "Gewaltromane" eingeordnet werden. Cachos Vergangenheit als Folterer auf einem Schiff namens el Sótano, das während der Militärdiktatur als illegales Gefängnis diente, sowie seine Albträume, in denen er immer wieder erlebt, wie er selbst aus einem Flugzeug über dem Río de la Plata abgeworfen wird, erlauben es, die gesamte Romanhandlung als Folgeerscheinung der institutionalisierten Gewalt zu deuten und Cachos Persönlichkeitsstörung als Produkt der Diktatur. Eine Analyse seiner verschiedenen Identitäten soll zunächst seinen Charakter näher umreißen und die Darstellungsweise seiner Gewalttaten aufzeigen. Danach erfolgt die Untersuchung der Ermittlerfigur sowie eines im Roman zentralen gesellschaftskritischen Aspekts (die Marginalisierung der Mapuche). Als Drogendealer versorgt Cacho in einer väterlich-beschützerischen Manier den Kleindealer und Drogenabhängigen Orlando, der sich mit starken Entzugserscheinungen an ihn wendet. Orlando berichtet, dass das gefälschte Rezept, das er von ihm bekommen hat, in der Apotheke nicht angenommen wurde. Cacho erfährt dadurch, dass die Polizei auf ihn aufmerksam geworden ist: Era como el zorro: temblaba de miedo ante los perros, pero necesitaba de esos hijos de puta. El zorro sin perros era poco más que un comedor de carroña. Y él, Cacho, o como los perros quisieran llamarlo, era de los que se aburrían del poder en secreto; y recién empezaba a sentirse vivo cuando movían las patas sobre sus huellas (57).
Hier wird erkennbar, dass die Verfolgung durch die Polizei Cacho mit Stolz erfüllt, da sie ihm signalisiert, dass er als gefährlicher Verbrecher eingestuft wird. Es handelt sich hier also um einen Täter, der ein Publikum braucht, um sich mächtig zu fühlen. Seine Gier nach Macht äußert sich auch in seiner sadistischen Gewalt, die er an Schwächeren auslebt. Drogendealer Cacho streut beispielsweise mit Genuss Salz auf Nacktschnecken und ergötzt sich an deren Zersetzung. Zynisch überträgt er das Töten der Schnecken auf die Ebene der menschlichen Gesellschaft:
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Un caracol sin cáscara, un desalojado, un pobre miserable que andaba por el mundo arrastrándose sobre sus tripas, comiendo lo que podía, haciendo daño, y sufriendo innecesariamente. –Eso se llama tener conciencia social… –ironizó Cacho (55f.).
In dieser Vorstellung von sozialer Säuberung schwingen bei Cacho jedoch keine politischen Untertöne mit. Er empfindet keinen Hass auf bestimmte Randgruppen, sondern lebt lediglich seine sadistischen Neigungen aus. Opportunistisch schlägt er sich auf die Seite, die ihm am meisten nutzt, egal welche Ziele sie verfolgt. Nach dem Töten der Schnecken spielt Cacho mit dem Gedanken, Salz auf die Lippen einer schlafenden Prostituierten zu streuen, mit der er zuvor Sex hatte. Er lässt jedoch davon ab, da ihm die Reaktion der Frau allzu vorhersehbar erscheint, was seinen sadistischen Genuss vermindern würde ("Era todo demasiado previsible, y por eso mismo una pérdida de tiempo", 56). Seine Misogynie zeigt sich des Weiteren darin, dass er die Frau in keinem Moment als (Gesprächs)Partnerin gelten lässt, sondern nur als Objekt seiner sexuellen Begierde: "No quería despertarla. Quería usarla sin tener que escuchar las imbecilidades que diría si abría la boca. Estaba excitado y, además, le había pagado bien" (58). Unter der Identität des Arztes Gómez arbeitet Cacho in einem Krankenhaus, nimmt Bestechungsgelder für gefälschte Röntgenbilder zum Zweck des Versicherungsbetrugs an und stellt Rezepte für ein Medikament aus, das zusammen mit Alkohol aphrodisierend wirkt. Das Krankenhauspersonal sowie die Patienten zweifeln jedoch nie an der Echtheit des Arztes, was an seinem souveränen Auftreten liegt: "En ese mundo caótico, mientras se mostrara seguro de lo que hacía, nadie le iba a pedir cuentas" (113). Den Wechsel vom Arzt Gómez zum Drogendealer Cacho vollzieht die Figur innerhalb weniger Augenblicke: "Cuando alcanzó la calle, Cacho dejaba atrás, como un cuerpo abandonado, la cáscara del doctor Gómez" (113). Die wenigen Szenen, in denen es zu einem solchen Identitätswechsel kommt, können in aufmerksamen Lesern den Verdacht wecken, dass Cacho das Spiel bewusst aus Kalkül betreibt und nicht an einer Persönlichkeitsspaltung leidet. Bei der ersten Lektüre wirken diese Momente jedoch vor allem verwirrend, da unklar bleibt, um wie viele Personen es sich insgesamt handelt. Meistens behält Cacho nämlich innerhalb eines Kapitels dieselbe Identität bei, was den Eindruck erzeugt, es handele sich tatsächlich um mehrere verschiedene Personen. In der Rolle des Pfingstpredigers Padre Carlos betrügt Cacho eine Gruppe Mapuche-Indianer, indem er ihnen ihre Textilien abnimmt und verspricht, sie in der Stadt zu verkaufen, jedoch nie zu ihnen zurückkehrt. Bei seinem Besuch in dem kleinen, sehr armen Indiodorf, tauft er mehrere Mitglieder der Familie Márquez und gibt dem Familienober236
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haupt, Prudencio Márquez, der als Einziger lesen kann, eine Bibel. Zudem besucht Padre Carlos die alte Doña Rosa, deren Haus er kaufen will, angeblich um es in ein Armenhaus zu verwandeln. In Wirklichkeit braucht er es für seine illegalen Geschäfte. In dieser Episode findet erneut ein Wechsel von der einen zur anderen Identität statt. Cachos sexuelle Gier nach dem Hausmädchen Eli bricht in die Rolle ein, die er als Pastor spielt: "El padre Carlos advirtió que Cacho se babeaba por las manos de la muchacha que servía el té, y supo que tenía que ponerle un freno" (83). Padre Carlos verwandelt sich schließlich in Cacho und drängt Eli dazu, ihm ihr Zimmer zu zeigen. Was genau sich darin abspielt, überlässt Argemí der Vorstellungskraft des Lesers. Cachos Verwandlung kann sich in dieser Episode nicht vervollständigen, da er als Padre auf Besuch gekommen ist und Eli ihn nur als solchen kennt. Dies blendet Cacho jedoch für eine kurze Zeit aus: "El padre Carlos se mostraba ajeno" (95).12 In der Rolle des Journalisten Manuel Carraspique treibt Cacho das Verwirrspiel auf den Höhepunkt. Seine verschiedenen Identitäten wirken in den Carraspique-Kapiteln, in denen Cacho als autodiegetischer Erzähler fungiert, nicht wie das kalte Kalkül eines Verbrechers, sondern zunehmend wie eine Bewusstseinsstörung, wobei sich der Leser letzten Endes nicht sicher sein kann, was von beidem überwiegt. Welche fiktionsinterne Wahrheit auch zutreffen mag, narratologisch gesehen entspricht Cachos Verhalten der gezielten Irreführung eines unzuverlässigen Erzählers. Cacho alias Carraspique zeigt sich (scheinbar oder tatsächlich) verwirrt darüber, dass Márquez ihm so viele Geschichten von einem Cacho erzählt, die dieser eigentlich nicht kennen dürfte: "[…] Márquez me reventó la cabeza. ¿De dónde sacó esa historia del tal Cacho? No cuadra con el perfil de Márquez" (58f.). Manchmal glaubt er außerdem, dass Márquez’ Stimme von anderen überlagert wird, was seine Verwirrung – und die des Lesers – zusehends steigert. Der Protagonist beginnt daran zu zweifeln, dass es sich bei dem Patienten mit den Verbrennungen wirklich um Márquez handelt: "[…] y no logro precisar desde dónde salen las historias, ni quién las cuenta. Este infeliz es un camaleón que cambia de color cada vez que abre la podrida boca" (62). Der IchErzähler nennt seinen Bettnachbarn mehrmals camaleón, weil er
12 Die Handlungsstränge um Doctor Gómez und Padre Carlos beruhen laut Argemí ebenfalls auf einer wahren Begebenheit, die sich in Chipoleti (Patagonien) zugetragen hat und von der der Autor als Journalist erfuhr: "Un tipo se hacía pasar por médico. Atendía a gente y comercializaba pastillas para controlar el Parkinson como si fueran afrodisíacos. El tipo había descubierto en las afueras de la ciudad una capilla católica donde no iban nunca los curas. Entonces un día fue y se puso la sotana de clérigo y abrió la capilla. Daba misa, confesaba y recogía el diezmo. La gente estaba convencida de que era cura. Pensé, bueno, ese tipo tiene que tener algo para que la gente le crea que es cura. Entonces pensé que aquí había una historia otra vez, una historia de identidad" (Wieser 2010 [2008]: 45).
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verschiedene Personen gleichzeitig in ihm vermutet: "El tipo de la otra cama podría ser cualquiera: Márquez, Cacho, Orlando –o ese doctor Gómez […], pero no puede ser todos al mismo tiempo" (62). Schließlich glaubt er, in dem Todgeweihten Cacho zu erkennen, und schiebt ihm damit seine eigene Identität zu. Ob er dies aus Kalkül tut, um seine ursprüngliche Identität endgültig abzulegen und sich dadurch einer Strafe zu entziehen, oder ob die starken Medikamente und seine Persönlichkeitsstörung dafür verantwortlich sind, bleibt im Dunkeln. Cacho wird jedenfalls in seiner Behauptung immer bestimmter: "Yo, perseguidor curtido, apostaría hasta el último centavo a que el Camaleón es Cacho, y varios más: una sucesión de máscaras, una interminable ristra de nombres de guerra. Nunca, jamás, el indio Márquez" (75). Vor der Auslösung des Rätsels um die verschiedenen Identitäten wird eine weitere Facette von Cachos Persönlichkeit aufgezeigt, die seiner Vergangenheit. Die Vorgeschichte des Protagonisten unter der Militärdiktatur wird über den Polizisten der policía federal in Form von Erinnerungen (intradiegetischen Analepsen) eingebracht. Federico ermittelt gegen Cacho und all seine Alter Egos und sucht ihn im Krankenhaus auf. Da Cacho ihm den Spitznamen Ladillas (Filzlaus) aufgrund seiner Angewohnheit, seine Hände in die Hosentaschen zu stecken und sich dann an den Hoden zu kratzen, gegeben hat, hegt Federico persönliche Rachegelüste gegen ihn. 1978, im Jahr der Fußballweltmeisterschaft in Argentinien, ist Federico in dem illegalen Gefangenenlager el Sótano in seiner Funktion als policía federal tätig. Dieses fiktive Lager befindet sich auf einem alten Schiff am Ufer des Río de la Plata. Wie sein reales Vorbild gibt sich Cacho im Sótano als politischer Gefangener aus: "Los del servicio penitenciario lo habían sacado de no sé qué cárcel. Para ellos era algo así como un mitómano; un estafador que se hacía pasar por guerrillero, o lo que conviniera" (178). Cacho gelingt es, im Sótano zusammen mit ein paar anderen Gefangenen ins Lager der Macht überzulaufen. Die Überläufer (los pasados) erheben Anspruch auf eine eigene Nische auf dem Schiff, in die niemand außer ihnen eintreten darf. Da Federico diesen Raum versehentlich betritt, macht er sich Cacho ungewollt zum persönlichen Feind. Federicos Erinnerungen an Cacho sind hasserfüllt: "Ese que por su habilidad para mimetizarse como militar, guerrillero, sacerdote, o lo que fuera necesario, era conocido como el Camaleón, y se hacía llamar teniente Cacho por los prisioneros" (102, kursiv im Original). Er beschreibt Cacho als ausgesprochen intelligenten und gleichzeitig verrückten Menschen, der aus seinen Verstellungskünsten das größte Vergnügen zog: "Era demasiado inteligente, y estaba demasiado loco para ser un prisionero más. Disfrutaba de sus disfraces, de sus actuaciones, de sus mil nombres de guerra, y sobre todo del poder casi absoluto" (102). In unterschiedlichen Rollen quält der Überläufer die gefangenen Guerilleros mit sadistischen Spielen ("[…] los hacía llorar por puro gusto", 103). Er erzeugt in 238
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ihnen psychische Qualen, wenn er die Todgeweihten als Padre mit falschen Hoffnungen nährt, obwohl er weiß, dass sie bald über dem Río de la Plata aus dem Flugzeug abgeworfen werden: "Porque en lugar de dejarlos tranquilos, que mantuvieran pegada al cuerpo el poco de dignidad que les quedaba bajo la mugre de la derrota, los obligaba a la agonía de una esperanza" (103f). In der Rolle des Teniente Cacho foltert er die Gefangenen darüber hinaus, indem er sie mit dem harten Strahl eines Feuerwehrschlauchs abspritzt oder vorgibt, über ihr Leben entscheiden zu können: "Ese hijo de puta. Esa bestia de mala madre… les hacía creer que era teniente del Ejército, y que tenía la llave de su vida o de su muerte. Y los capucha a veces se lo creían, infelices" (178). Federico erinnert sich auch daran, wie perfekt Cacho seine Rollen verkörperte und wie überzeugend er darin war: Cuando se decía teniente, era teniente. Y era médico cuando se piraba por ese lado; o guerrillero, policía, travesti… Podía ser cualquier cosa, le alcanzaba con hablar un rato con alguien y le chupaba la personalidad, los gestos, el nombre, todo: como un vampiro, como un camaleón. Como un verdadero camaleón… (184).
Federico glaubt ferner zu erkennen, dass hinter Cachos Verhalten mehr als reines Kalkül steckt, nämlich ein krankhafter Zwang, seine Identität zu wechseln und die neue Identität bis zur Vollkommenheit auszuleben: "Lo mejor de todo es que él también se lo creía" (178). Der Höhepunkt seiner Grausamkeit im Sótano ist jedoch, dass er den Befehl erteilt, die Sekretärin Mabel aus einem Flugzeug abzuwerfen und die Militärs ihm tatsächlich gehorchen. Dies tut Cacho gezielt, um Federico, der in Mabel verliebt ist, zu demütigen und ihm seine usurpierte Macht zu demonstrieren. In den intradiegetischen Analepsen wird des Weiteren Federicos eigene Rolle in der Vergangenheit hinterfragt. Der Polizist ist sich dessen bewusst, dass er selbst während der guerra sucia Handlanger eines Regimes war, das ihn dazu angehalten hat, Grausamkeiten zu verüben. Anders als Cacho zeigt er jedoch einen gewissen Grad an Reue: Pasado el tiempo, supo que estar en ese sitio y en ese tiempo había sido el error de su vida. Ese error que, dicen, tenemos una sola oportunidad de cometer, y de allí en más todo será distinto. Era joven, ambicioso, y estaba convencido de que esa guerra contra las hordas rojas no se ganaba sin hundir las manos en la mierda. ¿Qué guerra? ¿Dónde estaban los héroes de esa guerra? Él, con seguridad, no entraba en esa categoría. Y dudaba que si había alguno no se hubiera refugiado con sus medallas en el silencio de los muertos (99).
Federicos Überzeugung, dass der Krieg des Staates gegen die Guerilla nur mit roher Gewalt zu gewinnen ist, wich nach dem Ende der Diktatur der Enttäuschung und Ernüchterung darüber, dass niemand als positiver Held aus dem Krieg hervorgehen konnte. Die Verantwortung für 239
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die vielen Toten sieht er jetzt vor allem beim Staat und seinen ausführenden Organen, zu denen er gehörte. Über Federicos Ermittlungsmethode erfährt der Leser nur so viel, wie der Polizist in seinen Reflexionen preisgibt. Federico vergleicht seine Arbeit in der policía federal mit dem Lösen der Fälle in älteren Rätselromanen. Durch diese explizite Systemreferenz öffnet sich eine metafiktionale Ebene: "En las novelas policiales que me gustaban de chico […], el detective, al final, juntaba a todos en el salón y develaba el misterio con una inteligencia que cortaba el aliento. Nunca me pasó y nunca me va a pasar" (175f.). Diese Aussage kann auf zwei Arten gedeutet werden: Erstens als Seitenhieb auf die Subgattung des Detektiv- oder Rätselromans, in der mit übertriebener Intelligenz begabte Detektive auftreten, und zweitens als ein Eingeständnis Federicos seiner mangelnden geistigen Leistungsfähigkeit. Die argentinische Realität hat ihn aber auch gelehrt, dass in seinem Beruf nicht Scharfsinn gefragt ist, sondern Gewalt. Während der Diktatur wurden den Gefangenen die Geständnisse durch Folter abgerungen: "Sí, la vida y Agatha Christie nunca tuvieron nada que ver. Me hice policía con la cabeza llena de esos pajaritos, y terminé aprendiendo que lo único inteligente es acostar a un tipo en la parrilla, y reventarlo hasta que largue todo" (176). Der politische Kontext erlaubt folglich keine mit legalen Mitteln geführte Aufklärungsarbeit; die Wahrheitsfindung wird der Erzwingung von (falschen) Geständnissen untergeordnet. Federicos Erlebnisse im Sótano stehen daher in krassem Gegensatz zu den Christie-Romanen. Sie werden von grausamen Situationen geprägt, die man aus den Rätselromanen nicht kennt: Los ideales, Agatha Christie y toda la bola, se me fueron a la mierda. Bah, mejor dicho: se me fueron con la mierda. Tipos encapuchados, mujeres encapuchadas, embarazadas que parían por los rincones, entre la bosta del chiquero… Y un cerdo disfrutando más que nadie: el teniente Cacho (177).
Vor allem ein so unberechenbarer und grausamer Täter wie Cacho passt nach Federicos Auffassung nicht in die Kriminalromane des Golden Age.13 Konsequenterweise entspricht auch Federicos "Lösungsvorschlag" für den Fall Cacho nicht den traditionellen beziehungsweise pseudonormativen Vorstellungen. Gegen Ende des Romans wird im Krankenhauszimmer ein Paravent aufgestellt, wodurch Cacho die Sicht auf seinen Bettnachbar verwehrt wird. Er bangt nun in der Identität des Carraspique, dass er die letzten 13 Ein weiteres intertextuelles Moment findet sich, als Cacho das Indio-Mädchen Eli im Auto mitnimmt und davon erfährt, dass sie ihre Herrin erschlagen hat. Er vergleicht sich und Eli daher mit dem berühmten Verbrecherpärchen Bonnie und Clyde (vgl. 158), das zwar ein reales Vorbild hat, aber in seiner filmischen Bearbeitung durch Arthur Penn (1967) einen wichtigen Bestandteil der Geschichte des Kriminalgenres darstellt.
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Zusammenhänge für seine große Story nicht mehr rechtzeitig vor Márquez’ Tod in Erfahrung bringen kann. Der Indio ist jedoch schon verstorben. Stattdessen spricht Federico hinter dem Paravent mit dem delirierenden Cacho. Die Geschichten, die Márquez erzählt zu haben scheint, werden nun als die Geschichten von Federico erkennbar, dessen Stimme die Stimme von Márquez überlagert hat.14 Aufgrund der Ergebnisse seiner Ermittlungen vermag Federico, Cacho seine Taten, das heißt die Taten seiner verschiedenen Alter Egos, nachzuerzählen. Er versucht, Cacho nun mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, nämlich durch Verstellung, durch die Behauptung, ein anderer zu sein (Márquez). Federico tritt schließlich im Showdown hinter dem Paravent hervor und versucht, Cacho mit einem Kissen zu ersticken und somit Selbstjustiz zu üben. Doch Cacho hat sich von seinen Verletzungen erholt und wehrt sich in der Schlussszene. Da der Roman den Titel Penúltimo nombre de guerra (und nicht último) trägt, liegt die Vermutung nahe, dass es Cacho ein weiteres Mal gelingen wird, seinen Gegner zu besiegen und dessen Identität "aufzusaugen". Es verbleibt noch die Untersuchung eines weiteren, zentralen, gesellschaftskritischen Elements des Romans: die Thematisierung der Situation der indigenen Bevölkerung. Die Mapuches, die in höchst prekären Verhältnissen leben, werden als Opfer der herrschenden Klasse und des Fortschritts dargestellt. Ihnen wird Land weggenommen, damit sich große Firmen niederlassen können. Dazu kommt die Zerstörung ihrer Kultur durch Missionare verschiedener Freikirchen. Der Katechismus und das Kräfteungleichgewicht zwischen den Ethnien führen dazu, dass die Indigenen ihre eigene Sprache und Kultur für minderwertig erachten, was in den Gedankengängen des Prudencio Márquez deutlich erkennbar ist: Alguna vez, cuando los tiempos oscuros de los tatarabuelos, los mapuches creían en dioses mentirosos, en árboles sagrados, y rezaban en la lengua, que nadie entendía y que los había llevado adonde estaban: a que les quitaran la tierra y que unos gringos15 mentirosos insistieran con esa manía de que hablaran con lengua de pobres, de sirvientas, para seguirlos engañando (33).
Die eigene Sprache und Kultur assoziiert Márquez mit Armut aufgrund der Erfahrungen seines Volkes seit der Kolonialzeit. Er macht ihre Kul14 Rutés versteht hier, dass sich Cacho die Geschichten des Padre Carlos und Doctor Gómez im Delirium selbst erzählt hat, ohne dies zu bemerken. Dies geschehe "[…] de tal forma que el supuesto interrogatorio de El Camaleón que realiza Manuel Carraspique se convierte en un interrogatorio de El Camaleón a sí mismo, y un diálogo desencadenado de sus varias identidades, bajo la forma de una introspección inconsciente" (Rutés 2010: 50). Ab wann die innere, delirierende Stimme Cachos von Federicos Stimme überlagert wird und wie viel die eine und wie viel die andere erzählt, kann nicht bestimmt werden. 15 Márquez bezieht sich mit "gringos" auf eine Gruppe Mormonen, die in der Nähe ansässig ist.
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tur dafür verantwortlich, dass die Mapuches und andere indigene Völker ausgebeutet, marginalisiert und unterdrückt werden und in der Hierarchie der Gesellschaft ganz unten stehen. Wie weit ihre kulturelle Entwurzelung vorangeschritten ist, zeigen ihre spanischen Namen: "Esos paisanos, renegados de su propia gente, esos indios que mostraban con orgullo un apellido europeo, agradecían como pordioseros cualquier gesto de reconocimiento" (152). Aus diesem Grund kann Cacho als Padre Carlos die Mapuches leicht überlisten. Indem er Prudencio mit "Hermano" (im Original großgeschrieben) anspricht, wertet er dessen Selbstwertgefühl auf, was dazu führt, dass der Mapuche ihm blind vertraut. Cacho versteht sehr genau, welche Wirkungsmacht die Freikirchen beim ärmsten Teil der Bevölkerung entwickeln, und macht sich dies zunutze: […] esos ministros de la iglesia, esos pastores, y hasta algunos lunáticos o farsantes que se mezclan con ellos, les devuelven un poco de dignidad y los pobres, a los que nadie respeta en ninguna parte. Los peones de las chacras, los jornaleros, los mapuches que crían chivas en donde el diablo perdió el poncho, con una corbata y la Biblia se sienten personas; son personas (91).
Christlich fundamentalistische Freikirchen expandieren seit den 1960er Jahren verstärkt in Lateinamerika. Die meisten kommen aus den USA und gehören evangelikalen oder pfingstkirchlichen Bewegungen an. Sie lehnen eine moderne Auslegung der Bibel ab und propagieren die Unfehlbarkeit ihrer textuellen Bedeutung (Ströbele-Gregor 2008: 77). Die Verheißungen dieser Kirchen fallen bei den sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten auf besonders fruchtbaren Boden. Ströbele-Gregor, die dies am Beispiel der Adventistas del Séptimo Día in Bolivien erforscht hat, kommt zu folgendem Schluss: Aunque nunca se expresa explícitamente, la labor misionera fundamentalista evangélica parte del sentimiento de inferioridad de los marginados frente a la clase dominante. La fe fundamentalista permite a los socialmente discriminados elevarse sobre un entorno al que declaran como infiel […]. El fundamentalismo convierte, por ejemplo, a los "indios" despreciados en "elegidos de Dios" (StröbeleGregor 2008: 78f.).16
16 Viele Kritiker bemängeln an den evangelikalen Freikirchen außerdem, dass sie ihre Gläubigen zu sehr auf die Rettung ihrer Seele im Jenseits hin orientieren, weswegen die Betroffenen ihre prekäre Lage im Diesseits als eine Art Prüfung Gottes erdulden und sich kaum für eine Verbesserung der sozialen Zustände einsetzen, so dass sie im Endeffekt den Status Quo verfestigen (Ströbele-Gregor 2008: 81). Im Roman gibt sich Padre Carlos als Priester einer Pfingstbewegung aus. Auf Pfingstkirchen trifft dies nur bedingt zu, da sie weniger jenseitsorientiert sind. Da im Roman jedoch nicht genauer auf das Dogma der Bewegungen eingegangen wird und die von Ströbele-Gregor beschriebenen Effekte an Márquez zu beobachten sind, ist das von untergeordneter Bedeutung.
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Die Freikirchen sind laut Ströbele-Gregor so erfolgreich, weil sie genau auf die Bedürfnisse der Armen und Marginalisierten eingehen. Sie verleihen ihnen Selbstwertgefühl, geben ihnen Erklärungsmodelle für die unterschiedlichsten Lebensbereiche, spirituellen Trost, moralische Unterstützung und Orientierung für ihr Handeln. Da die Konversion zu einer dieser Kirchen miteinschließt, dass die Gläubigen ihre Lebensweise stark verändern, führt sie dies zu einer "alienación en el sentido de una ruptura voluntaria con la tradición cultural" (Ströbele-Gregor 2008: 80). Die Anpassung der Lebensweise an die Doktrin der Kirche lässt sich auch bei Prudencio Márquez beobachten. Er gelobt, nicht mehr zu trinken, und sammelt mit einem rituellen Gestus ungeöffnete Bierflaschen auf einem Hügel. Da ihm Padre Carlos auch einen missionarischen Auftrag erteilt hat, fühlt er sich berufen, das Wort Gottes zu verbreiten. Als das Haus seiner Familie durch einen nicht näher erklärten Unfall in Flammen aufgeht, findet er in den verkohlten Trümmern ein paar Seiten seiner Bibel, was er als Zeichen deutet. Die Seiten enthalten die Stelle des Alten Testaments, in der Abraham seinen Sohn Gott opfern soll. Márquez, der gelernt hat, den biblischen Text wörtlich zu nehmen, begeht infolgedessen einen Opfermord an seinem Baby und seiner Frau17, überzeugt davon, Gott würde ihn im letzten Moment davon abhalten. Nach der Tat ist er verzweifelt und ratlos: "¡Yo creía, carajo! Y obligué a subir a mi gente, porque Él iba a decirme, Él tenía que decirme lo que estaba anunciado. Pero me dejó matar al hijo, hermano. Se calló la boca porque soy un maldecido" (168). Das Ereignis löst in Márquez aber keine Zweifel über die Existenz Gottes oder die Doktrin des Padre Carlos aus. Er richtet die Anklage vielmehr gegen sich selbst und seine Familie. So wie Cacho und seine Alter Egos von realen Vorbildern inspiriert sind, basiert auch der Opfermord des Márquez auf einem tatsächlichen Ereignis. Der Autor erzählt, dass sich ein ähnlicher Vorfall 1969 in Loncoluán in der Nähe von Neuquén zugetragen hat. Eine Gruppe von Indios, die von einem Pastor einer Pfingstkirche Religionsunterricht erhalten hatten, glaubten, vom Teufel besessen zu sein, und brachten mehrere Mitglieder der Gemeinde um. Die Täter kamen vor Gericht, wurden jedoch aus folgenden Gründen freigesprochen: La defensa llamó como testigo esencial a la facultad de antropología de Buenos Aires que demostró que esta gente a la hora de perder la identidad –habían sido
17 Die Notwendigkeit, seine Frau zusammen mit dem Sohn zu opfern, erklärt er damit, dass sie von indigenen Geistern besessen war: "La Luisa, mi mujer, hermano, tenía a Mandinga anidando en el cuerpo. Y blasfemó. Por eso tuve que sacarle el demonio del cuerpo, para salvarle el Alma Eterna" (169).
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culturalizados– adoptaron una identidad supletoria que era la que les había dejado el pastor y que se habían aferrado a esa identidad y entraron a un camino sin salida que les llevó a esto, pero que no eran responsables de lo que habían hecho y los absolvieron (Wieser 2010 [2008]: 45).
In Penúltimo nombre de guerra stellt Argemí in Anlehnung an den echten Fall Márquez als nicht verantwortlich für seine Tat dar, da er seiner Kultur und seiner Sprache beraubt wurde und aufgrund dieser Entwurzelung voll und ganz dem Diskurs vertraut hat, den ihm die Usurpatoren an die Hand gegeben haben. Zwar kommt es im Roman zu keiner Gerichtsverhandlung (Márquez stirbt, bevor er angeklagt werden kann), ein Freispruch wird aber durch Federico stellvertretend geäußert: […] ese paisano mapuche es otra víctima del progreso. ¿Se da cuenta? Les sacamos la tierra, sus costumbres, todo. Hasta el apellido original perdieron, ¿si no, cómo iba a llamarse Márquez? Y ahora es como que no tienen defensas contra las enfermedades… cualquiera puede llenarles la cabeza de ideas locas (82).
Die Indigenen in Argemís Roman entwerfen keinen eigenen Gegendiskurs. An einer Stelle zeichnet sich allerdings ein gewaltsames Aufbegehren der Indios gegen die herrschende Klasse ab: Doña Rosa beschimpft ihre indigene Hausangestellte Elisea, weil sie ohne Erlaubnis eines ihrer Kleider angezogen hat und damit ausgegangen ist. Sie nennt sie "Chinita degenerada, india puerca" (160) und schlägt sie. Doch Eli wehrt sich gegen die Demütigung: "Alguna atadura se rompió, como una fiera joven y poderosa, arrebatando el rebenque y cobrándose golpe por golpe" (160). Eli erschlägt ihre Herrin und flieht. Sie reagiert auf die Unterdrückung also mit zerstörerischer Gewalt. Von einer aufwertenden Selbstbehauptung, einer positiven Affirmation der eigenen Kultur, ist sie weit entfernt.18 Schlussfolgerungen Obwohl es sich bei Penúltimo nombre de guerra nicht um einen "Ermittlungsroman" handelt, finden sich darin einige Textstellen, die die BeEin weiterer Kriminalroman, in dem Mapuche-Indianer als Figuren auftreten, ist Hot Line (2001) des Chilenen Luis Sepúlveda. Der Protagonist des Romans ist ein Mapuche-Polizist, der aus Patagonien nach Santiago strafversetzt wird. Obwohl auch hier, ähnlich wie bei Argemí, der Identitätsverlust der Mapuche angedeutet wird – die Figur trägt einen englischsprachigen Vornamen (George Washington) und einen Mapuche-Nachnamen (Caucamán) – stattet Sepúlveda seine Figur mit einem positivem Selbstwertgefühl aus, thematisiert aber gleichzeitig die Abwertung der Ethnie durch die Gesellschaft. So sagt George Washington Caucamán über sich selbst: "Soy hijo de un panadero mapuche que leía el Selecciones. De ahí mi nombre. Y tengo un hermano que se llama Benjamín Franklin Caucamán. Un día el viejo decidió que los mapuches sólo sobreviviríamos si nos colocábamos del lado de la ley. Me hice detective y mi hermano es carabinero. A los dos nos gusta lo que hacemos (Sepúlveda 2003 [2001]: 63).
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antwortung der Frage nach der Ermittlungsmethode ermöglichen. Die Ermittlungsschritte des Polizisten Federico gegen Cacho, die der Romanhandlung vorangehen, werden nicht nacherzählt, Federico stellt jedoch Überlegungen zur Methode der policía federal an. Besonders auffällig ist, dass er sich dabei stark von den Ermittlern des traditionellen Rätselromans absetzt und das analytisch-rationalistische Lösen des Mordrätsels ohne Gewaltanwendung belächelt. In der argentinischen guerra sucia, in der seine Arbeit in erster Linie darin bestand, Geständnisse von politischen Häftlingen zu erpressen, scheint das einzige wirksame Mittel Gewaltanwendung, sprich Folter, zu sein. Die Schule des Rätselromans wird dadurch für null und nichtig erklärt. Da durch Folter aber keine wahrheitsgemäßen Aussagen erzwungen werden können, wird dem Leser vor Augen geführt, wie der politische Kontext, der diese Methode vorschreibt, die Wahrheitsfindung beeinträchtigt.19 Penúltimo nombre de guerra enthält jedoch kein whodunit, worin sich seine Verwandtschaft zu den Romanen Melos und Francos aus dem vorangegangenen Kapitel zeigt. Die Spannung entsteht aus der Frage nach der Identität der beiden Patienten, die sich im Krankenhaus ein Zimmer teilen, Cacho und Márquez. Da sich nach der Auflösung dieses Rätsels keine Reflexion anschließt und die Romanfiguren insgesamt wenig über ihre Situation nachdenken, muss der Leser vergleichsweise viele Leerstellen interpretatorisch füllen, um Zusammenhänge zwischen den Ereignissen herzustellen. Der Showdown, in dem der Täter gegen den Ermittler kämpft, insinuiert das Überleben des ersteren, so dass dem Leser die pseudonormative Wiederherstellung der Ordnung vorenthalten wird. Während der Militärdiktatur stand die staatliche Gewalt der Gewalt der bewaffneten Guerilla-Truppen gegenüber. Gewalt war im System der Diktatur institutionalisiert, Amnestiegesetze schützten die staatlichen Folterer, während Guerilleros unmenschlich hart bestraft wurden. In diesem Kontext konnte Cachos (pathologische oder bewusst kalkulierte) Fähigkeit, in die Rolle derjenigen zu schlüpfen, die am längeren Hebel saßen, besonders gedeihen. In der Gegenwartsebene, der Demokratie, erscheint Cacho als ein Produkt dieser Zeit, ein Mensch, dem es die Diktatur ermöglicht hat, seinen Sadismus besonders intensiv auszuleben und zu kultivieren, und für den die Demokratie keine Verwendung mehr hat. Diese Interpretation wird gestützt durch einen Gedankengang Cachos im Krankenhaus: "Yo no era importante […]. Se alcanza cierta calma cuando uno acepta que es una sobra del sistema. Algo así como un forro usado" (16). Cacho ist ein Überrest der Diktatur und als solcher lebt er seine Neigungen in der Demokratie als Verbrecher aus. In letzter Konsequenz kann die Figur als Chiffre für die Spätfolgen der Diktatur 19 Inwiefern politische Häftlinge überhaupt einer Straftat schuldig sind, wird im Roman nicht problematisiert.
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gelesen werden, als ein krankhaftes Geschwür, das während der Diktatur wucherte und nun die Demokratie mit Verbrechen durchsetzt. Das eigentlich Gefährliche an solchen Personen beschreibt Argemí wie folgt: La respuesta más fácil al conflicto de Cacho es que los torturadores son sicópatas. No, lo peor de todo es que no son sicópatas. Lo peor de todo en la mayor parte de los casos es que se comportan como funcionarios públicos. De tal hora a tal hora torturan, de tal hora a tal hora se van a ver la televisión con los hijos o los llevan a un partido de fútbol. Es mucho más demente todo el asunto (Wieser 2010 [2008]: 44).
Bringt man diese Aussage in die Interpretation des Romans ein, so ist Cacho viel mehr als ein Einzeltäter mit einer besonderen Gabe. Er steht für all jene Verbrecher, die sich wie Staatsdiener verhalten und Gewaltanwendung ohne moralisches Gewissen wie einen Job erledigen. Das kann als symptomatisch für alle Gesellschaften gelten, die nach Phasen der Diktatur oder des Krieges Beamte des alten Regimes in das neue übernommen haben.20 Cachos Gegenpart Federico ist ein solcher Funktionär und gehört ebenso wie dieser zum verbrecherischen Geschwür, das die Diktatur der Demokratie hinterlassen hat. Indem Federico am Ende aus persönlichen Motiven handelt und Cacho umzubringen versucht, zeigt er, dass er weiterhin mit denselben Methoden wie während der guerra sucia arbeitet. Die Darstellung der Gewalt erfolgt in Argemís Roman auf unterschiedliche Weise: erstens durch die Beschreibungen des heterodiegetischen Erzählers, der Cachos Alter Egos intern fokalisiert, zweitens aus Cachos Ich-Perspektive, wobei er seine Identität leugnet, und drittens durch die Erinnerungen Federicos, der seinen persönlichen Hass gegen Cacho ausdrückt sowie seine eigenen Methoden reflektiert. Auffallend ist, dass Cacho eben nicht aus der Ich-Perspektive seine Grausamkeit thematisiert, sondern diese Aufgabe der heterodiegetische Erzähler und Federico übernehmen. Durch die interne Fokalisierung werden dennoch Bewusstseinsprozesse in Bezug auf seine Gewalttätigkeit offen gelegt (beispielsweise beim sadistischen Bestreuen der Schnecken mit Salz). Argemí setzt insgesamt nicht auf Schockeffekte, sondern zeigt nur das Nötigste, um zu verstehen zu geben, zu welchen Taten Cacho fähig ist. Hinsichtlich Cachos Identität kann festgehalten werden, dass sie veränderlich und nur schwer fassbar ist. Sie wird aus einer Reihe von Machtdiskursen konstruiert, deren er sich durch die Übernahme fremder Identitäten bemächtigt. Als Militär waren ihm die gefangenen Guerilleros In dieser Hinsicht ähnelt Argemís Roman El hombre en el arma (2001) von Horacio Castellanos Moya. Darin geht es um einen ehemaligen Soldaten des salvadorianischen Bürgerkriegs, der sich nicht in die Zivilgesellschaft eingliedern kann, weil er nichts anderes gelernt hat, als mit Waffen zu kämpfen und zu töten. Sein Abdriften in die Illegalität ist daher vorprogrammiert.
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ausgeliefert, in der Demokratie peinigt er als Drogenboss die kleinen Dealer und Süchtigen, als Arzt die Patienten und als Priester betrügt er gutgläubige Indios. Wer Folter, Macht und polizeiliche Verfolgung als besonderen Nervenkitzel erlebt (wie der Fuchs, der vor den Hunden flieht), potenziert seinen sadomasochistischen Genuss, wenn er mit vielen Figuren gleichzeitig spielt. Cachos Mimikry geht sogar so weit, dass er seinem Verwandlungsspiel selbst glaubt. Deswegen ist es für die Polizei, die Staatsmacht, besonders schwer, ihn zu demaskieren.21 Während sich Cacho auf der einen Seite unnatürlich viele Identitätsdiskurse aneignet, verfügen die entwurzelten Indios auf der anderen über zu wenige. Die Abwertung ihrer Kultur durch die herrschende Klasse löst in ihnen eine quasi freiwillige Abkehr von ihrem Glauben und ihren Traditionen aus, die die Lehre der Freikirchen nur bruchstückhaft ersetzt, so dass die Betroffenen orientierungslos und unbewusst den Weg der Selbstzerstörung einschlagen. Argemís gesellschaftskritische Haltung findet sowohl in diesem Aspekt als auch in der Thematisierung der Vergangenheit ihren Ausdruck.
21 Cachos nahezu perfekte Übernahme verschiedener Identitäten kann metaphorisch als das Tragen von Masken bezeichnet werden, wodurch ein Vergleichsmoment zu Leonardo Paduras Roman Máscaras entsteht.
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5.2.2. Santiago Roncagliolo: Abril rojo (Peru, 2006) Der Autor: Santiago Roncagliolo Santiago Roncagliolo wurde 1975 in Lima geboren und verbrachte seine Kindheit in Mexiko, wo seine Eltern politisches Asyl in Anspruch nahmen, da sein Vater Mitglied des oppositionellen Partido Socialista Revolucionario war. Als Kind erlebte er, wie lateinamerikanische Revolutionäre aus verschiedenen Ländern mit seinen Eltern über Politik debattierten: "Nos visitaban socialistas chilenos, montoneros argentinos, tupamaros uruguayos, comunistas cubanos" (Roncagliolo 2007: 22). Mitte der 1980er Jahre, in der heißesten Phase des Kriegs zwischen Staat und Sendero Luminoso, kehrte die Familie nach Lima zurück. Als Santiago das Alter erreicht hatte, in dem er selbst politisch aktiv hätte werden können, war der Traum von der lateinamerikanischen Revolution bereits zerbrochen: "Soy hijo de grandes sueños revolucionarios que acabaron en nada, y de grandes ideales democráticos que no resolvieron la pobreza" (Cruz 2006: 106). Er studierte Literatur- und Sprachwissenschaft an der Universidad Católica in Lima und arbeitete anschließend drei Jahre lang in der 1993 gegründeten, staatlichen Menschenrechtsorganisation Defensoría del Pueblo, wo er Reden und Pressemitteilungen verfasste.1 Seinem Wunsch, Schriftsteller zu werden, näherte er sich, indem er Auftragsarbeiten annahm. Er schrieb Drehbücher für Telenovelas (z. B. für Extraños, 2001) sowie zahlreiche journalistische Arbeiten und fertigte Übersetzungen an, was ihm ermöglichte, das Schreiben zu erlernen und zu trainieren (Wieser 2010 [2008]: 222). Da er in Peru aber keinen Verlag für seine literarischen Texte finden konnte, wanderte er 2000 nach Spanien aus. Santiago Roncagliolos Werk umfasst unterschiedliche Gattungen. Er begann seine Karriere mit Kinder- und Jugendbüchern (Rugor, el dragón enamorado, 1999; La guerra de Mostark, 2001; El príncipe de los caimanes, 2002; Matías y los imposibles, 2006). Außerdem verfasste er ein Theaterstück (Tus amigos nunca te harán daño, Premiere 1999) und einen Band mit Erzählungen (Crecer es un oficio triste, 2003). 2005 erschien sein erster Roman für Erwachsene, Pudor, in dem er die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb einer Familie ergründet. Mit dem Kriminalroman Abril rojo (2006) gewann er den Premio Alfaguara de novela, was ihn Da die Defensoría del Pueblo, die den Status eines verfassungsmäßigen, autonomen Organs besitzt, keine polizeiliche oder gerichtliche Macht ausüben und ihre Kritik an staatlichen Institutionen nur in Form einer Empfehlung aussprechen kann, bestand die Aufgabe Roncagliolos darin, ihre Anliegen den Menschen über unterschiedliche Kanäle zu kommunizieren.
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international bekannt machte. Darauf folgte Memorias de una dama (2009), ein Roman über einen peruanischen Schriftsteller, der die Memoiren einer Millionärin niederschreibt und dabei eine Ermittlung über deren Beziehungen zur italienischen Mafia, der CIA und den Diktaturen Trujillos und Batistas anstellt.2 Roncagliolos bisher letzter Roman, Tan cerca de la vida (2010), spielt in Tokio und wird auf der Homepage von Alfaguara als Psychothriller mit Science-Fiction-Elementen angekündigt. Neben seinen fiktionalen Werken veröffentlichte der Autor außerdem ein Reisetagebuch in Form eines blog, das später unter dem Titel Jet Lag (2007) in Buchform erschien, sowie eine non-fiction-novel nach Art des investigativen Journalismus à la Norman Mailer und Truman Capote. Das Werk trägt den Titel La cuarta espada3 (2007), zeichnet die Lebensgeschichte von Abimael Guzmán nach und liefert viele hilfreiche Hintergrundinformationen für die Interpretation von Abril rojo. Sowohl die non-fiction-novel als auch der Roman entstanden infolge von Roncagliolos Tätigkeit in der Defensoría del Pueblo, während der er Interviews mit politischen Häftlingen in den Gefängnissen führen und Einsicht in viele Dokumente gewinnen konnte. Der Kontext: Peru im Krieg gegen Sendero Luminoso Abril rojo spielt im Jahr 2000, dem Jahr, das das Ende des bewaffneten Konflikts zwischen Sendero Luminoso und Staat sowie der FujimoriRegierung markiert.4 Der Gründer des Sendero Luminoso5, Abimael Guzmán (*1934), studierte Jura und Philosophie in Arequipa und wurde 1962 zum Professor an der Universidad Nacional San Cristóbal de Huamanga in Ayacucho berufen. Dort rief er die Terrororganisation als Splittergruppe des Partido Comunista del Perú ins Leben. Ihr Ziel bestand in der Durchführung einer maoistischen Arbeiterrevolution. Seit Mitte der 1970er Jahre agierte die Organisation aus dem Untergrund. Am 17. Mai 1980 versuchte sie die Präsidentschaftswahlen zu sabotieren und verbrannte Wahlurnen in einem Andendorf im Verwaltungsbezirk Ayacucho. Es folgten Anschläge auf Banken, öffentliche Einrichtungen und Haciendas sowie Sprengungen von Hochspannungsmasten (Roncagliolo
Memorias de una dama wird zwar weder als Kriminalroman vermarktet noch vom Autor als solcher bezeichnet, die Nachforschungen des Protagonisten weisen aber eine gewisse Affinität zum Genre auf. 3 Von seinen Anhängern wurde Guzmán als la cuarta espada del comunismo bezeichnet (die anderen drei "Schwerter" sind Marx, Lenin und Mao). 4 Siehe dazu auch Kap. 2.3. 5 Der vollständige Name der Organisation lautet Partido Comunista del Perú – por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui. Mit José Carlos Mariátegui beruft sich Guzmán auf einen der Gründer des Partido Socialista Peruano. Zu Mariáteguis Thesen und ihrer Präsenz in Abril rojo siehe Veres (2008). 2
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2007: 92f. und 115). In der Folgezeit nahm die Auseinandersetzung zwischen Staat und Sendero Luminoso sowie des kleineren Movimiento Revolucionario Túpac Amaro (MRTA) die Form eines Bürgerkriegs an. Zeitweilig kontrollierte Sendero Luminoso weite Regionen in den Anden, die in maoistischer Manier als "befreite Zonen" bezeichnet wurden. Die Terrororganisation verübte auch Massaker an Zivilisten, allen voran das Massaker von Lucanamarca im Jahr 1983, bei dem 69 Personen, darunter Frauen und Kinder, ermordet wurden.6 In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre verlor Sendero aufgrund seiner Brutalität zusehends an Rückhalt in der Landbevölkerung und wurde in den 1990er Jahren von der Regierung erfolgreich bekämpft (Roncagliolo 2007: 122f.). Santiago Roncagliolo hat wiederholt darauf hingewiesen, dass sich der bewaffnete Konflikt Perus in mehrerlei Hinsicht von den Gewaltexzessen in anderen lateinamerikanischen Ländern unterscheidet, etwa von der Repression und Verfolgung Oppositioneller während der Militärdiktaturen in Chile, Argentinien oder Paraguay. Die Besonderheit sieht er darin, dass der innerperuanische Krieg unter einer demokratisch gewählten Regierung stattfand, und nicht unter einem Gewaltregime, das durch einen Putsch die Macht ergriffen hatte, obgleich Fujimori nach dem autogolpe nur noch eine Scheindemokratie führte. Darüber hinaus gingen nahezu gleich viele Grausamkeiten auf das Konto der Regierungstruppen wie auf das der Terroristen, so dass die Bürger sich mit keinem der Lager solidarisieren konnten (Wieser 2010 [2008]: 128). Dies wurde auch durch den Umstand erschwert, dass keine der beiden Kriegsparteien jener Bevölkerungsschicht angehörte, für die sie vorgaben zu kämpfen, nämlich der großteils indigenen Landbevölkerung (ebd.: 127). Die campesinos befanden sich in einer besonders schwierigen Lage, da eines der strategischen Ziele der Terrororganisation darin bestand, die Landbevölkerung dazu zu bringen, sich der "Revolution" anzuschließen. Kollaborierten sie nicht, so massakrierten sie sie. Kollaborierten sie aber, so galten sie in den Augen der staatlichen Truppen als Terroristen und mussten von dieser Seite mit Gefängnis, Folter und Ermordung rechnen (Roncagliolo 2007: 113).
6 Aus Selbstschutz brachten Bauern zwei Kader des Sendero Luminoso um, woraufhin die Terrororganisation mit roher Gewalt antwortete (Roncagliolo 2007: 112).
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Der Roman: Abril rojo7 Abril rojo gehört zu einer Sparte des Kriminalromans, die besonders seit Anfang der 1990er Jahre populär geworden ist: dem SerienmörderRoman.8 Roncagliolos Interesse für den Kriminalroman entstand nicht durch die literarischen Klassiker des Genres, sondern wurde durchs Fernsehen und Kino geweckt.9 Der Autor nennt als die wichtigsten Bezugspunkte für Abril rojo Kinofilme wie Seven, The Silence of the Lambs, aber auch eine grafic novel mit dem Titel From Hell von Alan Moore, eine Bearbeitung des Jack-the-Ripper-Stoffs (Wieser 2010 [2008]: 223). In fast allen Kapiteln von Abril rojo wird die Ermittlerfigur, der stellvertretende Staatsanwalt (Fiscal Distrital Adjunto) Félix Chacaltana Saldívar, durch einen heterodiegetischen Erzähler intern fokalisiert. Es dominiert der dramatische Modus, der durch zeitdeckendes Erzählen in Form von Bewusstseinsberichten und Dialogen den Eindruck einer unmittelbaren Beobachtung des Geschehens herstellt. Jedoch integriert der Roman noch eine weitere Textsorte, die dienstlichen Berichte Chacaltanas. Diese unterscheiden sich von den anderen Teilen nicht nur durch starke Zeitraffungen und die dadurch bedingte Distanz zum Geschehen, sondern auch durch ihre technokratische Sprache (z. B. "Debido a esa contingencia, afirma no recordar dónde se hallaba la noche anterior ni ninguna de las dos precedentes, en las que refirió haber libado grandes cantidades de bebidas espirituosas", 13). Da die Berichte vom Protagonisten verfasst werden, beschränken sie sich nur auf das, was dieser wissen kann (wie auch der Erzählerbericht mit interner Fokalisierung Chacaltanas). Des Weiteren enthält der Roman Einschübe, in denen ein homodiegetischer Erzähler spricht, dessen Identität erst am Ende des Romans preisgegeben wird. Es handelt sich um den Täter, Comandante Carrión. Die in wirrer Syntax verfassten Absätze werden durchgängig in Kleinbuchsta-
Verschiedene Aspekte von Abril rojo wurden bereits in den Aufsätzen von Salinas (2007) und Veres (2008) untersucht. Saxton-Ruiz (2010) widmet dem Roman außerdem ein Kapitel seiner Dissertation und legt damit die bisher detailreichste Interpretation vor. 8 In Kapitel 6.1 wird ein weiteres Beispiel für einen Serienmörder-Roman behandelt: O Xangô de Baker Street (1995) von Jô Soares. Auch Guillermo Martínez aus Argentinien hat einen solchen geschrieben, Crímenes imperceptibles (2003). Hier wurde darauf verzichtet, Serienmörder-Romane als eigenes Paradigma zu behandeln, da in Lateinamerika nur vereinzelte Beispiele dafür zu finden sind. 9 Der Autor hält die Neigung zu populären Genres für typisch für seine Generation: "Toda mi generación creció en un mundo bombardeado por la cultura popular, por la cultura audiovisual, y es esto parte de nuestra cultura. A mí siempre me ha interesado trabajar con lo que la alta cultura despreciaba" (Wieser 2010 [2008]: 225). Die Verwendung des populären Genres des Kriminalromans, das er mit ernsten und politisch brisanten Inhalten füllt, stieß beim Erscheinen von Abril rojo in Peru nicht nur auf Wohlwollen (Saxton-Ruiz 2010: 79-82). Nach Aussagen des Autors wurde der Roman gerade von Journalisten und Intellektuellen wegen seiner Genrezugehörigkeit getadelt, da diese wissenschaftliche Abhandlungen für passender hielten, um mit dem Thema Terrorismus umzugehen (Wieser 2010 [2008]: 126). 7
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ben geschrieben und weisen zahlreiche Rechtschreibfehler auf, die den Eindruck vermitteln, es handle sich um einen Halbanalphabeten, der die Sprache so schreibt wie er sie hört (fehlende oder zusätzliche stumme , Verwechslung von und sowie und ). Der Titel des Romans bezieht sich auf die erzählte Zeit, den Monat April des Jahres 2000 (die Handlung der Anfangskapitel liegt allerdings im März, die der letzten Kapitel im Mai). Als "rot" wird dieser Monat aufgrund einer Serie von Bluttaten charakterisierbar. In Ayacucho treibt ein Serienmörder sein Unwesen, der seinen Opfern einzelne Gliedmaßen abtrennt und diese mitnimmt. Folgende Personen fallen ihm nach und nach zum Opfer: A. Teniente Alfredo Cáceres Salazar: Rechter Arm fehlt, stark verkohlter Körper. B. Der indigene Bauer Justino Mayta Carazo: Linker Arm fehlt, Bekennerbrief: "ASESINADO POR LA JUSTICIA POPULAR / por abijeo / Sendero Luminoso" (176). C. Der inhaftierte Terrorist Hernán Durango: Ein Bein fehlt, gekreuzigt an einem Baum, Stacheldrahtkrone, Messerstich in die linke Brust, darüber ein Schild: "MUERTO POR SOPLON / Sendero Luminoso" (235). D. Padre Quiroz, ein Pfarrer Ayacuchos: Ein Bein fehlt. E. Edith, eine junge Kellnerin aus Ayacucho: Rumpf fehlt, (nur die abgetrennten Glieder werden gefunden), "lemas senderistas" (300) mit Blut an die Wand geschrieben. Anhand dieser Aufstellung der Opfer können die Ermittlungsschritte auf einen Blick nachvollzogen werden, da sie zum Auslöser des jeweils folgenden Mordes werden: Alle Zeugen und Verdächtige, die Chacaltana befragt, fallen kurz danach dem Serienmörder zum Opfer. Außerdem ist unschwer zu erkennen, dass die jeweils fehlenden Körperteile der Leichen einen vollständigen Leib ergeben, dem allerdings noch der Kopf fehlt. Im Showdown entscheidet sich, wessen Kopf das Monster aus Leichenteilen vervollständigen wird: der des Ermittlers oder der des Täters. Roncagliolo benutzt die auf diese Weise arrangierten Mordfälle dazu, Verbindungslinien zwischen der politischen Situation und der andinen Kultur zu ziehen. So existiert nach der These des Padre Quiroz ein Zusammenhang zwischen den verstümmelten Leichen und dem Mythos des Inkarri (Inka Rey), die aus der Vierteilung des Túpac Amaro II. her-
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vorgegangen sei (240f.).10 Seine Körperteile wurden an verschiedenen Stellen des Reichs eingegraben, damit sie nicht mehr zueinander finden. Nach der Legende wachsen die Glieder jedoch unter der Erde wieder zusammen, um sich zu vereinigen. Wenn sie den Kopf finden, ersteht das Inka-Reich wieder auf und Sonne und Erde verschlucken den Gott der Spanier. Über diese Legende zieht Padre Quiroz eine Verbindung zu Sendero Luminoso: "Sendero se presentó como ese resurgimiento" (241). Die Hypothese, dass die Morde eine späte Aktion des Sendero sind, steht während der ganzen Handlung im Raum und erzeugt Rätselspannung. Der Roman beginnt mit einem Bericht Chacaltanas über den Fund der ersten Leiche durch Justino Mayta Carazo im Andenort Quinua. Die Art und Weise wie Chacaltana seine Berichte ausformuliert, gewährt einen ersten Eindruck in seine Persönlichkeit: "Seguía todos los procedimientos reglamentarios, elegía sus verbos con precisión […]" (16).11 Er befolgt die Vorschriften über die Verfahrensschritte strikt und hinterfragt ihre Berechtigung nicht. In seiner Auffassung besitzt das Gesetz die Funktion und auch die Macht, Gerechtigkeit herzustellen. Der Staatsanwalt ist nicht in der Lage, über den Gesetzestext hinauszublicken und sich ein eigenständiges Urteil über moralische Fragen zu bilden. So existiert für ihn beispielsweise keine Vergewaltigung in der Ehe, weil die Institution "Ehe" der Handlung einen legalen Rahmen verleiht: "Según él, esas prácticas, dentro de un matrimonio legal, no se podían llamar violaciones. Los esposos no violan a sus esposas: les cumplen" (18). Anders verhält es sich bei unverheirateten Vergewaltigungsopfern. Hier gerät das Gesetz, das eine Gefängnisstrafe für den Täter vorsieht, in Konflikt mit den traditionellen, patriarchalen Strukturen des Andenraums: Chacaltana se preguntó qué hacer con las solteras violadas en el ordenamiento jurídico. Al principio, había pedido prisión para los violadores, conforme a la ley. Pero las perjudicadas protestaban: si el agresor iba preso, la agredida no podía casarse con él para restituir su honra perdida. Se imponía, pues la necesidad de reformar el código penal (21).
10 Túpac Amaro II. wurde 1781 hingerichtet. Saxton-Ruiz weist darauf hin, dass die Legende schon in den ersten Jahrzehnten nach der Conquista entstanden ist. Auslöser seien die Enthauptungen der Inkakönige Atahualpa (1533) und Túpac Amaru I. (1572) gewesen (Saxton-Ruiz 2010: 122f.). Roncagliolo bezieht die Legende jedoch im Roman sowie in La cuarta espada (Rongacliolo 2007: 48) auf Túpac Amaro II. Zu den verschiedenen Versionen des Mythos siehe auch Veres (2008). Für Veres erfüllt die Legende die Funktion, die Zurückgebliebenheit der andinen Welt aufzuzeigen, für die sich die weiße Bevölkerung der Küstenregion nicht interessiert. 11 Saxton-Ruiz, der in seiner Untersuchung insbesondere auf intertextuelle Bezüge des Romans zur peruanischen Literatur eingeht, erkennt eine Parallele zur Figur des Capitán Pantoja aus Pantaleón y las visitadoras (1973) von Mario Vargas Llosa, da auch für Pantoja das Schreiben von Berichten eine zentrale Funktion in seinem Leben einnimmt (Saxton-Ruiz 2010: 110f.).
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Dem Staatsanwalt geht es schlicht darum, einen Einklang von Gesetz und Tradition herzustellen, nicht jedoch um den Schutz der Opfer.12 "Gut" und "böse" reduziert sich für ihn auf die Frage nach legal oder illegal. So resümiert er seinen Lebensweg wie folgt: "No había hecho nada malo, no había hecho nada bueno, nunca había hecho nada que no estuviese estipulado en los estatutos de su institución" (22). Seine Abhängigkeit von Regeln, die er als Handlungsanweisungen für sein eigenes Leben braucht, charakterisieren ihn als gefühlskalt, vielleicht sogar amoralisch, aber vor allem auch als einen naiven, realitätsblinden Menschen, der in seiner eigenen Parallelwelt zu leben scheint. Sein Selbst konstruiert Chacaltana nahezu ausschließlich über seine Funktion im Staat, dessen Symbole ihm das Gefühl von Wichtigkeit verleihen: "[…] le gustaban los desfiles, el sonoro transcurrir de los símbolos patrios. Los uniformes lo hacían sentirse seguro y orgulloso […], las sotanas garantizaban el respeto por las tradiciones […]. Se sentaba con orgullo en el palco de funcionarios" (39).13 Chacaltanas Verhältnis zu Frauen ist auf der einen Seite von einem traditionellen Rollenverständnis geprägt, auf der anderen Seite aber auch durch starke Minderwertigkeitskomplexe seinerseits gekennzeichnet. Wiederholt fragt er sich, ob seine Exfrau Cecilia ihn wegen seines mäßigen beruflichen Erfolgs verlassen hat. Auch der Umgang mit der Kellnerin Edith gestaltet sich als äußerst schwierig. Chacaltanas unbeholfene Annäherungsversuche zeigen seine Hemmungen und seinen Mangel an Selbstwertgefühl: "Edith no tendría ninguna buena razón para respetarlo. No conseguiría un ascenso" (119). Darüber hinaus ist das Verhältnis zu seiner verstorbenen Mutter bizarr. Chacaltana hat sich von Lima nach Ayacucho versetzen lassen, die Geburtsstadt seiner Mutter. In seinem Haus hat er ein Zimmer für sie eingerichtet und unterhält sich täglich mit ihr wie mit einer Lebenden. Auch vor anderen spricht er so über sie: "Mi señora madre está aquí y yo no había venido en veinte años" (22). Dieses Verhalten wird dadurch erklärt, dass sich Chacaltana am Tod seiner Mutter schuldig fühlt. Sein Vater war Alkoholiker und hat seine Mutter und ihn geschlagen. Als verzweifelter 9-Jähriger steckte er mit der Kerosinlampe das Haus in Brand, wobei seine Mutter umkam. Dieses Erlebnis verfolgt ihn regelmäßig in Albträumen. Seine Motivation, die Morde aufzuklären, liegt zwar in erster Linie in der Erfüllung seiner
12 Noch komplizierter ist für ihn der Fall einer Vergewaltigung eines Mannes durch einen Mann, da hier die praktische "Lösung" der Heirat unmöglich ist. Auch hier leitet ihn keineswegs die Besorgnis um das Wohlergehen des Opfers oder moralische Überlegungen, sondern das Fehlen eines entsprechenden trámite: "Se preguntó cómo sancionar una violación de un hombre a otro. Tomó conciencia de que no podría casarlos por ausencia del respectivo trámite" (35). 13 In Szenen wie diesen fühlt man sich an die Erzählung "O espelho" von Machado de Assis erinnert, in der ein junger Alferes sein Spiegelbild nicht mehr sieht, nachdem er die Uniform abgelegt hat.
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Pflicht, aber auch im Wunsch, seine Albträume, deren Ursprung ihm nicht bewusst ist, durch die Aufarbeitung der Verbrechen des Sendero Luminoso loszuwerden: "Pensaba si al menos cerraba el caso para sí mismo, sus pesadillas nocturnas terminarían" (140). Von Anfang an werden Chacaltanas Diensteifer und seine Aufklärungsversuche von der örtlichen Polizei sowie vom Militär gebremst und belächelt. Dadurch sieht sich der Leser in eine doppelte Ermittlung verwickelt: in die Suche nach dem Täter (whodunit) und in die Suche nach dem Grund für das abweisende Verhalten von Polizei und Militär. Dem zweiten Rätsel geht Chacaltana nur indirekt nach, da er von der Aufrichtigkeit der Staatsdiener überzeugt ist: "No quería polemizar ni dudar de la buena fe de las instituciones" (76). Für den weniger naiven Leser, der davon ausgeht, dass der Staat selbst in die Morde verwickelt ist, entsteht hier jedoch eine zweite Rätselspannung, die sich im Laufe der Handlung löst. Comandante Carrión versucht mehrmals, Chacaltana einzuschüchtern, wobei sein Beweggrund immer deutlicher wird: Er will das Ansehen der Regierung schützen. Daher stellt er den Staatsanwalt beispielsweise als möglichen Saboteur der anstehenden Wahlen hin: "¿No será usted uno de esos fiscales politizados, no? ¿No será aprista o comunista, no? ¿Quiere usted sabotear las elecciones? ¿Eso quiere?"14 Der Polizist Pacheco argumentiert ähnlich und erklärt dem Staatsanwalt noch deutlicher, dass die Regierung in Lima keine Ermittlung in dem Fall wünscht, um den Wahlerfolg Fujimoris nicht zu gefährden: "No quiero saber qué indicios tiene. No quiero saber nada que tenga que ver con este caos. Tenemos las elecciones a la vuelta de la esquina. Nadie quiere oír hablar de terroristas en Ayacucho […]" (72). In diesen regierungstreuen Figuren hallt der unbeugsame Wille zur Machterhaltung Fujimoris wider. Deshalb weist der Polizist Chacaltana mit folgenden Argumenten zurück: "[…] aquí las decisiones las toman ellos. Si ellos no quieren investigación, no se hace investigación" (73). Chacaltana begreift nicht, dass die Regeln und Gesetze, die in Lima seinen Berufsalltag strukturiert und ihm seinen Platz in der Gesellschaft zugewiesen haben, in Ayacucho, der Kernzone der terroristischen Aktivitäten, keine Gültigkeit besitzen. Das Gebiet befindet sich immer noch im Ausnahmezustand und stellt quasi einen rechtsfreien Raum dar: "Gran parte del departamento aún está bajo la clasificación de zona roja. Las leyes están legalmente suspendidas" (73). Pachecos Aufforderung, Chacaltana solle sich von den Ermittlungen zurückzuziehen, überträgt sich schließlich metonymisch auf die Figur des Präsidenten, von dem alle Befehle aus-
14 Die Mitte-links-Partei APRA (Alianza Popular Revolucionaria Americana) stimmte 1990 zwar für Fujimori, um Vargas Llosas Mitte-rechts-Bündnis zu verhindern, stellte aber bei den Wahlen 2000 mit Abel Salinas einen eigenen Kandidaten. Der Vorwurf, Chacaltana könne ein Kommunist sein, ist noch provokanter, da er impliziert, er sei Anhänger des Sendero Luminoso.
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gehen: "El retrato del presidente pareció temblar a sus espaldas cuando dijo eso" (74). Wie von oben angeordnet wird der Mordfall daher mit einem Bericht geschlossen, in dem steht, dass der verkohlte Tote vom Blitz getroffen wurde. Wahrheit wird also nicht durch Ermittlung ans Tageslicht gefördert, sondern quasi per Befehl erlassen. Dies schärft Comandante Carrión dem Staatsanwalt ein: "Grábese en la cabeza una cosa: en este país no hay terrorismo, por orden superior. ¿Está claro?" (47). Neben der direkten Einschüchterung versucht Carrión außerdem, Chacaltanas Verdacht von Sendero Luminoso abzulenken, indem er die indigene Bevölkerung diffamiert. Aus Fallbeispiel dienen ihm die angeblichen Gewaltausbrüche beim Fruchtbarkeitsfest Turupukllay, bei dem ein "cóndor inca" auf den Rücken eines "toro español" (46) gebunden wird, der diesem dann den Rücken zerhackt und ihn qualvoll umbringt. Durch die Attribute inca und español wird deutlich, wie Comandante Carrión die unterschwellige Aussage steuert, dass sich die Andenbewohner aggressiv gegenüber der weißen und mestizischen Führungsschicht, für die symbolisch der toro español steht, verhalten. SaxtonRuiz weist darauf hin, dass die Perspektive der indigenen Bevölkerung und damit eine Erklärung der symbolischen und rituellen Bedeutung der Zeremonie außen vor bleibt. Dies hält er für ein Indiz dafür, dass die Indios in der peruanischen Gesellschaft als Menschen zweiter Klasse gelten (Saxton-Ruiz 2010: 119f.).15 Als weiteren Beleg für die Gewaltbereitschaft der cholos führt Carrión das Massaker an acht Journalisten in Uchuraccay an, bei dem sich erst nach einer langwierigen Untersuchung herausstellte, dass weder Militärs noch Terroristen als Täter in Frage kamen, sondern die campesinos. Roncagliolo beschreibt in La cuarta espada anhand von diesem realen Ereignis, wie ausweglos die Situation der Landbevölkerung tatsächlich war, und wie wenig sie von all dem, was um sie herum geschah, verstand. Er zitiert diesbezüglich aus einem Interview, das er mit einem an den Ermittlungen beteiligten Militär geführt hat: Cuando llegué a Uchuraccay, los pobladores estaban orgullosos. Me dijeron que habían matado a una columna senderista, que tenían sus armas. Las supuestas armas eran las cámaras fotográficas y las grabadoras. Los campesinos nunca las habían visto. No sabían distinguirlas de los fusiles y las pistolas (Roncagliolo 2007: 103).
Im ganzen Roman wird immer wieder deutlich, wie stark die Welt der indigenen Bauern von der der Mestizen getrennt ist. Nicht nur sprachli15 Saxton-Ruiz stellt außerdem einen intertextuellen Bezug zu José María Arguedas erstem Roman Yawar Fiesta (1941) her. Darin will die peruanische Regierung das Turupukllay-Fest verbieten und durch den spanischen Stierkampf ersetzen (Saxton-Ruiz 2010: 121).
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che Barrieren behindern die Kommunikation, sondern auch die Scheu der andinen Landbevölkerung vor der herrschenden Klasse, ihre geringe Bereitschaft, sich ihnen zu öffnen. Carrión konstatiert mehrfach die Verschlossenheit der Indios: "[…] no hablan nunca. ¿O aún no lo ha notado? Los campesinos siempre evitan aparecer, se esconden" (44). Pfarrer Quiroz beschreibt sie als "impenetrables" (56) und "insondables" (198) und auch Chacaltana bemerkt ihre Abwehrhaltung: "Recordó lo difícil que resulta interrogar a un quechuahablante, sobre todo si, además, no le da la gana de hablar. Y nunca les da la gana. Siempre temen lo que pueda pasar. No confían" (65). Dieses Verhalten kann als Symptom der kolonialen und postkolonialen Unterdrückung und Marginalisierung der indigenen Kulturen gedeutet werden. Außerdem verweist es auf die ausweglose Situation der campesinos im innerperuanischen Krieg. Zurückgezogenheit und Misstrauen sind in diesem Kontext auch Selbstschutz. Noch vor der Hälfte des Romans kommt es zu einer Unterbrechung der Ermittlungsarbeit. Comandante Carrión, dem Chacaltanas Nachforschungen zu gefährlich werden, erfindet einen Vorwand, um ihn aus Ayacucho zu entfernen. Er soll als Wahlhelfer in das abgelegene Dorf Yawarmayo reisen. Diese Zäsur erfüllt eine gesellschaftskritische und eine diegetische Funktion. Zum einen liefert sie auf der Ebene des plot neuen Nährboden für Chacaltanas Verdacht, dass der Mord von Terroristen verübt wurde, und zum anderen dient sie der Artikulation von Kritik an der Durchführung der Präsidentschaftswahlen. In den Kapiteln, die in Yawarmayo spielen, wird schnell deutlich, welche Diskrepanz zwischen den offiziellen Aussagen des Staates und der (fiktionalen) Realität besteht. Die Terroristen zeigen ihre Präsenz dort immer noch durch typische Aktionen wie an Laternenmasten aufgehängte tote Hunde und Feuerzeichen in der Form von Hammer und Sichel auf den Hügeln.16 Der verängstigte Chacaltana, der zu gerne an den "Befehl" glauben würde, dass es keinen Terrorismus mehr gibt, fragt den dort stationierten Teniente Aramayo nach diesem Wiederaufflammen der Aktivitäten, worauf dieser verständnislos antwortet: "¿Cuál rebrote? Esto no es un rebrote, Chacaltana. Esto está igual desde hace veinte años" (99). Um den Anordnungen Limas nachzukommen, verwischen Aramayo und seine Leute die Spuren der terroristischen Aktivitäten für den angekündigten Besuch Carrións am folgenden Tag, was Chacaltana absurd erscheint, da die aufgehängten Hunde in seinen Augen eine gute Gelegenheit darstellen, den scheinbar blinden Carrión endlich vom Ernst der Lage zu überzeugen. Chacaltana begreift nicht, dass Carrión die Lage sehr genau kennt und sie gerade deswegen leugnet. Teniente 16 In La cuarta espada beschreibt Roncagliolo mehrmals, wie sehr diese Aktionen Teil seiner eigenen Kindheitserinnerungen und Teil des kollektiven Gedächtnisses sind.
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Aramayo erklärt ihm mit ironischer Resignation, dass Lima erst dann reagieren wird, wenn sich der Aufwand "lohnt" und die Regierung ihre Truppen als Helden des Friedens platzieren kann: –Pero no se preocupe, señor Chacaltana –bostezó–. Tarde o temprano se darán cuenta. Y vendrán, claro que vendrán. Enviarán comisiones, congresistas, periodistas, militares, levantarán un monumento a la paz… El único problema es que, para que eso pase, nosotros tendremos que estar muertos (109).17
Das Fujimori-Montesinos-Regime wird durch Aussagen wie diese als korrupter Apparat charakterisiert, für den das Wohl und die Sicherheit der andinen Bevölkerung keinerlei Priorität und vielleicht nicht einmal Relevanz besitzen. Roncagliolo zeigt, dass diese Regierung sich einzig und allein dafür interessiert, ihre Popularität und Macht zu erhalten, was sie durch das harte Vorgehen gegen die Terroristen erreicht. Die Präsidentschaftswahlen verlaufen in Yawarmayo alles andere als geheim und frei, was Chacaltana entsetzt.18 Er versucht die örtlichen Polizisten und Militärs auf die Manipulationen aufmerksam zu machen. Doch wieder ordnen sich alle Funktionäre dem Willen der Regierung unter. In der Darstellung des Leiters des Wahllokals (Johnatan Cahuide) wird deutlich, dass sie dies nicht nur aus Opportunismus oder Angst, sondern aus Überzeugung tun: Félix, hace ocho años, yo salía a la calle y me mataban. Y ya no. Los terrucos mataron a mi madre, mataron a mi hermano y se llevaron a mi hermana para que luego la matasen los cachacos. Desde que ha llegado el presidente, no me han matado ni a mí ni a nadie más de mi familia. ¿Tú quieres que vote por otra persona? No entiendo. ¿Por qué? (115).
Der Roman zeigt an dieser Stelle, warum der Terror des Sendero Luminoso der vorangegangenen zwanzig Jahre und der Wunsch, davon befreit zu werden, dazu führten, dass die Menschen bereit waren, ein Regime wiederzuwählen, das ebenso diktatorisch wie die Militärregierungen des Cono Sur und ebenso gewaltbereit wie die Terroristen selbst war. 17 Diese Einschätzung Aramayos bestätigt Comandante Carrión später: "Lima lo sabe, señor fiscal. Ellos lo saben todo y están en todas partes. Si por alguna razón lo necesitan, entrarán a Yawarmayo y los masacrarán. El operativo saldrá en televisión. Vendrá la prensa" (181). 18 Die Gefängnisinsassen (Terroristen) lässt man nicht wählen, obwohl sie das nach dem Gesetz dürften. Bilder des Präsidenten werden in der Oficina Nacional de Procesos Electorales (ONPE) aufgehängt, obwohl dies zwei Tage vor der Wahl nicht mehr erlaubt ist. Dies rechtfertigt der Chef der ONPE, Johnatan Cahuide, mit folgenden Worten: "Eso no es publicidad electoral. Ésta es una oficina del Estado. Es una foto del jefe" (103). Die campesinos werden vor der Wahl von Polizisten eingeschüchtert: "Van por ahí y les dicen a los campesinos que ellos tienen tecnología para saber por quién han votado. O sea que votarán todos por el presidente, pues" (104). Als früherer Leiter der Wahlkampagne Fujimoris in der Region dürfte Johnatan Cahuide nicht dem Wahllokal vorstehen. Die Wahl findet außerdem ausgerechnet in der von Fujimori gegründeten "escuela pública Alberto Fujimori Fujimori" (103) statt.
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Die diegetische Funktion der Episode in Yawarmayo kulminiert in der Begegnung Chacaltanas mit dem verdächtigen Justino Mayta Carazo, der ihn unerwartet angreift, worauf dieser ihn festnimmt. Justino, der kaum Spanisch spricht, bringt Chacaltana auf eine Spur. Sein Bruder Edwin sei vor einiger Zeit beschuldigt worden, zu den Terroristen zu gehören, woraufhin die Truppen des Teniente Alfredo Cáceres Salazar das Haus seiner Familie gestürmt haben. Edwin, gegen den keine Beweise vorlagen, sei von den Militärs brutal gefoltert worden ("[…] se le practicó una técnica de investigación consistente en atar sus manos a la espalda y dejarlo colgar suspendido del techo por las muñecas, hasta que el dolor le permita proceder a confesar sus actos delictivos", 135). Um mehr darüber zu erfahren, befragt Chacaltana bei seiner Rückkehr nach Ayacucho den ehemaligen Terroristen Hernán Durango im Gefängnis. Dieser beschreibt Teniente Cáceres ebenfalls als äußerst grausamen Mörder ("[…] decía que más valen cien cholos muertos que un terrorista vivo", 147), weigert sich aber, Aussagen über Edwin zu machen, da jegliche Unterscheidung zwischen schuldig und unschuldig in den Wirren des Krieges hinfällig geworden sei: "Si uno mata con bombas caseras se llama terrorismo y si mata con ametralladoras y hambre se llama defensa. Es un juego de palabras, ¿no?" (148). Durango stellt Chacaltanas dualistisches Weltbild (Terroristen sind "böse", Staat und Gesetz sind "gut") durch eine Reihe von weiteren Fallbeispielen in Frage: Debería usted pasearse un poco entre las celdas. Vería cosas interesantes. Quizá se le quitaría esa manía de distinguir entre terroristas e inocentes, como si esto fuera cara o sello […]. Hay un reo por repartir propaganda senderista, pero es analfabeto. ¿Inocente o culpable? […]. Otro está preso por arrojar una bomba a un colegio. Pero es retrasado mental. ¿Inocente o culpable? ¿Y los que mataron bajo amenaza de muerte? Según las leyes son inocentes. Pero entonces, fiscal, todos los [!] somos. Aquí todos matamos bajo amenaza de muerte. De eso se trata la guerra popular (150).
Die Beispiele zeigen, dass viele campesinos in den Augen des Regimes zu Staatsfeinden werden, ohne Sendero Luminoso aus freien Stücken und bewusst zu unterstützen. Durango kritisiert auch, dass die Verbrechen der Militärs vom Staat nicht verfolgt werden, wohingegen die Bestrafung der campesinos unverhältnismäßig streng erscheint. Da Chacaltanas Weltbild nun immer mehr ins Wanken gerät, erzählt er Carrión von seiner Unsicherheit: "–Libramos una guerra justa, comandante –lo dijo así, en primera persona–. Es indudable. Es sólo que a veces me cuesta distinguir entre nosotros y el enemigo" (170). Erst in diesem Gespräch klärt Carrión Chacaltana (und damit den Leser) darüber auf, dass der erste Tote Teniente Cáceres war. Auch er charakterisiert Cáceres als besonders grausam. Er habe den Terroristen immer einen Arm oder ein Bein abgesägt ähnlich wie der Serienmörder jetzt, eine Parallele, die die Rätselspannung intensiviert. 259
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Chacaltanas Position verschlechtert sich zusehends, als auf ihn selbst Verdacht fällt, da er in der Nacht des Mordes an Padre Quiroz im Pfarrhaus gesehen wurde. Er sucht Schutz bei Edith, die er am darauffolgenden Morgen vergewaltigt. Durch diese Tat verkehrt er für einen kurzen Moment seine untergeordnete Position im Machtgefüge, die Position des von der Gunst anderer abhängigen, untergebenen, verlachten und die Welt nicht verstehenden Staatsdieners: No era sexo lo que había buscado, sino una especie de poder, de dominio, la sensación de que algo era más débil que él mismo, que en medio de este mundo que parecía querer tragárselo, él mismo también podía tener fuerza, potencia, víctimas (281).
Bezieht man diese Tat auf seine vorhergegangenen Überlegungen bezüglich Vergewaltigungen in und außerhalb der Ehe, so erscheint sie zwar als Unrecht, aber als eines, das leicht behoben werden kann. Konsequenterweise stellt Chacaltana auch keine Reflexionen über die Folgen der physischen und psychischen Gewalt für das Opfer an. Ganz im Gegenteil, bald glaubt er, in Edith die eigentliche Täterin gefunden zu haben. Er entdeckt im Polizeiarchiv ihren Namen und findet heraus, dass sie vor einigen Jahren für eine Terrorzelle kleine Aufträge erledigt hat und Durango kennt.19 Chacaltana ist überzeugt davon, dass sie sich an Teniente Cáceres rächen wollte, weil dieser ihre Eltern umgebracht hat. Diese vermeintliche Gewissheit verwandelt in seinen Augen die begangene Vergewaltigung wenn nicht in eine legale Tat, so zumindest in eine in Kriegszeiten geduldete Praxis, bei der die Soldaten des siegreichen Heers die Frauen des unterlegenen Feindes vergewaltigen und sie sowie ihre Männer damit erniedrigen: "Ya no sentía arrepentimiento, sino placer. El placer de la labor bien hecha" (290). Da sich Edith aber tatsächlich nicht als die Mörderin herausstellt, erfüllt Chacaltanas Verdacht unter narratologischen Gesichtspunkten die Funktion einer falschen Piste, ein gängiges Verfahren zur Spannungssteigerung in der Kriminalliteratur. Anders als in pseudonormativ konfektionierten Rätselromanen, bei denen eine falsche Fährte im interpretatorischen Nichts verpufft, das heißt, ein Ablenkungsmanöver ohne sinnstiftenden Mehrwert darstellt, kann die falsche Piste in Roncagliolos Roman für die Interpretation genutzt werden. Edith, die vom fast wahnsinnig gewordenen Chacaltana geradezu verteufelt wird, steht in einer Parallele zu jenen Figuren, die der ehemalige Terrorist Hernán Durango als Beispiele dafür angeführt hat, dass die Kategorien "schuldig" und "unschuldig" im Kontext des inner-
19 Nach Saxton-Ruiz’ Angaben handelt es sich bei der Figur um eine Anspielung auf eine historische Person. Edith Lagos, Mitglied des Sendero Luminoso, gehörte zu den Heldengestalten der Anfangsphase der Kämpfe. Sie kam 1982 im Alter von 19 Jahren bei Kampfhandlungen ums Leben (SaxtonRuiz 2010: 127).
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peruanischen Krieges sinnentleert sind, da Edith als 16-Jährige nach dem Tod ihrer Eltern keine andere Wahl hatte, als mit den Terroristen zu kooperieren. Nachdem Edith am nächsten Tag tot in ihrem Zimmer aufgefunden wird, verwandelt sich Chacaltana in den Hauptverdächtigen für diesen und alle anderen Morde. Nun zieht er jedoch die richtigen Schlüsse und tritt Comandante Carrión gegenüber. Sein Gedankengang wird dem Leser aber nicht mitgeteilt, was die Spannung vor dem Showdown steigert. In der letzten Konfrontation zwischen Carrión und Chacaltana kommt es zur Lösung des whodunit: Der Comandante ließ den fanatischen und grausamen Teniente Cáceres ermorden, weil dieser Milizen zum Kampf gegen die Restzellen des Sendero Luminoso aufstellen wollte. Da jedoch die Wahlen sowie die touristisch enorm wichtige Semana Santa bevor standen, wollte Carrión eine bewaffnete Auseinandersetzung und die damit verbundenen negativen Schlagzeilen um jeden Preis abwenden. Die weiteren Morde gab Carrión in Auftrag, um die Zeugen auszuschalten, die Chacaltana befragt hat. Nach Carrións Plan sollte Chacaltana das letzte Opfer der Reihe sein und den Kopf des Túpac Amaru liefern. Im Showdown ändert er jedoch sein Vorhaben und reizt Chacaltana so lange, bis ihn dieser erschießt. Carrión übergibt Chacaltana davor einige wirr beschriebene Seiten Papier. Diese identifiziert der Leser als die eingangs erwähnten Kurzkapitel, in denen es von Rechtschreibfehlern wimmelt und die in wirren Assoziationen das Bewusstsein des Mörders widerspiegeln. Das chaotische Wirrwarr der Gedanken auf diesen Seiten bildet einen krassen Gegensatz zu den Gesetzestexten, an die Chacaltana glaubt: En el caos no hay error, y en esos papeles ni siquiera la sintaxis tenía sentido. Chacaltana había vivido toda su vida entre palabras ordenadas, entre poemas de Chocano20 y códigos legales, oraciones numeradas u ordenadas en versos. Ahora no sabía qué hacer con un montón de palabras arrojadas al azar sobre la realidad. El mundo no podía seguir la lógica de esas palabras. O quizá todo lo contrario, quizá simplemente la realidad era así, y todo lo demás eran historias bonitas, como cuentas de colores, diseñadas para distraer y fingir que las cosas tienen algún significado (315).
Chacaltana beginnt nun zu begreifen, dass sich die Realität einem Zugriff über geordnete, vorgefertigte Diskurse über Recht und Unrecht 20 Saxton-Ruiz arbeitet die Funktion von Chacaltanas Chocano-Lektüre heraus und stellt sie der Arguedas-Lektüre des Terroristen Durango gegenüber. Die Lektürevorlieben der beiden Figuren charakterisieren ihr Weltbild: "Roncagliolo contrasta (de manera reduccionista) dos visiones sobre el imaginario nacional y el arte; Chocano representa la perspectiva limeña, el proceso de mestizaje como armonioso y la literatura artificiosa del modernismo hispanoamericano, mientras que Arguedas ofrece una visión de la periferia, la problemática de clase y de raza en el Perú y una literatura comprometida" (Saxton-Ruiz 2010: 133).
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entzieht und Regeln und Gesetze daher nicht mehr als Fiktionen ("historias bonitas") darstellen, die dazu bestimmt sind, dem sinnlosen Chaos der Welt eine scheinbare Ordnung zu verleihen. Nachdem das Motiv für die Morde geklärt ist, bleibt noch die Frage nach dem Grund für die gezielte Zerstückelung der Leichen. Hier widerstand der Autor der Versuchung nicht, dem Serienmörder in bester serial-killer-Tradition eine Art missionarischen Gestus einzuschreiben. Carrión verleiht seiner Tat eine mystische Bedeutung, da er behauptet, dass ihm die Toten aus den Massengräbern die Morde aufgetragen haben: "Me pedían que la sangre no fuese derramada en vano, Chacaltana, y yo lo hice: un terrorista, un militar, un campesino, una mujer, un cura" (317). Durch die Mordserie bestraft er stellvertretend alle am Krieg beteiligten Statusgruppen der peruanischen Gesellschaft und setzt sie als frankensteinähnlichen Túpac Amaru zu einer grotesken Figur zusammen, deren männliche Gliedmaßen von einem weiblichen Körper zusammengehalten werden (dem Ediths).21 Die Figur des Carrión kann insgesamt aber nicht überzeugen. Wie sich seine Klarsicht in Bezug auf seine Funktion im Staat mit seinem chaotischen Geschreibsel und seiner offensichtlichen Verwirrung verbinden lassen, bleibt unklar. Paradoxerweise versucht er ja auf der einen Seite zu verhindern, dass Meldungen über terroristische Aktivitäten in die Presse gelangen, hinterlässt aber auf der anderen Seite bei seinen Opfern gefälschte Botschaften von Sendero Luminoso, wodurch sich dieses Risiko erhöht. Das Motiv der quasi-religiösen Sühneaktion, das die Diegese des Romans eigentlich nicht braucht, nützt Roncagliolo dazu, die Spannung zu steigern und dem Rätsel eine geheimnisvollere Note zu verleihen. Der Roman endet mit dem Abschlussbericht eines Geheimdienstagenten. Demnach wird Chacaltana aller Morde angeklagt, hat sich jedoch mittlerweile abgesetzt. Man munkelt, er würde Milizen organisieren, womit angedeutet wird, dass er in die Fußstapfen des fanatischen Teniente Cáceres tritt und den erbitterten Kampf gegen den Terrorismus trotz aller Ambivalenz weiterführt. Schlussfolgerungen Da Abril rojo im Gegensatz zu den anderen bisher behandelten "Gewaltromanen" ein echtes whodunit enthält, ist hier die Untersuchung der Ermittlungsmethode ergiebiger. Das oberste Ziel des Ermittlers 21 An dieser und an anderen Stellen dieses Kapitels wurde ansatzweise sichtbar, dass eine Untersuchung des Romans hinsichtlich Fragestellungen der gender studies interessante Bedeutungsebenen erschließen könnte, worauf hier zugunsten der drei zentralen Analysefragen nicht in aller Ausführlichkeit eingegangen wurde.
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Chacaltana besteht darin, seine Berichte ordnungsgemäß abzufassen und den Fall abzuschließen. Während seiner Arbeit zweifelt er nicht daran, dass das Gesetz dazu geeignet ist, Gerechtigkeit und Ordnung herzustellen. Konsequenterweise beschränkt sich seine Ermittlungstätigkeit auf die gewaltfreie, legale Vernehmung von Zeugen. Seine strikte Befolgung der Dienstvorschriften und des Gesetzes, also staatlicher Diskurse, engt sein Blickfeld stark ein und verhindert, dass er die Motive der anderen Figuren versteht und dem Täter zügig auf die Schliche kommt. Im Laufe der Handlung wird außerdem deutlich, dass der stellvertretende Staatsanwalt nicht im Sinne der Staatsmacht handelt, die ihre eigenen Gesetze für nichtig erklärt. Den Willen der Regierung setzen die Polizei und das Militär durch und greifen dabei zu brutalen Mitteln wie Folter und Mord, wodurch sie als "böse" markiert werden. Darüber hinaus behindern sie auf Anweisung von oben die Wahrheitsfindung. Der Grund dafür liegt im Streben der Regierung, vor der Präsidentschaftswahl keine Negativmeldungen in die Presse gelangen zu lassen, die ihr Ansehen gefährden könnte. Der Showdown, in dem der Täter vom Ermittler erschossen wird, löst nur im ersten Moment pseudonormative Erwartungen ein. Dass hier nicht das "Gute" über das "Böse" siegt, ist offensichtlich. Erstens verkörpert der amoralische Chacaltana nicht das "Gute", bestenfalls das Legale, aber auch dies nur zum Teil, da er selbst zum Vergewaltiger wird. Zweitens wird im abschließenden Bericht des Geheimagenten deutlich, dass dem Staatsanwalt zudem die Schuld für Morde gegeben wird, die er nicht begangen hat, ihm also Unrecht widerfährt. Eine kathartische Wiederherstellung der Ordnung wird folglich verweigert. Da am Ende ein Angehöriger des Militärs sich als der Täter erweist, erscheint der Staat in einem besonders schlechten Licht. Roncagliolos Roman spielt in einer Gesellschaft mit einer demokratisch gewählten Regierung. Im Unterschied dazu erleben die Figuren in Argemís Roman Formen institutionalisierter Gewalt während der argentinischen Militärdiktatur. Die Situation ist dennoch vergleichbar, da das Fujimori-Regime das geltende Rechtssystem außer Kraft gesetzt hat, so dass im Peru der 1990er Jahre ebenfalls eine Form von institutionalisierter Gewalt herrschte und die Menschen unter der Angst vor dem Militär genauso litten wie unter den Terroristen. In Roncagliolos Roman werden viele Gewalttaten geschildert, die auf realen Begebenheiten beruhen: die Ermordung der Journalisten von Uchuraccay, die Entdeckung von Massengräbern oder die toten Hunde an den Laternenmasten. Andere Gewalttaten sind zwar fiktiv, aber innerhalb dieses Kontexts überzeugend: die Grausamkeit der Militärs, die am Beispiel von Teniente Cáceres gezeigt wird, und natürlich die Serienmorde des Comandante Carrión. Die Darstellung einer großen Zahl von Gewalttaten ist typisch für das Subgenre des Serienmörder-Romans, das Abscheu, Ekel und 263
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Schockeffekte produzieren will. Diese pseudonormativen Effekte löst Roncagliolos Roman auch ein, so dass er den Erwartungen an das Genre entspricht. Da die Gewalttaten aber ganz konkret von der politischen Situation motiviert sind, leistet der Roman noch mehr. Er bringt diese gewaltreiche Epoche Perus einem Massenpublikum näher und kann aufklärerisch wirken, da er die Unterscheidung von "gut" und "böse", legal und illegal beziehungsweise schuldig und unschuldig problematisiert und letzten Endes aufgibt. Der pseudonormativen Utopie vom möglichen Ende der Gewalt verwehrt er sich ebenfalls. Er zeigt vielmehr, dass Gewalt neue Gewalt generiert, da er andeutet, dass Chacaltana aufgrund seiner Erfahrungen radikal wird und auf Terroristenjagd geht. Im Gegensatz zu den drei bisher behandelten "Gewaltromanen" steht in Abril rojo nicht die Figur des Täters im Mittelpunkt des Interesses. Der Fokus liegt hier auf dem Ermittler Chacaltana. Seine Identität konstruiert er über seine Funktion im Staat und die Erfüllung seiner Pflichten. Dienstvorschriften und Gesetzestexte stellen für ihn strikte Handlungsanweisung dar, hinter denen er als Individuum fast völlig verschwindet. Daher ist er nicht in der Lage, eigene Interpretationen der Wirklichkeit zu leisten und nach ethischen Prinzipien zu handeln. Aufgrund seiner Minderwertigkeitskomplexe ist er außerdem stark abhängig von der Fremdwahrnehmung durch andere Vertreter des Staates und insbesondere durch die weiblichen Figuren in seinem Umfeld. Seine Misserfolge führen schließlich dazu, dass er sich in einen Täter verwandelt: Er vergewaltigt Edith und wechselt kurzzeitig auf die Seite der Mächtigen, derjenigen Vertreter des Staates, die die "Feinde" durch illegale Gewaltanwendung bestrafen. Aufgrund dieser Eigenschaften steht er im auffälligen Kontrast zum pseudonormativen, integren Scharfsinnhelden.
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5.3. Attentate auf Politiker 5.3.1. Élmer Mendoza: Un asesino solitario (Mexiko, 1999) Der Autor: Élmer Mendoza Élmer Mendoza Valenzuela, geboren 1949 in Culiacán im mexikanischen Bundesstaat Sinaloa, studierte Nachrichten- und Elektrotechnik (Ingeniería en Comunicaciones y Electrónica). Nach dem Studium arbeitete er als Ingenieur in einer Firma, die Farbfernsehbildröhren herstellte. In dieser Zeit schrieb er seine ersten Erzählungen, deren Veröffentlichung er aus eigener Tasche finanzierte. Sie erschienen 1978 unter dem Titel Mucho que reconocer. Danach entschied sich Mendoza, Hispanistik an der UNAM zu studieren, um sich das Wissen anzueignen, das er als Schriftsteller brauchte (Farfán Cerdán 2008). Bevor er 1999 seinen ersten Roman vorlegte, hatte er fünf Erzählbände und zwei Bände mit crónicas veröffentlicht. Aber erst mit Un asesino solitario gelang ihm der Durchbruch beim Lesepublikum sowie bei der Kritik. Es folgten die Kriminalromane El amante de Janis Joplin (2001, Premio Nacional de Literatura José Fuentes Mares), Efecto Tequila (2004), Balas de plata (2008, Premio Tusquets de Novela) und La prueba del ácido (2011). In den letzten beiden ermittelt der Polizist Edgar "el Zurdo" Mendieta. Sie schließen daher am deutlichsten an die Gattungstradition an. Mit Cóbraselo caro (2005), einer literarischen Spurensuche nach der Figur des Pedro Páramo, entfernte sich der Autor nur zeitweilig vom Genre des Kriminalromans. Mendoza ist außerdem Verfasser mehrerer Theaterstücke für Kinder. Heute unterrichtet er Literaturwissenschaft an der Universidad Autónoma de Sinaloa und erteilt Kurse für angehende Schriftsteller in verschiedenen mexikanischen Städten. Mendozas Romane decken mehrere Subgattungen des Kriminalromans ab. Sie erzählen von Gewalt und Verbrechen aus der Perspektive eines Auftragsmörders (Un asesino solitario), aus der eines naiven Jungen aus der Unterschicht, der ins Drogengeschäft schlittert (El amante de Janis Joplin), eines mexikanischen Spions (Efecto Tequila) und eines Polizisten (Balas de plata).1 Haupthandlungsort ist in der Regel Culiacán, insbesondere die Colonia Popular, genannt Col Pop, in der der Autor selbst lebt.
Die unterschiedlichen Perspektiven bedingen verschiedene Erzählstrukturen. Einmal konzentriert sich die Handlung auf das Gelingen, Misslingen oder Verhindern eines geplanten Verbrechens, ein anderes Mal auf die nachträgliche Rekonstruktion eines Mordes.
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Aber auch andere Städte des mexikanischen Nordens, Mexiko-City sowie fremde Länder werden zeitweilig zum Schauplatz (Spanien, Brasilien und Argentinien in Efecto Tequila). Die zentralen Themen sind das organisierte Verbrechen im Umfeld der Drogenmafia, das Schicksal sozial benachteiligter Bevölkerungsschichten, die in den Dunstkreis der narcos gelangen, Korruption und Betrug in der Politik, staatlich verübte Verbrechen, regionale Konflikte wie der von Chiapas und die Besonderheiten des mexikanischen Nordens. Auffällig an Mendozas Literatur ist sein Umgang mit der Alltags- und Gaunersprache, die häufig eine regionale Färbung enthält. Durch die Verwendung verschiedener Sprachregister versucht er nach eigenen Aussagen, die Individualität seiner Figuren zu prägen (Wieser 2010: 178). Der Kontext: Mexikos Krise in den 1990er Jahren Hintergrund der Romanhandlung von Un asesino solitario ist eine wahre Begebenheit: die Ermordung Luis Donaldo Colosios im Wahljahr 1994. Mexiko befand sich zu dieser Zeit in einer besonders schwierigen Phase. Am 1. Januar wurde unter der Regierung von Carlos Salinas de Gotari das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA)2 ratifiziert. Dieser Schritt war das Ergebnis jahrelanger Bemühungen der PRIRegierung, das Land in den Weltmarkt zu integrieren und ausländisches Kapital anzuziehen. Am selben Tag kam es in Chiapas zu einem bewaffneten Aufstand des Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN) unter der Führung von Subcomandante Marcos. Der Versuch der Regierung, den Aufstand militärisch niederzuschlagen, scheiterte und zwang sie, in langwierige Friedensverhandlungen einzutreten. Am ChiapasKonflikt wurde das starke Gefälle zwischen dem modernen, urbanen Mexiko und der rückständigen Provinz augenfällig. Verantwortlich für die schlechten Lebensbedingungen der vornehmlich indigenen Bevölkerung in Chiapas war unter anderem die auf Latifundien betriebene Viehzucht, die zur Vertreibung indianischer Familien, Landbesetzungen und Morden führten. Aber auch die fehlende infrastrukturelle Förderung der Region sowie der Verfall des internationalen Kaffeepreises Anfang der 1990er wirkten sich negativ auf die Situation aus. Das EZLN forderte daher mehr Demokratie, die Durchführung infrastruktureller Maßnahmen, allgemeine ökonomische Reformen sowie die Aufwertung der indigenen Kultur z. B. durch die Offizialisierung der Indianersprachen (Zimmermann/Kruip 1996: 103-111).
2 Die offizielle Abkürzung lautet auf Spanisch TLCAN, was für Tratado de Libre Comercio de América del Norte steht. Meistens wird jedoch die vereinfachte Variante, TLC, verwendet.
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Durch den Aufstand in Chiapas sowie das Inkrafttreten des NAFTAVertrags geriet der Wahlkampf des Präsidentschaftskandidaten des PRI, Luis Donaldo Colosio, vorübergehend ins Stocken. Er wurde durch Nachrichten über diese Ereignisse aus den Medien verdrängt. Da Colosio als Sozialminister Mitverantwortung für die Situation in Chiapas trug, verlor er an Überzeugungskraft. Nachdem seine Kampagne jedoch wieder an Fahrt gewonnen hatte, wurde er auf einer Wahlveranstaltung in Tijuana am 23. März 1994 aus nächster Nähe erschossen (Lauth 1996: 54). Zwar sitzt der Attentäter, Mario Aburto Martínez, seither im Hochsicherheitsgefängnis von La Palma, hat aber die Namen seiner Auftraggeber nie preisgegeben. Verschiedene Theorien legen nahe, dass der damalige Präsident Carlos Salinas de Gortari, sein Nachfolger Ernesto Zedillo oder der Friedensgesandte Manuel Camacho Solís, der eine vorläufige Waffenruhe mit den Zapatisten ausgehandelt hatte, die Drahtzieher waren und aufgrund innerparteilicher Machtkämpfe das Attentat in Auftrag gaben (Islas Rodríguez 2008). Der Mord an Colosio sowie der Chiapas-Konflikt stehen symptomatisch für den beginnenden Zerfall des PRI, der sich danach nur noch eine Wahlperiode halten konnte (Tobler 2007: 349 u. 356). Der Roman: Un asesino solitario3 Un asesino solitario handelt von einem gescheiterten Attentat auf den Präsidentschaftskandidaten des PRI namens Barrientos, mit dem deutlich auf Colosio angespielt wird. Am 22. März soll das Attentat in Culiacán stattfinden, also einen Tag vor dem realen Ereignis. Der fiktive Attentäter Jorge Macías wird von seinen Freunden und Kollegen in Anlehnung ans Englische "Yorch" (George) genannt. Er ist der autodiegetische Erzähler des Romans. Yorch richtet seine Geschichte an einen namenlosen Freund, den er mit carnal anspricht und der sich nie selbst zu Wort meldet. Sein Diskurs kann auch als Selbstgespräch gedeutet werden, wenn man die Anrede des Kumpels (carnal) als bloße Floskel mit Füllwortcharakter auffasst. Die interne Fokalisierung ermöglicht es dem Leser, die Gedankengänge, Einstellungen, Ansichten und Gefühle des Attentäters ungefiltert mitzuerleben. Dialoge werden zwar häufig in Form von zitierter Figurenrede wiedergegeben, aber ohne Anführungszeichen und Zeilenumbruch gedruckt, so dass sie in Macías Monolog
Bisher sind zwei Aufsätze zu Un asesino solitario erschienen: Guzmán (2004) und Corona (2005). Außerdem spricht Paúl Arranz (2003) den Roman kurz an. Teile der folgenden Untersuchung habe ich bereits 2010 auf dem Kolloquium Nuevas Narrativas Mexicanas in Lausanne präsentiert. Der Vortrag konzentriert sich stärker als die vorliegende Arbeit auf die Parallelen zwischen dem Roman und den Essays von Octavio Paz und enthält einige andere Aspekte nicht, die hier behandelt werden (vgl. Wieser 2012).
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aufgehen. Dieser Eindruck verstärkt sich dadurch, dass die Sätze häufig nur durch Kommata getrennt werden. Die Sprache des Erzählers ist mit sozialen und regionalen Merkmalen angereichert. Es ist die Sprache der narcos und Meuchelmörder aus "Culichi" (Culiacán). Sie enthält zahlreiche mexikanische Redewendungen (pues sí ni modo que qué; a falta de pan tortilla; ahí nos vidrios cocodrilo etc.), Straßenslang (carnal, morra, pachocha, purrún, machín, chilo, simón, cincho, camellar etc.) sowie Anglizismen, die nicht nur im Norden Mexikos verwendet werden (wachar – to watch, un raite – a ride, espich – speech). Die Idiosynkrasie des Erzählers zeichnet sich außerdem durch die häufige Wiederholung bestimmter Sätze aus, die sich leitmotivisch durch den Roman ziehen (así es la vida, unas veces se pierde y otras se deja de ganar; hay que ser puerco pero no trompudo etc.). Die erzählte Zeit springt zwischen der Ebene der Haupthandlung (vom Mordauftrag im Januar bis zum Tag der geplanten Ausführung am 22. März 1994) und der Ebene der jüngsten Vergangenheit (Yorchs Besuch in Culiacán von Dezember bis zum 20. Januar) hin und her. In beide Zeitebenen sind zudem Analepsen zur Jugend des Protagonisten in Form von Erinnerungen eingeflochten. Die Erzählperspektive sowie das Zeitarrangement erzeugen einen Spannungsverlauf, der auf die Zukunft gerichtet ist, das heißt auf den Ausgang des Attentats. Wie bei den anderen Romanen mit einem Verbrecher als Protagonisten (Melo, Franco, Argemí), bietet es sich auch hier wieder an, den Täter zunächst zu charakterisieren und seinen Werdegang zu rekonstruieren. Yorch arbeitet für jefe H in der Funktion eines Sicherheitsbeauftragten der PRI-Regierung und begleitet hohe Politiker bei öffentlichen Auftritten. Kurz vor Weihnachten wird ihm mitgeteilt, dass der Präsident seine Dienste nicht mehr benötigt, was ihn in eine Selbstwertkrise stürzt. Ein anderer Auftragsgeber, el Veintiuno, heuert ihn jedoch kurze Zeit später als Meuchelmörder für Barrientos an. Nach anfänglichem Zögern wegen des hohen Risikos, geht Macías in Anbetracht des Honorars von einer halben Million Dollar darauf ein. Als erfahrener guarura (Bodyguard) und gatillero vertraut er niemandem, nicht einmal seiner Mutter, seiner Geliebten oder seinen Jugendfreunden. Er weiß, dass die kleinste Indiskretion tödlich sein kann, wenn es sich um ein politisches Attentat handelt, das in aller Öffentlichkeit verübt werden soll, und verpflichtet sich zur Einsamkeit und Verschwiegenheit, wie ihm ein Kumpel geraten hat: Compa, me dijo, este pinche negocio es el más individualista de todos, es onda de uno y nomás, y ay de usted si anda arrastrando raza nomás porque son sus cuates o porque se los pusieron, los más buenos no sirven, y es neta carnal, al nivel en que yo camellaba era mejor en solitario (40).
Seine Entscheidung für die Einsamkeit beruht einerseits auf Erfahrungswissen über das Verbrechermilieu, deutet aber andererseits auch 268
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auf eine Eigenschaft hin, die für Octavio Paz einen Grundzug des mexikanischen Nationalcharakters darstellt. Paz’ Essaysammlung El laberinto de la soledad (1950) enthält dieses Merkmal bereits im Titel, genauso wie Élmer Mendozas Roman. Im Essay "Máscaras mexicanas" erklärt Paz, warum sich der mexikanische Mann nach außen verschließt: […] el ideal de la "hombría" consiste en no "rajarse" nunca. Los que se "abren" con cobardes. Para nosotros […] abrirse es una debilidad o una traición. El mexicano puede doblarse, humillarse, "agacharse", pero no "rajarse", esto es, permitir que el mundo exterior penetre en su intimidad (Paz 2002 [1950]: 165).
Die Verschlossenheit gehört demnach zum mexikanischen Männlichkeitskonzept im Allgemeinen und ist in diesem Kontext daher weit mehr als ein Schutzmechanismus eines Verbrechers. Jorge Macías’ Verhalten verweist auf einen ganzen Komplex von Eigenschaften, die zum Stereotyp des mexikanischen macho gehören (vgl. Wieser 2012). Yorch hält sich darüber hinaus an eine Reihe von weiteren Grundsätzen und Regeln, weswegen er von seinen Kollegen el Europeo genannt wird: "me decían el Europeo dizque porque tenía varias reglas y porque me gustaba trabajar solo" (87). Dass er sich dadurch erst recht als mexikanischer Mann und nicht als Europäer (der sich dem Stereotyp nach, besonders gern an Regeln hält) charakterisiert, wird bei näherer Betrachtung deutlich. Seine erste Regel besagt, dass er keine Aufträge annehmen darf, die in irgendeiner Weise mit Drogendealern zu tun haben. Er kennt das Geschäft der narcos und weiß daher, dass dort Vorsicht, Erfahrung und eine ruhige Hand am Abzug nicht ausreichen, um sich zu schützen. Macías beschreibt den Drogenhandel als absolut gnadenloses Geschäft, bei dem die Beteiligten oft ihre besten Freude oder Familienmitglieder opfern müssen, was mit seiner traditionellen Vorstellung von Familienzusammenhalt und Freundschaft kollidiert: "[…] te encargan un jale y resulta que al que te tienes que bajar es de tu raza, no pues no, hay que ser puerco pero no trompudo" (112). Macías’ zweite Regel verbietet es ihm, Aufträge anzunehmen, die mit Frauen zu tun haben. Er verabscheut Gewalt gegen Frauen und möchte auch nicht mit Fällen zu tun haben, in denen unkontrollierbare Leidenschaften im Spiel sind. Drittens lässt er sich aus religiösen Skrupeln grundsätzlich nie mit Priestern ein. Diese drei Regeln betreffen einerseits den Bereich, in dem die Gewaltbereitschaft in Mexiko seit den 1990ern stark zugenommen hat, den Drogenhandel, und andererseits Kernbereiche der mexikanischen Kultur, in der der Familienzusammenhalt, die Ehre des Mannes sowie Religiosität wichtige Werte darstellen. Die Familie scheint für Macías der einzige unantastbare Bereich zu sein. Er zieht sich oft zu seiner Mutter in Culiacán zurück (über seinen Vater spricht er nicht) und fühlt sich dort sicher. Der Bereich der Religion ist im mexikanischen Kontext häufig von Hypokrisie und gleichzeitig großer Leidenschaftlichkeit gekennzeichnet, 269
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was im Kult um die Virgen de Guadalupe besonders deutlich hervortritt. Yorch kümmert sich zwar nicht um religiöse oder moralische Grundsätze, wenn es darum geht, einen Auftragsmord auszuführen; wenn er aber einem Priester etwas antun soll, fürchtet er um sein Seelenheil. Politische Morde scheinen demgegenüber einen entscheidenden Vorteil zu haben: "Con los políticos es otro rollo, ahí se descabechan a uno y los otros negocian, casi siempre saben de donde les llegó el chingazo y con quién hay que ponerse de acuerdo, a poco no, ahí no hay bronca" (112). Der Killer hält das Geschäft mit der Politik also für kalkulierbar und kontrollierbar. Dass es das nicht ist, wird er im Laufe des Romans feststellen müssen. Yorchs Werdegang, von dem der Leser in mehreren Analepsen erfährt, steht exemplarisch für ein System, in dem Legalität und Illegalität nicht sinnvoll unterschieden werden können. Er und sein Jugendfreund Willy waren als junge Männer im Desierto de los Leones4 in einem Ausbildungslager einer Schlägertruppe ("un cuerpo especial de felones, algo así como una pandilla grandota que haría desmadre en toda la ciudad", 88), wo sie Schieß- und Karateunterricht erhielten und mit Drogen dealten. Schließlich erklärt Yorch, dass die Regierung diese jungen Vandalen auf den Straßen rekrutiert hat, um sie für ihre Zwecke einzusetzen. Damit bezieht sich Mendoza auf ein real existierendes Problemfeld, auf die grupos de choque, porros oder grupos porriles. Ursprünglich eine Art Stimmungsmacher beim American Football, bildeten sie ab Ende der 1960er studentische Vereinigungen in den öffentlichen Oberschulen (preparatorias) und Universitäten, vor allem in der UNAM und im IPN. Ihre Mitglieder schreiben sich für gewöhnlich als Studenten ein, widmen sich aber tatsächlich Verbrechen wie Drogenhandel und Vandalismus.5 Nach dem Massaker von Tlatelolco wurden sie von der PRI-Regierung bezahlt, damit sie studentische Bewegungen in Misskredit brachten (Pérez o. J.). Die Schlägergruppen rekrutieren in der Regel Jugendliche aus sozial schwachen Schichten, die in prekären Verhältnissen aufgewachsen sind und sich mit Drogen, Alkohol und bezahlten Schlägereien ködern lassen. Nicht nur der PRI, sondern auch der PRD und andere Parteien unterhalten mittlerweile Kontakte zu porros. Da sie von der Politik protegiert werden, genießen die Schläger meist Straffreiheit (Olivares Alonso 2008).
Dabei handelt es sich um einen bewaldeten, 1.866 Hektar großen Nationalpark im D.F. Yorch und Willy schreiben sich zwar nicht als Studenten ein, ihre Aktionen gleichen jedoch denen der porros. Mendoza hat selbst den Werdegang der beiden Figuren mit den porros in Verbindung gebracht (Wieser 2010: 183). Auch Guzmán bezieht die Aktivitäten der Figuren auf die grupos porriles (Guzmán 2004: XV). 4 5
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In Mendozas Roman werden Willy und Yorch im erwähnten Ausbildungslager gegen "kommunistische" Studenten aufgestachelt und legen einen Treueschwur auf den Präsidenten ab: [Un bato del gobierno] nos echó el rollo de que los pinches comunistas se querían apoderar de México, Ándese paseando, pensábamos nosotros, ¿Lo van a permitir?, gritaba el bato bien enchilado, Ni madres, respondíamos nosotros, bien prendidos y bien pachecos, ¿Permitirán que ideas extranjeras normen nuestra vida y la de nuestras familias?, Ni madres, ¿Permitirán que nuestras hijas y hermanas caigan en las garras de estos emisarios de otros países?, Nel ni madres carnal, y con eso tuvimos, la raza se puso que parecía que tenía rabia, nomás les faltaba ladrar a los cabrones. Luego juramos lealtad a la patria, al presidente y a las instituciones y nos comprometimos a defender el país con nuestras vidas, y a pelear contra los comunistas y sus agentes, bien chilo carnal, así nos hacía el corazón de la emoción (90).
In dieser Passage wird deutlich, mit welch einfachen Mitteln diese Jugendlichen manipuliert und polarisiert werden. Die Parolen des Regierungsgesandten zielen auf einen Bereich, der in der mexikanischen Gesellschaft einen sehr hohen Stellenwert hat: die Familie. Eine der wichtigsten Funktionen des macho besteht darin, seine Familie zu versorgen und zu verteidigen. Indem der Beamte die linken Studenten als Bedrohung dieser Grundstruktur diffamiert, gelingt es ihm, den Hass der Schläger zu schüren. Danach ist es ein Leichtes, die eigentlich völlig ideologielosen Jugendlichen einen Treueschwur auf den Präsidenten ablegen zu lassen und sie an ihren ersten Einsatzort zu schicken: ins Stadtviertel San Cosme im Juni 1971. Yorch und Willy beteiligen sich dort am sogenannten Halconazo6, was der Erzähler ganz beiläufig erwähnt: "A nosotros nos tocó hacer el numerito del 10 de junio, no sé si oíste hablar de ese desmadre, en donde casi ni nos animamos a arrimarles una chinga a los estudiantes, volaron pelos carnal, bien machín" (88). Diese verharmlosende und zynische Ausdrucksweise ist charakteristisch für den Protagonisten, dessen Selbstwertgefühl daraus entspringt, dass er mit physischer Gewalt Macht über andere ausübt. Das funktioniert dann besonders gut, wenn der Auftraggeber ihm Straffreiheit zusichert, wie es beispielsweise auch jefe H tut: "[…] te pagaban una bicoca pero
Nach der Matanza de Tlatelolco von 1968 setzte der neue Präsident, Luis Echeverría Álvarez, auf soziale Reformen, die er mit einer populistischen Rhetorik ankündigte. Er ließ politische Gefangene frei und gewährte den in Chile exilierten Studentenführer die Rückkehr. Ende 1970 begannen die Studenten erneut zu demonstrieren. An der Universidad Autónoma de Nuevo León (UANL) streikten sie aufgrund einer Universitätsreform, wurden aber von der Regierung am 5. Juni 1971 zum Einlenken bewegt. Am 10. Juni 1971 gingen jedoch die Studenten der UNAM und des IPN im Viertel San Cosme im D.F. auf die Straßen, um ihre Kommilitonen von der UANL zu unterstützen. Dies fasste die Regierung als Provokation auf und ließ sie durch eine paramilitärische Truppe namens Los halcones niedergeschlagen. Daher erhielt das Ereignis den Namen Halconazo, ist aber offiziell als Matanza del Jueves de Corpus benannt, da es an Fronleichnam stattfand. Echeverría klärte die Vorkommnisse nie auf (Sánchez Andrés 2010: 59f.).
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tenías poder, podías madrear, embotellar, torturar y ni quien te dijera nada, nadie se metía con tus huesos; eras una mierda si tú querías, pero se te respetaba […]" (34f.). Macías ist der Extrempunkt einer Kultur, in der Männer zum Machismo erzogen werden und von klein auf beigebracht bekommen, kein pendejo, sondern ein macho cabrón oder chingón zu sein.7 Diese Konzepte lassen sich durch das Verb chingar etwa nach folgender Logik verbinden: El cabrón/chingón es el que chinga y el pendejo el que se deja chingar (mein Satz). An Yorchs Sprachgebrauch kann dies häufig nachgewiesen werden. In den vorangegangenen Zitaten verwendet er beispielsweise chingazo und chinga. Octavio Paz erklärt in seinem Essay "Los hijos de la Malinche" die Bedeutung des Verbs chingar wie folgt: El verbo denota violencia, salir de sí mismo y penetrar por la fuerza en otro. Y también, herir, rasgar, violar –cuerpos, almas, objetos–, destruir. Cuando algo se rompe, decimos: "Se chingó." Cuando alguien ejecuta un acto desmesurado y contra las reglas, comentamos: "Hizo una chingadera" (Paz 2002 [1950]: 214).
Nach Paz’ These leiden die Mexikaner an einem tief sitzenden Minderwertigkeitskomplex als psychische Folgen der Conquista, die nicht nur als militärische Niederlage empfunden wurde, sondern auch als eine seelische und moralische. Die mythische Mutter aller Mexikaner, La Chingada, steht symbolisch für die von den Konquistadoren vergewaltigten indigenen Frauen.8 Das Gegenstück der Chingada ist für Paz der mächtige, aggressive macho oder Gran Chingón, der als Kompensation für sein Gefühl der Machtlosigkeit und Schwäche ein hypermaskulines Verhalten entwickelt und chingaderas begeht (Paz 2002 [1950]: 213f.).9
Der Soziologe Mirandé führt drei Erklärungsmodelle für die Entstehung des mexikanischen Machismo an. Er beruft sich dabei auf Octavio Paz, aber auch auf die einflussreichen Arbeiten von Samuel Ramos (El perfil del hombre y la cultura en México, 1934) und Aniceto Aramoni (Psicoanalisis de la dinamica de un pueblo, 1965). Die bekannteste These sieht den Ursprung des mexikanischen Machismo in der Conquista. Nach der zweiten These stellt der Machismo eine Übernahme des Verhaltens der machistischen Spanier dar, und eine dritte These basiert auf der Annahme, dass der Machismo bereits in den indigenen Kulturen angelegt war. Hier soll jedoch nicht der Frage nachgegangen werden, welches der drei Modelle die Realität am treffendsten beschreibt. Von Bedeutung ist hier lediglich, dass die Abhandlungen von Octavio Paz einen nicht zu überschätzenden Einfluss auf die mexikanische Literatur und Identitätskonstruktion ausgeübt haben. 8 La Chingada wird in der Folklore häufig durch La Malinche symbolisiert, die indigene Frau, die Cortés von den Ortsansässigen als Geschenk erhalten hatte, ihm als Übersetzerin und Vermittlerin zwischen den Kulturen diente, seinen "Bastard" zur Welt gebracht hat und später als Verräterin und Hure gedeutet wurde. 9 Carlos Fuentes nimmt in seinem Roman La muerte de Artemio Cruz (1962) Bezug auf Paz' Ausführungen. Artemio Cruz charakterisiert sich selbst als chingón und führt eine lange Reihe von Redewendungen an, in denen das Lexem vorkommt (Fuentes 2010 [1962]: 243-247). Aber auch in so rezenten Essays wie denen von Heriberto Yépez wird dieses Element der mexikanischen Identitätskonstruktion wieder aufgegriffen. Laut Yépez leidet der Mexikaner an dem steten inneren Konfikt, ein Unterworfener zu sein und gleichzeitig dominieren zu wollen: "El mexicano es el chingón y/o el chingado; el jodedor y/o el jodido; el cabrón y/o el encabronado; el malo y/o el bueno; el de arriba 7
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Macías Freund Willy vervollständigt das Bild des macho que chinga. Schon als Jugendlicher kannten Willys Niedertracht und Gewaltbereitschaft keine Grenzen. Er schloss sich einer Gruppe von porros namens Los Dorados10 an, die auch ins Drogengeschäft involviert war. Danach ging er zur Kriminalpolizei (policía judicial) und beschritt somit, ähnlich wie Macías, den Weg von der Illegalität zur Legalität, ohne auf eine Barriere zu stoßen. Im Gegenteil, da beide Systeme die gleichen Eigenschaften von ihren Mitgliedern fordern, schöpft der Staat im Verbrechen geschulte Männer ab und holt sie scheinbar zurück in die Legalität. Bei der Polizei arbeiten Willy und sein Chef el Vikingo mit den narcos zusammen und verdienen sich eine goldene Nase. Willy wird außerdem als fett, übelriechend und für Frauen abstoßend beschrieben. Sein penetranter Geruch steht symbolisch für den verkommenen Teil der staatlichen Institutionen, in denen Recht, Moral und Ethik der Verwesung anheim gegeben werden. Ein weiterer Jugendfreund des Protagonisten verkörpert ein anderes Segment der mexikanischen Gesellschaft: Fito (el chupafaros, das heißt "Saufbold") ist ein linker Unidozent und mit Macías’ großer Liebe Charis verheiratet. Yorch beschreibt Fito und Charis als finanziell abgesichertes Paar, das einen bürgerlichen Lebensstil pflegt. Den linken Akademiker charakterisiert er in seiner zynischen Macho-Art, die kein Selbstmitleid eines Mannes duldet, als Schwächling: Les había ido bien, tenían buena casa, carro y cuenta en el banco […]. La novedad era que Fito se sentía desalentado de la vida, que no entendía nada, no se explicaba qué había ocurrido: cayó el socialismo, el muro de Berlín, había guerras, racismo, hambre, enfermedades incurables, Fidel estaba valiendo madre, esos pedos, no comprendía cómo se estaba acomodando el mundo, y yo pensando, Que se suicide el güey (23).
Fito ist eine widersprüchliche Figur, da er es sich als Anhänger Fidels in seinem bürgerlichen Wohnzimmer gemütlich gemacht hat, den Klassenkampf nur in der Theorie führt und nach dem Zusammenbruch des Sozialismus nicht einmal mehr das. Voller Nostalgie und Selbstmitleid verklärt er den Sozialismus der osteuropäischen Länder: "Alemania del Este era un gran país, dijo, pero todo se ha derrumbado estrepitosamente, toda una forma de ser, de producción, de concepción del mundo se ha ido a la mierda, ese es el verdadero significado de la caída del muro de Berlín y no otro" (25f.). Der Zusammenbruch des Ostblocks bedeutet
y/o el de abajo; el gacho y/o el agachado; el puto y/o el emputado; el mandón y/o el mandado; el rico y/o el pobrecito; el culero y/o el culito" (Yépez 2010: 27). 10 Tatsächlich existiert ein grupo porril mit diesem Namen. Er gehört zur Preparatoria Popular Fresno (Mexiko-Stadt) und wurde ab 1988 von Agustín Villa Córdoba, genannt "el Chiquilín", angeführt (Sánchez Gudiño 2006: 364).
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für Fito viel mehr als die Bankrotterklärung einer politischen Ideologie und des damit verbundenen Wirtschaftssystems. Der Berliner Mauerfall führt bei ihm zum Identitätsverlust. Seine Enttäuschung bezieht sich stärker auf das persönliche Versagen der Beteiligten als auf das der Regierungen. Er fühlt sich orientierungslos und ohne verlässliche Parameter, um die moderne Welt zu interpretieren: […] he perdido la brújula, no ubico el sentido de las fuerzas sociales que interaccionan en la actualidad, o a lo mejor no interaccionan, permanecen estáticas…, y yo pensando, Cállate huevón, que lo más doloroso para él era que al final la razón la tendríamos los cabrones como yo, los que siempre vivíamos al día o por mejor decir, a la noche y a lo que viniera, […], los que siempre pensábamos que México estaba bien, que era un gran país y que estábamos conforme con todo, los baquetones que nunca movíamos un dedo mientras ellos se partían la madre estudiando, volanteando, discutiendo, andando en chinga para arriba y para abajo, Quién les mandaba ser tan pendejos (26, meine Hervorhebung).
Yorch reagiert auf Fitos Lamentieren gereizt und spöttisch und bezeichnet Mexiko als "gran país" (statt die DDR wie Fito), weswegen Guzmán ihn als konform und unterwürfig bezeichnet (Guzmán 2004: XIII). Konform ist Yorch mit dem System jedoch nur, solange es ihm nützt, und seine Charakterisierung als "sumiso" scheint unangebracht, widerspricht sie doch der Logik des chingón. Macías lebt in einer Welt, in der sich alles darum dreht, chingón/cabrón oder pendejo zu sein. Fito, der altruistische Ideale verfolgt und für gesellschaftlichen Wandel und soziale Gerechtigkeit eintritt (zumindest in der Theorie), gehört nach dieser Logik zur Kategorie der pendejos, die hart arbeiten und sich von cabrones wie Yorch ausnutzen lassen. Der cabrón geht mit dem System konform, da es ihm erlaubt, auf Kosten anderer zu leben und seine Macht auszuspielen (chingar). Ihn interessiert nur das Faustrecht, nach dem sich der Stärkere völlig egoistisch gegen den Schwächeren durchsetzt. Im Gegensatz zu Fito11 kennt Yorch keine politische Enttäuschung, sondern denkt nur ans Geschäft und seine Selbstbehauptung als cabrón. Dabei spielt es für ihn keine Rolle, ob sich die gesellschaftlichen Zustände verbessern oder nicht. Er ist Egoist und Opportunist und schlägt sich auf die Seite, von der her Geld fließt und die es ihm ermöglicht, seine Macht über andere auszuspielen. Daher ist es für ihn wichtig, dass sein "Arbeitgeber", der PRI, an der Regierung bleibt. Das Parteiprogramm 11 In Fito zeigt sich die Orientierungslosigkeit vieler lateinamerikanischer Linker nach der Wende. Er ist völlig desillusioniert und hat den Glauben an die mexikanische Guerilla verloren: "[…] el Ché murió en 66, todo se acabó, no servimos para eso, nos falta vocación para soñar y pelear, somos un pueblo que se conforma con espejismos" (28). Jetzt schreibt er Reden für Menschen unterschiedlicher Gesinnung, einen Politiker des PRI, einen des PAN und für den Rektor der Universität von Sinaloa, was sein persönliches Scheitern versinnbildlicht (vgl. auch Guzmán 2004: XIII). Er vermag der Macht nicht länger die Stirn zu bieten und lässt sich von ihr ködern, so dass er in dieser Hinsicht mit Yorch auf einer Stufe steht.
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des PRD macht für ihn keinen Sinn: "[Cardona12, el candidato del PRD] pedía democracia, justicia social y una patria para todos; ¿Qué es eso?, pensaba yo, ¿con qué se come?" (37). Für den PAN und seinen Kandidaten Max13 hegt er auch nur deswegen Sympathie, weil die Partei in wirtschaftlicher Hinsicht dem PRI den Rücken stärkt: Max era un bato que reconocía el trabajo de mi presi, reconocía que la había hecho machín en economía, son Solidaridad14, el Tratado de Libre Comercio y también en el amarre con los curas15, no que el Cardona puro chingar pava, neta que si me hubieran encargado descabechármelo lo hubiera hecho encantado de la vida y a lo mejor hasta gratis, a poco no (78f.).
Warum er den Kandidaten des PRI ermorden soll, also derjenigen Partei, in deren Dienst er unter jefe H gestanden hat, hinterfragt Yorch nicht weiter, da es sich um einen gutbezahlten Auftrag handelt: "[…] me acordé del candidato, realmente era un bato acá, simpático, buena onda, y si me lo iba a bajar no había nada personal" (137). Nach seinem Aufenthalt in Culiacán über Weihnachten erhält Macías wieder einen Auftrag von jefe H, der ihn, wie schon erwähnt, entlassen hatte. Nun soll Yorch nach Chiapas reisen und drei Zapatistenführer ermorden. Glücklich, seine Position zurück erlangt zu haben, willigt er ein: "[…] lo que me faltaba era el calor del poder […], se me había restituido el poder y la capacidad de chingar, y pues no me la andaba acabando de contento" (111, meine Hervorhebung). Auch den neuen Auftrag hinterfragt er weder hinsichtlich seiner politischen Bedeutung noch seiner moralischen Tragweite. Er beschränkt sich darauf, die Menschen immer wieder in cabrones und pendejos einzuteilen, was dazu führt, dass er die marginalisierten, indigenen Bauern von Chiapas für ihre prekäre Lage selbst verantwortlich macht. In seiner Sicht, muss demjenigen nicht geholfen werden, der nicht bei Zeiten seinen Mann steht, sondern sich zum pendejo machen lässt: Que se estaban muriendo de hambre o de lombrices, ni pedo carnal, ya les tocaba, que Dios los bendiga; que no tenían escuelas y se los chingaban gacho los finqueros, ni modo, era su destino; que les quitaron sus tierras, pues qué pendejos, que se
12 Der Name der historischen Person lautet Cuauhtémoc Cárdenas. Die Ähnlichkeit der Namen (Cardona – Cárdenas) ist wohl kein Zufall. 13 Der Name des Kandidaten des PAN war Diego Fernández de Cevallos. Wie der fiktive Kandidat wurde auch er häufig nur mit dem Vornamen genannt und als "jefe Diego" bezeichnet. 14 Die Regierung von Carlos Salinas de Gotari implementierte 1988 das "Programa Nacional de Solidaridad de combate a la pobreza" (PRONASOL), das die Situation der armen Bevölkerungsschichten jedoch nicht nachhaltig verbessern konnte. Leiter des Programms war Luis Donaldo Colosio. 15 Salinas de Gotari reformierte die Beziehung zwischen Kirche und Staat. Er verlieh den Kirchen einen juristischen Status und nahm die diplomatischen Beziehungen zum Vatikan wieder auf, die Mexiko seit einem Jahrhundert abgebrochen hatte.
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pongan truchas, ya están grandecitos. A mí todo ese rollo de los indios ni me sonaba, como te digo, me valía madre (46, meine Hervorhebung).
Diese Verurteilung verstärkt sich durch den Rassismus des Protagonisten, in dem immer noch die Auswirkungen des kolonialen Diskurses spürbar sind. Er verabscheut alles, was mit indigener Kultur in Verbindung gebracht werden kann: "[…] no me gusta la pinche selva, ni los plátanos fritos, ni el caxcalate, ni los tamales con hoja de plátano" (49). Das in der Kolonialzeit geprägte Klischee des faulen und alkoholisierten Indios dient ihm als Grundlage für sein Urteil: "[…] ¿tú crees que se estaban muriendo de hambre? Si eran bien huevones, se la pasaban durmiendo o tragando aguardiente" (47f.). Dieses Verhalten ist symptomatisch für die mexikanische Gesellschaft, deren Identitätskonstruktion von eklatanten Widersprüchen gekennzeichnet ist, auf die nicht nur Octavio Paz aufmerksam gemacht hat. Einerseits sind die Mexikaner im Allgemeinen stolz auf die indianischen Hochkulturen der Vergangenheit und die weltberühmten archäologischen Ausgrabungsstätten, andererseits lehnen sie die indigenen Kulturen der Gegenwart ab.16 Da jedoch 98% der mexikanischen Bevölkerung aus Mestizen bestehen, impliziert die Stigmatisierung der Indigenen auch eine Ablehnung der Bevölkerung ihrer selbst. Das Dilemma vergrößert sich zusätzlich dadurch, dass das spanisch-europäische Erbe der Mestizen ebenfalls negativ konnotiert ist. Bei Yorchs äußerem Erscheinungsbild sind die indigenen Züge besonders ausgeprägt, was der Leser jedoch erst spät erfährt. In diesem Moment eröffnet sich ein neuer Blick auf die Inszenierung seiner Identität. Vor dem Revolutionsdenkmal im D. F. wird er Opfer der alltäglichen Straßenkriminalität: "[…] se me acercaron dos batos, en cuanto llegaron me enseñaron fileros y me quisieron cinchar, Órale, suelta la lana pinche indio patarrajada, esto es un asalto y no grites hijo de la chingada sino aquí te lleva" (107). In dieser Situation hat sich Yorchs Selbstbehauptung in ihr Gegenteil verkehrt, denn nun spielt er die Rolle des hijo de la chingada und nicht des cabrón. Der Profikiller wird aufgrund seiner Gesichtszüge als wehrloser "indio patarrajada"17 eingestuft. Er muss rassistische
16 Im Interview bestätigt Élmer Mendoza den Rassismus der Mexikaner: "Pues lo digo y lo sostengo y lo compruebo si es necesario. Somos un país muy racista, racista contra nuestra propia gente. Hay una descalificación que tiene mucho que ver con el nivel económico de la gente. Es inevitable y es muy doloroso" (Wieser 2010: 181). Carlos Fuentes liefert ein ähnliches Bild in der Erzählung "Madre dolorosa": "Voy a los museos de México y recorro las salas de las culturas indígenas –mayas, olmecas, aztecas– maravillado del arte de mis antepasados. Pues allí quieren tenernos, señora, escondidos en los museos. Como estatuas de bronce en las avenidas. ¿Qué pasa si el rey Cuauhtémoc se baja de su pedestal en el Paseo de la Reforma y camina entre la gente? Pues que le vuelven a quemar las patas…" (Fuentes 2006: 123). 17 Mit diesem beleidigenden Ausdruck wird darauf angespielt, dass Indios barfuß gehen, also mit zerschundenen Füßen ("patas rajadas").
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Diskriminierung also am eigenen Leib erfahren, was ihn aber nicht zu einer Solidarisierung mit den Indigenen bewegt, sondern seinen Hass auf sie sogar noch verstärkt: "[…] la gente es muy cabrona con los indios, no quiere a los prietos menos a los indios. A mí por culpa de mi facha me han tratado muchas veces como perro, yo creo que por eso no quiero a los indios, pues ni modo que qué" (108). Dass einer der Nationalhelden Mexikos, Benito Juárez, ein Indio war, aber die Lage der Indigenen nicht verbessert hat, erscheint in diesem Zusammenhang als der Gipfel der Widersprüchlichkeit einer ganzen Kultur: "[…] me acordé que Juárez era indio, que cuidaba borregos mientras tocaba la flauta bien machín, luego fue presidente, qué onda, ¿qué hizo Juárez por los indios?" (108f.).18 Da sich Yorch Macías nicht wie die Indios zum pendejo degradieren lassen will, muss er seine indigenen Wurzeln negieren. Wie Corona feststellt, ist dies die einzige Möglichkeit, der ethnischen Gewalt in der mexikanischen Gesellschaft zu entrinnen (Corona 2005: 191). Durch seine Selbstinszenierung als macho cabrón und gatillero der Regierung perpetuiert der Indigene die koloniale Unterdrückung seiner eigenen Ethnie. Die Annahme des Auftrags, Zapatistenführer in Chiapas zu ermorden, ist ebenfalls Teil seines Verrats. Er hat die Lager gewechselt und sich mit der Macht verbündet ähnlich wie die Tlaxtalteken mit den Truppen des Hernán Cortés bei der Eroberung von Tenochtítlan.19 Sie haben im entscheidenden Moment ihren wirklichen Feind nicht erkannt, genauso wenig wie Yorch, der von der herrschenden Klasse keineswegs als ihresgleichen angenommen und am Ende von ihr hintergangen wird. Yorchs Erscheinungsbild ist ihm bei einer Gelegenheit jedoch von Nutzen. Am Tag vor dem geplanten Attentat beschließt er, den Tatort zu inspizieren und sich während eines öffentlichen Auftritts des Kandidaten in die Menge zu mischen. Um von niemandem erkannt zu werden, "verkleidet" er sich als Indio: "No tardé mucho en decidir de qué me iba a disfrazar, pues lo que estaba viendo en el espejo era un indio patarrajada hecho y derecho, carnal, nomás me faltaba el penacho, y ¿sabes como [!] me iba a llamar? […] Timoteo Zopliti me iba a llamar" (188). Timoteo Zopliti ist einer der Zapatisten-Führer, die Macías ermorden soll. In der Übernahme seines Namens gipfelt der Zynismus des Protagonisten. Indem er sich als Indio inszeniert, was er den Gesichtszügen
18 Benito Juárez, ein Zapoteke aus Oaxaca, war der einzige indigene Präsident Mexikos. Die Hoffnungen auf eine Agrarreform, von der vor allem die indigene Landbevölkerung profitiert hätte, erfüllte er jedoch nicht. Unter seiner Regierung (1859-1872) mussten die Großgrundbesitzer keinerlei Restriktionen hinnehmen (Bernecker 2007: 219-224). 19 Die Eroberung der Stadt und anschließende Kolonisierung Mexikos konnte nur gelingen, weil die indigenen Völker untereinander verfeindet waren und sich daher bereitwillig mit den Fremden, den Spaniern, verbündeten.
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nach sowieso schon ist, verschmilzt er mit dem Teil der Bevölkerung, den der mestizische Staat, sein Auftraggeber, in diesem schwierigen historischen Moment unterdrücken will. Was hier Sein und Schein ist, fließt nahtlos ineinander. Gehörte er vorher scheinbar zur herrschenden Klasse, da er deren Verhalten nachahmte (los cabrones que chingan), so macht er sich nun seine indigene Abstammung zu Nutzen und simuliert das Verhalten des unterjochten Fußvolks (los pendejos que se dejan chingar). Die Inkongruenz zwischen seiner ethnischen Identität und seinem sozialen Handeln erscheint als charakteristisch für die mexikanische Gesellschaft. Corona erläutert treffend, dass Macías’ Spitzname, el Europeo, vor diesem Hintergrund eine neue Bedeutung erhält. Er steht nicht nur für Yorchs Professionalität, sondern positioniert ihn auch dem Namen nach an der Spitze der Gesellschaftspyramide bei den Konquistadoren und ihren Nachfahren (Corona 2005: 191). Noch eine weitere Komponente ist Teil der Subjektkonstruktion von Jorge Macías. Er vergleicht seine Situation mit der von Filmhelden. Das Beispiel des "Schakals" aus Fred Zinnemanns Verfilmung (1973) von Frederick Forsyths Roman The Day of the Jackal (1971) stellt für ihn eine Warnung dar. Das Attentat auf Charles de Gaulle misslingt im Film, und der Schakal wird von seinem Gegenspieler, Kommissar Lebel, erschossen. Yorch versucht zu analysieren, warum der Plan des Profikillers nicht aufging, um selbst diesem Schicksal zu entrinnen: El bato disparó machín, el arma era la adecuada, un rifle con mira telescópica, silenciador, distancia, posición correcta, todo, y el bato falló […], lo que pasó fue que el objetivo se agachó en el instante preciso en que la bala pasó sin rozarle un solo pelo: Chale, eso se llama mala suerte (31f.).
Macías zieht aus dem Film die Lehre, dass zur besten Vorbereitung eines Attentats die Komponente Glück hinzukommen muss, damit es gelingt. Als Positivbeispiel fungiert für ihn der Schauspieler Charles Bronson: "[…] me dormí pensando que era un profesional, un profesional acá, seguro, discreto y caro, chilo, como personaje de Charles Bronson" (31).20 Der Vergleich zwischen dem US-amerikanischen FilmHelden und dem Meuchelmörder des PRI-Regimes kann in zwei Richtungen gedeutet werden. Zum einen stellt er eine Kritik an den Produkten der Kulturindustrie dar, die Helden außerhalb von Moral und Legalität erschafft und indirekt zu deren Nachahmung einlädt. Zum anderen In der Death-Wish Reihe (die aus fünf Filmen besteht) spielt Bronson die Rolle des Paul Kersey, der nach der Vergewaltigung seiner Frau und Tochter durch arbeitslose Jugendliche auf einem Rachefeldzug Selbstjustiz betreibt und die Stadt New York vor Verbrechern säubert, indem er sie erschießt. Trotz seiner Gewalttätigkeit bleibt er bis zu einem gewissen Grad der positive Held für die Zuschauer. Kurioserweise erfüllt Bronson auch für Máiquel in Melos O Matador eine Vorbildfunktion: "Fazia cinco anos que eu usava bigode, desde que tinha visto um filme na televisão com o Charles Bronson" (Melo 2002 [1995]: 9).
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werden auch Personen getadelt, die Fiktion für bare Münze nehmen und das Verhalten der Filmhelden als Handlungsanleitung für ihr eigenes Tun verwenden, das in gewissem Maße durch die Popularität des Vorbilds legitimiert scheint. Macías interessiert sich noch für weitere Filme, beispielsweise für Natural born killers von Oliver Stone (1994, Drehbuch: Quentin Tarantino). Der Film handelt von dem Serienmörderpärchen Mickey und Mallory Knox und ihrer "Karriere" in den Medien als outlaws. Dazu kommentiert Yorch: "[…] estaban exhibiendo Asesinos por naturaleza y me interesaba wacharla, dizque traía unas ondas muy locochonas sobre los que nos dedicamos a matar" (83). Zwischen dem Morden ohne Motiv, wie es in US-amerikanischen slasher-, splatter- und gore-Filmen gezeigt wird, und seiner Arbeit als Meuchelmörder sieht Yorch jedoch einen qualitativen Unterschied: […] me puse a ver una película, era la historia de un bato que se dedicaba a matar mujeres sin oficio ni beneficio, se llamaba Daniel y tenía un acople que se llamaba Moon, un par de batos locos; Moon tenía una hermana que se juntó con ellos y resultó ser igual de sanguinaria; digo yo, esa raza que se dedica a hacer desmadre nomás porque sí qué onda, esos batos que madrean mujeres, como el chino Fu, digo, qué onda con esa raza, los que matan morritos, los que hacen explotar edificios llenos de gente; y no es que le saque, tú bien sabes que perro no come carne de perro, pero con esos mejor ni meterse (151).21
In solchen Filmen wird autotelische Gewalt dargestellt, das heißt, sie wird um ihrer selbst willen angewendet und verfolgt keinen weiteren Zweck. Élmer Mendozas Protagonist kann damit wenig anfangen, da es für ihn um etwas anderes geht, um die Erledigung eines Jobs und die kulturspezifische Durchsetzung seiner Rolle als macho cabrón. Anders als die Filme, die sich Macías ansieht, erzeugt der Roman keine Schockeffekte durch eine voyeuristische Darstellung von Gewalt. Zwar ist das Romangeschehen von Gewalt durchsetzt, jedoch wird sie immer in Yorchs zynischer, bagatellisierender Art dargestellt, die ein Mitfühlen des Lesers mit den Opfern verhindert. Dies gilt sogar für solche Szenen, in denen Yorch selbst Gewalt widerfährt, wie der Moment, in dem ihn el Vikingo krankenhausreif schlägt. Bis hierhin scheint die Komponente der Ermittlung in dem Roman zu fehlen. Nach und nach verwandelt sich jedoch Macías in eine Art Ermittler, da er bemerkt, dass seltsame Dinge um ihn herum passieren. Er entdeckt, dass die Kriminalpolizei, das heißt Jiménez (der ihn im Auftrag von jefe H gefeuert hat), Cifuentes (der ebenfalls für jefe H arbeitet), sein 21 In dieser Passage spielt Yorch vermutlich auf den Film Confessions of a Serial Killer von Mark Blair (1985) an. Der Underground-Film ist ein Vorläufer von Henry: Portrait of a Serial Killer von John McNaughton (1986/89).
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Freund Willy und el Vikingo den Sicherheitsdienst für die Wahlkampagne leiten. Harry (der Chauffeur von el Veintiuno) und Kalimán (ein Kollege aus einer anderen Abteilung) halten sich seltsamerweise im selben Hotel auf wie er und stehen in Kontakt zu Willy. Auf all das kann sich Yorch keinen Reim machen, wodurch Rätselspannung entsteht. Am Tag, an dem das Attentat stattfinden soll, belauscht Macías im Hotel Willy, Kalimán und Harry. Dabei findet er heraus, dass er nach der Erfüllung seines Auftrags selbst umgebracht werden soll: Me di cuenta que mi cerebro se friqueaba bien gacho con las ondas que no terminaba de entender, pero la verdad era muy sencilla, cuando yo le diera piso al candidato con el mierdero que cincho se iba a formar ellos me lo darían a mí, así de fácil, y el Veintiuno estaba detrás de todo, chale (208).
Doch der verschwiegene Macías weiß sich zu wehren. In einem langen Showdown mit drei Höhepunkten erschießt er Kalimán, Harry und den verräterischen Willy, seinen ehemals besten Freund. El Veintiuno erschießt sich selbst, und Charis wird tödlich getroffen, als sie auf der Suche nach Yorch in die Kampfhandlungen gerät. Die Kriminalpolizei nimmt den asesino solitario fest. Einen Tag darauf wird der Präsidentschaftskandidat in Tijuana von einem anderen Attentäter erschossen. Das Besondere an diesem Showdown ist, dass er von Macías Bemühungen begleitet wird, die Zusammenhänge zu verstehen: Wer arbeitet für wen? Wer verfolgt welches Ziel? Der Auftragsmörder kann die Verstrickungen jedoch nicht vollständig entwirren, genauso wenig wie der Leser. Die Männer des jefe H, des Veintiuno, der Kriminalpolizei sowie die Mitglieder der porro-Gruppe "Los Dorados" kennen keine stabilen Loyalitäten. Sie arbeiten für unterschiedliche Auftraggeber solange die Bezahlung stimmt. Am Ende entsteht der Eindruck, dass alle gleichzeitig miteinander und gegeneinander kämpfen. Aber vor allem arbeiten alle gegen Macías, der zum Spielball der Parteien geworden ist. Er erweist sich jetzt nicht als der macho chingón, der sich in einen Indigenen verkleidet hat – wie er sich selbst glauben machen wollte – sondern als ein Indigener, der die ganze Zeit über als chingón verkleidet war und in letzter Konsequenz wieder auf seine Existenz als underdog zurückgeworfen wird. In dieser unauflösbaren Verstrickung aus korrupten Staatsdienern, Polizisten und Schlägern gibt es keine Möglichkeit einer moralischen Unterscheidung zwischen "gut" und "böse". So versteht auch Yorch seine Position nicht mehr, als die Kriminalpolizei ihn von den Männern des Veintiuno befreit und ihn festnimmt: "[…] ¿y ahora qué?, pensé, ¿soy de los buenos o de los malos?" (220). Jiménez will aus Macías schließlich herauspressen, wer die autores intelectuales des Anschlags sind, was Yorch nicht beantworten kann: "Qué les voy a andar contestando si no sé ni 280
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madres, pues sí ni modo que qué, les iba a decir que al único que conocía era al Veintiuno" (221f.). Der Leser weiß am Ende nicht mehr als Yorch (auf dessen Perspektive die Darstellung beschränkt ist). Einige Andeutungen vor dem Showdown erlauben jedoch den Schluss, dass der Auftrag aus höchster Ebene kommt: Ausgangspunkt ist, dass die Kampagne des Kandidaten Barrientos farblos beginnt, weil er nicht genug Unterstützung vom PRI erhält.22 Dann zerwirft sich Barrientos mit dem Präsidenten (am 6. März) und seine Kampagne gewinnt an Fahrt. Dadurch wird suggeriert, dass der Bruch des Kandidaten mit dem PRI dazu führt, dass die Partei den Anschlag in Auftrag gibt.23 Schlussfolgerungen Im Gegensatz zu den "Ermittlungsromanen" wird in Un asesino solitario kein Tathergang rekonstruiert, sondern eine Tat Schritt für Schritt geplant und bis zum Tag ihrer Ausführung aus der Sicht des Täters dargestellt. Dieser verübt das Attentat jedoch nicht, da er vorher bemerkt, dass seine Auftraggeber ihn nach getaner Tat umbringen wollen. Um seinem Tod zu entkommen, muss er versuchen, die Zusammenhänge zu erkennen und seine Feinde zu identifizieren. Funktional gesehen schlüpft er dadurch sowohl in die Rolle des Opfers als auch des Ermittlers. Bei seiner Ermittlung bedient er sich der einfachsten Methoden, die kein kriminaltechnisches Knowhow verlangen. Er belauscht seine Feinde und erfährt so von ihren Plänen. Yorch gelingt es, sie zu überwältigen, weil seine Grundeigenschaft, die im Titel des Romans anklingt, optimal auf den Kontext abgestimmt ist. Er ist der asesino solitario, der niemandem vertraut und sich niemandem mitteilt. In Mendozas Roman tritt die Polizei vor allem in der Person des Vikingo und seines Untergebenen Willy in Erscheinung. Sie wird als mafiöse und gewalttätige Institution charakterisiert, da sie mit den narcos zusammenarbeitet. Bei Barrientos Wahlkampagne in Culiacán erfüllt sie nicht ihre pseudonormative Pflicht, für Sicherheit zu sorgen. Sie bemüht sich vielmehr, den Attentäter nach der Erfüllung seines Auftrags mit illegalen Mitteln, jedoch auf Anweisung von oben, aus dem Weg zu räumen. Der Roman endet in einem äußerst aktionsreichen Showdown mit vielen Toten. Anders als die Pseudonorm vorgibt, wird die Spannung trotzdem nicht vollständig gelöst, da nicht alle Zusammenhänge im Detail geklärt
22 Fito kommentiert diesbezüglich: "Jamás podrá Barrientos Ureta romper con el presidente […]", worauf Charis und Fabiola antworten: "[…] que esa era la esencia del sistema presidencialista y que todavía no había nacido el que se atreviera a romper esa tradición" (93). 23 Guzmán merkt hierzu an, dass sich Colosio durch sein Eintreten für mehr Demokratie tatsächlich vom PRI distanziert hatte, was in den Medien ausgiebig kommentiert wurde (Guzmán 2004: XV).
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werden. So erfährt der Leser nicht, wer die geistigen Urheber des Anschlags auf Barrientos sind. Dies kümmert Jorge Macías nicht weiter, da er sich nicht für die ideologischen Hintergründe des Attentats interessiert. Der an eine Auflösung gewöhnte Leser wird mit einem Ende konfrontiert, das ihm eine genaue Suche nach verstreuten Hinweisen im Text abverlangt, die jedoch nur vage andeuten, dass der Auftrag aus der höchsten Ebene des PRI kam, aber letzten Endes keine befriedigende Lösung liefern. Hier wird entgegen der Pseudonorm kein Zustand von Ordnung wiederhergestellt, sondern der trostlose Eindruck eines völlig korrupten und amoralischen Systems erzeugt, in dem der Ursprung von Gewalt und Verbrechen ungewiss bleibt und somit auch nicht gezielt bekämpft werden kann. In diesem System können legale und illegale Handlungen nicht pseudonormativ Staat und Verbrechern zugeordnet werden. Das wird an Yorchs Position deutlich: Er ist kein offizieller Funktionär, arbeitet aber im Auftrag des "legalen" Staates, der ihm "illegale" Aufträge erteilt. Auch durch die Rekrutierung jugendlicher Schläger von Seiten des Staates überschreitet der scheinbare Garant der Legalität die Schwelle zur Illegalität. Die hohe Frequenz der Gewaltszenen in Un asesino solitario gleicht derjenigen der Filme, die sich Yorch im Hotelzimmer anschaut. Da diese Szenen im Roman aber durch Yorchs Perspektive gezeigt werden, schockieren nicht die Taten als solche, sondern vielmehr die Wahrnehmungsweise des Täters, für den Gewaltanwendung und Mord zum täglich Brot gehören. Er bagatellisiert die Taten zynisch und inszeniert sich dadurch ständig als macho cabrón. Da seine Opfer im Showdown korrupte Polizisten und Handlanger eines verbrecherischen Staates sind, ist es dem Leser nicht möglich, für sie Partei zu ergreifen. Die pseudonormative Assoziation des Staates mit der "guten Seite" wird verkehrt. Identifikationsfiguren fehlen gänzlich, denn die wenigen unschuldigen Opfer (Charis oder die Studenten des Halconazo) stehen zu sehr am Rande des Geschehens, als dass sie die Lesersympathie auf sich ziehen könnten. Hinsichtlich der Identität Yorchs sind verschiedene Komponenten zu beachten. Seine Grundeigenschaften, Einsamkeit und Verschwiegenheit, verweisen einerseits auf sein Erfahrungswissen und andererseits auf ein Merkmal des mexikanischen Nationalcharakters, den Octavio Paz in El laberinto de la soledad skizziert hat. Die Grundsätze, denen der Mörder folgt (keine narcos, keine Frauen, keine Priester), speisen sich ebenfalls aus seinem Erfahrungswissen sowie aus kulturellen Werten. Der wichtigste Bestandteil seiner Identitätskonstruktion ist jedoch seine Selbstinszenierung als macho chingón. Er genießt die Macht, physische Gewalt auf andere ausüben zu können, und schöpft daraus sein Selbstwertgefühl. Da er ungebildet ist, keine ideologischen oder politischen Ziele verfolgt und keine moralischen Überlegungen anstellt, ist er jedoch 282
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leicht käuflich, manipulierbar und instrumentalisierbar. Yorchs ethnische Identität eines Indigenen, beziehungsweise Mestizen mit ausgeprägten indigenen Gesichtszügen, steht im Gegensatz zu seiner sozialen Rolle. Das Vorgehen der Regierung gegen die Zapatisten im Mexiko der 1990er Jahre zeigt, dass sie als die unterlegene Ethnie, die Verlierer der Conquista und des gesamten Zivilisationsprozesses gelten. In diesen rassistischen Diskurs stimmt Yorch ein und negiert seine ethnische Identität, um nicht zu den Außenseitern des Systems zu gehören. Seine Verkleidung als Indigener lenkt den Leser absurderweise davon ab, dass er seinem Äußeren nach schon ein Indigener ist und sich folglich nicht als solcher verkleiden müsste. Am Ende wird jedoch deutlich, dass er von der herrschenden Klasse (den helleren Mestizen) niemals als ihresgleichen anerkannt wird, auch wenn er für sie arbeitet und hohe Honorare einstreicht. Ähnliches mussten Máiquel (Melo) und Rosario (Franco) erfahren. Yorch erscheint in letzter Konsequenz wieder in der Position eines Indigenen, der nur für eine gewisse Zeit die Rolle des macho chingón und des Europeo gespielt hat. Élmer Mendoza zeigt in seinem Roman folglich eine Gesellschaft, in der José Vasconcelos’ "kosmische Rasse" reine Utopie bleibt.24
24 Vasconcelos hatte 1925 in La raza cósmica versucht, das nationale Selbstbewusstsein der Lateinamerikaner und insbesondere der Mexikaner zu stärken, indem er die Vision einer einzigen "kosmischen" Rasse entwarf, die eine Mischung aus allen Rassen darstellt und alle positiven Eigenschaften in sich vereint. Diese fünfte Rasse würde nach seiner Auffassung in Lateinamerika entstehen (Vargas 2004: 169f.).
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5.3.2. Alonso Cueto: Grandes miradas (Peru, 2003) Der Autor: Alonso Cueto1 Alonso Cueto Caballero wurde 1954 in Lima geboren und verbrachte seine frühe Kindheit in Paris und Washington. Als er sieben war, kehrte seine Familie zurück nach Peru; sein Vater ging in die Politik und wurde Bildungsminister. 1968, einen Monat nach dem Putsch gegen die Belaúnde-Regierung, starb er unerwartet an einem Schlaganfall. Dieses Ereignis stellte für den damals 14-Jährigen Alonso einen tiefen Einschnitt dar und trug wesentlich dazu bei, dass er Schriftsteller wurde (Wieser 2010 [2009]: 215). Nach seinem Studium der Literaturwissenschaft an der Pontificia Universidad Católica de Lima lebte Alonso Cueto drei Jahre in Spanien und arbeitete als Englischlehrer. Anschließend promovierte er in Austin an der University of Texas über Juan Carlos Onetti (1984) und schrieb währenddessen seinen ersten Erzählband, La batalla del pasado (1983), sowie seinen ersten Roman, El tigre blanco (1985). Nach Abschluss der Promotion zog er wieder nach Lima und verfasste die beiden Kriminalromane Deseo de noche (1993) und El vuelo de la ceniza (1995), die inhaltlich nur lose an einen peruanischen Kontext rückgebunden sind. Cuetos Erfahrungen mit der peruanischen Wirklichkeit unter dem Fujimori-MontesinosRegime führten jedoch dazu, dass er sich zunehmend für Themen interessierte, die dezidiert auf diesen Kontext Bezug nehmen. So entstanden die sozialkritischen Kriminalromane Grandes miradas (2003) und La hora azul (2005). In seinem neusten Kriminalroman, La venganza del silencio (2010), verlässt er diesen Kontext wieder und untersucht die Privatsphäre einer reichen Familie aus Lima. Insgesamt hat der Peruaner knapp zwanzig Bücher veröffentlicht, darunter auch Romane, die nicht zur Kriminalliteratur gezählt werden können, wie El susurro de la mujer ballena (2007), Erzählungen, Essays, literaturwissenschaftliche Arbeiten und ein Theaterstück. Cueto nähert sich dem Kriminalroman nicht wie die meisten Autoren über das Thema "Verbrechen", sondern über die Charakteristika der hard boiled-Helden: Muchos de estos personajes son detectives pero también aparecen criminales, asesinos y delincuentes. Todos tienen algo en común: la falta de convicciones
Der folgende biblio-biografische Abriss basiert auf einem ausführlicheren Autorenporträt, das ich 2009 beim Culturmag veröffentlicht habe.
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muy profundas, la falta de una ideología, un código moral más bien relajado y amplio y un escepticismo instintivo sobre su vida, su futuro, la visión que tienen de su entorno (Wieser 2010 [2009]: 200).
Cuetos Anliegen besteht darin, solche illusions- und ideologielosen Figuren an Konfliktsituationen heranzuführen und ihr Verhalten auszuloten, egal ob es sich dabei um Verbrechen oder andere Problemfelder handelt (ebd.: 211). Wie viele lateinamerikanische Kriminalautoren verzichtet er darauf, Polizisten zu Protagonisten zu machen. Alonso Cueto interessiert sich vielmehr für Figuren, die keiner Institution unterstehen und Herren ihrer eigenen Entscheidungen sind.2 Der Kontext: Die Verbrechen des Vladimiro Montesinos Die Zielscheibe des Mordanschlags in Grandes Miradas ist Vladimiro Montesinos (*1945), der ehemalige enge Berater des Präsidenten Alberto Fujimori, der nie ein offizielles politisches Amt innehatte, aber de facto Chef des Geheimdienstes SIN (Servicio de Inteligencia Nacional) sowie weiterer Geheimdienste war. Seine militärische Laufbahn wurde 1976 durch eine Gefängnisstrafe beendet. Er hatte den USA geheime Dokumente zukommen lassen und war ohne Befugnis nach Washington zu einem Treffen mit dem nordamerikanischen Militär und der CIA gereist (Ugaz Sánchez-Moreno 2008: 112). Nach seiner Haft studierte er Jura und wurde Anwalt. Zu seinen Mandanten gehörten hochkarätige Drogenhändler aus Peru und Kolumbien, die er dank seiner zahlreichen Kontakte zu korrupten Richtern und Polizisten vor Gefängnisstrafen bewahrte. Während der Wahlkampagne von 1990 verhinderte Montesinos eine Anklage Fujimoris, die diesem wegen Betrugs bei der Vergabe von Grundstücken an Bauern drohte.3 Als Geheimdienstchef baute er die Todesschwadron Grupo Colinas auf, die im April 1992 Massaker an Arbeitern und Studenten verübte (Vann 2000 und Roncagliolo 2007: 156). Während der Regierungszeit Fujimoris war Montesinos auch für die Kontrolle der Presse zuständig und zahlte an verschiedene Fernsehund Radioanstalten sowie Zeitungen Schmiergelder von mehreren Millionen Dollar für propagandistische Berichterstattung. Außerdem kassierte er Schutzgelder von Drogenhändlern (Linnarz 2004 und Roncagliolo 2007: 144f.).
In Deseo de noche erforscht ein Mann die düstere Vergangenheit seiner Geliebten, in El vuelo de la ceniza ermittelt ein Privatdetektiv, in Grandes miradas die Freundin des Mordopfers, in La hora azul der Sohn eines ehemaligen Militärs und in La venganza del silencio der Neffe des Mordopfers. 3 Fujimori gab sich selbst als campesino aus, um so ein Stück Land kostenfrei zugeteilt zu bekommen. Die Akte mit Fujimoris gefälschten Dokumenten ließ Montesinos verschwinden (Ugaz SánchezMoreno 2008: 112). 2
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Nachdem im Jahr 2000 ein Video in Umlauf kam, auf dem er den Abgeordneten Alberto Kouri mit 15.000 Dollar besticht, damit dieser zur Partei des Präsidenten wechselte, floh Montesinos nach Panama. Im selben Jahr meldete die Schweiz, dass er über 45 Millionen Dollar auf Schweizer Konten verfüge, woraufhin die Staatsanwaltschaft Anklage gegen ihn erhob. Bei einer Hausdurchsuchung fand man 25 Reisekoffer und 30 Kartons mit Videobändern, auf denen zu sehen war, wie verschiedene Politiker, Geschäftsleute und Vertreter von Interessengruppen Bestechungsgelder in Empfang nahmen (Ugaz Sánchez-Moreno 2008: 119). Montesinos ließ all diese Szenen filmen, um die Bestochenen im Bedarfsfall damit unter Druck setzen zu können. Schätzungen zufolge existieren über 2.000 Videobänder, die in der Presse meist als vladivideos bezeichnet werden. Oberst Roberto Huamán Ascurra, der in Cuetos Roman am Rande erwähnt wird, war als Kameramann für die Videoaufnahmen zuständig und erhielt dafür eine Gefängnisstrafe von zwölf Jahren (Linnarz 2004). 2001 wurde Montesinos in Venezuela verhaftet und nach Peru ausgeliefert. Seitdem hat man ihn mehrfach angeklagt und verurteilt, 2004 zu 15 Jahren Haft wegen Unterschlagung, Verschwörung und Bestechung (ebd.), 2006 zu 20 Jahren wegen Waffenhandels mit der kolumbianischen FARC (El Comercio 2006). Der Roman: Grandes miradas4 Alonso Cueto ist der Meinung, dass von Montesinos eine besondere Faszination ausgeht, weswegen er ihn als Figur in einem Roman verarbeiten wollte: Siempre me interesaba Montesinos porque es uno de los seres más siniestros y malignos de la historia latinoamericana, creo yo. Montesinos, cuando era niño, tenía un sueño recurrente. Soñaba que se comía una manzana pero que la manzana era el mundo. Yo tenía la idea de hacer una novela sobre la época, pero también me daba cuenta que era imposible hacer una novela sobre una época y sobre un personaje como Montesinos porque finalmente el mal en su estado puro es banal, como decía Hannah Arendt.5 Montesinos en sí mismo no es tan interesante
Zu Grandes miradas liegen bisher keine Aufsätze vor. Auch die anderen Werke Cuetos wurden auch noch kaum untersucht. Luna Escudero-Alie (2003) analysiert die Erzählung "Pálido cielo", Camacho Delgado (2006) den Roman La hora azul. 5 Die Jüdin Hannah Arendt verfolgte 1960 in Jerusalem den Prozess gegen den SSObersturmbannführer Adolf Eichmann als Journalistin des New Yorker mit. Entgegen ihren Erwartungen erblickte sie in Eichmann nicht die Inkarnation des Bösen, den Dämon schlechthin, sondern einen kleinen, unscheinbaren Bürokraten, der sich damit verteidigte, lediglich für eine Partei gearbeitet und Befehlen gehorcht zu haben. Arendt kam zu der Schlussfolgerung, dass der Holocaust nicht etwa deswegen möglich war, weil bestimmte Individuen das Böse in sich trugen, sondern weil während der Nazi-Herrschaft die Toleranzgrenze der Menschen so weit nach oben gestiegen war, dass sie fast gleichgültig die Ereignisse erduldeten. Das Böse wurde zur Banalität. Arendt folgerte, 4
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porque es un personaje tan absoluto en su devoción al mal (Wieser 2010 [2009]: 212).6
Grandes miradas spielt wie Abril rojo von Santiago Roncagliolo im Jahr 2000. Beide Romane ergänzen sich inhaltlich, da sie sich mit unterschiedlichen Aspekten derselben Epoche auseinandersetzen. Während die Handlung von Abril rojo im Andenraum angesiedelt ist und die Nachwirkungen des Terrors thematisiert, vollzieht sich die Handlung von Grandes miradas in Lima und fokussiert Korruption und Gewalt im Inneren des politischen Systems. Der Roman erzählt die Geschichte von Gabriela (Gaby), einer jungen Frau, deren Verlobter, der Richter Guido Pazos, Opfer des staatlichen Despotismus wird. Guido weigert sich, Berichte gemäß den Befehlen seiner Vorgesetzten zu fälschen, und wird deswegen im Auftrag von Vladimiro Montesinos ermordet. Daraufhin fasst Gaby den Entschluss, Montesinos ihrerseits umzubringen. Der Titel bezieht sich auf die Blicke Guidos, an die sich Gaby immerzu erinnert: "No sé pero a veces creo que sus grandes miradas me van a acompañar siempre, siempre" (300). Gabys Schmerz wird so zum Auslöser für ihre Verwandlung in eine Mörderin. Neben Gabriela und Guido spielen Javier Cruz, ein Nachrichtensprecher und Freund Gabys, sowie Ángela Maro, eine Journalistin eines Boulevardblatts, wichtige Rollen. Außerdem treten Montesinos und Fujimori sowie einige weitere Nebenfiguren auf. Die Darstellung erfolgt durch einen heterodiegetischer Erzähler, der all diese Personen abwechselnd intern fokalisiert. Die Fokalisierung Gabys und Javiers nehmen den größten Raum ein. Gaby erfüllt die Funktion der Handlungsträgerin, wohingegen Javier vor allem über Guido, Gaby und sich selbst reflektiert. Der Wechsel der Fokalisierung erfolgt von Abschnitt zu Abschnitt, wobei gegen Ende des Romans die Abschnitte kürzer werden und durch die häufigeren Perspektivenwechsel der Rhythmus an Geschwindigkeit zulegt. Der Mord an Guido Pazos findet erst nach einem knappen Drittel der Handlung statt. Unbekannte dringen in seine Wohnung ein und töten ihn auf äußerst brutale Weise. Davor werden die näheren Umstände, die dazu führen, schrittweise geschildert. Guido arbeitet als Richter erster Instanz ("juez de Primera Instancia", 55) im Palacio de Justicia inmitten des völlig korrupten und gewalttätigen Fujimori-Montesinos-Regimes. Im Anwesen von López Meneses, der als persönlicher Freund des fiktionalisierten Montesinos von höchster Stelle her protegiert wird, wird ein dass Gewalt in Krisensituationen durch einen Mangel an Denkfähigkeit und dem Bedürfnis entsteht, Führungspersönlichkeiten zu folgen. 6 Der Apfel aus Montesinos Traum wird auch im Roman erwähnt. Dort ist es Montesinos Vater, der ihm die Welt als Apfel darstellt, den er nach und nach aufessen kann (vgl. 146).
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Waffenarsenal gefunden. Als Guido sich weigert, seinen Bericht zu fälschen, erklärt ihm sein Vorgesetzter Rodríguez, wie das System funktioniert: O sea no hay justo, me entiendes, no hay justo o injusto, López es buena gente. Es un pata. ¿Por qué vas a cagarlo, por qué? O sea, López no será un santo pero te diré que también, que todos son la misma mierda, Guido. Toda la gente es una mierda, todos somos igualitos, ¿no te das cuenta, Guidito? Todos son iguales, la única diferencia es que hay unos que son nuestros patas y otros que no sabemos quiénes son, ¿ves? ¿No ves? O sea, mira, te lo pongo así, mira. O te alineas o te jodes, compadre (55).
Die Waffen in dem Bericht nicht zu erwähnen, scheint für einen pragmatisch denkenden Menschen keinen unüberwindbaren Konflikt auszulösen. Ein gefälschter Bericht ist kein Todesurteil, auch keine Menschenrechtsverletzung. Es geht lediglich darum, einem zweifellos korrupten und verbrecherischen Vertreter des Systems eine weiße Weste zu bescheinigen, ohne unmittelbar erkennbare negative Folgen für Dritte. Doch Guidos Prinzipien hängen hoch. Er ist so unbeirrbar in seiner Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit, dass er sich weigert, den Befehl auszuführen: "Era un maniático del bien. Un ángel con la espada ardiendo por la justicia" (26). Wiederholte Bestechungsversuche lehnt er mit kühlem Kopf ab, und den Warnungen seiner Kollegen und seiner Freundin Gabriela begegnet er mit idealistischen Argumenten: Si el Poder Judicial es un estercolero, hay que entrar para salvarlo. Si los abogados decentes se dedican sólo a la actividad privada, ¿qué va a pasar con el sistema de justicia? Vamos, vamos, Guido, no seas iluso. ¿Quién quiere salvar al mundo hoy en día? ¿Quién le lleva flores a Bolognesi 7, Guido? No seas loco. ¿Quieres salvar al mundo, Guido? Sálvate tú por lo menos (26).
Für Gaby, die Dialogpartnerin im obigen Zitat, gibt es keine Helden mehr und keine Menschen, die Nationalhelden wie Bolognesi huldigen. In einer solchen Welt scheint es sinnlos, für ein Ideal zu sterben. Guido jedoch, der früher Priester werden wollte, fühlt sich völlig desillusioniert von der Korruption, die alle Gesellschaftsbereiche erfasst hat. Seine Werte stellt er über sein privates Glück und ficht in einer "guerra moral" (75) gegen die Umwelt. Dies kann er als Einzelkämpfer ohne Rang und Namen nur im Kleinen. Gabriela hält zu Beginn des Romans ein solches Opfer für sinnlos: "Guido, nadie se va a enterar que has sido tan decente, todo está podrido, quién se va a enterar que fuiste tan honesto" (32). Für Guido ist die Antwort auf diese Frage aber eindeutig. In seinen Kindern, so glaubt er, wird sein Andenken weiter leben. Aber auch anderen
7 Francisco Bolognesi (1816-80), peruanischer Nationalheld aus dem Guerra del Pacífico gegen Chile (1879-83) und Patron des peruanischen Heers.
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Menschen will er ein Vorbild geben: "Otros jueces iban a reconocer en su cuerpo una inspiración a su causa" (90). Als religiöser Mensch glaubt er daran, eine Veränderung im Leben seiner Mitmenschen bewirken zu können, indem er mit gutem Beispiel voran geht: "El secreto del sufrimiento consistía en reconocerse en las caras de los sobrevivientes, recordar el futuro sancionado de su inspiración en otros que iban a resistir como él" (90). Dass Guido als Einzelkämpfer in einem System, in dem Vetternwirtschaft und Schmiergelder über das Schicksal der Menschen entscheiden, durch seinen Tod keine Veränderung herbeiführen kann, zeigt sich darin, dass López Meneses freigesprochen wird. Eine polizeiliche Ermittlung der Todesumstände Guidos findet freilich nicht statt, da der Staat den Mord beauftragt hat. Die Figur Guidos basiert auf einem realen Vorbild. Im Jahr 2000 berichteten die peruanischen Medien vom der Ermordung des Richters César Díaz Gutiérrez. In der Zeitschrift Caretas schreibt Escobar la Cruz, dass die Umstände seines Todes nicht geklärt seien, Díaz Gutiérrez jedoch als besonders bescheiden und rechtschaffen galt und bereits mehrmals bedroht worden war: Juez César Humberto Díaz Gutiérrez (38) fue encontrado muerto en su apartamento. Los móviles del crimen no están claros. El Poder Judicial pierde a uno de sus miembros más probos. La madrugada del domingo 9 de julio, el joven magistrado César Humberto Díaz Gutiérrez fue encontrado muerto en su vivienda de San Luis, con un cable eléctrico colgado en el cuello. Curiosamente, en octubre de 1995, CARETAS lo había entrevistado durante una huelga judicial y ya entonces había comprobado que lo caracterizaban la modestia y la probidad. Díaz tuvo amenazas por algunos juicios que llevó, como aquel que involucraba a funcionarios del RENIEC8, y aunque se manejan otras variables sobre su extraño crimen, un aire de desconcierto flota sobre el caso (Escobar la Cruz: 2000).
Eine Vielzahl der Details aus Guidos Pazos Leben stimmen mit dem des realen Vorbilds überein: Seine Charaktereigenschaften, seine kurzzeitige Anstellung als Vocal Provisional de la Sala de Apelaciones de Reos en Cárcel und danach wieder als Juez de Primera Instancia, seine frühere Neigung zum Priesterberuf und seine fortwährende Religiosität. Andere Details, wie die Umstände seines Todes, weichen jedoch ab. Die Erdrosselung mit einem Telefonkabel wird im Roman durch Hammerschläge und Messerstiche ersetzt. Der Leser erfährt im Laufe des Romans mehr über einen der Meuchelmörder Guidos, da dieser immer wieder in kurzen Abschnitten intern 8 Die Auflösung dieser Abkürzung lautet: Registro Nacional de Identificación y Estado Civil. Es handelt sich um eine Behörde, die mit dem Bürger- und Standesamt vergleichbar ist.
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fokalisiert wird. Es handelt sich um Ángelas Bruder Alberto, genannt Beto. Er ist in gewisser Hinsicht mit Yorch aus Un asesino solitario von Élmer Mendoza vergleichbar, da er im Auftrag der Regierung arbeitet. Seine Vorgeschichte weicht jedoch vom Lebensweg Yorchs ab. Beto stammt aus einem Dorf in Ayacucho, das von den Terroristen überfallen wurde, als er vier Jahre alt war. Dabei wurden sein Vater und sein älterer Bruder erschossen. Ángela führt die Laufbahn Betos auf dieses Schlüsselerlebnis zurück: "Creo que se metió con el gobierno para tratar también de castigar a los terrucos" (289). Am Beispiel Betos wird gezeigt, wie Gewalterfahrungen zu Gegengewalt führen, da Vergebung ein schwieriger Prozess ist. Als Beto von anderen Auftragskillern in die Arbeit eingeführt wird, muss er einen Menschen bei lebendigem Leib aufschlitzen. Die Morde werden von den Profikillern, deren Brutalität die des matador noch übersteigt, zynisch als "orgías médicas" (41) bezeichnet, bei denen sie selbst die Rolle der Ärzte spielen. Angesichts des Machtmissbrauchs der Regierung beschließt Gabriela, den Weg der Selbstjustiz zu beschreiten. Sie ist Lehrerin und träumt am Anfang des Romans von einer bürgerlichen Zukunft. Nach Guidos Tod sieht sie zusammen mit ihrer Freundin Delia zufällig Montesinos auf der Straße. Diese Begegnung steht am Beginn ihrer Veränderung, die sich in mehreren Schritten vollzieht: Nunca lo había visto en persona. Su lentitud silenciosa, su camisa granate, su mirada lateral. La sombra de carne se agiganta en la pared como si fuera un santo que se le apareciera en una revelación para darle instrucciones sobre su conducta, el ángel de una Anunciación maligna. En ese momento ve una línea de luz que se abre paso y le revela un camino estrecho y recto entre las sombras (116).
Die Erscheinung Montesinos erlebt Gabriela wie eine teuflische Eingebung, in der sich "gut" und "böse" ("santo" – "Anunciación maligna") überlagern. Genauso moralisch zwiespältig gestaltet sich Gabys Weg in die Selbstjustiz ("un camino estrecho y recto entre las sombras"). Um den Schritt zur Rache vollziehen zu können, muss sie ihr bürgerliches Leben hinter sich lassen und ihre atavistischen Instinkte aktivieren. Sie betrachtet sich zum ersten Mal nackt im Spiegel: "Debía regresar a ese cuerpo. Buscar a través de él, en el comienzo de su infancia, el tesoro del mal que siempre había tapiado con sus maneras y razones" (120). Die Aktivierung des Bösen über den nackten Körper, der sonst von allerlei Kultürlichem verhüllt wird, rührt an natürliche Überlebensinstinkte, die ein Gegengewicht zur Macht des Staats bilden. Ein weiteres Schlüsselerlebnis, das zu ihrer Verwandlung beiträgt, ist die manipulierte und verleumderische Berichterstattung über Guidos Tod in der Zeitung El Pata: "Malas lenguas decían que era magistrado 290
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homosexual. Un lío de locas termina a navajazos" (132). Der politische Hintergrund der Tat wird im Zeitungsbericht nicht nur ausgeblendet, sondern Guido außerdem noch durch reißerische Anschuldigungen diffamiert.9 Hier wird Guido posthum erneut von der korrupten Regierung Gewalt angetan, was Gabys Hass zusätzlich schürt. Die Journalistin Ángela Maro bietet ihr daraufhin ihre Hilfe an, weil sie selbst die verleumderischen Zeilen nach einem Diktat von oben verfasst hat und sich schuldig fühlt. Gaby schlüpft in der Folge kurzzeitig in die Rolle einer Ermittlerin, Ángela in die ihrer Assistentin. Ziel der Ermittlung ist es, die Vollstrecker des Mordes zu finden und sich einen Zugang zu Montesinos zu verschaffen. Welche Absicht Gaby damit verfolgt, nämlich die Mörder sowie den Auftraggeber umzubringen, erfährt der Leser erst etwa nach der Hälfte des Romans. Bis dahin entsteht die Spannung durch die Frage, was Gaby plant; es handelt sich also um eine Art der Rätselspannung. Sobald der Leser dies weiß, richtet sich die Spannung auf den Ausgang ihres Vorhabens (Zukunftsspannung). Javier gegenüber betont Gaby, dass es sich nicht um einen Akt der Rache handle: "La justicia, el castigo, el bien son ideas vagas, propias de un discurso o de un catecismo. No va a hacerlo por venganza o por justicia. Voy a hacerlo por él" (155). Indem sie Konzepte wie Gerechtigkeit und Strafe als "ideas vagas" bezeichnet, verweist sie darauf, dass ihre Gültigkeit voll und ganz vom offiziellen Diskurs bestimmt wird. Im Peru dieser Zeit haben sie jegliche Bedeutung verloren. Die Bedeutungsspuren früherer Diskurse werden mit Gewalt getilgt; es herrscht das Gesetz, das Rodríguez Guido einbläuen wollte: Man hilft seinen "patas", Unbekannte liefert man dagegen ans Messer. Vor diesem Hintergrund kann Gabys Verhalten als Versuch interpretiert werden, sich diesen Kategorien zu entziehen, auch wenn ihre Handlungen psychologisch gesehen durchaus als Rache und Versuch einer Wiederherstellung von Gerechtigkeit gelesen werden können. Gabys Entschluss zu handeln schlägt sich in der Veränderung ihres Äußeren und ihres Verhaltens nieder. Sie wirft ihre alten Kleider weg, kündigt ihre Stelle als Lehrerin und schreibt sich in der Sekretärinnenschule Columbus ein. Von Ángela hat sie erfahren, dass der SIN dort Rezeptionistinnen für das Hotel América anwirbt, in dem sich Montesinos regelmäßig mit seinen Generälen trifft. In der Sektretärinnenschule wickelt sie deren lesbische Leiterin, Doty Pacheco, genannt "el buitre" (158), berechnend um den Finger. Trotz ihres großen Ekels vor der älteren Dame schläft sie mit ihr, um möglichst schnell im Hotel Américas Cueto lehnt sich hier wieder an die Berichterstattung über César Díaz Gutiérrez an. Im oben zitierten Artikel aus Caretas heißt es: "Sobre sus preferencias sexuales se han tendido una serie de especulaciones, a cada cual más escandalosas. Es cierto que durante años no se le conoció enamorada alguna" (Escobar la Cruz: 2000).
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arbeiten zu können.10 Die Entdeckung des Bösen und das Schüren ihres Hasses, erzeugen in Gaby einen ungeheuer starken Willen, den sie als positiv erlebt: "El odio te hace bien, oye. Es como estar enamorada. Nunca me he sentido mejor que estos días" (183). Sie wechselt die Seite und verwandelt sich in einen Dämon, der ähnlich wie Montesinos (der Gaby dazu inspiriert hat) nicht für die Welt, sondern in mephistophelischer Manier gegen sie kämpft, der nicht den Menschen zu Gute handelt, sondern nach seiner eigenen Logik zerstört, was er will: Su padre11 y Guido habían querido mejorar el mundo. A ella el mundo no le importaba. Quería reventar con el mundo. Meterse el mundo entre las piernas, prender un cartucho y volar con el mundo. El fuego y la mugre de los que estaba hecha la realidad no la quemaban. La hacían vivir. Hubiera podido escupir en la tumba de los dos hombres que más había amado y amaba todavía. Pero los fantasmas de ambos la inspiraban. Ángeles del bien, se habían entregado a la muerte, se habían inmolado, habían desaparecido. Iban a volver en ella como demonios (218).
In diesem Moment ihrer Entwicklung empfindet Gaby Hass und Verachtung für die Toten, die sich aus lauter Idealismus scheinbar sinnlos geopfert haben. Ángela besorgt schließlich über illegale Wege die Videoaufzeichnung von Guidos Tod. Nachdem Gaby das Band angeschaut hat, schneidet sie sich vor dem Spiegel die Haare, was einen weiteren Schritt ihres Verwandlungsprozesses einleitet: La mujer la mira desde detrás del vidrio como en una revelación, una virgen en la gruta de sí misma. Tiene el impulso de inclinarse ante esa imagen, fundirse con ella, entrar en ese cuerpo que la refleja pero que no es ella, que la duplica en una dimensión remota […]. Se hace la promesa de dar el salto al otro lado, entrar en esa otra mujer que puede sostenerla, igualar el rostro en el agua fija y cristalina. El espejo es un oráculo de su cara (234).
Im Roman finden sich keine Hinweise darauf, dass die Protagonistin schon vor Guidos Tod zur Gewalt prädisponiert war. Indem sie nun versucht, in ihrem Spiegelbild das Abbild einer Mörderin zu erkennen, beginnt sie, diese Rolle zu verinnerlichen.12 Sie gewinnt Abstand zu der Frau, die sie bis zu Guidos Tod gewesen ist, und verwandelt sich in die Frau, die sie aus dem Spiegel heraus anblickt. Über Guidos Assistenten, der den Meuchelmördern die Tür zu Guidos Wohnung geöffnet hat, Aus der Perspektive der gender studies stellt sich die Frage, weswegen lesbische Liebe in diesem Roman rein negativ dargestellt wird. Sie ist hier verbunden mit Opportunismus und Ekel und wird über Doty mit dem gewalttätigen, korrupten System assoziiert. 11 Gabys Vater, der an Krebs gestorben ist, war Guido sehr ähnlich, weswegen er hier erwähnt wird. 12 Auch auf diese Textstelle kann der Titel bezogen werden, wörtlich kommt er hier jedoch nicht vor. 10
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erhält Gaby die Namen der Täter: Antonio Gómez und Alberto Maro. Mit kaltem Kalkül verführt sie den ersteren und ersticht ihn. Dadurch vollzieht sie den Sprung auf die andere Seite des Spiegels zu ihrem dämonischen Ich. Folgerichtig sieht sie danach die Tat nicht als ihre eigene: "Maté a un tipo, Javier. […]. Me parece que fue otra, que no fui yo, lo que hice" (246). Ihr Mordanschlag auf Alberto (Beto) Maro, Ángelas Bruder, scheitert jedoch.13 Trotzdem fühlt sie sich nun bereit für die noch größere und schwierigere Tat, den Mord an Montesinos. Sie arbeitet mittlerweile im Hotel América. Montesinos, der die Rezeptionistinnen auch für sexuelle Dienste zu engagieren pflegt, lässt sie zu sich rufen. Jedoch verspielt sie ihre Chance, ihn durch einen Überraschungsangriff zu töten. Voller Todessehnsucht schwimmt sie aufs Meer hinaus, kehrt aber von ihrem dämonischen Spiegelbild gereinigt wieder zurück. Einige Zeit später zieht Gaby vor Guidos Eltern ihre Bilanz: Ihre eigenen Taten beurteilt sie nun als sinnlos, da sie nichts verändern konnten: "[…] pienso que no pude hacer nada" (298). Im Gegensatz dazu beurteilt sie nun Guidos Verhalten viel positiver als zuvor: "[…] yo creo que ayudó a cambiar las cosas, o sea yo creo que quien sea, quien sea que resiste un poco, en cualquier sitio, o sea el que se niega a aceptar la mugre que alguien le impone, ese tipo es el que ha cambiado o está cambiando algo, o sea es el que nos salva un poco" (299). Ihre Erkenntnis besteht darin, dass in letzter Konsequenz nicht der blutige Racheakt die Welt verändert, sondern der kleine Widerstand. Vor der Entscheidung, Guidos Beispiel zu folgen oder einen anderen Weg einzuschlagen, steht auch der Nachrichtensprecher Javier Cruz. Anders als Guido ist Javier verheiratet und hat eine kleine Tochter, was ihm eine zusätzliche Verantwortung aufbürdet. Seine Frau ist die Nichte Don Ramiros, des Besitzers des Fernsehkanals. Dies zwingt ihn, die Anweisungen seines Chefs, welcher dem Pressediktat der Regierung gehorcht, pflichtgetreu auszuführen. Javier findet daher nicht den Mut, an seinen Idealen festhalten, und akzeptiert es, Abend für Abend sein Gesicht der Öffentlichkeit zu präsentieren und manipulierte Nachrichtenmeldungen zu verlesen. Um jedoch innerlich nicht zu zerbrechen, versucht er, sich von seiner Arbeit mehr zu distanzieren als Guido: "[…] monologar una hora, sonreír con inocencia, despedirse. Era una cuestión de poner el cuerpo, repetir las frases, estirar el cuello como un cisne de fierro hasta la negrura bienvenida de la medianoche" (18). Es gelingt ihm also zumindest zeitweilig, einen Unterschied zwischen seinem Äußeren 13 Dadurch vermeidet Cueto, Gaby zu stark zu dämonisieren. Der Leser entwickelt nämlich einen Bezug zu Beto durch die Einblicke in seinen Lebensweg, weswegen diese Figur nicht nur in negativem Licht erscheint, sondern auch als Opfer der Umstände. Antonio Gómez ist dem Leser jedoch bis zu seiner Ermordung durch Gaby völlig unbekannt, weswegen der Leser die Tat der Protagonistin eher als "legitim" oder "gerecht" empfinden kann.
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und seinem Inneren herzustellen. Ähnlich wie Gabrielas Spaltung in ein friedliches und ein gewalttätiges, hasserfülltes Ich, dem sie in ihrem Spiegelbild begegnet, spaltet die Atmosphäre der Angst Javier in ein zensiertes und unterdrücktes inneres und ein linientreues, aber aufgesetztes äußeres Ich: "[…] era un muñeco, un ventrílocuo, un androide parlante, una máscara perfumada resguardando una cámara de torturas, un maniquí de ropa fina y piel ensangrentada" (80). Der Einfluss der Staatsmacht verformt ihn, lässt ihn eine Rolle spielen, eine Maske aufsetzen, ähnlich wie die Figuren in Leonardo Paduras Máscaras. Javier verkörpert einen mittleren Charakter, dem es nicht gelingt, sich selbst treu zu sein, der sein eigenes Dilemma aber genau kennt und unter diesem Bewusstsein leidet. Deswegen ist er die Figur, die am meisten reflektiert, abwägt und zweifelt. Immer wieder versucht er, sein eigenes Gewissen zu beruhigen: Lo suyo no era el manotazo de un cobarde sino el gesto de un sobreviviente, hacía lo mismo que todos los otros: dejar que el mundo continuara, acompañar la marcha de los eventos, adecuarse a su franja, reconocer la autoridad de las circunstancias: todos los ojos iban a voltear hacia él si buscaba detener su curso normal, pero si seguía en su sitio y acompañaba los hechos, si igualaba al mundo, iba a sobrevivir por homologación. Dicho en otras palabras: la naturaleza no tiene moral, la moral es una creación cultural que los tiempos y las sociedades transforman, los procesos van definiendo cada valor, uno acomoda su moral al puesto asignado en ese proceso (78f.).
Anders als Guido, der seine Werte als absolut setzt, vertritt Javier eine flexible Vorstellung von Moral, die er als kultürlich charakterisiert (ähnlich wie Gabriela die Begriffe "venganza" und "justicia"). Nach seiner Auffassung ist Moral ein Konstrukt eines gesellschaftlichen Diskurses, das in ständiger Veränderung begriffen ist. Diese Sichtweise hilft ihm, sein eigenes Verhalten weder als amoralisch noch als unmoralisch charakterisieren zu müssen, sondern als natürliche Überlebensstrategie jenseits solcher Wertungen. Pragmatisch und realistisch argumentiert er des Weiteren, dass Regierungen in der Regel immer mafiös organisiert sind und es keine Möglichkeit gibt, diese Realität nachhaltig zu verändern. In einer so verfassten Welt erscheint ihm das Festhalten an einem Moralkodex sinnlos: "¿Cómo defenderse de esas mafias sino con otras? ¿Es acaso posible la santidad, siquiera la decencia?" (204f.). Aufgrund seiner Zerrissenheit versucht der Nachrichtensprecher an verschiedenen Stellen zu ergründen, in welchem Verhältnis der Mensch zu Macht und Gewalt steht, warum er dazu neigt, über andere triumphieren zu wollen. Dieses Streben deutet er als "condición inherente a todos los hombres", verbindet es mit dem Gefühl der Freiheit und entwirft eine "Erotik der Macht":
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El poder es un vicio extendido. El guardia de un banco por ejemplo que impide entrar a un cliente porque el local no ha abierto, el de un bibliotecario que señala que ha terminado el horario. Estas pequeñas manifestaciones de poder los gratifican con golpes de éxtasis, satisfacciones de una erótica natural, la sed de dominio de cualquier bestia, el gozo de penetrar. Montesinos está intoxicado con una droga, la necesidad del poder absoluto, su delito es apenas extremar una condición inherente a todos los hombres. Mandar, ordenar, sujetar la voluntad ajena es una extensión del placer de usar la propia. El poder es la perversión de la libertad pero sus eróticas no son tan distintas. Un poderoso es un hombre libre enloquecido. El poder es el delirio de la libertad. […]. Pero hay otros hombres, ¿como él, como él?, que forman el ejército de los adictos al vicio contrario, el vicio de obedecer, de inclinarse, la otra erótica, el placer de entregarse, el gozo de ser penetrado. […]. La gloria de saber a qué atenerse, a quién servir para salvarse, para sobrevivir. Quizás todos tenemos ambos vicios. Si obedecemos a algunos líderes es para mandar sobre algunos subordinados (139).
Javier versteht Macht als exzessives Ausleben einer angeborenen Eigenschaft. Etwas mit dieser "Erotik der Macht" Vergleichbares praktiziert Yorch in Un asesino solitario, wenn er sich als macho chingón inszeniert. Javier nähert sich dem Phänomen von Macht und Unterwerfung über die Psyche, die er als naturhaft fasst. Es geht ihm nicht darum zu entscheiden, wer "gut" oder "böse" ist, sondern darum zu ergründen, warum Menschen das Bedürfnis verspüren, andere zu unterdrücken. Im Verhalten der unterwürfigen Masse erkennt er dasselbe Phänomen wieder. Servil fügen sich Menschen in Hierarchien ein, da ihnen dies erlaubt, ihrerseits Gewalt nach unten weiterzugeben. Indem Javier seine Feigheit aber zum Naturgesetz erklärt, weist er die Verantwortung dafür von sich. Montesinos selbst wird im Roman als ein Mensch beschrieben, der sehr genau weiß, wie er andere hörig macht und sie dazu bringt, seinen Befehlen Folge zu leisten. Er genießt seine Macht in vollen Zügen und reizt sie bis zum Exzess aus. Die Abhängigkeit seiner Mitarbeiter, die er mit einer erprobten Taktik erzeugt, fasziniert ihn: Su método es simple: lo primero es que no queden rezagos de sus mentes, empieza con una conversación general […], los otros se sienten orgullosos de descubrir que están de acuerdo, la piel les brilla del privilegio de escucharlo, luego él les propone un arreglo […] ustedes son de confianza, esto se va a hacer así, hermano, yo te doy la plata y tú, por el bien de todos (97).
Seine Untergebenen buckeln und huldigen ihm mit großen Worten, wie etwa Don Osmán von der Zeitung El Pata, der über Montesinos sagt: Bueno, es un señor maravilloso. Un enviado del Señor en verdad, te lo digo. Un hombre que trabaja veinte horas diarias. Un enviado de Dios, no sé dónde estaríamos sin él. Mira cómo está Colombia con los guerrilleros metidos y en cambio nosotros aquí comiendo tan tranquilitos, pues (214).
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Die Fujimori-Montesinos-Regierung war in großen Teilen der Bevölkerung tatsächlich sehr beliebt wegen ihres harten Vorgehens gegen die Terroristen.14 Der fiktionalisierte Montesinos ist überzeugt davon, dass jeder Mensch dunkle Seiten besitzt und deswegen manipuliert werden kann: "Todos tienen su corazón oscuro y apremiado, todos se han hecho adictos al refugio, la certeza, el dinero rápido" (98). Er macht sich genau die Eigenschaft der Menschen zu Nutze, über die Javier immer wieder nachdenkt: ihren Willen zur Unterwerfung. In Montesinos findet die von Javier beschriebene Verbindung von Macht, Erotik und Freiheit ihre Verkörperung. Seine Perversion geht sogar so weit, dass er Videos von Ermordungen wie Snuff-Filme konsumiert und dabei masturbiert: "[…] Vladi se lleva el vaso de whisky a la boca, se pone una mano entre las piernas. Ve al hombre amarrado, toma un sorbo, siente la primera erección" (95). Wie Wolfgang Sofsky die Antriebsfeder für die Durchsetzung der Macht durch Gewalt in dem Wunsch sieht, die anderen zu überleben15, so genießt auch Montesinos die Vorstellung, der einzige Überlebende zu sein: "Piensa que todos afuera están muertos. Él es el único vivo, el que ha sobrevivido a los cadáveres que almacena" (186). Er enthebt den Mord außerdem seiner existentiellen Bedeutung für das Individuum und deutet ihn zu einer administrativen Angelegenheit um: "[…] una orden era más rápida y más barata que un soborno, la paciencia se le acababa, matar es una forma de organizarse (186f.). Alonso Cueto zeigt Montesinos aber nicht nur als Machtfanatiker und grausamen Tyrannen, sondern untersucht auch seine Schwachstellen, Momente, in denen er nicht dominiert, in denen er unterliegt, von anderen abhängt und dadurch für einige Augenblicke auf der anderen Seite der Macht steht. Solche Momente erlebt der Geheimdienstchef in seinen Beziehungen zu Frauen. Seine langjährige Geliebte Jaqueline (Jacky) unterwirft sich ihm nie. Sie beschimpft, erniedrigt und betrügt ihn, während Montesinos versucht, sie zu dominieren. Er ist ihr völlig verfallen und leidet darunter, sie nicht kontrollieren zu können. Matilde (Mati), seine Büroangestellte, Verwalterin seiner Finanzen und zweite Geliebte, beherrscht ihn auf andere Weise. Sie ordnet sich scheinbar unter und befolgt all seine Anweisungen, entwickelt aber ein mütterliches Verhältnis zu ihm, das ihn emotional abhängig macht: "La sumisión era un instrumento de dominio infalible. Gracias a la estrategia de la sumisión se
14 Dass Cueto durch die Figur des Don Osmán die tatsächliche Meinung der Bevölkerung abbildet, bestätigen beispielsweise die Kommentare in El Comercio, die Leser nach Fujimoris Verurteilung hinterlassen haben (El Comercio 2009). 15 Sofsky erklärt in seinem Traktat über die Gewalt: "Der Tod ist die Gewalt schlechthin, die absolute Kraft. An dieser Kraft teilzuhaben, verschafft eine ganz seltene Genugtuung. Wer noch am Leben ist, wo andere schon tot sind, erfährt den Enthusiasmus des Überlebens" (Sofsky 1996: 58).
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había posicionado sobre él, lo había colocado entre sus piernas, había asumido los brazos vacantes de su madre" (83). Matis mütterliche Rolle wird mehrmals dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie Montesinos wie einen kleinen Jungen kämmt und ankleidet. Ihr gegenüber begibt sich der Despot in die Rolle des Kindes, das Schutz sucht und daran glauben möchte, dass ihn seine "Mutter" niemals verlassen wird: "Mati es la esposa-madre-tesorera y Jacky es la amante. La única mujer con la que siente la comodidad de hablar. Ella. No Jacky. Ella. ¿Mati lo va a proteger? ¿Alguien vendrá por él un día? ¿Vendrá a matarlo alguien?" Seine Ungewissheit über Matis Loyalität deutet bereits an dieser Stelle darauf hin, dass sie seine Achillesferse ist. Gegen Ende des Romans taucht das (real existierende) Video auf, auf dem Montesinos Alberto Kouri besticht. Montesinos versucht herauszufinden, wer das Video der Presse zugespielt hat. Die Szene suggeriert, dass ausgerechnet Mati, seine engste Vertraute, dafür verantwortlich ist: "–¿Quién de ustedes me ha traicionado? –exclama. Algunos lo miran. Todos están allí. Todos menos Mati" (277). Genau wie Montesinos bei seinen Untergebenen immer Schwachstellen gesucht und sie für seine Zwecke genutzt hat, wird er nun Opfer seiner eigenen Schwachstelle. Er flieht, wird aber den historischen Tatsachen entsprechend gefasst. Dass am Ende des Romans das Regime zerbricht, wird daher nicht den Taten des moralischen Guido oder der blutigen Rächerin Gabriela zugeschrieben, sondern als eine Folge des Exzesses der Macht dargestellt, der ihre eigenen Verbrechen zum Verhängnis werden. Schlussfolgerungen Obwohl der Mord am Richter Guido Pazos Auslöser für eine offizielle Ermittlung sein könnte, findet eine solche entgegen der Pseudonorm nicht statt. Der Roman zeigt statt der Aufklärung die Mechanismen der Vertuschung des Mordes durch verbrecherische Machthaber, die die Presse manipulieren und das Opfer damit diffamieren. Bei der Hinterbliebenen, Gabriela, entsteht daraus Schmerz, Wut und Hass, weswegen sie zur Gegengewalt in Form eines Anschlags auf die Mörder und den Auftraggeber schreitet. Die Darstellung der Planung und des Scheiterns ihres Attentats auf Montesinos sowie das Fehlen einer offiziellen Ermittlung verbindet Grandes miradas mit Élmer Mendozas Un asesino solitario. Ähnlich wie Yorch übernimmt Gaby streckenweise die Funktion einer inoffiziellen Ermittlerin. Um ihren Plan ausführen zu können, muss sie herausfinden, wer Guidos Mörder sind und wie sie sich Montesinos nähern kann. Dadurch dass die Machthaber selbst Morde in Auftrag geben, erscheint ihr Vorgehen legitimiert.
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Wie in den Romanen, die in Kapitel 5.2 behandelt wurden (Argemí und Roncagliolo), ist Gewalt im Fujimori-Montesinos-Regime institutionalisiert, wobei Regierungsbeamte wie Montesinos sich die Hände nicht selbst schmutzig machen. Sie sind korrupte White-collar-Verbrecher, die armen Burschen wie Beto Aufträge erteilen. Im Unterschied zu Élmer Mendozas Roman tritt die Zielscheibe des Attentats in Grandes miradas als Nebenfigur selbst auf. Dies ermöglicht ihre Charakterisierung und damit eine Sympathielenkung des Lesers. Montesinos erscheint als das Sinnbild des Bösen. Dem Machtfanatiker gelingt es, mit einer ausgefeilten Taktik viele unterwürfige Gefolgsleute um sich zu scharen. Für den Auftragskiller Yorch in Un asesino solitario ist das Attentat auf den Politiker nur ein Job, der viel Geld bringt. Für das Mittelschicht-Mädchen Gabriela in Grandes miradas handelt es sich hingegen um eine Aktion, die aus persönlichem Hass und dem Wunsch nach ausgleichender Gerechtigkeit entsteht, und ihre Diskonformität mit dem Regime ausdrückt, wohingegen Yorch mit dem PRI-Regime konform ist. Grandes miradas weist eine ähnlich hohe Frequenz an Gewaltszenen auf wie Un asesino solitario. Dazu gehören Guidos Hinrichtung, Betos Initiation als Auftragsmörder sowie Gabys Mord an Antonio Gómez. In diesen Szenen, bei denen Cueto nicht an Details spart, wird der Leser zwar nicht wie in den pseudonormativen Vorlagen simplizistisch polarisiert, weil sowohl der Staat als auch das Volk (Gaby und Beto) als gewalttätig dargestellt werden. Trotzdem bleibt die Sympathie des Lesers auf der Seite des Volkes, da die Innensicht Gabys ihre Motivation nachvollziehbar macht. Auch Betos Weg zum Meuchelmörder wird als Folge von zuvor erfahrener Gewalt gedeutet (er ist damit Opfer und Täter). Keiner dieser Akteure wird als rein "gut" oder "böse" markiert, vielmehr zeigen ihre Taten, wie unterschiedliche Gruppen der Gesellschaft Schuld auf sich laden. Montesinos erscheint jedoch gegenüber den schillernden zivilen Figuren als rein negative Gestalt. Auf diese Weise wird in Grandes miradas der Staat als der Hauptgenerator der Gewalt ausgewiesen. Im Vergleich dazu lenkt Roncagliolo in Abril rojo den Blick etwas mehr auf die Gewalt des Sendero Luminoso und die Angst der Menschen vor den Terroristen, obwohl auch in diesem Roman der Täter letztendlich ein Vertreter des Staates ist. Grandes miradas mündet nicht in einen pseudonormativen Showdown, sondern in die Reflexionen Gabys über den Sinn von Guidos Tod und ihre eigene Vergeltungsaktion. Obwohl die Figuren nach dem Zerfall des Regimes ihre Erleichterung ausdrücken, entsteht nicht der Eindruck, mit dem Regime seien auch Gewalt und Verbrechen aus der Gesellschaft verschwunden. Dies wird durch die vorangegangenen Reflexionen Javiers erreicht. Javier erkennt, dass Macht eine erotische Anziehungskraft besitzt und sich die Menschen quasi von Natur aus in einer hierarchi298
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schen Ordnung zueinander positionieren ("nunca hay dos individuos en el mismo nivel", 280), was zu Dominanz und Unterdrückung führt. Der Roman löst diesbezüglich keine pseudonormativen Erwartungen ein. Das Grundthema des Romans besteht in der Ergründung dessen, wie sich institutionalisierte Gewalt auf die Subjekte auswirkt und welche Möglichkeiten diese haben, darauf zu reagieren. Eine Möglichkeit besteht darin, sich wie Guido dem Diktat des Staates zu widersetzen. Seine Unbeugsamkeit bezahlt er jedoch mit seinem Leben, ein Opfer, das keinerlei Veränderung im Machtgefüge herbeiführt, aber im allernächsten Umfeld als positives, hoffnungsstiftendes Beispiel fungiert. Menschen wie Guido werden jedoch nicht als Helden oder Märtyrer in die Geschichte eingehen, da ihr Wirkungskreis zu begrenzt ist und der offizielle Diskurs ihren guten Ruf post mortem beschädigt. Dennoch lohnt es sich nach Einschätzung Gabys, dieses Opfer zu bringen.16 Eine andere Möglichkeit der Positionierung, ist der Weg, den Javier wählt. Er arrangiert sich mit der Macht und schützt dadurch sich und seine Familie. Der Preis, den er dafür zahlt, ist die Spaltung seines Ich in ein inneres Sein und einen äußeren Schein. Wie bei Leonardo Paduras Figuren, die sich unter der kubanischen Parametrisierung verbiegen, führt Javiers äußerliche Unterwerfung unter den Machtdiskurs dazu, dass er eine Maske trägt. Eine dritte mögliche Verhaltensweise ist der Weg Don Osmáns, Don Ramiros und der Generäle Montesinos, also der Menschen, die sich von der Macht völlig vereinnahmen lassen und hinter dieser Rolle verschwinden. Sie sind nur noch willenlose Werkzeuge und werden durch hohe Gehälter, Bestechungsgelder, Aufstiegschancen und die Versprechung, andere unterwerfen zu dürfen, geködert. Sie sind der "Erotik der Macht" verfallen. Schließlich ist Gabys gewalttätige Rebellion eine weitere Möglichkeit, mit der Macht umzugehen. Um Kraft und Mut dafür zu schöpfen, muss Gaby einen Verwandlungsprozess durchlaufen und atavistische Instinkte aktivieren. Die äußere Veränderung durch das Abschneiden ihrer Haare hilft ihr dabei, in ihr Spiegelbild zu schlüpfen und ihr bisheriges Ich abzustreifen. Sie setzt sich sozusagen bewusst die Maske der Mörderin auf. Einen ähnlichen Prozess durchschreitet Máiquel in O Matador.
16 Dies entspricht auch der Position des Autors, der im Interview erklärt: "Yo creo que sí vale la pena aun cuando una persona no logra cambiar nada. Este también es un comentario que me han hecho sobre La hora azul que al final el personaje no logra cambiar nada, cambia él pero no cambia nada. Pero el hecho de que una persona cambie, que los demás sepan que una persona ha cambiado ya es significativo, ya es un hecho importante. Quiero decir que en el fondo, el acontecimiento individual puede no influir en otros individuos, pero es un acontecimiento, un cambio, una revelación, una resistencia del apego a los principios frente a la autoridad. Ya es un hecho significativo y eso es lo que cuenta. Finalmente nosotros contamos historias individuales. Pero ya no tenemos héroes, no tenemos seres que transforman el mundo" (Wieser 2010 [2009]: 214).
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Auch er verändert sich, als er sein Spiegelbild nach dem Färben der Haare erblickt. Im Gegensatz zu Gaby, die ihren Hass selbst im tiefsten Inneren sucht und aktiviert, wird er bei Máiquel jedoch durch die geschickte Manipulation von außen durch Angehörige der Oberschicht indoktriniert. Gabys (und damit auch Cuetos) Bilanz schlägt sich in der Erkenntnis nieder, dass Gegengewalt ohne ein sozialpolitisches Projekt sinnlos bleibt.
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6. Ludische Kriminalromane Im Süden des amerikanischen Kontinents floriert neben den verschiedenen Arten von realitätsbezogenen Kriminalromanen, die in Kapitel 4 und 5 behandelt wurden, noch ein weiterer Typus. Es handelt sich dabei um Kriminalromane, deren Handlung von einem realweltlichen Bezug weitgehend abgekoppelt ist. Dies wird auf verschiedene Weise erreicht, entweder durch die Parodie traditioneller literarischer Figuren, den humoristischen Umgang mit dem Thema Mord, die Konstruktion eines von der Außenwelt abgeschirmten Raumes oder die Verwendung fantastischer Elemente. Darüber hinaus operieren solche Werke häufig mit unterschiedlichen Arten von Metadiskursen über Literatur, die teils durch Intertextualität erzeugt werden, teils auch thematisch durch "literarische Morde" im Kontext von literarischen Ereignissen oder Institutionen. Die betreffenden Autoren fassen das Genre als literarisches Spiel auf, mit dem sie Humor, Spannung und Unterhaltung erzeugen und allerhand Gedankenexperimente durchführen. Dies belegt beispielsweise eine Aussage Pablo De Santis’: La literatura es un juego, un juego serio. Cuando juegan, los chicos están concentrados en su juego, saben que es algo serio, como toda manipulación de símbolos. No quieren que ninguna tontería de la vida real (la tarea escolar, por ejemplo) los distraiga. La literatura es esa clase de juego, cuando uno la lee y cuando uno la escribe. Es construir un mundo imaginario al que el lector le preste su fe (Wieser 2010: 79).
Romane dieser Machart können daher als "ludisch" charakterisiert werden. "Ludische Kriminalromane" verfolgen nicht das Ziel, soziale Missstände aufzudecken. Dennoch sind in manchen von ihnen Ansätze zur Gesellschaftskritik enthalten. Diese zielt aber in aller Regel auf das Verhalten von Menschen bestimmter Schichten und Berufsgruppen, genauer gesagt auf deren Diskurse, und nicht auf gesellschaftspolitische Zustände wie im Falle der "Gewaltromane". "Ludische Kriminalromane" greifen häufig auf einige gattungstypische Strukturen zurück, vor allem das Rätsel- und Ermittlungsschema, außerdem auf Figuren wie die des rationalen, analytischen Ermittlers, gehen jedoch deutlich freier mit diesen Elementen um als "Ermittlungsromane". Mit der hard-boiledTradition verbindet sie kaum etwas, da in ihnen Gewalt nicht als gesellschaftliches Phänomen fokussiert wird. "Ludische Kriminalromane" werden in erster Linie in Argentinien und Brasilien geschrieben. O Xangô de Baker Street von Jô Soares, Filosofía y Letras von Pablo De Santis und Borges e os Orangotangos Eternos von Luis Fernando Verissimo sind typische Beispiele dafür. In diese Reihe gehö301
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ren aber auch alle anderen Kriminalromane dieser drei Autoren. In Brasilien verfasste Rubem Fonseca außerdem Werke, die aufgrund ihres spielerischen Umgangs mit dem Gattungssystem, ihrer Komik und ihres Metadiskurses über Literatur in diese Kategorie eingeordnet werden können. In den 1980er Jahren erschienen Bufo & Spallanzani (1985) und Vastas Emoções e Pensamentos Imperfeitos (1989). Auch neuere Romane Fonsecas mit dem Protagonisten Mandrake – ein Anwalt, der die Funktion des Ermittlers übernimmt – lassen sich in diese Reihe eingliedern: E do Meio do Mundo Prostituto Só Amores Guardei ao Meu Charuto (1997) oder Mandrake e a Bíblia da Mogúncia (2005). Am engsten ist Fonsecas Erzählung "Romance negro" (1992) mit dem hier behandelten Roman von Verissimo verwandt, da beide die Erzählungen Edgar Allan Poes spielerisch in die Handlung einbeziehen.1 Andere Werke dieser Kategorie sind die parodistischen Romane von Glauco Rodrigues Corrêa (Crime na baia sul, 1980), Stella Carr (Eles Morrem, Você Mata!, 1987), Dagomir Marquezi (Detetive Castro em O Caso da Mulher Dragão, 1981), Ulisses Tavares (Sete Casos do Detetive Xulé, 1986) sowie Elogio da Mentira (1998) von Patrícia Melo in diese Kategorie. In Argentinien geht Osvaldo Soriano in Triste, solitario y final (1973) spielerisch mit der Gattung um (in seinem Roman taucht Chandlers Philip Marlowe als Figur auf). Ludisch sind außerdem die mit mathematisch-philosophischen Denkansätzen gespickten Romane von Guillermo Martínez, Crímenes imperceptibles (2003) und La muerte lenta de Luciana B. (2007). Dass diese Art von Kriminalroman fast ausschließlich in Argentinien und Brasilien zu finden ist, hängt sicher zum einen mit dem Einfluss Jorge Luis Borges’ zusammen. In Argentinien ist sein Einfluss auf die Kriminalliteratur kaum zu überschätzen, aber auch einzelne brasilianische Autoren (wie Verissimo) beziehen sich explizit auf ihn. Die parodistischen Kriminalromane Brasiliens weisen zum anderen auch darauf hin, dass einige Autoren das Genre vor dem Hintergrund der brasilianischen Realität nur in diesem Register für schreibbar halten. Die Gattungszugehörigkeit der "ludischen Kriminalromane" zur Kriminalliteratur ist in aller Regel unstrittig, enthalten sie doch meistens ein Mordrätsel und die damit verbundene Komponente der Ermittlung und docken deutlich an bestimmte Traditionslinien der Kriminalliteratur durch markierte oder unmarkierte Intertextualität an. Die Paratexte sprechen daher in der Regel eine deutliche Sprache. Jô Soares’ Roman O Fonsecas Werk weist auch viele Gemeinsamkeiten mit den "Gewaltromanen" auf. Vor allem in seinen contos zeigt er häufig aus der Täterperspektive die Anwendung roher Gewalt in einem urbanen Umfeld (siehe dazu auch die Untersuchung von O Matador in Kap. 5.1.1). In seinen Romanen spielt Gewalt ebenfalls eine große Rolle; in einigen überwiegt jedoch der ludische Gestus, wobei die Gesellschaftskritik in den Hintergrund tritt. Als "Gewaltromane" können beispielsweise A Grande Arte (1983), Agosto (1990) und O Seminarista (2009) bezeichnet werden. Der Übergang vom "Gewaltroman" zum "ludischen Kriminalroman" ist in Fonsecas Werk fließend. 1
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Xangô de Baker Street erschien bei der brasilianischen Companhia das Letras, allerdings im allgemeinen Belletristik-Programm. Der Umschlag zeigt eine Holmes-Silhouette mit der obligatorischen Pfeife und dem Detektivhut. Der Titel signalisiert durch den Straßennamen "Baker Street", Sherlock Holmes’ fiktiver Adresse, bereits die Verbindung zur Gattungstradition. Auf der U4 wird der Bezug zum "britânico e intrépido detetive" von Conan Doyle außerdem explizit hergestellt und mit dem Teaser "serial killer" zusätzlich interessant gemacht. Im Klappentext findet man die Gattungsangabe "romance cômico-policial". Auf Deutsch erschien der Roman 1997 beim Insel-Verlag unter Sherlock Holmes in Rio. Dieser Titel macht die Verbindung zur Gattungstradition noch expliziter, da Sherlock Holmes direkt genannt wird.2 Der Schutzumschlag zeigt auch hier eine Abbildung des Detektivs mit Pfeife und Trenchcoat (wenn auch ohne Mütze). Auf der U4 wird der Roman als "spritzige[r] Krimi" bezeichnet. Die peritextuelle Gattungszuschreibung ist damit so eindeutig, dass die Epitexte hierzu nicht mehr herangezogen werden brauchen. Ähnlich wie im Falle Cuetos erschienen die Romane von Pablo De Santis sowohl in einer argentinischen Ausgabe (bei Planeta Argentina) als auch einer spanischen (bei Destino und Seix Barral) je innerhalb der allgemeinen Belletristikreihe.3 Filosofía y Letras kam kurz nacheinander in beiden Ländern auf den Markt (Destino 1998 und Planeta Argentina 1999). Wie so häufig sind es auch hier mehr die Schlagwörter auf der U4, die in Richtung Kriminalliteratur weisen, als eine explizite Nennung der Gattung. Der erste Absatz der U4 (die Inhaltsangabe) ist bei beiden Ausgaben identisch. Darin wird insbesondere der Rätselcharakter des Romans hervorgehoben ("pistas", "se esconde", "laberinto", "enigma"), aber auch auf die für einen Kriminalroman fast obligatorischen Leichen wird hingewiesen ("El camino […] quedará sembrado de cadáveres"). Eine stichpunktartige Überprüfung der Peritexte der anderen Romane zeigt, dass die Verlage dort genauso verfahren. Aussagekräftige Schlüsselbegriffe findet man bei allen Romanen, bei manchen kommt überdies die Gattungsnennung hinzu. Beispielsweise wird bei El enigma de París (Planeta 2007) auf der U4 Eduardo Mendoza zitiert, der den Roman "una estupenda novela de intrigas" nennt (ein anderes Wort für novela de enigma); La traducción (Seix Barral 2008) wird auf der U4 als "novela policial" bezeichnet. In deutscher Übersetzung sind fünf Romane des Autors beim Unionsverlag in der Krimireihe metro erschienen, von der schon mehrmals die Rede war, so dass ihre Vermarktung als Kriminalliteratur hierzulande außer Frage steht. Beide Titel verbinden Sherlock Holmes mit Brasilien auf eine Weise, die der jeweiligen Zielgruppe verständlich ist, durch die Wörter "Xangô" und "Rio". 3 Im Folgenden werden nur seine Kriminalromane, nicht jedoch seine Jugendbücher berücksichtigt. 2
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Luis Fernando Verissimos erster Roman, O Jardim do Diabo, erschien 1988 bei L&PM Editores. Die Gattungszuschreibung ist im vorderen Klappentext äußerst deutlich. Der Roman stehe nicht nur "[n]a melhor tradição de Dashiell Hammet [!], Raymond Chandler e Elmore Leonard", sondern sei sogar "uma obra-prima da literatura policial". O Clube dos Anjos und O Opositor wurden bei Objetiva verlegt. Bei O Clube dos Anjos (1998) finden sich lediglich wichtige Schlagwörter im Klapptentext sowie auf der U4 ("morte", "perverso e misterioso", "crimes"); bei O Opositor (2004) stößt man im Klappentext auf die Gattungsbezeichnung "novela de suspense". Os Espiões erschien 2009 sowohl bei Objetiva als auch beim brasilianischen Zweig von Alfaguara. Hier finden sich wieder Stichwörter ("descobrir", "espiões", "enigma"), aber keine Gattungsangabe. Borges e os Orangotangos Eternos erschien in der Reihe Literatura ou Morte (Companhia das Letras), von der bereits in Bezug auf Padura die Rede war. Der Roman wird also dezidiert als Kriminalliteratur vermarktet. Im Klappentext finden sich weitere Hinweise ("quebra-cabeça inteligentíssimo", "solução de um crime"). Auch Poe als intertextueller Bezugspunkt wird dort erwähnt. Auf Deutsch sind drei Romane Verissimos bei Droemer erschienen. Bei zweien ist die peritextuelle Gattungszuschreibung explizit. Bei Vogelsteins Verwirrung (Borges e os Orangotangos Eternos) ist von einem "brilliante[n] literarische[n] Krimi" die Rede, und auf der U4 von Meierhoffs Verschwörung (O Opositor) wird Verissimo als "lateinamerikanische[r] Meister des literarischen Rätselkrimis" bezeichnet. Lediglich bei Der Club der Engel (O Clube dos Anjos) fehlt eine solche Angabe, da der Schwerpunkt der paratextuellen Information darauf abzielt, den satirischen und humoristischen Charakter des Romans hervorzuheben. Jedoch sind auch hier Schlüsselbegriffe wie "Morde" oder "aufgeklärt" im Klappentext enthalten. Da das dominante Kriterium für die Gruppierung dieser Romane ihre stark ausgebildete Systemreferenz darstellt, werden vor jeder der nachfolgenden Untersuchungen die konkreten Anknüpfungspunkte des jeweiligen Romans an das Gattungssystem vorgestellt. Aufgrund der besonderen Beschaffenheit der Romane ist bei ihrer Analyse die Frage nach dem gesellschaftspolitischen Stellenwert und der Darstellungsweise von Gewalt und Verbrechen wenig ergiebig und wird daher nur am Rande berücksichtigt. Für die Frage nach der Ermittlungsmethode und deren ideologischen Prämissen bieten die Romane jedoch reichlich Ansatzpunkte, da in allen dreien eine Ermittlung stattfindet. Auch die Untersuchung der Subjektkonstruktion führt zu interessanten Ergebnissen, jedoch nicht bei jedem Roman in gleich ausgeprägter Weise.
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6.1. Parodie: Jô Soares: O Xangô de Baker Street (Brasilien, 1995) Der Autor: Jô Soares José Eugênio Soares, besser bekannt als Jô Soares, wurde 1938 in Rio de Janeiro geboren. Die meisten Brasilianer kennen ihn in erster Linie als einen der erfolgreichsten und beliebtesten Fernsehmoderatoren und Comedians des Landes.1 Seinen ursprünglichen Wunsch, eine Diplomatenkarriere wie sein Vater einzuschlagen, gab er auf, als er sein Talent für Humor und Schauspielerei entdeckte. Bevor er Moderator und Comedian wurde, hatte er sich als Schauspieler, Dramaturg und Maler einen Namen gemacht. Im Alter von zwanzig Jahren spielte er zum ersten Mal in einem Kinofilm mit (O Homem do Sputnik, 1958) und feierte ein Jahr danach sein Theaterdebüt in Auto da Compadecida von Ariano Suassuna. In den Folgejahren inszenierte er selbst Stücke und verfasste das Drama O Flagrante sowie als Co-Autor Brasil, da Censura à Abertura und A Feira do Adultério.2 Seine Fernsehkarriere begann er bei Rio-TV, TV Continental und TV Tupi zunächst als Schreiber für Skripts und nach und nach auch als Comedian. Die großen Etappen seiner Laufbahn sind die zehnjährige Zusammenarbeit mit TV Record ab 1960 (Praça da Alegria, Jô Show, Família Trapo), die siebzehn Jahre bei Rede Globo (Faça Humor Não Faça Guerra, Satiricon, Planeta dos Homens, Viva o Gordo) und die anschließenden elf Jahre bei SBT ab 1988, wo er erstmals eine LateNight-Show nach amerikanischem Modell moderierte: Jô Soares Onze e Meia.3 Danach kehrte er zu Rede Globo zurück und ging 2000 dort mit einem ähnlichen Format unter dem Titel Programa do Jô auf Sendung. Seit einigen Jahren arbeitet er außerdem wieder als Dramaturg am Theater. Soares’ schriftstellerische Karriere verläuft im Gegensatz zu seinen Aktivitäten beim Theater, Film und Fernsehen deutlich langsamer. Seine ersten narrativen Texte sind die humoristischen crônicas des Bandes O Astronauta Sem Regime (1983), die vorher in der Tageszeitung O Globo erschienen waren, sowie die politischen, humoristischen crônicas der Sammlung Humor nos Tempos de Collor (1992), dessen Co-Autoren Luis Die folgenden biografischen Daten stammen aus dem Artikel von Salomão (2005) in der Zeitschrift Época sowie von Jô Soares offizieller Webseite bei Rede Globo (Desktop do Jô, derzeit nicht mehr einsehbar). 2 Brasil, da Censura à Apertura feierte 1980 in Rio de Janeiro Premiere. Das Datum der Premiere der anderen Stücke konnte ich nicht in Erfahrung bringen. 3 Es handelt sich um eine Mischung aus Talk Show und Comedy in der Art von Late Show with David Letterman in den USA. In Deutschland ist dieses Format aus der Harald Schmidt Show (19952003) bekannt. 1
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Fernando Verissimo und Millôr Fernandes sind. Darüber hinaus veröffentlichte Soares zusammen mit Armando Nogueira und Roberto Muylaert eine Sammlung von Kommentaren über die Fußballweltmeisterschaften von 1950 und 1954 unter dem Titel A Copa Que Ninguém Viu e a Que Não Queremos Lembrar (1994). Sein historisch-parodistischer Kriminalroman O Xangô de Baker Street (1995) machte ihn schließlich zu einem Bestsellerautor. Es folgten zwei weitere Romane ähnlicher Machart: O Homem que Matou Getúlio Vargas (1998) und Assassinatos na Academia Brasileira de Letras (2005). Obwohl Soares auch mit diesen Romanen Erfolge feiern konnte, bleibt O Xangô de Baker Street sein bekanntestes Werk.4 Aussagen des Autors zu seiner Poetik sind selten, da seine Persönlichkeit viel zu sehr im Bann des Fernsehens steht und Interviewfragen in der Regel auf diesen Bereich zielen. Auch die Literaturwissenschaft hat sein literarisches Schaffen bisher beinahe vollständig ignoriert. Das Objekt der Parodie: Sherlock Holmes5 Der Protagonist von O Xangô de Baker Street ist Sherlock Holmes, der weltberühmte, fiktive Meisterdetektiv Sir Arthur Conan Doyles. Die wichtigsten Charakteristika der Sherlock-Holmes-Reihe, die 56 Erzählungen und 4 Romane umfasst, bestehen in der Erzählperspektive, der Fokussierung von Verbrechen als Rätsel und der Ermittlungsmethode des Detektivs. Der Ich-Erzähler der Geschichten ist Dr. Watson, der als der weniger begabte Freund des Detektivs diesen mit stolzer Verehrung begleitet und seine Abenteuer nachträglich in der Form von Erinnerungen zu Papier bringt.6 Die enge Freundschaft zwischen Holmes und Watson sowie Holmes’ Desinteresse an Frauen nahmen zahlreiche Autoren zum Anlass, die beiden als homosexuelles Paar zu parodieren7 – auch Soares nutzt diese Konstellation für einige Witze. Obwohl das Pärchen aus Detektiv und Adlatus in der Kriminalliteratur tausendfach nachempfunden wurde (siehe Derrick), ist das eigentliche Kernstück des Ansatzes, nämlich die Erzählperspektive des Helfers, in der Kriminalliteratur keinesfalls dominant, sondern sogar ziemlich selten.8
Der Roman wurde unter der Regie von Miguel Faria Jr. verfilmt und lief 2001 in den brasilianischen Kinos. 5 Die folgende Charakterisierung der Sherlock-Holmes-Reihe erschien bereits in ähnlicher Form als Rezension von Das große Sherlock-Holmes-Buch (Fischer Taschenbuch) im Culturmag (Wieser 2009). 6 Diese Darstellungsform übernahm Conan Doyle von Edgar Allan Poes Kriminalerzählungen. 7 Dies wird beispielsweise in dem Film The Private Life of Sherlock Holmes (Billy Wilder, 1970) für einen Gag genutzt. 8 Pablo De Santis ist einer der wenigen spanischsprachigen Autoren, die dieses Schema wiederbeleben, z. B. in El enigma de París (2007). 4
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Bei Conan Doyle liegt der thematische Fokus außerdem nicht auf sozialen oder moralischen Dimensionen des Verbrechens, sondern auf dessen Rätselcharakter. Dass das whodunit oft durch einen Mord entsteht, macht die Fälle zwar dringlicher und spannender, ein Gewaltverbrechen ist aber nicht Bedingung dafür, dass der Mechanismus der Erzählungen funktioniert. Manchmal werden gewaltfreie Delikte, wie Betrug und Täuschung, thematisiert, oder sogar Rätsel, hinter denen sich überhaupt kein Verbrechen verbirgt.9 Holmes’ Fälle sind im Vergleich zu denen aus heutigen Kriminalromanen ziemlich harmlos, werden aber stets als besonders rätselhaft präsentiert. Zu ihrer Lösung müssen immer wieder vom Verbrecher hinterlassene Zeichen gedeutet oder Geheimschriften entziffert werden.10 Folgenreich waren auch Conan Doyles Fälle in verschlossenen Räumen wie in "The Adventure of the Speckled Band" (enthalten in The Adventures of Sherlock Holmes, 1892) oder "The Adventure of The Empty House" (in The Return of Sherlock Holmes, 1905).11 Die Rätsel der Sherlock-Holmes-Geschichten werden jedoch nicht so stringent auf eine eindeutige Lösung hin konstruiert, wie die späteren Romane der Agatha-Christie-Schule. Häufig belässt der Detektiv einen Teil seiner Schlussfolgerungen im hypothetischen Bereich, so dass der Zauber des Mysteriums am Ende nicht völlig verfliegt (z. B. in "The Adventure of The Empty House"). Die dritte wichtige Eigenschaft der Erzählungen besteht in Holmes’ Vorgehensweise. Er ist ein Verfechter der "deduktiven" Methode, die auf einer genauen Beobachtung der Wirklichkeit basiert und somit im positivistischen Zeitgeist verankert ist. Sie gründet auf der Überzeugung, dass aus Indizien korrekte Schlussfolgerungen abgeleitet werden können. Holmes weist beispielsweise in der Erzählung "A Scandal in Bohemia" (in The Adventures of Sherlock Holmes, 1892) auf die Gefahr hin, die ein induktiver Ansatz birgt: "I have no data yet. It is a capital mistake to theorize before one has data. Insensibly one begins to twist facts to suit theories, instead of theories to suit facts" (Conan Doyle 2005a [1892]: 11). 9 Kein Verbrechen, sondern die Sorge um seinen guten Ruf treibt beispielsweise den Fürsten in "A Scandal in Bohemia" (in The Adventures of Sherlock Holmes, 1892) zu Holmes. Auch in "A Case of Identity" (aus demselben Band) geht es weder um Gewalt, noch um Mord, sondern um Heiratsschwindel; in "Silver Blaze" (in The Memoirs of Sherlock Holmes, 1894) um versuchten Betrug beim Pferderennen und einen durch Unfall zu Tode gekommenen Stallknecht. 10 Eine Geheimschrift wird beispielsweise in "The Adventure of the Dancing Men" (in The Return of Sherlock Holmes, 1905) entziffert, wobei die Anlehnung an Poes "The Gold-Bug" spürbar ist. Die Faszination für das Okkulte lebt heute in Büchern und Filmen wie The Da Vinci Code (Roman von Dan Brown, 2003, Verfilmung von Ron Howard, 2006) oder The Oxford Murders (Roman von Guillermo Martínez, 2003, Verfilmung von Àlex de la Iglesia, 2008) weiter. Manche Werke dieser Richtung neigen dazu, das Verbrechen zu ästhetisieren (wie beispielsweise der Film Seven von David Fincher, 1995), was man den Sherlock-Holmes-Geschichten nicht vorwerfen kann. 11 Auch diese locked room mysteries sind in direkter Linie auf Poe rückführbar, namentlich auf "Murder in the Rue Morgue". Spätere Autoren entwarfen immer unwahrscheinlichere und unglaubwürdigere Settings wie beispielsweise Gaston Leroux in Le mystère de la chambre jaune (1907).
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Das induktive Konstruieren von Tatsachen im Hinblick auf die Theorie kann folglich dazu führen, dass man die "Wahrheit" oder Wirklichkeit eben nicht erkennt. Holmes’ Deduktionen wirken allerdings häufig wie aus der Luft gegriffen – ein weiterer Grund, warum er oft parodiert wurde.12 Des Weiteren ist der Detektiv trotz seines besserwisserischen Auftretens kein Alleskönner, sondern hat große Wissenslücken. In "The Five Orange Pips" (in The Adventures of Sherlock Holmes) erklärt Holmes, warum ihm dies nichts ausmacht: "[…] a man should keep his little brain attic stocked with all the furniture that he is likely to use, and the rest he can put away in the lumber room of his library, where he can get it if he wants it" (Conan Doyle 2005b [1892]: 151). Außerdem wird in derselben Erzählung deutlich, dass Holmes nicht unfehlbar ist und Folgeverbrechen nicht immer abwenden kann. Trotz des Beharrens auf Logik und Empirie wissen er und Watson, "that there are points in connection with it [the crime] which never have been, and probably never will be, entirely cleared up" (Conan Doyle 2005b [1892]: 133f.). Diese Skepsis haben die Sherlock-Holmes-Geschichten mit vielen Kriminalromanen von heute gemeinsam, was jedoch häufig vergessen wird, da die spätere englische Schule den Zweifel und den Zufall durch ein allzu großes Vertrauen auf Indizienbeweise verdrängt hat. Das HolmesKlischee, das die Rezeptionsgeschichte hervorgebracht hat, unterschlägt diese Feinheiten gern. Der Roman: O Xangô de Baker Street13 O Xangô de Baker Street ist eine humoristische Sherlock-Holmes-Parodie. Als Parodie wird im Allgemeinen die zumeist scherzhafte, aber auch respektvolle Nachahmung eines Werkes oder einer Gattung verstanden. Sie ist damit eine Form der Intertextualität. Für Linda Hutcheon kennzeichnet sie sich vor allem dadurch, dass sie einen Vorgängertext oder eine künstlerische Konvention innerhalb eines neuen pragmatischen Kontextes evoziert. Die Bezugnahme auf den Hypotext erfolgt bei der Parodie aus einer kritischen Distanz, in der die Unterschiede des neuen zum alten Text deutlicher markiert werden als ihre Gemeinsamkeiten
12 Die erste Parodie ist Mark Twains Erzählung "A Double Barelled Detective Story" (1902). Andere Sherlock-Holmes-Parodien sind die Arsène-Lupin-Romane von Maurice Leblanc, beispielsweise Arsène Lupin contre Herlock Sholmes (1908), sowie die Lestrade-Romane der 1980er Jahre von Meirion James Trow, in denen Sherlock Holmes der ständige Verlierer und Inspektor Lestrade von Scotland Yard der ständige Gewinner ist. 13 Zwar sind einige Rezensionen zu diesem Roman erschienen (z. B. Teixeira 1995, Ferraz 1997, Mujica 1999) doch nur wenige literaturwissenschaftliche Untersuchung: Pellegrini 2005 und Wieser 2011. Teilaspekte werde außerdem von Guenther (2008) angesprochen. Der von mir im Vorfeld veröffentlichte Aufsatz überschneidet sich teils mit der vorliegenden Analyse, behandelt genderFragen aber ausführlicher und geht auf die anderen hier untersuchten Aspekte nur am Rande ein.
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(Hutcheon 1985: 6). Hutcheon beschreibt die Parodie auch als eine Transkontextualisierung und ironische Inversion mit grundsätzlich ambivalenter Wirkung (Hutcheon 1985: 15 u. 32). Jô Soares betreibt in O Xangô de Baker Street eine Form der Parodie, insofern er die SherlockHolmes-Geschichten und Romane14 scherzhaft verzerrt, die Fähigkeiten des englischen Meisterdetektivs in ihr Gegenteil verkehrt und statt seiner Effizienz sein Scheitern darstellt. Die Transkontextualisierung vollzieht sich bei Soares sowohl textintern durch den Schauplatzwechsel von London nach Rio de Janeiro als auch textextern dadurch, dass der Autor selbst einer anderen Nation und Epoche angehört als Conan Doyle, was der Figur des Sherlock Holmes unweigerlich eine andere Bedeutung verleiht (man denke an Borges’ Pierre Menard). Der Titel des Romans lässt die Hybridität seiner fiktionalen Welt bereits vermuten. Hier werden die afrobrasilianische (Xangô) und die englische Kultur (Baker Street) evoziert. Aber auf wen oder was genau bezieht sich Soares? Die animistischen Naturreligionen verschiedener afrikanischer Volksgruppen wie der Yoruba (aus dem heutigen Nigeria), der Fon (aus dem heutigen Benin) oder der Bantu (aus dem heutigen Angola, Kongo und Mosambik) gelangten über die Sklaven nach Brasilien, bildeten Synkretismen und werden immer noch unter Namen wie Candomblé, Umbanda und Macumba praktiziert. Die Gläubigen treten in kultischen Zeremonien mit den orixás in Kontakt, Halbgöttern, die den verschiedenen Naturelementen zugeordnet sind und dem Glauben nach von der übergeordneten Gottheit Olorun erschaffen wurden.15 Bei den Candomblé-Zeremonien, die von einem babalorixá geleitet werden, vollführen die Eingeweihten (filhos de santo), einen rituellen Tanz, mit dem Ziel, den jeweiligen orixá in ihren Körper fahren zulassen, damit er sich vor den Menschen materiell manifestieren kann. Einer dieser orixás ist Xangô, der Schützer der Gerechtigkeit und der Gesetze, Freund der Menschen und Hüter des Lebens. Sein Attribut ist das Feuer und die Farbe Rot. Dies verleiht ihm eine erotische, sinnliche Komponente, weswegen er auch als Frauenverführer gilt (Kileuy/Oxaguiã 2009: 256). Das andere Element des Romantitels, "Baker Street", bezeichnet den legendären Wohnort des Sherlock Holmes. Der Detektiv residierte zwischen 1881 und 1904 mit Dr. Watson in einer Junggesellenwohnung in der fiktiven 221b Baker Street. Der Titel legt also nahe, dass im Roman Sherlock Holmes auf irgendeine Weise mit Xangô in Verbindung gebracht wird.
14 Soares bezieht sich nicht auf einen Einzeltext, sondern auf die Sherlock-Holmes-Texte im Allgemeinen. 15 Die Gottheiten heißen nur bei der Candomblé-Nation orixás, die ihre Begriffe aus der Sprache der Yoruba übernommen hat. Bei den Bantu heißen sie inquices und bei den Fon voduns (Kileuy/Oxaguiã 2009: 36).
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Obwohl Dr. Watson neben Sherlock Holmes im Roman auftritt, wird die Handlung nicht von ihm, sondern von einem heterodiegetischen Erzähler geschildert. Die Perspektive des treuen Bewunderers des Detektivs würde sich auch nicht dafür eignen, diesen zu verspotten, da Dr. Watson dazu seine grundlegenden Eigenschaften aufgeben müsste. Der heterodiegetische Erzähler fokalisiert sämtliche Romanfiguren fast ausschließlich extern nach der Technik des camara eye und lässt keine Gelegenheit aus, einen Witz in den Handlungsablauf einzuflechten. Der Roman weist nur wenige längere narrative Passagen mit Beschreibungen von Orten oder Situationen auf. Es überwiegen die Dialoge, die vom Erzähler knapp und humorvoll kommentiert werden, so dass die einzelnen Episoden den Charakter von Sketschen annehmen. Außerdem sind acht kursiv gedruckte Passagen enthalten16, in denen ein heterodiegetischer Erzähler den Mörder intern fokalisiert. Die Identität des Mörders wird jedoch erst am Ende des Romans preisgegeben. O Xangô de Baker Street spielt 1886, also im Brasilien des Zweiten Kaiserreichs, das Dom Pedro II. von 1840 bis 1889 regierte. Zu dieser Zeit stand das Land kurz vor der Abschaffung der Sklaverei (1888) und dem Putsch, der den Übergang zur Republik einleitete und die Kaiserfamilie zwang, ins Exil zu gehen. Positivismus, Sozialdarwinismus und die rassistische Kriminologie Lombrosos und Gobineaus waren die großen, aus dem Westen importierten, "wissenschaftlichen" Errungenschaften der Epoche. Das Romangeschehen kreist um zwei Kriminalfälle. Der erste handelt vom Raub einer Stradivari, die der Kaiser seiner Konkubine, Baronesa de Avaré, geschenkt hat. Dieser Fall wird zum Anlass dafür, dass Sherlock Holmes vom Kaiser höchstpersönlich nach Rio gerufen wird, und zwar auf Anraten der fiktionalisierten französischen Schauspielerin Sarah Bernhardt.17 Diese preist Holmes als "o primeiro detetive dedutivo do mundo" (18). Die Abenteuer des Sherlock Holmes beginnen in Conan Doyles Fiktion in den 1870er Jahren, so dass der Detektiv zum Handlungszeitpunkt von O Xangô de Baker Street bereits auf dem Höhepunkt seiner Karriere steht, Dr. Watson jedoch noch nicht angefangen hat, die Fälle niederzuschreiben.18 Der zweite Kriminalfall steht im Mittelpunkt der Romanhandlung. Ein Serienmörder treibt in Rio de Janeiro sein Unwesen. Er hat bereits vor Holmes’ und Watsons Ankunft zwei Frauen ermordet, eine Prostituierte und eine Kammerdienerin des Kai-
Diese Abschnitte stehen zu Beginn der Kapitel 4, 7, 10, 11, 13, 18, 22 und 24. Ferraz hebt in ihrer Rezension zu Recht hervor, dass anhand der übertriebenen Bewunderung, die die Romanfiguren Sarah Bernhardt entgegen bringen, das afrancesamento der brasilianischen Gesellschaft veräppelt und kritisiert wird (Ferraz 1997: 195). 18 Der erste Sherlock-Holmes-Roman erschien 1887 (A Study in Scarlet), also ein Jahr nach dem Abenteuer in Brasilien. Darin wird erzählt, wie Watson anfängt, die Fälle des Sherlock Holmes zu verschriftlichen. Jô Soares hat in seinen Roman eine humoristische Erklärung dafür eingebaut, warum Watson nie von dem Fall in Brasilien berichtet hat: wegen Holmes Misserfolg. 16 17
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serpalastes (der einen wurde die Kehle, der anderen der Bauch aufgeschlitzt). Beide Male hat der Mörder eine Geigensaite im Schamhaar der Toten platziert und den Leichen die Ohren abgeschnitten. Delegado Mello Pimenta, der mit dem Fall betraut wurde und von Holmes’ Ankunft erfahren hat, bittet den Briten um Hilfe. Die Indizien zu deuten, müsste einem Sherlock Holmes eigentlich leicht fallen, stellen sie doch ein typisches Mordrätsel dar, bei dem der Täter bewusst Erkennungszeichen hinterlässt, die den Scharfsinn des Ermittlers herausfordern und seine Festnahme herbeiführen sollen.19 Die hohen Erwartungen, die die Romanfiguren auf Holmes setzen, beruhen auf ihrem Vertrauen in dessen deduktive Methode.20 So kommentiert der Marquês de Salles, einer der Intellektuellen, die sich regelmäßig treffen, um über den Fortgang der Ermittlungen zu diskutieren: "Um bom detetive tem que ter a capacidade de chegar a conclusões, baseado nas pistas, usando apenas a lógica e o raciocínio. Estou certo, delegado?" (91). Pimenta antwortet ihm: "E devo completar, marquês, que não é fácil como parece" (91), ein Statement, dem der Fortgang der Romanhandlung Recht gibt. In Conan Doyles Erzählungen zieht Holmes aus Indizien wie ein paar Dreckspritzern am Ärmel eines Kleidungsstücks die unglaublichsten Schlüsse und trifft dabei immer ins Schwarze, was in seinen Mitmenschen großes Erstaunen und Bewunderung auslöst. Meist wird sein Können zu Beginn einer Erzählung vorgeführt, indem er Watson oder einen gerade eingetroffenen Klienten mit seinen Schlussfolgerungen verblüfft, wie in folgendem Beispiel aus "The Adventure of the Speckled Band": "[…] You have come in by train this morning, I see." "You know me, then?" "No, but I observe the second half of a return ticket in the palm of your left glove. You must have started early, and yet you had a good drive in a dog-cart, along heavy roads, before you reached the station." The lady gave a violent start, and stared in bewilderment at my companion. "There is no mystery, my dear madam," said he, smiling. "The left arm of your jacket is spattered with mud in no less than seven places. The marks are perfectly
19 Derartige Rätsel, in denen der Mörder absichtlich Spuren für den Ermittler hinterlässt, gibt es häufiger in Kriminalromanen und -filmen wie beispielsweise in dem schon erwähnten Film Seven. 20 Damals war eine Identifizierung per Fingerabdruck noch nicht möglich, weswegen die science of deduction als die modernste Ermittlungstechnik gelten durfte. Im Roman weist Holmes auf diesen Umstand hin: "Pena que os estudos de Juan Vucetich ainda não sejam conclusivos […]. Um policial argentino de Buenos Aires que está desenvolvendo um sistema de identificação por meio dos dedos. Ele chama o processo de 'datiloscopia comparada' […]. Infelizmente, por enquanto, nada disso tem alguma utilidade para nós" (233). Juan Vucetich entwickelte die Daktyloskopie etwa zeitgleich wie der Brite Francis Galton. 1892 wurde in La Plata zum ersten Mal ein Fall anhand von Fingerabdrücken aufgeklärt (Ministerio de Seguridad o. J.).
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fresh. There is no vehicle save a dog-cart which throws up mud in that way, and then only when you sit on the left-hand side of the driver." "Whatever your reasons may be, you are perfectly correct," said she (Conan Doyle 2005c [1892]: 229f.).
Holmes’ Deduktionen funktionieren in London, weil sich der Detektiv hervorragend mit dem Kontext auskennt. Er weiß, welche Fuhrwerke von wo nach wo fahren, wie lange man braucht, eine bestimmte Strecke zurückzulegen, und wie die Bahnfahrkarten aussehen. In "The Five Orange Pips" zählt Watson das Studium der Dreckspritzer in der Londoner Gegend sogar explizit zum Spezialwissen seines Freundes, wenn er sagt, seine Kenntnisse in Geologie seinen "profound as regards the mudstains from any region within fifty miles of town" (Conan Doyle 2005b [1892]: 116). Jô Soares parodiert in seinem Roman die deduktive Methode, indem er die Schlussfolgerungen des Meisterdetektivs ins Lächerliche verkehrt, wie in folgender, verkürzt wiedergegebener Szene, in der Holmes den Hoteldiener Inojozas anspricht, bevor dieser seine Nachricht überbringen kann: Não precisa dizer nada. Presumo que o senhor sofra da doença conhecida como dança de são Vito, e que ontem teve uma discussão com sua esposa. Além disso, está me trazendo um bilhete da senhorita Anna Candelária e teve que atracar-se há pouco com um cigano cujos brincos não são de ouro […] (217f.).
Nachdem sich der verblüffte Hoteldiener erkundigt, wie Holmes diese Schlussfolgerungen gezogen hat, antwortet dieser: Elementar, meu caro Inojozas. A dança de são Vito […] provoca tremores incontroláveis nos pacientes, o que explica as manchas de água nas suas lapelas, causadas por um copo de água derramado. A discussão com a esposa é facilmente explicada pela falta de aliança no seu dedo, cuja marca ainda aparece; noto também que o bilhete que o senhor traz foi escrito por alguém com caligrafia feminina, logo, da senhorita Anna Candelária, de quem espero notícias. A explicação da luta corpo a corpo com o gitano é mais óbvia ainda. Que melhor lugar para se agarrar um cigano numa briga do que os brincos, deixando-o totalmente indefeso? Quanto à constatação de que seus brincos eram de um metal qualquer e não de ouro, deve-se às manchas esverdeadas de azinhavre que pude observar em suas mãos […] (218).
Später wendet sich Inojozas an Watson und stellt alle Punkte richtig: […] posso garantir-lhe que não sofro de nenhuma doença. Minha roupa está molhada porque ainda está chovendo. Além disso, sou solteiro, o que eu tinha no dedo não era uma aliança e sim um anel, que tirei por estar muito apertado. Este papel aqui não é nenhum bilhete desta Anna Candelária, mas uma missiva minha que eu ia colocar nos correios, e há muitos anos não vejo um cigano. As manchas na minha mão são de tinta, porque sujei-me ao escrever a carta (219).
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In dieser Szene wird das deutlich, worauf Delegado Mello Pimenta vorher hingewiesen hat: "não é fácil como parece". Die science of deduction, die den Anspruch erhebt, universal zu sein, erweist sich als nicht wissenschaftlich im positivistischen Sinn, da sie im Wesentlichen auf ortsspezifischem Kontextwissen und der richtigen Intuition basiert. So kennt sich der Detektiv zwar mit englischen Jagdwagen aus und weiß, welche Art von Schmutzspritzern sie hinterlassen, aber er erkennt die Spuren der brasilianischen Regenergüsse nicht, was natürlich eine humoristische Überspitzung darstellt. Auch das Tragen eines Rings interpretiert er allzu traditionell, denn Inojozas ist homosexuell, was er durch seine feminin anmutende Handschrift zum Ausdruck bringt. Der Hoteldiener gerät daher in Sorge, dass Holmes, der seine Handschrift für die einer Frau gehalten hat, dies herausgefunden haben könnte: "Inojozas fez uma prece silenciosa a santo Onésimo, seu padroeiro, para que seu terrível segredo jamais fosse revelado" (221). Sherlock Holmes’ Methode wird durch Szenen wie diese als unzuverlässig und pseudo-wissenschaftlich entlarvt, da Indizien immer mehrere Deutungen zulassen.21 Deswegen sind seine "Deduktionen" genau das, was Conan Doyles’ Detektiv ablehnt, nämlich "Konstruktionen" von vermeintlichen Tatsachen. Aber nicht nur Holmes’ geistige Unfähigkeit, seine Ermittlungsmethode an den tropischen Kontext anzupassen, bedingen seinen Misserfolg. Auch seine physische Konstitution leidet in Brasilien. Bei einer nächtlichen Verfolgungsjagd ist er dem Täter dicht auf den Fersen, muss ihn jedoch wegen seines akuten Durchfalls, den die zuvor genossenen Gerichte mit Dendê-Öl ausgelöst haben, entkommen lassen. Das Dendê-Öl wird zu seinem schlimmsten Feind: "O dendê produzira uma proeza que nem mesmo seu arquiinimigo, o professor Moriarty22, conseguira realizar: deter Sherlock Holmes" (138). Ein weiterer Faktor, der Holmes physisch und geistig beeinträchtigt, ist sein Marihuana-Konsum. Anna Candelária, die er bei der nächtlichen Verfolgungsjagd vor dem Mörder gerettet hat, reicht ihm cannabishaltige cigarros índios.23 Im Gegensatz zum Kokain, das Holmes zu Hause in der Baker Street konsumiert und das zu dieser Zeit in den Apotheken frei erhältlich war, benebelt das Marihuana seinen Geist, anstatt ihn aufzuhellen. Holmes’ Devise, die er 21 In einer anderen Szene erklärt Holmes, dass die Mähnenhaare, die im Schambereich der Mordopfer gefunden wurden, darauf hinweisen, dass der Mörder reinrassige Pferden besitzt, da sie mit einer bestimmen Pomade eingeschmiert wurden, der "Mr. Brewster Pommade, confeccionada especialmente em German Street" (283). Der Marquês de Salles klärt ihn jedoch auf, dass es sich um gewachste Mähnenhaare einer Violinsaite handelt. 22 Professor Moriarty fungiert in den Erzählungen von Conan Doyle als das Sinnbild des Verbrechens und damit des Bösen. 23 In Kapitel 4 des Romans befindet sich eine Doppelseite, die dem Layout einer Zeitung nachempfunden ist. Darin sind die im Roman verspotteten Diskurse (Comte, Hobbes, Kriminologie, Sklavenhandel und die Klatschspalte "Mundanalidades") sowie eine Werbeanzeige für cigarros índios enthalten. Diese Zigaretten sollen gegen Asthma, Katarrh und Schlaflosigkeit helfen (vgl. 38f.)
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im Roman mehrmals gegenüber Watson ausspricht, besteht darin, sich möglichst schnell und gut an die lokalen Gegebenheiten anzupassen. Dies tut er jedoch in einer Weise, die seinen geistigen Fähigkeiten schadet, da er die Trägheit und Laster der Brasilianer übernimmt, welche somit ebenfalls zur Zielscheibe von Soares’ Spöttelei werden: Sem dúvida, adaptara-se ao ritmo indolente do Rio de Janeiro. Dormia e acordava tarde e não se passava um dia sem que não enchesse seu cachimbo com uma porção de cannabis. Trocara definitivamente a cocaína pela erva. Também não dispensava a cachaça, sempre, é claro, com gelo, açúcar e limão (326).
Es handelt sich hier lediglich um eine äußerliche Anpassung an die Annehmlichkeiten des Kontexts, an die sich keine innerliche Anpassung im Sinne einer Hinterfragung der eigenen Denkkategorien anschließt. Trotz dieser Widrigkeiten gelingt es Sherlock Holmes, immerhin eine richtige Schlussfolgerung zu ziehen. Er glaubt, die zwei Geigensaiten im Schamhaar der Opfer deuten darauf hin, dass zwei weitere Opfer folgen werden: "O violino tem quatro cordas: G, D, A, E – explicou, designando as notas por letras, no sistema usado pelos ingleses. – Se ele já usou duas cordas, faltam ainda mais duas" (151). Über die Saiten bringt Holmes den Serienmörder außerdem in Verbindung mit dem Räuber der Stradivari. Er vermutet, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt, und zwar um einen Geisteskranken, da kein Motiv auszumachen ist: "O homem é um demente que gosta de assassiná-las em série, é o que eu chamaria de serial killer. Isso mesmo, serial killer – decretou Sherlock Holmes, cunhando a expressão" (152).24 Solche geisteskranken Verbrecher, die ohne erkennbares Motiv handeln, gibt es in Conan Doyles Erzählungen noch nicht. Der Rätselcharakter der Erzählungen verlangt, dass die Fälle prinzipiell lösbar sind und dies gelingt dadurch, dass ein Tatmotiv vorliegt.25 Aufgrund der Vermutung, dass der Täter ein Psychopath ist, beschließt Holmes, sich in einer psychiatrischen Klinik Rat zu holen. Um nicht erkannt zu werden, verkleidet er sich als alter Matrose mit einer Augenbinde und einer Hakenprothese an der Hand. Die Verkleidung hat aber nicht denselben Effekt wie in London. Conan Doyles’ Holmes besitzt die Fähigkeit, sich so gut zu verkleiden, dass nicht einmal Watson ihn erkennt. In Brasilien aber hält ihn der Arzt der Klinik aufgrund seiner missglückten Verkleidung für verrückt, wodurch die Figur ein weiteres Mal verlacht wird.
24 Hier wird Sherlock Holmes die Prägung des Begriffs serial killer zugeschrieben. Die brasilianischen Romanfiguren übernehmen den Terminus mit verballhornter Aussprache, was einen wiederkehrenden Witzeffekt produziert. 25 Eine literarische Tradition, in der Fälle behandelt werden, in denen kein klassisches Motiv vorliegt, entsteht erst viel später durch Werke wie Truman Capotes In Cold Blood (1966).
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In der Irrenhaus-Szene überlagert sich die Sherlock-Holmes-Parodie überdies mit der Parodie einer weiteren berühmten Figur der Kriminalliteratur: Holmes holt sich bei einem Insassen der Anstalt Rat, Doutor Aderbal Câmara, einem ehemaligen Irrenarzt, der sich in einen Kannibalen verwandelt hat. Die Anspielung auf Thomas Harris’ Roman The Silence of the Lambs (1989, Verfilmung 1991 unter der Regie von Jonathan Demme) ist unübersehbar. Bei Thomas Harris wird ebenfalls ein Insasse einer psychiatrischen Klinik, Hannibal Lecter, bei der Aufklärung eines Serienmordes zu Rate gezogen. Hannibal Lecter teilt mit Aderbal Câmara seinen früheren Beruf (auch er war forensischer Psychiater) und seine Neigung zum Kannibalismus.26 Wie bei Hannibal stellt sich außerdem heraus, dass Aderbal intelligenter ist als der Ermittler. Er erkennt Holmes sofort trotz seiner Verkleidung. Ironischerweise ist die Grundlage dafür denkbar banal: Er hat ein Foto von ihm in der Zeitung gesehen. Im Gegensatz zum vermeintlichen Meisterdetektiv scheint der Psychopath mit viel common sense gesegnet zu sein: "[…] eu sou louco, mas não sou idiota" (249). Anstatt Holmes direkt den Namen des Mörders preiszugeben, gibt Aderbal ihm als intellektuelle Herausforderung ein Rätsel in Versform auf, womit er an den quasi ältesten Hypotext der Kriminalliteratur anknüpft: den Ödipus-Mythos. König Ödipus muss ein Rätsel lösen, damit die Sphinx ihm den Weg freigibt.27 Im Gegensatz zu Ödipus, gelingt es Holmes jedoch nicht, das Rätsel zu lösen. Durch die KlinikSzene wird der Sherlock-Holmes-Hypotext ein weiteres Mal verspottet, da der traditionelle Detektiv irrationalen, psychopathischen Verbrechern nicht gewachsen zu sein scheint. Die Lösung von Aderbals Rätsel gelingt schließlich Delegado Mello Pimentas Ehefrau Esperidiana. Sie verfügt über Kontextwissen, das es ihr erlaubt, Schlussfolgerungen zu ziehen, die der Ausländer Holmes nicht ziehen kann. Ihr ist der Name Paulo Barbosa bekannt, der in den Versen genannt wird: Barbosa ist der Haushofmeister des Kaisers und gab der Stadt Petrópolis, dem Sommersitz des Kaiserlichen Hofs, ihren Namen. Dies deutet laut Esperidiana darauf hin, dass der nächste Mord in Petrópolis verübt wird, wahrscheinlich sogar im Umfeld des Kaisers. Mello Pimenta, der gereizt auf die Schlüsse seiner Frau reagiert, will wissen, woher sie all das weiß, worauf diese schlicht auf die Klatschkolumne der Zeitung verweist: "Li na 'Mundanalidades' do Múcio Prado, no Jor-
26 Ein weiteres Indiz für die Anspielung auf Hannibal Lecter ist, dass Aderbal Câmara eine "máscara de Flandres" trägt, die in Brasilien Sklaven aufgesetzt wurde, um sie vom Alkoholkonsum und vom Rauchen abzuhalten. Sie hat nur drei Öffnungen für die Augen und die Nase. Hannibal Lecter bekommt eine ähnliche Maske aufgesetzt, nachdem er einer Krankenschwester die Zunge abgebissen hat. 27 Natürlich gehört König Ödipus nicht im engeren Sinne zur Kriminalliteratur, wird aber manchmal angeführt, wenn es darum geht, ältere Texte zum Thema "Verbrechen" als Vergleichsmoment heranzuziehen.
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nal de Commercio" (254).28 Die beiden Ermittler werden als ungebildet verspottet, vor allem Mello Pimenta, der das Rätsel als Brasilianer eigentlich hätte lösen müssen. Die tradierte Figur des männlichen, scharfsinnigen Detektivs wird dadurch unterwandert. Auch andere weibliche Romanfiguren wie die Komponistin Chiquinha Gonzaga (die ebenfalls auf einer historischen Person basiert) erweisen sich als scharfsinniger als die männlichen Figuren, was sich wie ein running gag durch den Roman zieht. Gegen Ende des Romans erhält Mello Pimenta einen Brief des serial killer und liest ihn einer Gruppe von Intellektuellen vor. Dazu lädt er Nina Milet ein, einen Vertreter der Kriminologie und Rassenlehre nach Lombroso und Gobineau. Da der Mörder den Brief mit "Oluparun" unterschreibt, was auf Yoruba "Zerstörer" bedeutet, vermuten die Intellektuellen, dass es sich um einen Schwarzen oder einen Mischling handeln muss. Daraufhin erläutert Nina Milet die degenerierenden Folgen der Rassenmischung sowie die Methode der Phrenologie. Einige der anwesenden Personen halten jedoch Argumente dagegen: der fiktionalisierte Abolitionist José do Patrocínio und Holmes selbst, der in die Mulattin Anna Candelária, also in ein nach Gobineau rassisch degeneriertes Wesen, verliebt ist. Am Ende wird sich herausstellen, dass der Mörder ein Weißer ist, wodurch der wissenschaftliche Diskurs der Zeit verulkt und den skeptischen Figuren Recht gegeben wird. Weitere rassistische Vorurteile werden durch Mukumbe, einen ehemaligen Sklaven, der als freier Hausdiener für die Baronin von Avaré arbeitet, konterkariert. Die Beschreibung seines Äußeren passt zum Klischee des schwarzen, starken Sklaven, der sich für die harte Arbeit auf den Plantagen eignet: O negro, de quarenta anos, devia ter quase dois metros de altura e o redingote estufado não conseguia esconder os músculos poderosos do homem. Sua cabeça raspada e uma cicatriz que ia do olho esquerdo até a comissura dos lábios lhe davam uma aparência ainda mais assustadora (129).
Jedoch entsprechen Mukumbes innere Eigenschaften diesem Bild nicht. Er erweist sich als hervorragender Pianist, der neben den "weißen" Musikstilen Walzer und Polka auch "schwarze" Stile spielt, nämlich Maxixe und Samba ("danças de roda trazidas de Angola", 130) und schon Produkt der kulturellen Hybridisierung ist. Als er von Holmes als núbio bezeichnet wird, erklärt er mit Würde seine hohe Herkunft: "Minha família vem do Congo. Meu pai era um rei da nação Iorubá, prisioneiro dos Zingala, que foi vendido aos portugueses" (130). Außerdem spricht 28 Der Artikel, auf den sich Esperidiana bezieht, ist ebenfalls auf der Doppelseite abgedruckt, die das Layout einer Zeitung nachahmt (vgl. 38f.).
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er hervorragendes British English. Äußeres und Inneres wirken in der Logik des hegemonialen Diskurses daher widersprüchlich. Mukumbe nimmt Holmes und Watson schließlich zu einer CandombléSitzung mit, weil der babalorixá über Informationen zum Serienmörder verfüge. Der Zeremonienmeister stellt fest, dass Holmes dem orixá Xangô zugeordnet ist, so dass der Titel des Romans seine Erklärung findet. Da Xangô als der Schützer der Gerechtigkeit und der Gesetze sowie als Frauenverführer gilt und Holmes in Brasilien weder das eine noch das andere verkörpert, verbirgt sich in der Zuordnung Holmes’ zu diesem orixá ein weiteres parodistisches Element. Xangô will folgerichtig auch nicht in Holmes inkorporieren. Dafür fährt ein weiblicher Geist in Dr. Watson, wodurch dessen sexuelle Orientierung in Frage gestellt wird: – É um exu-fêmea, um demônio com jeito de mulher-dama. Só costuma baixar nas mulheres ou então em… esse moço é adé? – O que é isso? – Efeminado (305).
Auf Holmes Frage, wer der serial killer sei, antwortet der besessene Watson wieder in Rätselform, ähnlich wie Aderbal Câmara in der Klinik: "Ha! Ha! Ha! Ha! Mas suncê conhece o zirikili! Já saiu com ele! Já andou juntinho de suncê. Suncê só não descobre porque tem fumado muita itabojira no cachimbo…" (306). Doch auch diese Information kann Holmes nicht deuten und für die Lösung des Falls nutzen. Wie der englische Detektiv vorhergesagt hat, folgen zwei weitere Frauenmorde. Der Täter wird immer grausamer; seinem dritten Opfer reißt er die Leber heraus und schmiert sie sich übers Gesicht. Das vierte Opfer ist die Baronesa de Avaré, die Konkubine des Kaisers und ehemalige Besitzerin der Stradivari. Ihr schneidet er das Herz heraus und isst es. Der Kreis schließt sich: Der Täter stiehlt der Baronin erst die Stradivari und kommt am Schluss zurück, um sie zu töten. Sie ist Ausgangspunkt und Ziel seiner Machenschaften. Die Darstellung seiner Brutalität bleibt dabei stets innerhalb des Komödienstils des ganzen Romans gefangen und erzeugt beim Leser keine Betroffenheit, sondern allenfalls schauderhaften Ekel.29 Holmes und Watson müssen schließlich abreisen, ohne den Fall gelöst zu haben. Beim Einschiffen treffen sie den Buchhändler Miguel Solera de Lara, der auch an Bord geht und seinen Lebenstraum von einem Geschäft in London verwirklichen will. Er ist dem Leser schon lange Zeit bekannt als der Besitzer der Buchhandlung "O Recanto de Afrodite", in 29 Diese Auffassung vertritt auch Pellegrini: "[The novel] does not reinforce the idea of violence as a spectacle, which is nowadays prominent. Rather it rejects excess or obscenity, privileging laughter istead" (Pellegrini 2005: 30).
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der sich die Gruppe Intellektueller (darunter Olavo Bilac, Chiquinha Gonzaga und José do Patrocínio) regelmäßig trifft. Er ist auch derjenige, bei dem die Baronin von Avaré ihre Bücher bestellt. Im letzten kursiv gedruckten Kapitel wird sein Geheimnis gelüftet: Die Reihenfolge der Violinsaiten verwiest eindeutig auf seinen Namen, aber nur wenn man das in der Romania verbreitete lateinische System benutzt: MI für Miguel, SOL für Solera, LA für Lara und RÉ für "Recanto de Afrodite". Im Namen der Buchhandlung steckt außerdem eine Verbindung zu den Mordopfern, die für Solera de Lara mit Sünde befleckt sind: eine Prostituierte, eine Kammerdienerin, die zu später Stunde noch draußen war, ein Mädchen mit einem unehelichen Kind, eine Schauspielerin und schließlich die Konkubine des Kaisers. Aphrodite ist die Schützerin solcher "sündhaften" Frauen: "O bárbaro saxão não sabia que a filha de Urano, nascida nas espumas de esperma da genitália decepada do pai, era venerada pelas putas e protetora de todas as rameiras" (341). Der Name "Recanto de Afrodite" verweist darüber hinaus auf die Körperstelle, an der der Täter die Geigensaiten platziert hat: "Afrodite, entronizada em sua concha. O estulto investigante ignora que chamam a vagina, concha" (341). Auch das letzte Indiz, die abgeschnittenen Ohren, reiht sich nun in die Entschlüsselung ein: "No fundo sempre soube que o néscio britânico jamais as ligaria a ele. Orelhas. Orelhas de livro. Livro, livreiro" (342). Alles wird am Ende auf Holmes linguistische Inkompetenz zurückgeführt: "O pobre tolo conhecia bem a língua, porém falava como um lusitano, para quem essas orelhas são abas" (342). Des Weiteren hat Solera de Lara, im Gegensatz zu Holmes’ Annahme, keineswegs ohne Motiv gehandelt. In den kursiv gedruckten Kapiteln erweist er sich als misogyn, weil er Frauen, vor allem Prostituierte und Ehebrecherinnen, für den Verfall der Sitten der Männer verantwortlich macht. Die Baronin von Avaré ermordete er, da sie seiner Ansicht nach den Kaiser verführt hat: "A Grande Prostituta veio para contaminar os reis da terra e, assim, perverteu o néscio imperador dos trópicos" (321). Auf ihre Stirn hat er mit Blut das Wort "mistério" (325) in Anlehnung an die Hure Babylon in der Offenbarung des Johannes (17,5) geschrieben, die von den Bibelexegeten als Allegorie für die Feinde der Gläubigen und des Römischen Reichs gedeutet wird. So hypertrophiert er die Baronin aufgrund ihrer Beziehung zu Dom Pedro II. zur Feindin des brasilianischen Kaiserreichs, das sich bereits im Niedergang befindet. Der Roman endet mit einem Zeitungsartikel über und einem Brief von Jack the Ripper (das Zeitungslayout wurde im Roman nachempfunden). Der Artikel ist auf den 2. September 1888 datiert und stammt aus dem Boulevardblatt The Star.30 Der historische Serienmörder des Londoner 30 Auf der Seite www.casebook.org, die von Stephen P. Ryder und Johnno herausgegeben wird, findet sich eine lange Sammlung von transkribierten Zeitungsartikeln über Jack the Ripper aus
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Stadtteils Whitechapel verübte seinen ersten Mord am 31. August 1888.31 Tatsächlich erhielten die Presse und die Polizei im Herbst desselben Jahres hunderte von vorgeblichen Bekennerbriefen, von denen aber nur ein Bruchteil – wenn überhaupt einer – vom wirklichen Täter stammen dürfte. Der Brief in Soares’ Romans basiert auf folgendem Originalschreiben: Dear Boss, I keep on hearing the police have caught me but they wont [!] fix me just yet. I have laughed when they look so clever and talk about being on the right track. That joke about Leather Apron gave me real fits. I am down on whores and I shant quit ripping them till I do get buckled. Grand work the last job was. I gave the lady no time to squeal. How can they catch me now. I love my work and want to start again. You will soon hear of me with my funny little games. I saved some of the proper red stuff in a ginger beer bottle over the last job to write with but it went thick like glue and I cant use it. Red ink is fit enough I hope ha. ha. The next job I do I shall clip the ladys ears off and send to the police officers just for jolly wouldn't you. Keep this letter back till I do a bit more work, then give it out straight. My knife's so nice and sharp I want to get to work right away if I get a chance. Good Luck. Yours truly Jack the Ripper Dont mind me giving the trade name PS Wasnt [!] good enough to post this before I got all the red ink off my hands curse it No luck yet. They say I'm a doctor now. ha ha (zitiert aus Ryder/Johnno, Unterstreichungen im Originalbrief).
Dieser Brief gilt als echt, da sich die Ankündigung des Verfassers, er würde dem nächsten Opfer die Ohren abschneiden, bewahrheitet hat. 32 Der Absender unterschreibt mit "Jack the Ripper", wodurch dieser Name für den nie identifizierten Serienmörder geprägt wurde. Soares hat in seinen Roman eine ziemlich getreue Übersetzung des historischen Dokuments eingebaut:
verschiedenen Ländern. Der Artikel vom 2. September 1888, aus dem Jô Soares Teile entnommen und übersetzt hat, stammt jedoch nicht aus The Star, sondern aus Lloyd’s Weekly Newspaper. Sein Titel lautet "Another Awful Murder In Whitechapel. A Woman Found Brutally Hacked To Death In The Street". Folgende Zeilen hat Soares in seinem Roman übersetzt übernommen: "No murder was ever more ferociously and more brutally done. The knife, which must have been a large and sharp one, was jobbed into the deceased at the lower part of the abdomen, and then drawn upwards twice". 31 Vermutlich gab es frühere Opfer, sie konnten aber nicht eindeutig demselben Mörder zugeordnet werden (Ryder/Johnno o. J.). 32 Der Brief wurde an das Central News Office in London geschickt und ist als der "Dear Boss"-Brief bekannt, nach der Anredezeile. Auf der Seite www.casebook.org ist das eingescannte Original zu sehen.
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Prezado Chefe, Continuo ouvindo dizer que a polícia me pegou, mas eles ainda não me encontraram. Rio muito quando eles se fingem de espertos e falam que estão na pista certa... ...Estou arrebentando as putas, e vou continuar enquanto não me prenderem. Belo trabalho, eu fiz, na última tarefa. A madama nem teve tempo de gritar. Como é que vão me achar agora? Eu adoro o meu ofício e quero começar outra vez. Logo vais ouvir falar novamente de mim e das minhas brincadeirinhas engraçadas. No próximo serviço, só de farra, eu vou cortar e mandar para a polícia as orelhas da moça... JACK, O ESTRIPADOR Londres, 3 de outubro de 1888 (343).
Delegado Mello Pimenta erhielt bereits zu einem früheren Zeitpunkt einen Brief vom Täter, der Ähnlichkeiten mit diesem aufweist, da er ebenfalls mit der Anrede "Prezado chefe" (314) beginnt. Erst durch diese Parallele, die bei unaufmerksamem Lesen leicht übersehen werden kann, wird Miguel Solera de Lara als Jack the Ripper identifizierbar. Der Buchhändler sucht sich außerdem dieselbe Art von Opfer aus wie Jack the Ripper, mordet mit der gleichen Brutalität, schlitzt wie dieser seine Opfer auf und entfernt ihnen Organe. Der historische Frauenmörder entnahm seinem letzten Opfer Mary Jane Kelly das Herz, genauso wie Solera de Lara der Baronin von Avaré. Indem er den Täter als den künftigen Jack the Ripper ausweist, verspottet Soares das alte Europa, das sich aufgrund seines eigenen Versagens im Umgang mit der Realität der Neuen Welt, kriminelle, "böse" Elemente nach Hause holt. Die Angst vor dem Fremden, dem Anderen, dem außerhalb der Kategorien Stehenden und die Unfähigkeit, hinter diese Kategorien zurückzublicken, werden der Alten Welt zum Verhängnis. Darin verbirgt sich auch eine erneute Verspottung der Hypotexte Conan Doyles, da in den Sherlock-HolmesGeschichten die Verbrecher häufig aus dem britischen Empire stammen. Schlussfolgerungen In O Xangô de Baker Street basiert die Ermittlungsmethode auf zwei Diskursen, einem wissenschaftlichen und einem literarischen. Der wissenschaftliche Diskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts, bestehend aus Positivismus, Kriminologie und Rassenlehre, bildet die Grundlage für die Denkkategorien der meisten weißen, männlichen Nebenfiguren und verstellt ihren Blick auf die Realität. Sherlock Holmes selbst teilt die rassistischen und kriminologischen Überzeugungen der Epoche nicht. Seine Ermittlungsmethode basiert (im Original wie in der Parodie) prinzipiell auf Empirie: Tatorte werden inspiziert, Indizien gesammelt und 320
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davon Schlussfolgerungen abgeleitet. Im letzten Arbeitsschritt liegt jedoch die Krux der Methode: Die richtige Deutung der empirischen Indizien gelingt nur mithilfe von Kontextwissen. Fehlt dieses, so verwandeln sich die sogenannten Deduktionen in Konstruktionen falscher Tatsachen. Holmes scheitert in Brasilien, weil er die Parameter, die ihm als Grundlage für seine Deduktionen dienen, nicht hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit überprüft. Außerdem verfällt er sämtlichen leiblichen Versuchungen, die ihm der exotische Kontext offeriert (Essen, Drogen, Frauen), was seinen Scharfsinn zusätzlich einschränkt. Auch sprachliche Feinheiten, die das europäische Portugiesisch und das von Macau (die Variante, die er spricht) vom brasilianischen Portugiesisch unterscheiden, fallen ihm nicht auf. Sherlock Holmes wird folglich als tollpatschiger Ausländer ohne interkulturelle Kompetenz parodiert. Aber auch die brasilianische, männliche Oberschicht wird zur Zielscheibe der Gesellschaftssatire, übernimmt sie doch in der Alten Welt entstandene Theorien in einer Weise, die sie realitätsblind für die Neue Welt macht. Das Ende des Romans weicht insofern von den Erzählungen Conan Doyles und der Pseudonorm ab, als die Ermittler (Holmes und Pimenta) das Rätsel nicht lösen und es folglich auch zu keinem Showdown kommt. Da die interne Fokalisierung des Mörders jedoch die Lösung liefert (im letzten kursiv gedruckten Abschnitt), wird die Erwartung des Lesers trotzdem befriedigt. An die Stelle des Triumphes des Ermittlers tritt jedoch dessen Verspottung durch den Täter. Da die Zeitungsartikel am Ende weder vom Erzähler noch von den Figuren kommentiert werden, bleibt es dem Leser überlassen, die Verbindung zwischen dem Täter und Jack the Ripper herzustellen und Sinnhypothesen zu formulieren. Bezüglich der Gewaltverbrechen des Serienmörders ist festzuhalten, dass sie nicht als Folge gesellschaftlicher Missstände, sondern bestenfalls als Folge kultureller und religiöser Überzeugungen (die Frau als Verderberin der Moral des Mannes) ausgewiesen werden. Letztendlich handelt der Täter nämlich aufgrund seiner übertriebenen, pathologischen Misogynie, deren Ursprung nicht im Detail erläutert wird. Anders als in der Pseudonorm zieht der Roman darüber hinaus keine Trennlinie zwischen "gut" und "böse", da die gesamte Handlung im Stil einer Komödie dargeboten wird. Die Brutalität des Serienmörders rezipiert der Leser folglich als komischen Schauereffekt. Durch das Scheitern der Ermittlung und die Verwandlung des Täters in den legendären Jack the Ripper vermeidet es der Roman, den Eindruck zu erwecken, Verbrechen könne gänzlich getilgt werden. Es wäre jedoch übertrieben zu behaupten, Jô Soares verfolge damit ein aufklärerisches Interesse, was den Status von Gewalt und Verbrechen in der Gesellschaft angeht.
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Das Figureninventar des Romans besteht aus einer Mischung aus fiktionalisierten historischen Personen (Dom Pedro, Sarah Bernhardt, Chiquinha Gonzaga, José do Patrocínio, Olavo Bilac), rein fiktiven Figuren (Delegado Mello Pimenta, Esperidiana, Mukumbe, Anna Candelária) und refiktionalisierten Personen der literarischen Tradition (Holmes und Watson). Ihre Identitätskonstruktion speist sich daher aus unterschiedlichen Quellen. Die Lebensdaten der historischen Personen sind mit peinlicher Genauigkeit berücksichtigt (z. B. Sarah Bernhardts Gastspiele in Brasilien). Holmes’ und Watsons Eigenschaften basieren im Wesentlichen auf den Erzählungen Conan Doyles, aber auch auf Klischees, die deren Rezeptionsgeschichte hervorgebracht hat. Ihre tradierten Merkmale sind wiedererkennbar, aber verzerrt und überzogen dargestellt. Durch ihre karnevalistische Entthronung werden Holmes und Watson dem Gelächter preisgegeben. Im Gegensatz zu den Engländern und den Brasilianern der Oberschicht durchkreuzen einige weibliche und farbige Nebenfiguren jedoch die dichotomen Diskursformationen. Darin verbirgt sich ein großer Teil des subversiven Potenzials des Romans. Die weiblichen Figuren verfügen über einen gesunden Menschenverstand und Erfahrungswissen, weswegen sie die Männer in ihren Schlussfolgerungen übertrumpfen. Manche der Farbigen, wie José do Patrocínio, fordern die Abschaffung der Sklaverei, andere, wie Mukumbe, vertrauen auf die Religion ihrer afrikanischen Vorfahren, beherrschen aber auch Schlüsselkompetenzen für den Umgang mit der dominanten Klasse. Hier wird eine Gesellschaft skizziert, in der die in den Dichotomien jeweils unterdrückten Subjekte schon sehr viel emanzipierter sind, als die dominanten es wahrhaben wollen. Auf dieses Weise verspottet und dekonstruiert Jô Soares die aus Europa übernommenen Diskurse, die Identitäten an den örtlichen Gegebenheiten vorbei von außen konstruieren. Eine derart ideologiekritische Haltung ist der Pseudonorm des Genres fremd.
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6.2. Fantastik: Pablo De Santis: Filosofía y Letras (Argentinien, 1998) Der Autor: Pablo De Santis1 Pablo De Santis wurde 1963 in Buenos Aires geboren, studierte dort Literaturwissenschaft und begann schon als Teenager zu schreiben, zunächst Szenarios für Comics. Mit zwanzig wurde er von der Zeitschrift Fierro mit dem Preis für den besten Szenaristen ausgezeichnet. Danach schrieb er Kinder- und Jugendbücher, Erzählungen sowie Romane für Erwachsene. Mittlerweile hat er über zwanzig Bücher veröffentlicht. Als Kriminalromane können Filosofía y Letras (1998), La traducción (1998), El teatro de la memoria (2000), El calígrafo de Voltaire (2001) und El enigma de París (2007) bezeichnet werden. Die Romane El palacio de la noche (1987) und La sexta lámpara (2005) haben hingegen nur wenig Gemeinsamkeiten mit dem Genre. Sein neuster Roman, Los Anticuarios (2010), wird auf der U4 als "novela de vampiros" klassifiziert. Für El enigma de París erhielt Pablo De Santis 2007 den Premio Planeta-Casamérica de Narrativa Iberoamericana. Bis heute besitzen Fantastik, Science Fiction, Kriminalliteratur aber auch der Comic in Argentinien mehr Prestige als in den meisten anderen Ländern. Die größten Namen der argentinischen Literatur, Jorge Luis Borges, Adolfo Bioy Casares und aber auch Julio Cortázar, pflegten verschiedene populäre Genres und verliehen ihnen dadurch einen höheren Status. Pablo De Santis fühlt sich nach eigenen Angaben dieser Tradition verpflichtet (Wieser 2010: 66). Er interessiert sich außerdem besonders für das Rätselhafte, Mysteriöse und Hermetische, das in den Erzählungen Poes und Conan Doyles zentral war und von Borges überspitzt und verzerrt wurde. Zur Gestaltung einer geheimnisvollen Atmosphäre verlegt er die Handlungen gern in Epochen, in denen andere epistemologische Paradigmen vorherrschen als heute, wie das 18. (El calígrafo de Voltaire), 19. (El enigma de París) oder frühe 20. Jahrhundert (La sexta lámpara). Häufig wählt er auch ferne Orte wie Toulouse, Paris oder New York, da er diese Städte für mythisch aufgeladen hält (Wieser 2010: 78f.). Einige seiner Lieblingsmotive, an die er die Rätsel koppelt, gehören zu den Topoi der abendländischen Literatur: der Turm von Babel, geheime oder tödliche Sprachen, Automaten und labyrinthartige Gebäude, die an Szenarien aus den gothic novels erinnern.
Die folgende Einführung in Pablo De Santis’ Werk basiert auf einem ausführlicheren Autorenporträt, das ich 2009 beim Culturmag veröffentlicht habe.
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Obwohl in der argentinischen Kriminalliteratur auch ein gesellschaftskritisches Segment mit Autoren wie Raúl Argemí, Sergio Olguín, Guillermo Saccomanno oder Ernesto Mallo sehr stark vertreten ist, bleibt Pablo De Santis bei seiner borgesken Haltung. Er verweigert sich einer deutlichen Referenz auf zeitgenössische Kontexte, da er nicht daran glaubt, mit Literatur Wahrheiten über gesellschaftliche Problemfelder vermitteln zu können. Wie für Borges, spielt sich auch für ihn Literatur in erster Linie auf einer symbolischen Ebene ab. Er ist davon überzeugt, dass Gedankenspiele tiefer in unsere Vorstellungskraft eindringen als das rein Mimetische: Lo social en las novelas, como en esas insoportables novelas suecas, siempre políticamente correctas, no me interesa en absoluto. Me parece que la manera en la que uno se relaciona con la literatura nunca es directa. No porque uno escriba una novela que transcurre en Buenos Aires, y muestre la pobreza va a decir algo de verdad sobre la pobreza en Buenos Aires. Al contrario, uno siempre se relaciona con la literatura a través de lo simbólico (Wieser 2010: 72f.).
Wenn sich Pablo De Santis häufig seiner eigenen Zeit und seiner Stadt mit all ihren soziopolitischen Facetten erzählerisch entzieht, muss der Sinn oder die Funktion seiner Literatur in anderen Aspekten gesucht werden, beispielsweise in ihrem Unterhaltungswert. Im Gegensatz zu Jô Soares geht De Santis jedoch sparsam mit Humor um. Seine Romane können trotzdem als eine Satire auf diskursive Strukturen verschiedener Epochen der westlichen Kultur gelesen werden. Es sind Werke voller Anspielungen und indirekter Zitate, die abwechselnd aufklärerisches, revolutionäres, modernes oder postmodernes Gedankengut ins leicht Absurde verzerren. Fantastik: von Borges inspiriert2 Der zentrale Bezugspunkt für Pablo De Santis ist Jorge Luis Borges, weswegen eine knappe Charakterisierung seines Werks für ein adäquates Verständnis von Filosofía y Letras unerlässlich ist. Borges übte einen großen Einfluss auf die Rezeption und Produktion von Kriminalliteratur in Argentinien aus (siehe dazu auch Kapitel 1.2 und 2.4.1). Seine Verbindung zu diesem Genre ist vielschichtig und widersprüchlich. Zusammen mit Adolfo Bioy Casares gab er ab 1945 die Krimireihe El séptimo círculo heraus, rezensierte eine große Menge von Kriminalromanen und schrieb eigene Kriminalerzählungen. Detektivromane galten den Borges’ Beziehung zur Kriminalliteratur wurde bereits in einer Vielzahl von Ausätzen untersucht, beispielsweise von Arenas Cruz (1992), Gutiérrez Carbajo (1992), Sarabia (1992), Cortínez (1995) und zum Teil auch von Pellicer (2002). Der umfassendste Aufsatz zu diesem Thema ist der von Fernández Vega (1996).
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Herausgebern von El séptimo círculo aufgrund ihrer Ordnung, Konstruiertheit und Formstrenge als hohe Kunst, weswegen sie Autoren wie Nicholas Blake (alias Cecil Day-Lewis), John Dickson Carr, Michael Innes oder Anthony Gilbert (alias Lucy Beatrice Malleson) in die Reihe aufnahmen. Für Borges war Kriminalliteratur, insbesondere die konzise Kriminalerzählung, das künstlichste Genre überhaupt. Ihr Ziel bestand für ihn darin, den Leser durch den Artefakt-Charakter der Texte zu fesseln, seine intellektuellen Fähigkeiten zu stimulieren, ihn zu unterhalten und die Wirklichkeit vergessen zu lassen (Fernández Vega 1996: 46). Fernández Vega rekonstruiert anhand von Borges’ Rezensionen für die Zeitschriften Sur und El hogar seine Poetik der Kriminalerzählung. Darin postulierte Borges, dass sich eine Kriminalerzählung auf ein Verbrechen konzentrieren müsse, von dem ein originelles Rätsel mit vielen philosophischen Konnotationen auszugehen habe, anhand derer metaphysische Probleme diskutiert werden können. Die Ermittlungsarbeit soll auf reine Denkarbeit reduziert werden, weswegen ihm Poes Auguste Dupin lieber war als der spurenlesende Sherlock Holmes. Diese Forderung führte dazu, dass die Darstellung realweltlicher Polizeiarbeit für Borges nichts in der Kriminalerzählung zu suchen hatte. Er bevorzugte solche Geschichten, die die Handlung ins Ausland verlegten oder sich auf irgendeine Weise von der Realität abschirmten (Fernández Vega 1996: 31). Runde Charaktere und die Darstellung psychischer Vorgänge gehören nach Borges’ Idealvorstellung ebenso wenig in die Kriminalerzählung. Die Lösung musste für ihn überraschend, neuartig, intelligent und glaubwürdig sein und durfte weder auf psychologischen Erklärung, noch dem Zufall und auch nicht auf Wirklichkeitspartikeln wie Indizien beruhen, sondern musste rein über die Ratio herbeigeführt werden (ebd.: 42-48). Außerdem vertrat er die Ansicht, dass dem Leser nichts verschwiegen werden dürfe, damit er sich der intellektuellen Herausforderung genauso stellen könne wie der Detektiv (Arenas Cruz 1992: 19). Diese Forderungen verwirklichten Borges und Bioy Casares in den parodistischen Erzählungen des Bandes Seis problemas para don Isidro Parodi, den sie 1942 unter dem Pseudonym H. Bustos Domecq nebst einer Herausgeberfiktion veröffentlichten: Isidro Parodi, der wegen Mordes zu 21 Jahren Haft verurteilt ist, löst in diesen Geschichten Mordfälle von seiner Gefängniszelle aus, ohne jemals einen Tatort zu inspizieren. Da er keinen Zugriff auf Indizien hat, reduziert sich seine Ermittlungsarbeit auf die Kraft der Ratio. Die gesellschaftliche Dimension des Verbrechens rückt überdies weit in den Hintergrund.3 Alle Erzählungen sind in zwei
Indirekt spielt der lebensweltliche Kontext trotzdem eine Rolle, da die Isidro-Parodi-Erzählungen lunfardo enthalten und Werte der argentinischen Gesellschaft verspotten (Fernández Vega 1996: 32).
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Teile untergliedert. Der fiktive Herausgeber, Gervasio Montenegro, beschreibt in seinem Vorwort ihren Mechanismus: […] los personajes acuden en pintoresco tropel a la celda 273, ya proverbial. En la primer [!] consulta exponen el misterio que los abruma; en la segunda, oyen la solución que pasma por igual a niños y ancianos. El autor, mediante un artificio no menos condensado que artístico, simplifica la prismática realidad y agolpa todos los laureles del caso en la única frente de Parodi (Borges/Bioy 2002 [1942]: 12).
Montenegro macht damit deutlich, dass die Erzählungen nicht den Anspruch erheben, realistisch zu sein. Ihr Kunstcharakter ist ihre eigentliche Funktion. Sie bestehen außerdem aus kontinuierlichen ironischparodistischen Anspielungen auf die Tradition des Rätselromans.4 Die Kriminalerzählungen, die Borges allein verfasst hat, verwirklichen seine Idealvorstellung noch stringenter, da sie den lebensweltlichen Kontext noch konsequenter ausblenden. "La muerte y la brújula" und "El jardín de senderos que se bifurcan" enthalten darüber hinaus fantastische Elemente, erstere die verwinkelte Villa Triste-le-Roy und letztere einen Garten als Allegorie einer labyrinthartigen Zeitkonzeption. Das Fantastische zerstört jedoch an keiner Stelle die logischen Schlussfolgerungen des Detektivs, sondern ermöglicht sogar eine Erweiterung seiner metaphysischen Gedankenspiele. In "La muerte y la brújula" weist die Ermittlungsmethode ferner einen neuartigen Ansatz auf, wie Pellicer (2002) gezeigt hat. Der Detekiv Lönnrot greift zur Lösung des Falls auf Literatur zurück. Da sich in der Wohnung des ermordeten Rabiners eine Menge theologischer Bücher befinden, äußert Lönnrot dem Polizeikommissar Treviranus gegenüber folgende Vermutung: "Quizá este crimen pertenece a la historia de las supersticiones judías" (Borges 2000 [1944]: 156). Ein Journalist, der ihn zum Mord befragt, berichtet danach: "Erik Lönnrot se había dedicado a estudiar los nombres de Dios para dar con el nombre del asesino" (ebd.: 157).5 Sowohl von dieser Ermittlungsmethode als auch vom Einbruch des Fantastischen in die Kriminalliteratur und der Ausklammerung des gesellschaftlichen Kontexts hat sich De Santis inspirieren lassen.
4 In "Las noches de Goliadkin", dessen Setting mit dem aus Christies Murder on the Orient Express vergleichbar ist, verkleidet sich zum Beispiel eine Figur in Chestertons Father Brown, und Parodis Klient vergleicht sich mit Sherlock Holmes ("A veces me parezco a Sherlock Holmes", Borges/Bioy 2002 [1942]: 50). In "El dios de los toros" und "La prolongada busca de Tai An" wird intertextuell auf Poes "The Purloined Letter" Bezug genommen, da auch hier ein Objekt gestohlen und an einem ganz offensichtlichen Ort "versteckt" wird. 5 Pellicer (2002) führt einige weitere von Borges inspirierte, argentinische Werke auf, in denen literarische Texte zur Lösung von Kriminalfällen herangezogen werden. Dies sind einige Erzählungen des Bandes La trama celeste (1948) von Adolfo Bioy Casares, der Roman La espada dormida (1944) von Manuel Peyrou, die Erzählung "La aventura de las pruebas de imprenta" (1953) von Rodolfo J. Walsh und die Erzählung "La loca y el relato del crimen" (1975) von Ricardo Piglia.
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Der Roman: Filosofía y Letras6 Der Titel des Romans bezieht sich zum einen auf eine inhaltliche Ebene: Er handelt von Literatur, Literaturwissenschaft und der Poetik des ominösen Schriftstellers Homero Brocca. Zum anderen bezeichnet er auch den Ort der Handlung, nämlich die Fakultät Filosofía y Letras einer nicht benannten Universität. In einem der Gebäude dieser Fakultät spielt sich der größte Teil der Romanhandlung ab. Pablo De Santis erklärt im Interview, dass es dafür ein reales Vorbild an der Universität von Buenos Aires gibt: Cuando empecé a estudiar la carrera de Letras en Filosofía y Letras conocí el edificio que la facultad tiene en la calle 25 de Mayo, en plena city porteña. Es un edificio muy antiguo y sombrío y en esa época estaba casi desierto. Entonces circulaban muchas leyendas sobre él. Cuando empecé a escribir esa novela tenía el recuerdo de algo que había visto allí cuando tenía 18 años: una sala llena de papeles que trepaban hasta el techo. Era una imagen muy fuerte por lo que tenía de laberíntico, pero más por el saber desperdiciado, por la posibilidad que hubiera algo interesante en aquella montaña de papeles que nadie iba a leer jamás. Era lo contrario a una biblioteca. En una biblioteca, los papeles se ordenan y conservan. Aquí, estaban allí en medio del caos, la humedad, el polvo. Estaban allí para ser destruidos por el tiempo y el caos (Wieser 2010: 74).
In dem kaum genutzten Gebäude, "que el setenta por ciento de los alumnos ignoraba" (13), befindet sich im Roman das Instituto de Literatura Nacional, das eine Bibliothek, Studienräume und das Büro des Doctor Conde beherbergt. Der vierte Stock besteht aus einem Lager voller Bücher, Ordner und alter Papiere, das so unübersichtlich und verwinkelt ist, dass sich die Figuren darin verirren. Diesen Lagerraum hat Pablo De Santis auf der Grundlage seiner Erinnerung an das reale Gebäude entworfen. Er lehnt sich damit aber auch an die fantastischen, labyrinthartigen Räume Borges’ an. Der Roman besteht aus einem Bericht, den Esteban Miró, der Sekretär des besagten Instituts, im Auftrag der Fakultät verfasst. Er legt darin rückblickend in der Ich-Form seine Version der Ereignisse dar, die zu vier Todesfällen und dem Einsturz des Gebäudes geführt haben: Me cuesta mucho escribir, y creo que no me hubiera enfrentado a mis infinitas vacilaciones y la hora de trabajar, si no me hubieran encargado las autoridades de
Zu Filosofía y Letras liegt noch keine ausführliche Untersuchung vor. Pellicer (2002) spricht den Roman kurz an und stellt ihn in eine lange Reihe argentinischer Kriminalerzählungen und – romane, in denen sich die Ermittler explizit an literarische Vorbilder anlehnen und das Lesen und Schreiben von (Kriminal)Literatur thematisiert wird. Neben den schon genannten Texten ordnet sie in diese Reihe folgende ein: die Erzählungen "Continuidad de los parques" (1964) von Julio Cortázar, "El general hace un lindo cadáver" (1976) von Enrique Anderson Imbert und den Roman Los que aman odian (1989) von Adolfo Bioy Casares und Silvina Ocampo.
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la facultad mi versión de los hechos, con la promesa de su publicación en el Boletín de Humanidades. Le destinarán, me dijeron, un número entero (11).
Es handelt sich bei Mirós Schilderung nicht um eine polizeilich oder gerichtlich verwertbare Zeugenaussage, sondern um einen Text, der sich an Literaturwissenschaftler wendet, die dadurch die Wahrheit über den mysteriösen Schriftsteller Homero Brocca sowie über seine Exegeten erfahren sollen. Die Perspektive des Romans ist auf Mirós Erleben als homodiegetischem Erzähler beschränkt. Er reflektiert über die Ereignisse und gewährt dem Leser Einblicke in seine Gefühlswelt, sein Privatleben und seine Ängste (interne Fokalisierung). Neben Miró gehören zu den wichtigsten Figuren die Literaturwissenschaftler Doctor Emiliano Conde, Licenciada Selva Granados und Víctor Novario (ein Gastdozent). Sie erforschen das Werk des genialen, bereits verstorbenen Homero Brocca, den außer ihnen niemand zu kennen scheint.7 Jeder der drei Wissenschaftler möchte den Ruhm, Broccas Werk als erster interpretiert zu haben, für sich allein ergattern, weswegen sie untereinander verfeindet sind. Nicht nur Missgunst, Ehrsucht, Rechthaberei und dünkelhaftes Auftreten charakterisieren ihr Verhalten, sondern auch verbale Aggression und öffentlich geäußerte Beleidigungen. Ihre Handlungsweise wirkt überspannt und lächerlich, da außer einer einzigen Erzählung mit dem Titel Sustituciones (im Original immer kursiv) alle Werke Broccas als verschwunden gelten, so dass kaum Material vorliegt, das die Forscher untersuchen könnten. Von besagter Erzählung existieren jedoch Hunderte verschiedener Versionen, wobei die Originalversion unbekannt ist.8 Conde nimmt für sich in Anspruch, als Einziger Broccas fünf Romane gelesen zu haben. Diese seien nach seiner Lektüre aus dem Institut gestohlen worden. Als Tatmotiv führt er den Neid anderer Literaturwissenschaftler an: "Mis trabajos sobre Brocca me han ganado muchos enemigos. Tienen envidia de que yo haya leído sus libros antes de que se perdieran. Sólo se conserva de su obra un cuento, y ni siquiera se sabe cuál es la versión definitiva" (24). Das überspitzte Verhalten der Wissenschaftler deutet bereits in der Ausgangssituation darauf hin, dass der Roman als Satire auf den literaturwissenschaftlichen Betrieb gelesen werden kann.
Das Broca-Areal im menschlichen Gehirn gehört zum Sprachzentrum und steuert vermutlich grammatische Prozesse. Pablo De Santis erklärt jedoch im Interview, dass er nicht (oder zumindest nicht bewusst) darauf angespielt hat (Wieser 2010: 75). Die Logorrhö mehrerer Figuren, das heißt ihr zwanghafter, teils sinnentleerter Redefluss, deutet ohnehin eher auf eine Wernicke- als auf eine Broca-Aphasie hin. Die Symptome letzterer wären verlangsamtes Sprechen, das Ringen nach Wörtern und eine reduzierte grammatische Kompetenz. Eine Art von Logorrhö liegt vor bei H.B., Grog und Rusnik, von denen noch die Rede sein wird. 8 Dahinter könnte sich eine intertextuelle Anspielung auf Raymond Queneaus Exercises de style (1947) verbergen. 7
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Von Anfang bis Ende durchzieht die Handlung eine Leitfrage, die maßgeblich für den Spannungsverlauf verantwortlich ist. Im Laufe des Geschehens entstehen durch verschiedene Anschläge und Todesfälle außerdem mehrere whodunits, deren Beantwortung mit der Leitfrage verknüpft ist: a) Leitfrage: Hat Homero Brocca wirklich existiert oder ist er eine Erfindung Condes? b) Whodunit 1: Wer hat Esteban Miró im Bücherlager zum Stürzen gebracht? c) Whodunit 2: Wer hat den Hausmeister Vieyra ermordet? d) Whodunit 3: Wer hat Licenciada Granados ermordet? e) Whodunit 4: Wer hat den Ermittler Gaspar Trejo am Kopf verletzt? f) Whodunit 5: Wer hat den Literaturwissenschaftler Novario ermordet? Beim vierten Mord, dem an Doctor Conde, wird Miró zum Augenzeugen, so dass daraus kein whodunit, wohl aber ein Spannungshöhepunkt entsteht. Da der Roman besonders auf die Erzeugung von Rätselspannung angelegt ist, ist es sinnvoll, bei der Interpretation immer wieder danach zu fragen, über welche Informationen der Leser verfügt und welche Hypothesen er formulieren kann. Die Figur Condes bildet eine zentrale Achse für den Spannungsverlauf, da nur sein Verhalten Auskunft über die Leitfrage geben kann, von deren Beantwortung die Lösung der whodunits abhängt. Conde ist derjenige, der am entschlossensten um die alleinige Meinungshoheit über Broccas Werk kämpft. Der Verdacht, er könne Brocca erfunden haben, wird an unterschiedlichen Stellen gesät, beispielsweise durch Aussagen, in denen Conde den Schriftsteller wie sein Eigentum behandelt: "Es un escritor que se puede decir que me pertenece" (24).9 Auch sein Wunsch, die Organisation eines Brocca-Kongresses unter der Leitung Novarios zu sabotieren, weist in diese Richtung: "¡Un congreso organizado por el infeliz de Novario! Es una locura. Homero Brocca es mío. Nadie tiene derecho a hacer ni una kermesse en su nombre" (45). Denselben Effekt haben seine abfälligen Bemerkungen über seine ehemalige Studentin Selva Granados: "Esa loca no es mi amiga. Solamente quiere arrancarme a Brocca de las manos. Siempre hay buitres que esperan que uno encuentre algo para lanzarse sobre la presa" (24). Seine Bemühungen, die anderen Forscher von Broccas Werk fernzuhalten, deuten darauf hin, dass er irgendetwas zu verMiró reflektiert zu einem späteren Zeitpunkt, "Brocca le pertenecía a Conde como ningún escritor le había pertenecido a un crítico jamás" (145) und macht sich damit Condes Worte zu eigen.
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bergen hat und fürchtet, entlarvt zu werden. Condes Kurzbiografie in den Anales de Academia weckt in Miró sogar den Verdacht, Brocca und Conde seien ein und dieselbe Person: La semblanza del doctor Conde estaba tan llena de datos íntimos –su vino preferido, su costumbre de leer las obras de Brocca en un sillón junto a un hogar a leña, su afición al licor de menta– que el lector sospechaba una relación de identidad entre autor y objeto del retrato (27f.).
Die anderen beiden Forscher üben massiven Druck auf Conde aus, beispielsweise durch die Veranstaltung eines Brocca-Kongresses, auf dem Novario und Granados die einzigen Vortragenden vor sieben Zuhörern sind. Da sie jedoch miteinander im Clinch liegen, beschimpfen sie sich auf offener Bühne. Durch diese absurd anmutende Veranstaltung wird der akademische Betrieb nochmals satirisiert. Nach Mirós Auffassung bewirkt der Kongress genau das Gegenteil von dem, was eine solche Veranstaltung eigentlich bezwecken soll, nämlich Kenntnisse über einen Untersuchungsgegenstand zu vermitteln und zu erweitern: "El congreso profundizó la confusión existente sobre Homero Brocca. ¿Era ése su verdadero nombre? ¿Era realmente el autor de Sustituciones?" (47). Der Leser teilt notgedrungen Mirós Verwirrung über Brocca, da er nur über die Informationen verfügt, die ihm der Ich-Erzähler zur Verfügung stellt. Novario, Granados und Miró beginnen alsbald Ermittlungen (allerdings keine kriminalistischen) anzustellen, um die Leitfrage beantworten zu können. Im Lager des vierten Stocks suchen sie nach den geheimnisvollen blauen Heften Broccas, die Novario vor einiger Zeit dort entdeckt hat. Durch die Rede von Broccas blauen Heften wird der Verdacht des Lesers, Brocca könne eine Erfindung Condes sein, wieder entkräftet, da es materielle Beweise für seine Existenz zu geben scheint. Auf der nächtlichen Exkursion durch das labyrinthartige Bücherlager findet Miró tatsächlich blaue Hefte. Doch spricht ihr Inhalt dafür, dass es sich dabei nicht um Literatur handelt, sondern um ein inszeniertes Rätsel, mit dem ein Unbekannter die Literaturwissenschaftler an der Nase herum führen will. In einem der Hefte steht: "Este cuaderno está vacío" (63). Danach folgen lauter leere Seiten. Die Vermutung, hinter den blauen Heften verberge sich ein tieferer Sinn, steht an dieser Stelle ebenfalls im Raum, wird aber am Ende entkräftet, da die blauen Hefte bei der Lösung der Rätsel keine Rolle mehr spielen und sich als Finte des Täters erweisen. Bevor Miró alle Hefte sichten kann, stürzt er von einem Stapel aus Papieren. Erst hier verwandelt sich der Roman in einen Kriminalroman, da Miró seinen Sturz nicht für Zufall hält, sondern für ein Attentat: "Pero recordé la escena de la caída y llegué a la conclusión de que alguien había empujado la columna, alguien que todavía andaba por ahí" (64). Spannung entsteht von nun an zusätzlich aus diesem whodunit. Grana330
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dos, Novario und Miró finden kurze Zeit später inmitten des Papierchaos den toten Hausmeister Vieyra auf einem Stuhl sitzend mit einem Seil um den Hals, wodurch ein zweites whodunit aufgeworfen wird. Auf seinem Schoß liegt ein weiteres blaues Heft, das mit dem Satz "este cuaderno está vacío" (66, kursiv im Original) vollgeschrieben ist. Vieyra ist der erste Tote des Romans (nach etwa einem Drittel der Seiten). Er wurde von seinem Mörder mit Objekten bestückt, die den Tatort wie einen literarischen Text lesbar machen, was an die von Borges eingeleitete Linie erinnert. Dieser Text soll von den Brocca-Experten interpretiert werden, vermutet Granados: "¿Y para qué le iban a poner la soga? –Es una señal para los lectores de Brocca" (67). In der Erzählung Sustituciones, die der Leser des Romans bisher noch nicht kennt, fungiert ein Seil als Leitmotiv. Damit wird eine Leiche transportiert, erklärt Miró: "El único punto en que coincidían todas las variantes de Sustituciones era en el núcleo del relato: un cuerpo atado a una soga. Un cadáver que había que arrastrar" (67). Mirós Schlussfolgerung ist daher konsequent: "El que lo mató es un lector de Homero Brocca y dejó esa señal para que solamente nosotros entendiéramos" (67). Das Erleben der Szene als literarischer Text wird durch Mirós Kommentar, in dem er seine Beklemmung und Angst andeutet, zusätzlich gestützt: "El edificio parecía llevar años desierto; pero los golpes de las ventanas y los crujidos del piso nos recordaban que tal vez no estábamos del todo solos, que alguien más escribía para nosotros la trama de esa noche" (68). Der Autor des Verbrechens wird hier gleichzeitig zum Autor der Erlebnisse der Figuren ("escribía"), die vermuten, dass er sich immer noch im Raum befindet. Miró kommt damit der tatsächlichen Absicht des Täters sehr nahe. Da der Leser diese jedoch noch nicht kennt, kann die Stelle leicht als rhetorischer Schmuck gewertet und der darin enthaltene Lösungshinweis überlesen werden. Am folgenden Tag wird der Leichnam Vieyras unten im Treppenhaus aufgefunden. Aufgrund dessen bestätigt sich der Verdacht, dass der Mörder tatsächlich noch im Raum gewesen ist. Eine polizeiliche Ermittlung schließt sich an den Vorfall jedoch nicht an, weil die Behörden davon ausgehen, dass Vieyra Selbstmord begangen hat. Da Novario und Granados am Fund der Leiche beteiligt waren, liegt für den Leser jedoch die Vermutung nahe, dass Conde der Täter ist. Dem fanatischen Wissenschaftler wäre diese literarische Inszenierung mit dem Seil und dem blauen Heft jedenfalls zuzutrauen. Mit Mirós Auswertung der vielen Versionen von Broccas Erzählung Sustituciones kehrt die Rätselspannung zurück zur Leitfrage. Im Auftrag Condes versucht Miró, die Urversion zu rekonstruieren, was ihm jedoch nicht möglich ist: "Bastaba una ojeada para ver que todas aquellas versiones no concidían ni en una línea" (35). Conde führt für die Existenz der vielen Versionen folgenden Grund an: 331
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Homero Brocca simpatizaba con una organización extremista que luego lo acusó de convertirse en doble agente. Por esa época escribió el cuento, que editó en una revista partidaria. Pero ya antes de ser publicado, el jefe de redacción de esa revista hizo algunas alteraciones en el texto para pasar un mensaje secreto a sus agentes. Ésta fue la primera transformación. Meses después ya varias agrupaciones políticas usaban el cuento para transmitir sus mensajes. Ahora bien, con el tiempo las versiones adulteradas se multiplicaron, y no quedaron restos del original (35f.).
Bei De Santis ist die Erwähnung des Doppelagenten und der verschlüsselten Botschaften, die in einem literarischen Text transportiert werden, in erster Linie auf einer spielerischen Ebene angesiedelt, die die Fantasie des Lesers anregen soll. Der Autor knüpft damit an verbreitete Vorstellungswelten an, die durch Literatur, Kino und Fernsehen entstanden sind. Sein Interesse gilt dem Unterhaltungswert und nicht den gesellschaftspolitischen Umständen, die eine solche Verschlüsselungsmethode notwendig machen, denn diese konkretisiert und thematisiert er nicht. Die Version der Erzählung, die Miró schließlich als die "gültige" präsentiert, entspricht weder der Urversion, noch einer philologisch begründeten Auswertung: Algunas partes del cuento estaban en las versiones, pero había frases que eran mías y que había agregado para tratar de darle alguna coherencia. "Nadie se dará cuenta de la improvisación", pensé. Al fin y al cabo, para ser fiel a aquel original, había que incluir alguna sustitución (74, meine Hervorhebung).
Miró rechtfertigt seinen Eingriff in den Text damit, dass genau dies das Thema der Erzählung ist: Elemente werden durch andere ersetzt. Paradoxerweise scheint Mirós apokryphe Version also gerade durch die in ihr enthaltene "Substitution" dem Original besonders nahe zu kommen. Broccas fünfgliedrige Erzählung selbst bildet ein eigenes, intradiegetisches Kapitel im Roman. Sie stellt eine mise en abyme zur Rahmenhandlung dar, da sie das, was im Roman passiert, mit ähnlichen Elementen doppelt. Hier wird Pablo De Santis’ Auffassung von der Literatur als Spiel nochmals besonders deutlich. Im ersten Teil der Erzählung geht es um einen Text, der kein Original besitzt, genau wie die Erzählung Sustituciones auf der extradiegetischen Ebene. Im zweiten Teil wird von einer Puppe aus alten Kleidern berichtet, in deren Taschen Redakteure eines Verlags oder einer Zeitung verschiedene Versionen des besagten Textes hin und her senden. Ähnliches geschah laut Conde mit Sustituciones. Der dritte Teil besteht aus einer Zusammenfassung des Textes, der mit der Puppe verschickt wurde, also einer Kompromissversion, wie sie auf der extradiegetischen Ebene von Miró erstellt wurde. Der besagte Text handelt von Teniente N., der in einem Krieg den toten General F. in die Stadt bringen soll. Es geht das Gerücht um, dass der Leichnam nicht in die Hände des Feindes fallen dürfe, da sonst die Niederlage gewiss wä332
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re. Der Teniente schleift den Leichnam an einem Seil hinter sich her. Doch nach der ersten Nacht, findet er an das Seilende ein totes Eichhörnchen geknüpft; der tote General ist verschwunden. In jeder der folgenden Nächte wird das ans Seil geknüpfte Objekt ausgetauscht, beziehungsweise "substituiert". Als der Teniente sein Ziel erreicht, steht er vor der Tochter des toten Generals. Am Seilende hängt nichts. Nach einigen Nächten spricht die Tochter ihn mit "padre" an. Er begreift, dass er seinen eigenen Körper an das Seilende binden muss, um den toten General zu "substituieren", und erhängt sich. Sein Selbstmord bildet eine Parallele zu Hausmeister Vieyras Tod, der mit einem Seil um den Hals aufgefunden wurde. Der vierte Teil der Erzählung handelt davon, wie die unterschiedlichsten Geheimorganisationen den besagten Text dazu verwendet haben, verschlüsselte Botschaften zu übermitteln, wie im Falle von Sustituciones. Im fünften und letzten Teil wird schließlich behauptet, dass die Erzählung ein Experiment darstelle, das eine "invitación a la muerte" (80) übermittele. Auch dieses Element spiegelt eine Information auf der extradiegetischen Ebene wider, von der der Leser wenig später erfährt: Brocca hat versucht, mit seiner Erzählung andere Menschen in den Selbstmord zu treiben. Die komplexe mise en abyme wirft die Frage auf, wie es sein kann, dass der Inhalt der Erzählung ihre Entstehungs-, Editions- und Wirkungsgeschichte vorwegnimmt, das heißt, dass genau das mit ihr passiert, was in ihr mit dem Text über den Teniente N. geschieht. Gibt es eine rationale Erklärung dafür? Wurde womöglich der Text erst verfasst, nachdem Conde seinen Aufsatz über dessen Entstehung veröffentlicht hat? Diese Fragen stellen Ableitungen von der Leitfrage dar, da sie im Grunde ebenfalls auf die Existenz Broccas abzielen. Bei der Ermittlungsarbeit im Falle von Vieyras Tod lässt es Pablo De Santis ganz im Sinne von Borges’ Postulat nicht zu, dass real existierende Institutionen wie die Polizei in die Romanhandlung eingreifen (diese geht ja vom Selbstmord Vieyras aus). Er erfindet den universitätsinternen, ziemlich unkonventionellen Detektiv Gaspar Trejo, der von der Fakultät beauftragt wird. Trejo arbeitet mit einer selbst entwickelten Ermittlungsmethode, die er "la Ciencia de los Indicios" (84) nennt, und sammelt nun Indizien, die er in Vitrinen legt und damit ein "Museum" einrichtet: En general ubico las cosas en vitrinas que tengo en mi casa y las miro como si no supiera qué son. Poco a poco armo la red que las une. Redacto en mi imaginación el catálogo del museo, donde cada cosa tiene su lugar. El método combina la razón con la intuición. Con la razón sola no se llega a ninguna parte (85).
Der Ermittler weist zwar darauf hin, dass seine Methode anders sei als in "novelas policiales" (85); trotzdem sind die Hauptkomponenten, Ratio, Intuition und Indizien, seit Poe und Conan Doyle die Grundlagen 333
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literarischer Detektion.10 Das Besondere an Trejos Methode ist lediglich die Betonung der Intuition bei der Hypothesenbildung und das exzentrische Anordnen von Gegenständen in Vitrinen. Dadurch erhalten die Gegenstände den Charakter von Museumsstücken aus einer anderen Zeit oder von einem entfernten Ort. Dies kann metaphorisch für das Postulat der Unvoreingenommenheit gelesen werden, die von einem Ermittler auch in der realen Welt erwartet wird. Er muss in der Lage sein, mit der nötigen emotionalen Distanz, die Indizien zu betrachten, um vorschnelle Schlüsse zu vermeiden. Pablo De Santis zeigt hier ein weiteres Mal, dass Literatur für ihn Spielcharakter besitzt, da Trejos Methode vor allem durch ihre Bildlichkeit die Vorstellungswelt des Lesers anregt, bei genauerem Betrachten jedoch keine methodische Innovation darstellt, auch wenn dies der Ermittler behauptet. Neben Trejo entwickelt sich Miró zum zweiten Ermittler. Zunächst stößt er aus Zufall auf eine Spur. Im Zuge der Nachforschungen für seine Doktorarbeit konsultiert er die Bibliothek der Nervenklinik für Intellektuelle ("hospicio para intelectuales", 90)11, Casa de Spinoza, die eine Pflegerin als "un refugio para las mentes brillantes que no soportan la realidad" (91) beschreibt. Bei den Patienten liegen Wahnsinn und Genialität eng beieinander. Miró findet in der Klinik einen Krankenbericht über einen gewissen H.B. und glaubt, dass sich hinter diesen Initialen der Name Homero Brocca verbirgt. Der behandelnde Arzt, Doctor Brest, beschreibt das Krankheitsbild von H.B. als eine Besessenheit von Mnemotechniken. Der Patient habe die Räume und Einrichtungsgegenstände der Klinik dazu verwendet, sie mit den zu merkenden Dingen zu assoziieren (eine Technik, die schon aus der antiken Rhetorik bekannt ist). Bevor er eingeliefert wurde, habe er außerdem versucht, sich zu erhängen, worin der Leser eine Parallele zur Erzählung Sustituciones erkennt. Brest gibt im Krankenbericht zudem an, dass der Patient eine sonderbare Erzählung verfasst habe: "H.B. ha escrito un cuento cuyo original no pude hallar. Con este relato organizó una especie de juego, invitando a otros internos a reescribirlo. Los hizo enviar mensajes a través de variaciones en la trama" (98). Stimmt diese Aussage und handelt es sich bei dem Patienten tatsächlich um Homero Brocca, so wären Condes Ausführungen über die Entstehung der vielen Versionen widerlegt. Welche Erklärung die richtige ist, kann hier jedoch noch nicht entschieden wer-
10 In der Einleitung der Erzählung "The Murders in the Rue Morgue" definiert der Erzähler die Eigenschaften eines Analytikers und pocht darauf, dass er nicht nur über viel Verstand, sondern auch Intuition und vor allem Imaginationskraft verfügt. Jorge Luis Borges hielt Indizienbeweise für uninteressant. Da Indizien bei Pablo De Santis jedoch eine tragende Rolle spielen, unterscheidet sich sein Ansatz in diesem Punkt von Borges’ Idealvorstellung. 11 In Bezug auf die Nervenklinik evoziert De Santis noch einmal ganz kurz die Zeit der argentinischen Militärdiktatur: politischer Hintergrund: "Hace años se usaron sus instalaciones para la internación forzosa de intelectuales opositores" (90).
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den. Brest vermerkt ferner eine poetologische Aussage Broccas, die an Mirós Eindruck, jemand "schreibe" an den Ereignissen mit, rückgebunden werden kann: "[…] cierta vez me informó que para él no tiene sentido escribir, a menos que pueda actuar sobre la realidad" (98). Broccas Experiment, die anderen Patienten die Erzählung umschreiben zu lassen, habe dazu gedient herauszufinden, inwiefern Literatur die Realität beeinflussen kann, das heißt konkret, ob die Teilnehmer die Einladung zum Selbstmord annehmen würden. Einen Suizid verübte tatsächlich der Geschichtslehrer, dessen Memoiren Brocca schrieb, wie Brest festhält: "[…] aquel episodio fue otro de los experimentos de H.B. por probar que escribiendo podía influir sobre la realidad" (98). All dies scheint darauf hinzudeuten, dass sich hinter den Initialen H.B. tatsächlich der Name Homero Brocca verbirgt und er keine Erfindung Condes ist. Da aber noch keine Beziehung zwischen H.B. und Conde hergestellt werden kann, bleiben die Zweifel des Lesers bestehen. Eine weitere Figur des Romans wirkt von Anfang an geheimnisvoll und dem Wahnsinn nahe: der namenlose Nachtwächter des Instituts. Miró sucht ihn, da von den Wänden und Decken des Gebäudes seit Längerem Wasser tropft und sich niemand in der Fakultätsverwaltung zuständig dafür fühlt. Dies lässt den Ort des Geschehens noch geheimnisvoller und fantastischer erscheinen. Im labyrinthischen Lagerraum des vierten Stocks findet Miró den Nachtwächter. Als Miró seine Besorgnis ausdrückt, antwortet dieser: Todos los libros van a terminar así. No es mi problema. Escombros y humedad y libros deshechos: es todo lo que hay aquí. Vuelva a su lugar. No se preocupe por nada. ¿Oye ese ruido? –No oí nada–. Son los insectos que comen la madera, los pisos, las vigas. Oiga el ruido del agua al filtrar las paredes. Un techo se acaba de desplomar (21).
Der Nachtwächter wirkt seltsam und verrückt, da ihn der Wasserschaden nicht beunruhigt. Für ihn scheint der Zerfall des Gebäudes bereits eine Tatsache zu sein, der er erwartungsvoll entgegen blickt. In einer anderen Szene macht er obskure Bemerkungen, die Ähnlichkeiten mit der Poetik des Patienten H.B. aufweisen: "Allá arriba hay una carpeta para cada uno donde está escrito su destino. […]. Soy un instrumento del destino. Escribo en actas todo lo que pasa y lo que pasará" (114). Wie H.B. versucht der Nachtwächter, mit Texten die Wirklichkeit zu beeinflussen und das Schicksal der Personen zu lenken. Hier kann der Leser diese Kommentare noch nicht auflösen, sie zeigen aber De Santis’ Faible für besonders geheimnisvolle Rätsel und die Steigerung der Spannung in mehreren Stufen. Der zweite Mord ereignet sich nach Condes Präsentation der angeblich gültigen Version von Sustituciones. Granados erscheint zu diesem Event 335
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nicht und wird am folgenden Tag tot im Schacht eines kaputten Aufzugs des Institutsgebäudes gefunden. Genauso wenig wie der Wasserrohrbruch wurde der Aufzug von der Universitätsverwaltung repariert. Dadurch tritt das Bild des Zerfalls nochmals deutlicher hervor und wirkt zunehmend fantastisch. Der Tod von Granados, der ein weiteres whodunit aufwirft, bringt neuen Schwung in Trejos Ermittlungen. Miró übernimmt jetzt die Rolle seines Assistenten, so dass die Konstellation streckenweise derjenigen von Holmes und Watson ähnelt (der Assistent als Ich-Erzähler). Bei Granados’ Leiche wurde ein vermeintlicher Abschiedsbrief gefunden, weswegen die Justiz auch hier wieder auf Selbstmord plädiert und nicht ins Romangeschehen eingreift. Miró erkennt jedoch, dass es sich nicht um einen Brief, sondern um ein Gedicht handelt, und hält daher zusammen mit Trejo einen Mord für wahrscheinlich. Ein Motiv zur Tat hat nach Ansicht der Ermittler nur Doctor Conde, da Granados ihn mittels der Zeugenaussage einer früheren Sekretärin des Betrugs überführen wollte. Der Leser ist also wieder geneigt anzunehmen, dass Brocca nur eine Erfindung Condes ist. Die Beantwortung der Leitfrage nach Broccas Identität wird von Mirós Schulfreund Grog nochmals aufgegriffen. Grog ist Patient der "Casa Spinoza", da er am sogenannten Marconi-Syndrom, dem Zwang sich Geschichten ausdenken zu müssen, ohne sie je niederschreiben zu können, leide. Grog weiß, dass Conde einen bestimmten Patienten der "Casa" regelmäßig besucht. Es handelt sich um den verrückt-genialen Rusnik, der an Schreibwut leidet. Wie H.B.s Mnemotechnik-Manie wirken Grogs und Rusniks Krankheiten so sonderbar, dass sie als fantastische Elemente eingestuft werden können. Die behandelnde Ärztin bezeichnet Rusniks Leiden als "grafomanía aguda" (154) und beschreibt es wie folgt: "Dice que tiene que seguir escribiendo para que no desaparezcan las cosas que lo rodean" (154). Der Grund für diese Schreibwut ist eine Verwechslung ("Substitution") zwischen den sprachlichen Zeichen und der außersprachlichen Wirklichkeit, was ihren ontologischen Status anbelangt: "En el centro de su delirio está la certeza de que los objetos no pueden existir sin las palabras. De hecho ve la relación al revés: las cosas son signos que sirven para expresar lo único que de veras existe, el lenguaje" (154f.). Die Ärztin berichtet, dass Conde dem Patienten ehrenamtlich hilft, indem er das für die Therapie wichtige Geschreibsel auswertet. Der Verdacht des Lesers, Rusnik könne H.B., das heißt Homero Brocca sein, wird jedoch schnell entkräftet: Er ist deutlich zu jung dafür. Der Leser fragt sich notgedrungen, welche Rolle Rusnik für die Lösung der Leitfrage spielt. Die Vermutung liegt nahe, dass der Schreibwütige der wahre Autor der Werke Broccas ist. In einer fakultätsinternen Sitzung soll schließlich festgestellt werden, ob gegen Conde belastendes Material vorliegt. Mit dieser Sitzung, die die 336
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Funktion einer Gerichtsverhandlung erfüllt, gelingt es De Santis abermals, realweltliche Institutionen aus dem Romangeschehen auszuklammern. Alles spielt sich innerhalb des Mikrokosmos des Instituts ab. Trejo versucht mit folgenden Indizien Conde des Mordes an Granados zu überführen: 1) dem Gedicht, das Granados bei sich trug und das fälschlicherweise für einen Abschiedsbrief gehalten wurde 2) der Kassette mit der Aussage der ehemaligen Sekretärin, die behauptet, dass die Romane Broccas niemals existiert haben 3) dem Nachweis, dass Conde Rusnik regelmäßig besucht, dem schreibwütigen Kranken Themen vorgibt, damit dieser Werke verfasst, die er als Broccas ausgeben will: "Le encargó a un pobre loco la redacción de las obras completas de Brocca" (168). Aus diesem Tatbestand ergibt sich laut den Ermittlern das Motiv Condes: El secreto que ocultó Conde todo este tiempo es que esos libros nunca existieron. Imagínense qué escándalo hubiera sido: un crítico dedica su vida a investigar la obra de un autor, consigue becas, una cátedra, un lugar en la academia y luego se comprueba que las obras sobre las que trabajó nunca fueron escritas, con la excepción de un cuentito cuya autoría es harto dudosa… (168).
Eine wissenschaftliche Karriere würde durch eine derartige Enthüllung einen tiefen Einbruch erleiden. Liest man De Santis’ Roman als Satire auf die Literaturwissenschaft, so kann Condes Verhalten als Verspottung von Forschungsarbeiten gelesen werden, die sich auf eine zu schmale oder zu marginale Materialbasis stützen oder banale Behauptungen durch eine hochtrabende Rhetorik zu akademischen Glanzleistungen stilisieren. Auch Arbeiten, denen es an gesellschaftlicher Relevanz mangelt, für die der Forscher aber dennoch (Steuer)Gelder einstreicht, stehen hier in der Kritik. So wird die Literaturwissenschaft am Beispiel Condes als Bluff oder Schaumschlägerei diffamiert. Ein weiterer Kritikpunkt an der Literaturwissenschaft scheint in den Ausführungen Trejos durch: Conde le está dando temas para que escriba. Los argumentos son los mismos que él inventó para las novelas perdidas de Brocca. El paciente escribe miles de páginas, se desvía y se repite; por momentos teje un discurso organizado y después lo desarma. Conde es el encargado de tachar, cortar, purificar. Primero hizo la crítica, ahora le corresponde encauzar una obra digna de esa crítica (169).
Da die Literaturwissenschaft keine exakte Wissenschaft ist, enthalten ihre Aussagen immer eine subjektive Sicht und Gewichtung des Interpreten, der stets an seinen eigenen Verstehenshorizont gebunden ist. Nicht selten belegen verschiedene Forscher an ein und demselben Text 337
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völlig unterschiedliche, im Extremfall sogar gegensätzliche Behauptungen. Nach der hermeneutischen Interpretationspraxis werden genau diejenigen Textstellen zitiert, die die Sinnhypothese des Interpreten am besten untermauern, während viele andere unerwähnt bleiben. Condes Vorgehen stellt eine absurde Verzerrung dieser Praxis dar. Er selektiert nicht Belegstellen eines existierenden Textes, um eine bestimmte Deutung zu stützen, sondern erschafft den Text erst nach seiner Interpretation und unter den Vorgaben der Interpretation. Aufgrund der Beweisführung Trejos ist das whodunit 3 (Wer hat Granados getötet?) nun gelöst und der Leser tendiert wieder zu der Auffassung, dass Brocca eine Erfindung Condes ist. In einer Pause der fakultätsinternen "Gerichtsverhandlung" kommt es zu weiteren Gewalttaten und zum Höhepunkt der Spannung. Die Atmosphäre dieser Ereignisse ist besonders rätselhaft und fantastisch aufgeladen. Das Gebäude ist halb überschwemmt aufgrund des Wasserrohrbruchs, den niemand reparieren wollte. In der Bibliothek des Instituts sind die Regale umgestürzt. Unerklärlicherweise sind alle Türen abgeschlossen und die Telefone tot. Auf der Suche nach dem Nachtwächter wird Trejo von einem Unbekannten mit einem harten Gegenstand auf den Kopf geschlagen, jedoch nicht getötet (whodunit 4). Im Aufzug finden die Teilnehmer des Untersuchungsausschusses den blutüberströmten toten Novario mit zwei abgehackten Fingern (whodunit 5). Bei ihm liegt wieder ein blaues Heft, in dem steht: "Filosofía y Letras / (novela) / por Homero Brocca / Capítulo XXXIII: La muerte de Novario" (183). Der Leser fragt sich nun, ob es sich um ein Verwirrspiel des Mörders handelt (diese These vertritt Miró: "Alguien está jugando a ser Brocca", 183) oder tatsächlich um ein Werk Broccas, das in dieser erneuten mise en abyme die Geschehnisse um wenige Augenblicke vorwegnimmt und wohl kurz vorher geschrieben wurde. Wie die Romanfiguren so kann auch der Leser das zentrale Rätsel noch nicht lösen. Im Showdown trifft Miró auf Conde, der ihn mit einem Hammer erschlagen will. Zum Todeshieb ausholend gesteht der Literaturwissenschaftler, Brocca erfunden zu haben: Yo inventé a Brocca y me lo quisieron sacar. Sin mí, ¿qué era? Apenas un nombre, una dudosa leyenda. Pero a través de la palabra le di una vida y una muerte. Y le di libros. Unos días más y Brocca tendría su biografía y sus obras completas. […]. No puedo dejar que empujen a mi criatura al país de los fantasmas. Fui yo el que lo construyó con un montón de papeles viejos. Soy su padre. Quiero que Brocca exista (189).
Doch Conde wird vom Nachtwächter daran gehindert, Miró zu töten. Von hinten schlägt der Nachtwächter Conde ein Ohr ab und zertrümmert ihm dann mit einer Axt den Schädel. Schließlich und endlich gibt 338
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er seine Identität preis: Er ist Homero Brocca. Da er damit der Aussage Condes, nach welcher Brocca reine Erfindung ist, widerspricht, ist die Verwirrung des Lesers hier an ihrem Höhepunkt angelangt. Die Identität Broccas wird im letzten Kapitel vollständig geklärt. Zwar ist der Nachtwächter tatsächlich Brocca und damit der Autor von Sustituciones, Conde hat aber den größten Teil seiner Biografie und seines Werks frei erfunden. Die reale Basis des "Schriftstellers" Brocca bleibt die eine Erzählung, die er in der Nervenklinik (als H.B.) geschrieben hat. Broccas Biografie als Doppelagent ist jedoch Fiktion Condes, die er nachträglich erschaffen hat, was erklärt, wie die Erzählung ihre eigene Entstehungs-, Editions- und Wirkungsgeschichte in einer mise en abyme vorwegnehmen konnte. Beide Hypothesen des Lesers (Brocca ist erfunden und Brocca existiert) erweisen sich als teilweise richtig und teilweise falsch. In einem zweiten Showdown zwingt Brocca Miró, ihm zuzuschauen, wie er die letzten Seiten seines Romans schreibt, mit dem er seiner ganz persönlichen Poetik Rechnung trägt: Es ist die Geschichte seines Lebens, aber auch die Geschichte von Condes Forschungen, dem Tod Vieyras, Granados, Novarios und Condes, so dass auch dieser Roman wieder eine mise en abyme zur extradiegetischen Erzählebene darstellt. Brocca erweist sich außerdem als der Täter aller noch ungelösten whodunits sowie als der Autor der blauen Hefte. Mit der ersten Leiche (Vieyra) gab er den Ereignissen einen Anstoß und verwandelte dann die Realität, die er selbst inszeniert oder konstruiert hat, in einen Roman, in fiktionalisierte Realität: En una larga noche de insomnio, Brocca vislumbró los alcances de su poética: narrar una historia con hechos, como un conspirador, empujando a los protagonistas desde las sombras, y mientras tanto recoger el relente de los acontecimientos en un libro secreto y absoluto (200).
Brocca behandelt folglich die Menschen seines Umfelds wie Romanfiguren, spielt mit ihnen, indem er Anschläge auf sie ausführt, geheimnisvolle Spuren legt und Morde verübt. Dadurch beeinflusst er ihre Handlungen, die er zu steuern versucht, aber nur zum Teil vorausahnen kann. Schriftsteller sagen häufig in Interviews, dass die Figuren ihrer Romane im Laufe des Schreibprozesses ein Eigenleben entwickeln und andere Ereignisse einfordern, als der Autor ursprünglich geplant hat. In Broccas Poetik wird diese Eigendynamik des Schreibprozesses makaber überzogen: Brocca provocaba al destino, pero su argumento no estaba cerrado del todo. En su gigantesca trampa narrativa siempre habría lugar para el libre albedrío y la sorpresa. Brocca sabía que los personajes de un escritor siempre están a punto de irse de sus manos (200f.).
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Da er Menschen lediglich als Rohmaterial für seinen Roman sieht, kann er sie auch ohne moralische Bedenken ermorden: "Brocca decidió que para una novela no había nada mejor que un asesinato. […]. No le interesaba matar, sino escribir: el crimen era apenas un alimento para la tensión de la trama" (201). Diese Aussage kann in abgeschwächter Weise auf Pablo De Santis’ Poetik übertragen werden, denn auch er interessiert sich nicht für Mord oder andere Verbrechen als gesellschaftliche Phänomene, sondern ganz im Sinne Borges’ als Ausgangspunkt für eine Intrige beziehungsweise ein Rätsel. Am Ende findet sogar die fantastisch anmutende Durchnässung des Gebäudes eine Erklärung in Broccas Poetik: Er hat absichtlich eine Wasserleitung gekappt, mit dem Ziel, das Gebäude zu zerstören, weil er sich ein dramatisches Ende für seinen Roman wünscht: "En literatura, sostenía, para construir algo hay que destruirlo" (201). Das fertige Manuskript übergibt Brocca an Miró mit dem Auftrag, es zu veröffentlichen, er selbst wolle in dem zusammenstürzenden Gebäude sterben. Miró verliert es jedoch auf dem Weg nach draußen, während das Gebäude einstürzt, so dass Brocca und sein Werk für immer verloren sind. Schlussfolgerungen Mit Filosofía y Letras lehnt sich Pablo De Santis stark an die Tradition des Rätselromans und an die Kriminalerzählungen von Borges an.12 Die Methode des universitätsinternen Ermittlers Gaspar Trejo, die "Ciencia de los Indicios", ist nur scheinbar innovativ. Zwar kokettiert sie mit der bildhaften Vorstellung von einem Indizienmuseum und regt damit die Fantasie des Lesers an, operiert aber in letzter Konsequenz auf der Grundlage der traditionellen Mischung von Ratio, Intuition, Neutralität und empirischen Beweisen. Unkonventioneller ist dagegen die Szene, in der der Erzähler und die Literaturwissenschaftler Granados und Novario ungewollt zu Ermittlern werden. Der Fund von Vieyras Leiche regt sie dazu an, die Indizien wie einen literarischen Text zu deuten, für den Spezialwissen erforderlich ist. Einen Bezug zu wissenschaftlichen Diskursen wie bei Jô Soares stellen die Figuren nicht her. Pablo De Santis lehnt sich anders als Soares außerdem durch die Erzählsituation an die Tradition der Rätselerzählungen Poes und Conan Doyles an: Der Assistent des Ermittlers berichtet von den Ereignissen. Im Unterschied zu den Hypotexten erfüllt Miró jedoch nicht im ganzen Roman die Funktion des Assistenten und charakterisiert sich auch nicht als bewundernder Beobachter des Detektivs. Seine persönliche Involviertheit in die Hand-
12 Die Systemreferenz ist durch die Nachahmung dieser Modelle zwar sehr deutlich, wird aber nur an wenigen Stellen explizit hergestellt. Einzeltextreferenzen enthält der Roman gar nicht.
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lung als Sekretär des Instituts und sein direkter Kontakt zu den Beteiligten verleihen der Narration eine deutlich intimere Note als dies bei Poe und Conan Doyle der Fall ist. In der Pseudonorm des Kriminalromans treten die Ermittlerfiguren für Gerechtigkeit ein, egal ob es sich um Polizisten oder Privatdetektive handelt. Dies ist bei Trejo und Miró anders. Ihr Interesse gilt nicht in erster Linie der Bestrafung des Mörders oder einem moralischen Urteil über "gut" und "böse", sondern der Lösung des Rätsels. Vor allem Miró wird deutlich mehr von seiner Neugier getrieben als vom Wunsch nach Gerechtigkeit. In Bezug auf die vollständige Aufklärung aller Fragen geht Pablo De Santis wie auch Soares mit der Tradition des Rätselromans konform. Er befriedigt dadurch die pseudonormativen Lesererwartungen und beendet die Handlung quasi mit einem letzten Spielzug. Zurück bleibt beim Leser nur die Faszination, die von Broccas Poetik ausgeht. Gewalt und Verbrechen werden in Filosofía y Letras genauso wenig aus gesellschaftlichen Umständen heraus erklärt wie bei Soares. Den lebensweltlichen Kontext schließt der Autor durch einen narrativen Kniff fast völlig aus: Er speist die Polizei damit ab, dass die Toten Selbstmord begangen haben, weswegen sie nicht in Erscheinung tritt. Dies ermöglicht ihm die Erschaffung eines mit fantastischen Elementen durchsetzten Raumes mit borgeskem Anstrich. Zwar sind die Ereignisse, die sich darin abspielen, nicht völlig unmöglich, aber die Grenzen des Wahrscheinlichen werden doch so sehr überspannt, dass der Leser die Handlung nicht auf die Realität überträgt. Im Gegensatz dazu dringen bei Soares viele Akteure der Gesellschaft in die Romanhandlung ein, vor allen Dingen die Polizei. Da der Roman jedoch im Ton einer Komödie verfasst ist, braucht sich auch Soares die Frage nach dem tatsächlichen Vorgehen der Polizei nicht zu stellen, was beide Werke miteinander verbindet. Auch in der Darstellung von Gewalt ähneln sie sich. De Santis geht mit Gewaltszenen sparsam um. Die abgehackten Finger und Ohren erzeugen gegen Ende des Romans Gruseleffekte, die mehr auf die gothic novel als auf die hard-boiled-novel verweisen. Bei beiden Autoren lösen solche Szenen keine moralische Empörung, sondern eher genüssliches Schaudern beim Leser aus. Dass De Santis’ Roman nicht in eine Reflexion über Gewalt mündet, ist folgerichtig. Sowohl Broccas als auch Condes Verbrechen stehen in Zusammenhang mit egoistischen, literarischen Ambitionen, weswegen Miró am Ende nur über literarische und keine gesellschaftlichen Fragen nachdenkt. Broccas Poetik des "narrar una historia con hechos" (200) bildet den Gegenpol zu Condes Forschungsarbeiten. Während Brocca sich viel zu stark an der Wirklichkeit orientiert, tut dies Conde viel zu wenig. Beiden fehlt der "richtige" oder gesellschaftlich verträgliche Sinn für den Umgang mit der Realität; dem einen, weil er Menschen wie 341
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Spielfiguren behandelt, und dem anderen, weil er seine Forschung auf einem Nichts aufbaut. Da Broccas Verhalten im Roman als Psychose deutbar wird, lässt sich von ihr keine gesellschaftskritische Intention ableiten. Auch in Soares’ Roman geht das nicht, da der Mörder ebenfalls als psychisch krank charakterisiert wird. Die Figur Broccas steht voll und ganz im Dienst des Rätsels und der metadiskursiven Reflexion über Literatur. Condes Verhalten und das seiner Gegenspieler enthält aber eine mit zurückhaltendem Humor ausgestattete Verspottung der Akademia. Die Literaturwissenschaftler werden bei De Santis als ehrsüchtige und rechthaberische Exzentriker deklassiert. Im Fanatismus Condes spiegeln sich die Pathologien der Genies wider, die in der Nervenklinik behandelt werden. Broccas, Rusniks, Grogs und auch Condes Genialität gehen in Wahnsinn über, wodurch ihr Erfindungsreichtum unbrauchbar wird. Im Gegensatz zu Soares’ Roman vollzieht sich die Subjektkonstruktion in Filosofía y Letras aber nicht im Spannungsfeld fremder und eigener, politischer oder wissenschaftlicher Machtdiskurse. Filosofía y Letras ist ganz der Tradition der borgesken Rätselerzählung verpflichtet und weist keine Tendenzen auf, diese zu subvertieren. Seine Form der Aneignung entspricht vielmehr einer Imitation von Borges’ Ansatz. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass De Santis versucht, die Merkmale von Borges’ kurzen Erzählungen auf einen ganzen Roman auszudehnen.13 Auch den Eigenschaften der Pseudonorm, wie der klaren Markierung zwischen "gut" und "böse" oder der Utopie von der Ausrottbarkeit des Verbrechens, weicht De Santis in derselben Weise aus wie Borges. Er verschreibt sich ganz dem fantasievollen, intellektuellen Gedankenexperiment und unterhaltsamen, aber ansonsten zweckfreien Spiel mit dem Rätsel.
13 Er ist daher gezwungen, dem Erzähler und anderen Figuren entgegen Borges’ Idealvorstellung etwas mehr psychologische und biografische Tiefe zu verleihen.
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6.3. Intertextualität: Luis Fernando Verissimo: Borges e os Orangotangos Eternos (Brasilien, 2000) Der Autor: Luis Fernando Verissimo Luis Fernando Verissimo wurde 1936 in Porto Alegre als Sohn des bekannten Schriftstellers Érico Verissimo geboren.1 Als Kind und Jugendlicher verbrachte er mehrere Jahre mit seiner Familie in den USA (1943-45 und 1953-56), absolvierte dort die high school und begann Saxofon zu spielen. Bis heute bestreitet er immer wieder Auftritte als Saxofonist, bezeichnet sich aber nicht als Profimusiker. Ein Universitätsstudium absolvierte er nie, sondern arbeitete gleich nach dem Schulabschluss beim Globo Verlag in Porto Alegre in der Grafik- und Kunstabteilung. Außerdem übersetzte er gelegentlich aus dem Englischen. Ab 1962 war er Redakteur für Werbeanzeigen in Rio. 1966 kehrte er nach Porto Alegre zurück und arbeitete als Korrektor und Redakteur in der Werbeabteilung der Tageszeitung Zero Hora, wodurch er den Journalismus und die Schriftstellerei für sich entdeckte. Nach kurzer Zeit bekam er dort seine eigene Kolumne. Im Laufe seiner Karriere schrieb er für die Zeitungen Folha da Manhã, Jornal do Brasil, Estado de São Paulo, Expresso und O Globo. Verissimo ist vor allem für seine geistreichen und humorvollen crônicas bekannt. 1973 erschien sein erster Sammelband, O Popular. Es folgten O Analista de Bagé, A Velhinha de Taubaté und A Versão dos Afogados. Seine berühmtesten crônicas sind die der Bände Comédias da Vida Privada (1994) und Novas Comédias da Vida Privada (1996).2 In seiner Kurzprosa erfand der Autor wiederkehrende Figuren mit spezifischen Charaktereigenschaften. Dazu gehören der Psychoanalytiker aus Bagé (der den Dialekt der gaúchos spricht), die alte Dame von Taubaté (die den Versprechungen der Regierung blind glaubt) und der Privatdetektiv Ed Mort (erstmals in Ed Mort e Outras Histórias, 1979). Mit den Ed-Mort-Geschichten beginnt der Autor, im Genre der Kriminalliteratur zu schreiben, und zwar im Bereich der Parodie.3
Nur auf wenigen älteren Büchern Luis Fernando Verissimos wird der Familienname mit Akzent geschrieben (Veríssimo). Bei Érico Verissimo oder Veríssimo dominiert zwar die Schreibweise mit Akzent, wird aber auch nicht stringent durchgehalten. 2 Verissimo arbeitete außerdem am Drehbuch für die gleichnamige Fernsehserie mit. 3 Ed Mort, der sich in jeder Geschichte in James-Bond-Manier vorstellt ("Mort, Ed Mort") und ein schäbiges Büro in einer schäbigen Passage unterhält, hat nur weibliche Klienten, die ihre Ehemänner suchen. Die Fälle löst er schnell und effektiv, erhält jedoch nie eine Bezahlung dafür, weswegen er nach und nach seine Büromöbel verkaufen muss, um überleben zu können (zu Ed Mort siehe auch Roux 2003). 1
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Verissimos Humor gehorcht meist demselben Mechanismus. Er evoziert gesellschaftliche Diskurse, Rollenklischees und typische Verhaltensmuster der brasilianischen Mittelschicht und lässt naive Figuren diese unfreiwillig durchbrechen. In Interviews hat er verschiedentlich betont, dass er immer versucht, den Witz der jeweiligen Geschichte klar und deutlich herauszuarbeiten, damit er von den Lesern problemlos verstanden werden kann. Dies hält er für nötig, da die meisten seiner Texte zuerst in Zeitungen erscheinen, einem sehr kurzlebigen Medium: "[…] a gente sempre tem que ter em conta que o jornal é muito efêmero, que existe num dia e que no dia seguinte, já está forrando a gaiola do papagaio" (Golin 1993: 106). Aus Gründen der Deutlichkeit und Verständlichkeit verzichtet er in den crônicas weitgehend auf Ironie und schwarzen Humor und privilegiert dafür einen offenen, heiteren Humor, durch den er die Figuren mit viel Sympathie und Verständnis für ihre Lage darstellt.4 Neben seiner Kurzprosa hat Verissimo bisher fünf Romane veröffentlicht, die alle den Kriminalroman parodieren, humoristisch verzerren und klug hinterfragen: O Jardim do Diabo (1988), Gula - O Clube dos Anjos (1999), Borges e os Orangotangos Eternos (2000), O Opositor (2004) und Os Espiões (2009). Sein Roman A Décima Segunda Noite (2006) ist hingegen eine historische Liebeskomödie, die Shakespeares Twelfth Night, Or What You Will als Hypotext verarbeitet. Verissimo ist ein äußerst produktiver Autor von Kurzprosa, Karikaturen sowie Comics und hat rund siebzig Titel veröffentlicht, für die ihm zahlreiche Preise verliehen wurden.5 Seine Zurückhaltung und Wortkargheit bei Interviews und Fernsehauftritten stehen in auffälligem Gegensatz zu seinem großen Einfallsreichtum und der hohen Geschwindigkeit, mit der er äußerst geistreiche Texte produziert. Außerdem behauptet er immer wieder, dass er nicht aus einer inneren Notwendigkeit heraus schreibe, sondern lieber Comiczeichner oder Musiker geworden wäre ("[…] eu não gosto muito de escrever, não é uma coisa que eu faça com naturalidade, com muito gosto", Golin 1993: 104), was angesichts seiner Produktivität ebenfalls erstaunt.
Dazu äußerst sich Verissimo in einem Interview wie folgt: "O humor é uma linguagem. Você pode falar de tudo, coisas mais e menos sérias, mas usando uma linguagem mais leve, mais atraente. As pessoas gostam de ler uma coisa bem-humorada. Mas às vezes, há certos riscos, por exemplo, a ironia, que é sempre perigosa, porque muitas vezes a pessoa não entende a ironia. Tem que explicar que aquilo é ironia. Mas, fora isso, o humor é uma linguagem que serve para tudo" (Muniz et al. 2004). 5 Unter anderem erhielt er 1982 und 1983 den Prêmio Abril de Humor Jornalístico, 1989 und 1994 den Prêmio Direitos Humanos do Movimento de Justiça e Direitos Humanos e da Comissão Sobral Pinto de Direitos Humanos da OAB/RS, 1991 den Prêmio de Isenção Jornalística, 1996 die Medalha de Resistência Chico Mendes und den Prêmio Formador de Opinião. 1997 wurde er von der União Brasileira de Escritores zum Intellektuellen des Jahres gekürt. 4
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Luis Fernando Verissimo: Borges e os Orangotangos Eternos
Intertextualität: Verissimos Umgang mit den Hypotexten In Borges e os Orangotangos Eternos wird Humor in erster Linie durch einen bestimmten Umgang mit einer Reihe von Hypotexten sowie der Einbindung eines fiktionalisierten Jorge Luis Borges in die Romanhandlung erzeugt. Den Hypotexten und Borges als literarischer Figur bringt Verissimo viel Bewunderung entgegen, so dass sein Spott mehr den Charakter einer liebevollen Witzelei annimmt als eines abwertenden Auslachens. Im Titel des Romans sind bereits zwei intertextuelle Ebenen angelegt. Verissimo spielt damit auf ein bekanntes Gedankenexperiment an, das Infinite-Monkey-Theorem, nach dem ein Affe, der bis in die Unendlichkeit auf einer Schreibmaschine tippt, aufgrund der Gesetze der Wahrscheinlichkeit irgendwann alle Meisterwerke der Weltliteratur hervorbringen müsste. Dieses Bild suggeriert, dass große oder sinnhaltige Werke durch Zufall entstehen können, also ohne das Zutun eines genialen Geistes. Einen intertextuellen Nexus zu Borges, dessen Name auch im Titel enthalten ist, besitzt das Theorem deshalb, weil Borges in einem Essay von 1939, "La biblioteca total", die Geschichte dieses Theorems nachzeichnet.6 Ihm zufolge reichen die Wurzeln dieses Gedankenexperiments zurück bis in die griechische Antike, namentlich zu einem Vertreter des Atomismus, Leukipp, dessen Auffassung Aristoteles im ersten Buch der Metaphysik beschreibt. Leukipp stellt laut Borges folgende Überlegung an: "[…] una tragedia consta de iguales elementos que una comedia –es decir, de las veinticuatro letras del alfabeto" (Borges 1999 [1939]: 24f.). In der römischen Antike findet Borges einen Beleg für einen ähnlichen Gedanken bei Ciceros De la naturaleza de los dioses, wo es heißt: "[…] si arrojan a bulto innumerables caracteres de oro, con las veintiuna letras del alfabeto, pueden resultar estampados los Anales de Ennio. Ignoro si la casualidad podrá hacer que se lea un solo verso" (ebd.: 25, kursiv im Original). Die Verbindung dieser Idee mit dem Bild des Schreibmaschine tippenden Affen tauche zum ersten Mal Mitte des 19. Jahrhunderts bei dem englischen Biologen Thomas Henry Huxley auf, der behauptete, "[…] que media docena de monos, provistos de máquinas de escribir, producirán en unas cuantas eternidades todos los libros que contiene el British Museum" (ebd.), wohingegen die Idee von der "totalen Bibliothek", auf die der Titel des Essays abzielt, zum erstem Mal bei dem deutschen Schriftsteller Kurd Laßwitz im Erzählband Tramkristalle (1902) formuliert worden sei. Laßwitz reduziert darin das Alphabet auf 25 Symbole (die laut ihm für alle Sprachen genügen) und kommt auf folgenden Gedanken: "El conjunto de tales variaciones integraría una Biblioteca Total, de 6 "La biblioteca total" erschien ursprünglich in der Zeitschrift Sur (Nr. 59, August 1939). Der Essay ist nicht in den Obras completas enthalten, sondern in Borges en Sur (1931-1980).
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tamaño astronómico" (ebd.: 26). Diese Bibliothek könne mechanisch, ohne Zutun organisierender Intelligenz, aufgrund des Zufallsprinzips erzeugt werden. Sie enthalte alle von Menschenhand geschriebenen Werke, aber auch unendlich viele sinnlose. Borges’ Essay schließt mit der Feststellung, dass der menschliche Geist auch für die Erfindung von schrecklichen Vorstellungen verantwortlich ist: "Uno de los hábitos de la mente es la invención de imaginaciones horribles. Ha inventado el Infierno […]" (ebd.: 27). Die totale Bibliothek stellt für ihn eine solche schreckliche Vorstellung dar. Er bezeichnet sie als "horror subalterno", weil sie gleichzeitig alles behauptet und verneint und damit aus lauter Widersprüchen besteht. Später arbeitet Borges diesen Grundgedanken in der Erzählung "La biblioteca de Babel" weiter aus. Darin beschreibt er eine unendlich große, labyrinthische Bibliothek, die alle mathematisch möglichen Bücher enthält. Sowohl Borges’ Essay als auch seine Erzählung gehören zu den wichtigsten Hypotexten von Verissimos Roman. Der Titel des Romans enthält aber noch einen weiteren Hinweis auf einen Hypotext aus der Feder eines anderen Autors. Bei Verissimo geht es nämlich nicht um einen macaco eterno, sondern speziell um einen orangotango eterno. Eine konkrete Affenspezies wird jedoch bei Borges nie genannt, genauso wenig wie in den Belegstellen, die er in seinem Essay anführt. Verissimo aktiviert über den Orang-Utan eine Verbindung zu Edgar Allan Poe, in dessen Erzählung "The Murders in the Rue Morgue" (1841) ein wild gewordener Orang-Utan zwei Frauen umbringt. Die intertextuelle Vernetzung mit Poes Erzählungen geht im Roman weit über die Anspielung auf den mordenden Affen hinaus. Poe ist neben Borges der zweite große Pfeiler im intertextuellen Netzwerk des Romans. Als Epigraf vorangestellt ist dem Roman außerdem ein Zitat aus Borges’ Erzählung "Abenjacán el Bojarí, muerto en su laberinto" aus dem Band El Aleph (1949): Unwin, cansado, lo detuvo. – No multipliques los misterios – le dijo. – Éstos deben ser simples. Recuerda la carta robada de Poe, recuerda el cuarto cerrado de Zangwill. – O complejos – replicó Dunraven. – Recuerda el universo.
In diesem Motto sind die Autoren der Hypotexte, die zur Auflösung des Falls beitragen, in einem genannt: Borges als Autor des Zitats, Poe als Autor von "The Purloined Letter" und der englische Schriftsteller Israel Zangwill, auf dessen Roman The Big Bow Mystery (1895) hier angespielt wird. Sowohl Poes Erzählung als auch Zangwills Roman werden als Beispiele für misterios simples angeführt. In Poes Erzählung sucht die 346
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Polizei vergeblich in allen Ecken und Winkeln einer Wohnung einen gestohlenen Brief. Auguste Dupin findet ihn schließlich mühelos an exponierter Stelle ganz oben auf einem Stapel Papiere. Das Rätsel war also durch seine Einfachheit besonders schwierig. Zangwills Roman ist ein Beispiel für ein sogenanntes closed-room-mystery, bei dem das Rätsel durch die Frage entsteht, wie der Mörder den Tatort betreten und wieder verlassen konnte, obwohl der Raum von innen verriegelt war. In Zangwills Roman betritt der Mörder den Raum schlicht nach der Öffnung der Tür und begeht erst dann das Verbrechen. Da die Ermittler von einem falschen zeitlichen Ablauf ausgehen, ist auch dieses einfache Rätsel besonders schwierig. Den Beispielen für misterios simples steht im Motto ein misterio complejo gegenüber: "el universo". In Borges’ Erzählung "La biblioteca de Babel" wird das Universum mit der totalen Bibliothek gleichgesetzt, in der die Suche nach einem bestimmten Buch beziehungsweise der Lösung eines Rätsels hoffnungslos scheint.7 Da beide Möglichkeiten, also die eines einfachen und die eines komplexen Rätsels, im Motto als Alternativen genannt werden, entsteht beim Leser die Frage, welche Art von Rätsel in Verissimos Roman wohl vorliegt, so dass er während der Lektüre immer beide Möglichkeiten im Kopf behält und dies umso mehr, da die Romanfiguren den Epigraf im Laufe des Geschehens mehrmals zitatartig wieder aufgreifen (vgl. 48f., 50 und 111). Titel und Epigraf spannen also den intertextuellen Rahmen des Romans auf. Die Zielscheiben seines huldvollen und komplizenhaften Spotts sind genannt: Borges, Poe, in geringerem Maße Zangwill und mit ihnen die Tradition der Kriminalliteratur insgesamt. Der Roman: Borges e os Orangotangos Eternos8 Der homodiegetische Erzähler des Romans, Vogelstein, lebt in Porto Alegre (wie der Autor). Er arbeitet als Englischlehrer und Übersetzer und ist ein Bewunderer Jorge Luis Borges’. Der Hauptteil des Romans besteht, ähnlich wie bei De Santis, aus einem Bericht in der Ich-Form. Diesen adressiert Vogelstein an Borges. Der Bericht handelt von einem Mord auf einem Edgar-Allan-Poe-Kongress in Buenos Aires und den sich anschließenden Ermittlungsversuchen durch Borges, Vogelstein und den Kriminalisten Cuervo. Seinen Adressaten spricht Vogelstein
Die Erzählung beginnt wie folgt: "El universo (que otros llaman la Biblioteca)" (Borges 2000 [1941]: 86). 8 Zu Borges e os Orangotangos Eternos liegen die Aufsätze von Cruz (2005), Capano (2006) und Maretti/Caron (2010) sowie die Master-Arbeit von Magalhães Filho (2009) vor. Gonçalves (2005) charakterisiert den Roman in einem kurzen Absatz. 7
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durchgängig mit você oder Jorge direkt an.9 Obwohl Vogelstein als IchErzähler fungiert, ist seine interne Fokalisierung im Vergleich zu der Mirós aus De Santis’ Roman ziemlich schwach. Er tritt weniger als ein erlebendes Ich auf (wie Miró) sondern mehr als ein berichtendes Ich. Vogelstein gewährt dem Leser kaum Einblicke in seine Gefühle und Gedanken, was fiktionsintern dadurch begründet wird, dass sein Bericht das Ziel verfolgt, die Ereignisse wahrheitsgetreu darzustellen. Narratologisch betrachtet erfüllt diese Zurückhaltung jedoch eine andere Funktion. Sie verhindert, dass der Leser zu früh erahnt, dass Vogelstein ein unzuverlässiger Erzähler ist, der seine eigene Schuld verschleiern möchte. In Borges e os Orangotangos Eternos dominieren wie in Verissimos Werk insgesamt die Dialoge. Den Hauptteil umschließt ein kurzer, kursiv gedruckter extradiegetischer Brief, in dem Vogelstein den intradiegetischen Bericht einleitet und ihn am Ende an Borges übergibt mit der Aufforderung, dass er den Schluss verfassen, das heißt, das whodunit lösen soll. Das letzte, ebenfalls kursiv gedruckte Kapitel mit dem Titel "La cola" enthält die Antwort des fiktionalisierten Borges, der dieser Aufforderung nachgekommen ist. Der Roman beginnt mit einer Aufzählung von Zufällen, die Vogelstein dafür verantwortlich macht, dass er im Jahr 1985 die Gelegenheit wahrnehmen konnte, an einer literaturwissenschaftlichen Tagung teilzunehmen. Es handelt sich dabei um den jährlichen Kongress der fiktiven Israfel Society10, die auf Edgar Allan Poes Werk spezialisiert ist und die Zeitschrift The Gold Bug herausgibt. Zufällig findet der Kongress zum ersten Mal in der südlichen Hemisphäre statt, nämlich in Buenos Aires, nachdem er zuvor immer in Stockholm, Baltimore oder Prag veranstaltet wurde. Des Weiteren sind zwei der Kongressteilnehmer zufällig diejenigen, deren Polemik Vogelstein besonders aufmerksam verfolgt hat: der Deutsche Joachim Rotkopf (mit dem Vogelstein in Briefkontakt steht) und der Argentinier Xavier Urquiza. Außerdem stirbt zufällig Vogelsteins Katze Alef11, so dass ihn keine Verpflichtung mehr in Porto Alegre festhält. Ein weiterer Zufall sorgt dafür, dass Vogelstein bei seiner An-
Da Borges als eine zentrale Figur auftritt, reiht Capano den Roman in eine Gruppe von Werken ein, die er als "biografismo ficcionalizado" bezeichnet und wie folgt definiert: "Se trata de narraciones de escritores que hablan sobre otros escritores que se transforman en personajes de la ficción literaria. Como artilugio narrativo se agregan a la bioinformación citas y frases textuales, o levemente modificadas, con la intención de incentivar el interés del lector culto" (Capano 2006: 94, Fußnote 2). Capano erkennt darin eine literarische Mode, zu der auch Autoren wie W.G. Sebald, Enrique Vila-Matas, Antonio Tabucchi, Roberto Calasso, Serigo Pitol, Roberto Bolaño und Ricardo Piglia Beiträge geleistet haben (ebd.). 10 Mit diesem Namen bezieht sich Verissimo auf das Gedicht "Israfel" (1831) von Poe. In Baltimore – Poes Todesort und Grabstätte – existiert tatsächlich eine Edgar Allan Poe Society, die jährlich einen Vortrag, aber keine Kongresse organisiert (www.eapoe.org). 11 Der Name der Katze spielt auf Borges’ Erzählband El Aleph (1949) an, in dem die Erzählung "Abenjacán el Bojarí, muerto en su laberinto", die im Motto zitiert wird, enthalten ist. 9
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kunft von seinem ursprünglich gebuchten Hotel in ein anderes verlegt und somit im selben wie Rotkopf, Urquiza und der Amerikaner Oliver Johnson untergebracht wird. Der Erzähler betont mehrmals, dass nur diese Häufung von Zufällen zu seiner Teilnahme am Kongress und somit seiner Verwicklung in den Mordfall geführt hat, wodurch er von der zielgerichteten Manipulation seines Berichts ablenkt und der Leser ihm einen Vertrauensvorschuss gewährt. Gleich in der ersten Nacht wird Rotkopf tot in seinem Hotelzimmer mit zwei Messerstichen im Bauch und einem Schnitt durch die Kehle aufgefunden. Verissimo inszeniert diesen Mord nach dem klassischen whodunit in einem verschlossenen Raum und schafft dadurch einen intertextuellen Bezug zu Poes "The Murders in the Rue Morgue", dem ersten closed-room-mystery der Literaturgeschichte, sowie zu Zangwills Roman The Big Bow Mystery. Die Ermittlung verläuft jedoch nicht pseudonormativ auf der Grundlage einer genauen Untersuchung des Tatorts, sondern vollzieht sich in Form einer literaturwissenschaftlichen Interpretation, was den Roman mit Pablo De Santis’ Filosofía y Letras verbindet. Vogelstein, Borges und der Kriminalist Cuervo12 (ebenfalls ein Kongressteilnehmer) führen lange Gespräche in Borges’ privater Bibliothek und versuchen, das Rätsel zu lösen, indem sie intertextuellen Verweisen nachgehen. Borges gibt dabei die entscheidenden Impulse für die Ermittlung; Vogelstein fungiert als Zeuge und zweiter Ermittler, und der zurückhaltende Cuervo bildet als weniger begabter Assistent einen rationalistischen Gegenpol zu den gewagten Hypothesen, in die sich Borges und Vogelstein versteigen. Cuervo gibt aber trotz seiner insgesamt pragmatisch-nüchternen Haltung zu, dass er Poes Erzählung "The Murders in the Rue Morgue" im Unterricht für Kriminalistik verwendet. Außerdem habe die argentinische Polizei Borges schon mehrmals um Rat bei der Aufklärung von Fällen gebeten. Das Heranziehen von literarischen Modellen scheint somit vom Grundprinzip her gerechtfertigt, da der Literatur das Vermögen zugesprochen wird, Handlungsanweisungen oder Methoden zum Umgang mit der Realität bereitzustellen. Ferner findet diese Ermittlungsmethode ihre Legitimation dadurch, dass das Opfer selbst Literaturwissenschaftler und Poe-Experte war und sich das Verbrechen auf einem Poe-Kongress zugetragen hat, so dass der Mord möglicherweise eine speziell für diesen Kontext inszenierte Tat sein könnte. Da die Interpreten davon ausgehen, dass Rotkopf vor seinem Ableben die Spuren im Hotelzimmer absichtlich so gelegt hat, dass die Poe12 Cuervos Name ist eine Anspielung auf Poes Gedicht "The Raven". Cruz erklärt die Namensgebung wie folgt: "[…] o corvo foi escolhido para dar um tom melancólico (morte) e não racional, não sendo o centro do enredo mas enganando os leitores chamando suas atenções, ou seja, o corvo em Poe e em Verissimo têm a mesma aura: eles são estruturalmente importantes para apontarem para um estado mental dos personagens e do narrador e não como um sentido central chamando para si a concentração privilegiada do leitor (Cruz 2005).
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Exegeten den Mörder aufspüren können, erfüllt das Opfer selbst die Funktion des Autors dieses "Textes". Borges und Vogelstein vertreten gewissermaßen einen hermeneutisch-intentionalistischen Ansatz, wenn sie den Tatort als kryptische Botschaft auffassen, die Rotkopf in den letzten Minuten seines Todeskampfs "geschrieben" hat. Borges’ und Vogelsteins Umgang mit dem Fall umschließt keine moralischen, soziologischen oder psychologischen Fragestellungen, sondern nimmt das Verbrechen zum Anlass für eine intellektuelle Denksportaufgabe, die sie zum Vergnügen betreiben: "Um congresso sobre Edgar Allan Poe interrompido por um assassinato num quarto fechado, como no conto do próprio Poe! Era lamentável, mas era fantástico" (43). Darüber hinaus erfüllt für Vogelstein und Borges das Verbrechen die Funktion, die Ausgangssituation für eine mögliche fiktionale Geschichte zu liefern. Dabei steht für sie nicht die Wahrheitsfindung im Mittelpunkt, sondern die Qualität des literarischen Textes: – Borges y yo preferimos que o assassino seja Oliver Johnson – disse eu. – Por quê? – As possibilidades literárias são muito mais promissoras. A história pode começar no antigo Egito (82).13
Die Entschlüsselungsversuche der Intellektuellen gehen von der Körperstellung des Opfers aus. Vogelstein ist der einzige, der den Tatort gesehen hat, bevor das Rettungskommando die Position von Rotkopfs Körper bei ihren Wiederbelebungsversuchen verändert und auch die weiteren Spuren zerstört hat. Diese Konstellation ermöglicht es Vogelstein, durch seine Aussagen die Ermittlungsarbeit nach Belieben in die eine oder andere Richtung zu lenken. Er behauptet zunächst, dass der Körper in V-Form mit dem Po zum Spiegel gelegen habe und Rotkopf ihn Minuten vor seinem Tod per Telefon angerufen und ein unverständliches Wort, das wie "Djebrrokee" klang, artikuliert habe. Borges entwickelt daraus die Idee, der Verstorbene könne "Jabberwocky" gesagt haben. Dies ist der Titel eines Unsinngedichts von Lewis Carroll. In Through the Looking-Glass and What Alice Found There (1872) muss Alice im Wunderland das Gedicht gegen den Spiegel halten, um es lesen zu können.14 Aufgrund dessen schlägt Borges vor, Rotkopfs Körperstellung mit dem Spiegelbild zu kombinieren, wodurch sich der Buchstaben X ergibt. Diesen assoziiert Cuervo sofort mit Xavier Urquiza. Dass der 13 Ein weiteres Beispiel dafür ist folgender Passus: "– Só lamento que o morto não tenha dito logo o nome do assassino ao telefone, em vez de armar todo esse jogo – disse Cuervo. / – Isso porque você não é um ficcionista, Cuervo – disse você. – Eu e o senhor Vogelstein lamentamos que o jogo tenha sido tão fácil. Ainda tínhamos muitas brilhantes especulações literárias para fazer" (50). 14 Capano arbeitet weitere Stellen heraus, an denen der Spiegel in Verissimos Roman eine Rolle spielt, und setzt sie in Beziehung zu Borges’ Gedichten "El espejo" und "Al espejo" (Capano 2006: 97ff.).
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ungespiegelte Buchstabe V für Vogelstein stehen könnte, erwähnen weder der Erzähler noch stellt Borges diese These auf (dies wird er erst im Kapitel "La cola" tun). Der aufmerksame Leser kann dies jedoch als Hinweis darauf deuten, dass der Erzähler der Mörder ist. Auch ein humorvolles Augenzwinkern mit Verweis auf den Namen des Autors, der ebenfalls mit V beginnt, ist darin enthalten.15 Da Xavier Urquiza nichts nachgewiesen werden kann, entwickelt Borges die Theorie, dass das X mit Poes Erzählung "X-ing a Paragrab" (1849) in Verbindung stehen könnte. Darin verwendet der Herausgeber einer Zeitung so viele O’s, bis keine Lettern mehr übrig sind, und der Setzer die O's daher durch X’en ersetzt. Der Text bleibt trotzdem lesbar, sobald der Leser den Austausch der Buchstaben verstanden hat. Wird also Rotkopfs "Text" intertextuell in Bezug zu dieser Erzählung gedeutet, so könnte das Opfer mit seiner Körperstellung auch ein O angedeutet haben wollen und würde damit Oliver Johnson bezichtigen. Diese weit hergeholte Hypothese stößt bei Cuervo, der stets auf ein Mindestmaß an Rationalität und Wissenschaftlichkeit pocht, auf Ablehnung: Aquele morto estava ficando críptico demais para Cuervo. Por que não falava claro? Não parecia razoável, um homem se esvaindo em sangue e preparando um tableau acusatório com aquela minúcia, confiando na dedução de leitores de Poe. – Não estamos sendo muito científicos – protestou Cuervo (57).
Tatsächlich lässt sich auch Johnson nichts nachweisen. Vogelstein, der immer wieder betont, beim Fund der Leiche unter Schock und Alkoholeinfluss gestanden zu haben, korrigiert nun die Beschreibung der Körperstellung des Toten und behauptet, der Körper habe zusammen mit seinem Spiegelbild ein W gebildet. Auch hier hat Borges sofort eine literarische Assoziation. In Poes Erzählung "William Wilson" (1839) wird ein Mann durch einen Doppelgänger zerstört, der sein moralisches Ich verkörpert und am Ende als sein Spiegelbild in Erscheinung tritt. Vogelstein und Borges versteigen sich daher in die Idee, dass Rotkopfs Spiegelbild ihn umgebracht haben könnte. Später revidiert Vogelstein seine Aussage aufs Neue und gibt an, dass der Körper und das Spiegelbild ein M geformt haben, womit er auf einen weiteren Kongressteilnehmer, einen Japaner namens Miro verweist. Im Buchstaben M erkennt Borges aber auch einen Hinweis auf die Figur der Mutter, woraus er die Hypothese ableitet, dass Rotkopfs Mutter die Mörderin ist. Des Weiteren setzt er diese Figur mit der Dreifaltigkeit in Beziehung, wodurch er auf die
15 Mit der Vorstellung, dass in Kriminalromanen in letzter Konsequenz immer der Autor der "Mörder" ist, da er die Geschichte erfunden hat, spielt Verissimo auch in seinem Roman Gula – O Clube dos Anjos. Dort erklärt der Erzähler auf der ersten Seite: "As histórias de mistério são sempre tediosas buscas de um culpado, quando está claro que o culpado é sempre o mesmo. Não é preciso olhar a última página, leitor, o nome está na capa: é o autor" (Verissimo 1998: 9).
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geometrische Form des Dreiecks kommt, das die traditionellen Veranstaltungsorte des Kongresses (Stockholm, Baltimore, Prag) bilden. So wie die Muttergottes nicht zur Dreifaltigkeit gehört, wurde Buenos Aires bisher aus dem Dreieck der Veranstaltungsorte ausgeschlossen. Die immer absurder anmutenden Theorien der literarischen Ermittler produzieren kontinuierlich Witz und Heiterkeit. Vogelstein behauptet ein weiteres Mal, sich getäuscht zu haben, und gibt nun an, dass der Körper durch seine Verdoppelung im Spiegel eine Raute geformt habe. Der fiktionalisierte Borges knüpft daran keine weiteren Hypothesen. Wendet der Leser jedoch nun selbst die intertextuelle Ermittlungsmethode an, so entdeckt er, dass die Raute einen Bezug zu Borges’ Erzählung "La muerte y la brújula" eröffnet. Der Serienmörder Red Scharlach stimmt darin die Orte seiner Morde auf die Ermittlungsmethode des Polizisten Erik Lönnrot ab. Weil er sich sicher ist, dass Lönnrot die Orte zu einem geometrischen Muster verbinden wird, verübt er nach dem ersten Mord zwei Folgemorde in der Art, dass die Orte zusammen ein gleichschenkliges Dreieck bilden. Die Spiegelung des Dreiecks zu einer Raute ergibt den letzten Tatort, die Villa Triste-le-Roy. Lönnrot begibt sich dorthin, weil er glaubt, dem Mörder zuvorkommen zu können, läuft aber in eine Falle und wird selbst Scharlachs letztes Opfer. Im Anzitieren dieser Erzählung verbirgt sich also der Hinweis, dass der Täter (Vogelstein) den Ermittler (Borges) in eine Falle zu locken versucht, indem er sich dessen Gedankengänge zu eigen macht, um ihn sozusagen mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Der Vergleich mit dem Hypotext lässt außerdem die Vermutung zu, dass nicht das Opfer (Rotkopf) der wahre "Autor" des zu interpretierenden "Textes" ist, sondern der Täter (Vogelstein), was sich am Ende bewahrheitet. Im Kapitel "O" erfolgt ein Exkurs, der nicht unmittelbar zur Aufklärung des Falles beiträgt, sondern Borges’ und Vogelsteins Genuss am Fabulieren ausschmückt. Die beiden unterhalten sich über Oliver Johnsons literaturwissenschaftliche Forschung, in der er eine Verbindung zwischen Poe und dem amerikanischen Horrorautor H. P. Lovecraft herzustellen versucht. Der realhistorische Lovecraft erschuf in seinem kurzen Essay "History of the Necronomicon" (1927) die Legende von einem verbotenen Buch mit dem Titel Necronomicon. Darin seien die Namen von bösen Mächten und Monstern enthalten, die die Erde vor der Existenz des Menschen bewohnt haben. Das Aussprechen dieser Namen oder das Vorlesen des Textes könne großen Schaden anrichten. Lovecraft erfand die Überlieferungsgeschichte dieses fiktiven Buchs; das Necronomicon selbst schriebt er jedoch nie, spielt aber in seinen Werken immer wieder
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darauf an, als würde es wirklich existieren.16 Nach der These des fiktiven Johnson erfand Lovecraft mit dem Necronomicon aus Zufall ein Buch, das tatsächlich existiert, wie Borges erläutert: "Ou seja, Lovecraft não estava inventando nada. Intuíra uma verdade e a revelara sem querer" (64). Vogelstein formuliert dies in seiner Replik in Form eines Paradoxons: "Ou inventara a verdade" (64). Der Bezug von Lovecraft zu Poe kommt laut Johnson dadurch zustande, dass Poe schon vor Lovecraft das Necronomicon gekannt habe. Der realhistorische Borges erwähnt in seinem Essay "La biblioteca total" ebenfalls die Macht der Vorstellungskraft und damit der Sprache. Als Beispiel für eine solche Erfindung von Vorstellungen führt er die Hölle an (Borges 1999 [1939]: 27), die für viele Menschen der christlich-abendländischen Kultur über Jahrhunderte hinweg den Status einer Realität besaß. Der historische Borges spricht also von einem ähnlichen Phänomen wie der fiktive Johnson: Das Erfinden von schrecklichen Vorstellungen allein genügt schon, um ihnen quasi Realität zu verleihen, da sie die Wirkungsmacht einer Realität entfalten können, auch wenn sie nicht materiell nachweisbar sind. Im Unterschied zum historischen Borges glaubt der fiktive Johnson jedoch, Lovecraft habe nicht nur eine Vorstellung (die die Wirkung einer Realität entfaltet) erschaffen, sondern eine materiell vorliegende Realität aus Zufall mit seiner Vorstellung getroffen. Durch diese exzentrischen Thesen verspottet Verissimo die Literaturwissenschaft, was an Pablo De Santis’ Satire auf die Akademia erinnert. Verissimos Borges kommt durch seine Gedankengänge über Johnsons Thesen auch auf das Infinite-Monkey-Theorem zu sprechen, auf das der Romantitel anspielt. Einer der angeblichen Übersetzer des Necronomicons war laut Lovecraft der historische John Dee, der als Astronom und Astrologe am Hof von Rudolf II. in Prag arbeitete und um 1600 das geheime Buch ins Englische übersetzt haben soll. John Dee sei es auch gewesen, der zum ersten Mal vom orangotango eterno gesprochen habe.17 Von diesem gehe eine große Gefahr aus, weil er gefährliche Worte wie das Tetragrammaton durch Zufall schreiben könne. Für Vogelstein ist Lovecraft ein solcher orangotango eterno, habe er doch unfreiwillig mit dem Necronomicon eine gefährliche Wahrheit ge- oder erfunden: "Lovecraft sendo um notório exemplo moderno do Orangotango Eterno em ação, pois inventou uma verdade que já existia" (70). Im Kapitel "La cola", das Borges’ Antwort an Vogelstein enthält, überführt Borges Vogelstein der Tat, indem er eine Reihe von Inkongruenzen
16 Lovecraft lud außerdem im Laufe seiner Schriftstellerkarriere verschiedene andere Horrorautoren dazu ein, Erzählungen basierend auf den Gestalten des Necronomicons zu schreiben, was diese auch taten. 17 Borges erwähnt in seinem Essay "La biblioteca total" John Dee jedoch nicht.
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in seinem Bericht aufzeigt.18 Über Vogelsteins Vergangenheit erfährt der Leser zu Beginn des Romans Details, die zunächst reines Ornament zu sein scheinen, nun aber zur Lösung des Falls notwendig sind. Der Erzähler stammt aus einer deutschen Familie und ist als Kind mit seiner Tante Raquel nach Brasilien gekommen. Seine Mutter Miriam wollte im Nazi-Deutschland bei ihrem Liebhaber bleiben, der angeblich über die nötigen Kontakte verfügte, um sie, die Jüdin, zu schützen. Dies gelang ihm jedoch nicht, so dass Miriam in einem Konzentrationslager starb. Borges assoziiert nun den Buchstaben M mit Miriam und kommt zu folgendem Schluss: Der Mann, dessentwegen Miriam in Deutschland geblieben ist, war Rotkopf, Vogelsteins Vater. Da er den Tod seiner Mutter verschuldet hat, habe Vogelstein ihn ermordet. Das Motiv ist also am Ende ein ganz und gar klassisches: Rache. Eine derartige Auflösung des whodunit, in der sich der Erzähler als der Täter entpuppt, knüpft an eine literarische Tradition an, als deren erstes und prominentestes Beispiel Agatha Christies Roman The Murder of Roger Ackroyd (1926) gilt.19 Capano weist darauf hin, dass Borges ein solches Ende ebenfalls in zwei seiner Erzählungen verwendet hat, nämlich in "El hombre de la esquina rosada" (Historia universal de la infamia, 1935) und "La forma de la espada" (Artificios, 1944), und dass Verissimo intertextuell auf beide bezogen werden kann (Capano 2006: 96). Die Lösung für das closed-room-mystery liefert schließlich die "Bibliothek", und zwar konkret der Roman The Big Bow Mystery (1895) von Israel Zangwill, der im Epigraf erwähnt wird. Vogelstein hat Borges beiläufig auf diese Spur gebracht, da er erwähnte, wie in diesem Roman das Rätsel gelöst wird: "o assassino é quem arromba a porta e 'descobre' o corpo" (123). Aus diesem Roman schöpft der Erzähler die Idee zur Durchführung des Mordes. Das Naheliegendste war also richtig: Der Körper formte den Buchstaben V, womit auf Vogelstein, den Autor des Berichts, sowie in einer humoristischen Übertragung auf Verissimo, den Autor des Romans, verwiesen wird. Das Rätsel erweist sich, wie im Motto angekündigt, gleichzeitig als simpel (wie in den Hypotexten) und komplex (weil seine Lösung in der Bibliothek verborgen war).
18 Magalhães Filho (2009) beginnt seine Analyse mit diesem Kapitel und führt eine retrospektive Lektüre durch, bei der Borges die Funktion eines Modell-Lesers (leitor ideal) einnimmt, insofern er dem realen Leser vorführt, wie Vogelsteins Bericht gedeutet werden kann. Darüber hinaus arbeitet Magalhães Filho einige intertextuelle Verweise heraus, auf die aus Gründen der Textökonomie hier nicht eingegangen wird. 19 Das Romangeschehen wird von einer Figur erzählt (Dr. James Sheppard), die dem Detektiv Poirot als Assistent zur Seite steht. Christie greift hier scheinbar die Tradition des Paares Holmes-Watson auf, bei dem Watson der Erzähler ist. Der Überraschungseffekt am Ende ist umso größer, weil der Leser dem Erzähler immer einen Vertrauensvorschuss gewährt, vor allem wenn er die SherlockHolmes-Geschichten kennt.
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Damit könnte der Roman enden, da alle Rätsel entziffert zu sein scheinen. Die Vorgeschichte von Vogelsteins Beziehung zu Borges enthält jedoch noch einige Hinweise, die eine zweite Lösung erlauben, nämlich die, dass der Mord nie stattgefunden hat und Vogelsteins Bericht die Fiktion eines unzuverlässigen Erzählers ist. Vogelstein behauptet am Anfang des Romans, einmal eine Erzählung des damals noch relativ unbekannten Borges ins Portugiesische übersetzt und den Schluss abgeändert zu haben, weil er ihn nicht überzeugte. Dabei habe es sich um eine Kriminalerzählung gehandelt, die Borges im Ellery Queen’s Mistery [!] Magazine veröffentlicht hat (18).20 Die gesamte Zeitschrift wurde laut Vogelstein vom Englischen ins Portugiesische übertragen, weswegen er als Übersetzer aus dem Englischen damit beauftragt wurde: Achei o conto ruim, sem emoção e confuso. No fim não ficava claro quem era o criminoso, o leitor que deduzisse o que quisesse. Resolvi melhorá-lo. Apliquei alguns toques tétricos à moda de Poe à trama e um final completamente novo, surpreendente, que desmentia tudo o que viera antes, inclusive o relato do autor. Quem notaria as mudanças, numa tradução para o português de uma tradução para o inglês de uma história escrita em espanhol por um argentino desconhecido que deveria me agradecer pelo sangue e o engenho acrescentados ao seu texto? (18).
Vogelstein erwähnt explizit, dass ihm Poes Kriminalerzählungen als Modell für die Umarbeitung gedient haben. Überraschend ist jedoch die Art des neuen Endes, "que desmentia tudo o que viera antes, inclusive o relato do autor". Dies scheint geradezu eine Definition des unzuverlässigen Erzählens zu sein, für das Poe jedoch kein ausgewiesener Autor ist. Seine klassischen Kriminalerzählungen, "The Murders in the Rue Morgue", "The Mystery of Marie Rôget" und "The Purloined Letter", werden von einem zuverlässigen Erzähler dargeboten. Verissimo legt hier eine Spur zu Poe, die erst im Schlusskapitel "La cola" aufgelöst wird. Borges’ Reaktion auf die literarischen Eingriffe des Übersetzers beschreibt Vogelstein als vehement. Der Argentinier bezeichnete das umgeänderte Ende abfällig als "la cola", beschwerte sich beim Verlag und nannte den Übersetzer "mente criminosa" (19). Diese Charakterisierung Vogelsteins ist eine erste Anspielung auf seine Schuld an Rotkopfs Tod. Borges warf Vogelstein außerdem explizit vor, einen unzuverlässigen Erzähler in die Übersetzung eingearbeitet zu haben: "Em vez de mexer na cara do seu texto, eu lhe acrescentara um rabo, 'una cola' grotesca. Um desenlace que transformou o autor no pior vilão que uma história policial pode ter: um narrador inconfiável, que sonega ou falsifica informações ao leitor" (19). Nach der Auffassung des fiktionalisierten und auch des echten 20 Tatsächlich hat Borges 1948 die Erzählung "El jardín de senderos que se bifurcan" im Ellery Queen’s Mystery Magazine veröffentlicht. Der Titel der Erzählung wird in Verissimos Roman jedoch nicht genannt.
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Borges muss der Erzähler einer Kriminalgeschichte zuverlässig sein. Er ist der Garant dafür, dass der Leser die Ermittlungsschritte nachvollziehen und im Sinne des fair play selbst nach der Lösung des Falls suchen kann. Ein unzuverlässiger Erzähler verwehrt dem Leser jedoch die Chance, auf die Lösung zu kommen. Im Verlauf der Handlung flicht Vogelstein immer wieder versteckte Hinweise auf Poes Erzählung "The Gold-Bug" ein. Er konstruiert damit eine Denksportaufgabe für Borges, der diese Hinweise zur Lösung des Mordrätsels verwenden soll.21 In "La cola" erkennt Borges schließlich, dass Vogelstein ihn auf die Erzählung "The Gold-Bug" aufmerksam gemacht hat, weil ihr Erzähler unzuverlässig ist: "[…] me lembrei de que nela Poe, que já inventara a história de detetive e a paródia da história de detetive e a anti-história de detetive, estava inventando uma das convenções mais controvertidas da história de detetive, que é o narrador inconfiável" (119). Tatsächlich ist der Erzähler von "The Gold-Bug" jedoch nicht das, was man nach einem modernen narratologischen Verständnis einen unzuverlässigen Erzähler nennen würde. Der IchErzähler wird von seinem Freund bei einer Schatzsuche in die Irre geführt, da ihm dieser die ganze Zeit über suggeriert, der goldene Käfer, den er am Strand gefunden hat, habe etwas mit dem Schatz zu tun. Am Ende stellt sich jedoch heraus, dass der Freund den Erzähler absichtlich verwirren wollte, weil er sich über dessen Ungläubigkeit geärgert hatte. Da es sich um eine narration ultérieure handelt, kennt der Ich-Erzähler zu Beginn der Handlung ihren Ausgang bereits. Er ist also insofern unzuverlässig, als er den Leser nicht sofort darüber informiert, dass er seinem Freund auf den Leim gegangen ist, weswegen der Leser in dieselbe Falle tappt. Allerdings fälscht er keine Informationen. Sein Vorgehen unterscheidet sich daher von dem Vogelsteins. Auf der intradiegetischen Ebene (innerhalb von Vogelsteins Bericht) belügt der homodiegetische Erzähler die anderen Figuren und damit auch den Leser mit dem Ziel, ein Rätsel mit besonders vielen literarischen Anschlussmöglichkeiten zu kreieren. Er unterschlägt nicht nur Information (wie der Erzähler von "The Gold-Bug"), sondern stellt falsche Behauptungen über die Körperstellung des Opfers und die weiteren Spuren am Tatort auf. Trotz dieses Unterschieds erkennt der fiktionalisierte Borges in Vogelsteins stetigem Verweisen auf "The Gold-Bug" den Lösungsschlüssel. So gewinnt seine vorher geäußerte Behauptung, "As soluções estão sempre nas bibliotecas" (66), ihren Sinn, da "bibliote21 Er schreibt den Satz "Se for algum ponto que requer reflexão o examinaremos com melhor proveito no escuro" (52) der Erzählung "O Escaravelho Dourado" zu, während er tatsächlich aus "A carta roubada" ("The Purloined Letter") stammt. Außerdem behauptet er, dass sich ein auf den Boden gefallener Erzählband Poes auf den Seiten der Erzählung "The Gold-Bug" geöffnet habe, wobei Borges genau weiß, dass der Band diese Erzählung nicht enthält (73).
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ca" für die totale, vollständige, unendliche Bibliothek steht, die zwangsläufig auch die (simple und zugleich komplexe) Lösung für den Mord an Rotkopf enthalten muss.22 Auf der extradiegetischen Ebene (dem kursiv gedruckten Brief Vogelsteins sowie Borges’ Antwort in "La cola") stellt sich jedoch heraus, dass die Unzuverlässigkeit des Erzählers diese Schwindeleien sogar noch übersteigt. Vogelstein berichtet am Anfang des Romans, dass er aufgrund des Vorfalls mit der Übersetzung seit Langem versucht, mit Borges in Kontakt zu treten, um sich mit ihm auszusprechen. Um eine Reaktion von Borges zu erhalten, schickte er ihm nacheinander einen Aufsatz sowie drei eigene Erzählungen, die er als "três histórias 'borgianas', misturas de plágio e homenagem" (22) bezeichnet, eine Charakterisierung, die ebenso gut auf Verissimos Roman zutrifft.23 In "La cola" gibt Borges zu verstehen, dass Vogelsteins Bericht lediglich eine weitere borgeske Erzählung darstellt, die der Übersetzer geschrieben hat, um mit ihm in Kontakt zu treten: "A conclusão é que você estava apenas me mandando outra história. A sua quarta história" (126). Alle Ereignisse der intradiegetischen Ebene erweisen sich folglich als Fiktion: Der Kongress, der Mord und die Gespräche mit Borges. Nichts von alldem hat in der fiktionalen Wirklichkeit stattgefunden. Schlussfolgerungen In Verissimos Roman liegen den Ermittlern keinerlei empirische Indizien vor, nur die Zeugenaussagen des unzuverlässigen Ich-Erzählers Vogelstein. Der fiktionalisierte Borges muss bei seiner Hypothesenbildung daher von Aussagen ausgehen, die Vogelstein von Kapitel zu Kapitel revidiert. So wackelig ist die Beweislage weder bei Soares noch bei De Santis. Die Methode der Aufklärung gehorcht bei Verissimo außerdem nicht der logischen, rationalen Deduktion, sondern erfolgt über den Zugriff auf literarische Texte. Da dies unter der Annahme geschieht, dass das Opfer vor seinem Tod absichtlich Hinweise auf den Täter am Tatort hinterlassen hat, interpretiert Borges den Tatort wie einen literarischer Text, weswegen sein Vorgehen als hermeneutisch-intentionalis-
22 Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass die Gespräche der Ermittler in Borges’ Bibliothek stattfinden, denn gerade dort könnte der Schlüssel zur Lösung in irgendeinem der Regale stehen. 23 Vogelstein reist sogar nach Buenos Aires, um Borges persönlich aufzusuchen. Es gelingt ihm allerdings nicht, mit ihm Kontakt aufzunehmen. In seiner humorvollen und spielerischen Art lässt Verissimo den Erzähler Situationen erleben, die teils Borges’ literarische Verfahren nachahmen, teils an Lewis Carrolls Alice's Adventures in Wonderland erinnern. Einmal trifft er Borges’ "Spiegelbild" namens Borges Luis Jorge, das im Gegensatz zum im Alter erblindeten Borges äußerst gut sieht ("[…] usava óculos escuros porque enxergava demais", 21), und einmal einen Verwandten, Juan Carlos Borges.
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tisch bezeichnet werden kann. Ein solcher Ansatz wird auch bei Pablo De Santis kurz thematisiert. Bei Verissimo beschreitet der fiktionalisierte Borges überdies durch den Zugriff auf Hypotexte von Poe und Zangwill die Ebene der Einzelreferenz zu verschiedenen Werken und entfaltet einen Metadiskurs über Kriminalliteratur, deren Eigenschaften er im Detail kennt und wertschätzt (wie der reale Borges). Durch seine Behauptung, dass sich die Lösung immer in der (totalen) Bibliothek befinde, legitimiert er seine Ermittlungsmethode zudem. Die Aufklärungsarbeit stellt in Verissimos Roman ein literarisches Spiel dar. Sie dient dazu, geheimnisvolle Geschichten zu ersinnen, Gedankenexperimente wie das Infinite-Monkey-Theorem durchzuspielen und dabei den Leser zu unterhalten. Die verschiedenen Hypothesen über den Tathergang bleiben im unendlichen Netz der Intertextualität beziehungsweise der totalen Bibliothek gefangen und spielen mit der Vorstellung, dass Literatur oder Sprache alles kann, sogar Realitäten entdecken, erfinden oder erschaffen. Dass Borges am Ende tatsächlich eine intra- und eine extradiegetische Lösung in literarischen Texten findet, sprich in der Bibliothek, ist ein humoristischer und gleichzeitig bewundernder Tribut Verissimos an den historischen Borges. Indem Verissimo der Pseudonorm eine andere, unorthodoxe und höchst effiziente Ermittlungsmethode entgegensetzt, verspottet er sie indirekt. Ähnlich wie bei De Santis wird in Verissimos’ Roman der lebensweltliche Kontext ausgeklammert. Der Autor erschafft einen Raum (Borges’ Bibliothek), in den keine Akteure von außen (wie die Polizei) eindringen können. Im Gegensatz zum Institutsgebäude bei De Santis handelt es sich allerdings um einen Raum ohne fantastische Versatzstücke. Die Entlarvung der intradiegetischen Handlung des Romans als Machwerk eines unzuverlässigen Erzählers bewirkt aber eine doppelte Distanz zur Wirklichkeit. Der einzige konkrete Bezug zu einem realweltlichen Kontext ist der zu Vogelsteins Familiengeschichte im Deutschland des Dritten Reiches. Eine gesellschaftskritische oder aufklärerische Absicht ist daraus jedoch nicht abzuleiten. Der Nazi Rotkopf, der Vogelsteins jüdische Mutter an die Gestapo ausgeliefert hat, fungiert lediglich als Klischeevorstellung des Bösen.24 Konsequenterweise ist der Mord in diesem Roman (ähnlich wie bei Soares und De Santis) lediglich der Ausgangspunkt für die Erschaffung eines Rätsels und wird nicht in seiner sozialen Dimension fokussiert. Die Darstellung von Gewalt spielt in Verissimos Roman eine noch geringere Rolle als in den anderen beiden Romanen. Die drei Schnittwunden in Rotkopfs Körper werden nicht einmal dazu benutzt, Lach- Grusel oder Schauereffekte zu erzeugen, sondern erfüllen lediglich die Funktion, die Zahl der daran anschließba24 Der Roman hätte diesen Bezug zum Nazi-Deutschland nicht gebraucht, weil alle seine Mechanismen auch mit einer anderen Vorgeschichte im Hintergrund funktioniert hätten.
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ren Hypothesen zu erhöhen. Die Ermittler äußern beispielsweise die Vermutung, dass die Wunden von drei verschiedenen Tätern stammen. Die Verwendung von literarischen Figuren oder Personen aus dem Literaturbetrieb darf als typisch für "ludische Kriminalromane" gelten. Während bei Soares eine literarische Figur im Zentrum der Handlung steht (Sherlock Holmes) und sich bei De Santis das Rätsel um einen fiktionsintern erfundenen Schriftsteller entspinnt (Homero Brocca), ist bei Verissimo einer der Protagonisten ein historischer, fiktionalisierter Autor (Borges). Die Subjektkonstruktionen gehen also in allen Fällen auf literarische Texte zurück, die unterschiedlich stark mit anderen Diskursen angereichert werden. Verissimos Figuren werden gänzlich durch literarische und literaturwissenschaftliche Texte konstruiert. Ihr Verhalten stellt daher einen metadiskursiven Kommentar zu diesen dar. Ähnlich wie De Santis schreibt Verissimo mit seinem Roman eine Gattungstradition fort, die er sich nicht völlig neu aneignen muss, sondern die sich bereits Borges vor ihm angeeignet hat. Innovativ und provokativ dabei ist, dass er dem ernsthaften und ehrerbietigen literaturwissenschaftlichen Diskurs über Jorge Luis Borges etwas anderes entgegensetzt: Er nimmt der Forschung ihren anstrengenden, akademischen Ernst und verleiht dem Umgang mit Borges’ Texten eine spielerische, genussvolle Leichtigkeit, ohne dabei banal zu werden. Verissimo zitiert, parodiert und verehrt kanonische Texte, typische Strukturen der Kriminalliteratur, borgeske Bilder und Gedankenexperimente und erschafft daraus einen neuen, eigenständigen, intelligenten und höchst präzise geplotteten Roman.
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Fazit: Wege der Aneignung Zu Beginn dieser Untersuchung wurden gattungstheoretische Fragen behandelt, die zu dem Ergebnis führten, dass das Genre des Kriminalromans nur thematisch definierbar ist (Kap. 1), obwohl viele Leser immer noch dazu neigen, einen Roman über das Thema "Verbrechen", der keinen bestimmten Formeln folgt, nicht als Kriminalroman zu klassifizieren. Eine Gattungsbestimmung über formale Merkmale wurde hier dennoch verworfen, da sie Grenzziehungen in einem großen Feld von Werken vornehmen würde, die systemreferenziell und paratextuell aufeinander bezogen sind. Das allen Kriminalromanen gemeinsame Thema "Verbrechen" erlaubt lediglich die Konstatierung einer Tiefenstruktur, bestehend aus der Trias "Tat – Täter – Opfer", die in unzählige Oberflächenstrukturen überführt werden kann. Die Art der Verwandtschaft zwischen den einzelnen Werken, die auf dieser Tiefenstruktur beruhen, kann mithilfe von Wittgensteins Familienähnlichkeit beschrieben werden. Paratextuelle Zuschreibungen machen außerdem auch solche Werke als Kriminalromane lesbar, deren Tiefenstruktur sich mit denjenigen anderen Genres überlagert oder die in ihrem Entstehungszusammenhang zunächst nicht als Kriminalromane gelesen wurden. Letzteres betrifft vor allem die "Gewaltromane". Häufig handelt es sich um Gesellschaftsromane oder spezifischer um Großstadtromane, die im internationalen Kontext als Kriminalromane etikettiert werden, da die gesellschaftlichen Zustände, mit denen sie sich befassen, von Verbrechen und Gewalt bestimmt sind. Die internationalen Paratexte von Werken wie O Matador oder Rosario Tijeras rechtfertigen daher ihre Behandlung innerhalb dieser Kategorie. Typisch, aber nicht konstitutiv ist für den Kriminalroman darüber hinaus seine markierte Systemreferenz sowie die Einarbeitung von selbstreflexiven und metafiktionalen Ebenen. Eine unmarkierte Systemreferenz muss jedoch stets nachweisbar sein, da sie ein Charakteristikum aller literarischen Gattungen darstellt. Der Bezug des Kriminalromans zur Wirklichkeit ist von Roman zu Roman sehr unterschiedlich, weswegen er keinen gattungsdefinitorischen Wert besitzt. Die Bandbreite reicht von äußerst realitätsnahen über unwahrscheinliche, aber den Naturgesetzen nach möglichen Handlungen, bis zu fantastischen Settings. Auf den Erwartungshorizont des Lesers, der maßgeblich von populären literarischen und audiovisuellen Produkten geprägt wird, wurde in dieser Untersuchung ein besonderer Schwerpunkt gelegt, was im Folgenden noch einmal rekapituliert werden soll. Die Tradition des Kriminalromans ist fest in der populären Kultur verankert, die von Horkheimer und Adorno negativ beurteilt und von Fiske teilweise rehabilitiert wurde. Der Kriminalroman lässt sich aber seit 360
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seinen Anfängen nicht auf diesen Bereich begrenzen. Wie andere Romangenres hat auch dieses herausragende Werke hervorgebracht. Nach meiner These liegt jedoch das Besondere des Kriminalromans darin, dass auch für seine Meisterwerke die von der Populärkultur hervorgebrachten Muster produktions- wie rezeptionsästhetisch eine essenzielle Rolle spielen. Die unüberschaubar große Zahl an populären Produkten führt zu dem Vorurteil, ihre Figurentypen, Plot-Strukturen und happy endings seien gattungskonstitutiv. Sie entfalten durch ihre Allgegenwart und kontinuierliche Wiederholung eine normative Macht, weswegen ihre Nichteinhaltung stets als das "Andere" auffällt. Diesen Merkmalen darf jedoch nur der Status einer "Pseudonorm" zugesprochen werden, so meine These, da sie zwar einen genormten Erwartungshorizont erzeugen, jedoch das historisch gewachsene Textkorpus nicht adäquat beschreiben. In der pseudonormativen Vorstellung ist der Kriminalroman nach bestimmten Mustern geplottet (z. B. der Ermittlungs- oder Verfolgungsstruktur). Außerdem sind "gut" und "böse" deutlich markiert und basieren auf einer Opposition von Staat und Verbrechern; die Darstellung erfolgt durch die Perspektive der "Guten"; Empirismus, Rationalismus und epistemologischer Optimismus dominieren die Ermittlungsarbeit und erlauben eine zweifelsfreie Lösung; das Ende ist glücklich, evasiv und reflexionslos. Die Existenz dieser Pseudonorm schadet und nutzt dem Kriminalroman zugleich. Sie führt dazu, dass eine bestimmte Art von Viellesern immer wieder nach Kriminalromanen greift, während andere Leser, die sich für besonders anspruchsvoll halten, Bücher aufgrund ihrer paratextuellen Gattungszuordnung ablehnen und dabei nicht nur Unterhaltungsliteratur aus ihrer Lektüre ausklammern, sondern auch hochwertige Kriminalromane nicht zur Kenntnis nehmen und durch ihre Verweigerung das Vorurteil perpetuieren. Aus produktionsästhetischer Sicht bedeutet dies für die Autoren, dass sie mit Kriminalromanen besonders viele, häufig aber nur bestimmte Leser erreichen. Die Pseudonorm bringt für Schriftsteller zudem den Vorteil, dass sie die Aktivierung eines präzise umrissenen Erwartungshorizonts erlaubt, was für unterschiedliche Zwecke genutzt werden kann. Anspielungen auf pseudonormative Traditionslinien ermöglichen eine sehr viel reichhaltigere und vielschichtigere intertextuelle Vernetzung der Werke als dies in anderen Genres möglich ist. Für die Untersuchung lateinamerikanischer Kriminalromane wurde berücksichtigt, dass die Tradition der Gattung vorrangig aus Nordamerika und Europa kommt, was die Frage nach den Modalitäten ihrer Aneignung aufwarf (Kap. 2). Die Erfahrungen der Leser mit ihrer Umwelt beeinflussen maßgeblich, ob sie einer in ihrem Land verorteten Romanhandlung ihren Glauben schenken wollen oder nicht. Daher erfolgte eine Kontrastierung der lebensweltlichen Kontexte der Ursprungsländer mit denen der lateinamerikanischen Länder hinsichtlich des Stellenwerts 361
Fazit
von Verbrechen und Gewalt. Im Ergebnis ließ sich festhalten, dass die traditionellen und zugleich pseudonormativen Oppositionen "Staat versus Verbrecher" sowie "gut versus böse" keine verlässlichen Kategorien für lateinamerikanische Kriminalromane darstellen. Gewalt und Verbrechen gelten in Lateinamerika als ubiquitär, unberechenbar und willkürlich; Straflosigkeit und Ungerechtigkeit werden von den Menschen als Norm erlebt. Um auf solche Kontexte glaubhaft referieren zu können, wird die pseudonormative Zuordnung der Oppositionen ("Staat/gut" und "Verbrecher/böse") in ihr Gegenteil verkehrt oder ganz aufgegeben. Der geschichtliche Abriss der Entwicklungslinien des Genres in den einzelnen Ländern brachte zum Vorschein, dass die nötigen Transformationen erst nach und nach vollzogen wurden. Die stärkste Traditionslinie in der Gattung weist Argentinien auf, wo schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eigenständige Kriminalliteratur entstand, gefolgt von Mexiko und Brasilien. In Kuba nahm die Produktion in den 1970er Jahren aufgrund der staatlichen Förderung zu. Chile und Peru können lediglich seit gut zwanzig Jahren eine zusammenhängende Kriminalliteratur nachweisen. Auch in Kolumbien entstand erst in den 1990er Jahren ein Gattungsbewusstsein, das den Kriminalroman mit der Tradition der novela de la Violencia verband. Das größte Segment der lateinamerikanischen Kriminalliteratur charakterisiert sich durch einen dezidierten Realitätsbezug. Handlungen werden glaubhaft innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Situationen dargestellt. Die Romane verarbeiten eine Vielzahl brisanter Themen, die nicht notgedrungen in direktem Bezug zur Haupthandlung stehen, dies aber meist tun. Dadurch erfüllt der Kriminalroman die Funktion einer novela social. Ein deutlich kleineres Segment klammert den lebensweltlichen Kontext mittels literarischer Kniffe aus und konzentriert sich auf andere Aspekte wie fantasievolle Gedankenexperimente und die Erzeugung von Humor und Rätselspannung. Auf der Grundlage von theoretischen Vorüberlegungen konnten die Kriminalromane in Untergruppen gegliedert werden, die sich von den auf dem Buchmarkt üblichen Etiketten unterscheiden (Kap. 3). Indem die Kriterien "Form", "Wirklichkeitsbezug" und "Systemreferenz" abwechselnd in den Vordergrund gerückt wurden, ließen sich drei Typen bilden, in die der Großteil der lateinamerikanischen Kriminalromane einsortierbar ist. Zum einen wurden unter dem Begriff "Ermittlungsromane" Werke subsumiert, die eine gemeinsame Form teilen, nämlich die der seriellen Ermittlungsstruktur. Romane, die auf besonders gewaltreiche Kontexte glaubhaft referieren, wurden als "Gewaltromane" in eine zweite Kategorie gefasst. Als "ludische Kriminalromane" wurden schließlich solche bezeichnet, die besonders spielerisch mit der Gattungstradition umgehen und eine starke Systemreferenz herstellen. Die Gliederungsmethode wurde nicht als absolut postuliert, sondern als 362
Wege der Aneignung
heuristische Annäherung an ein großes Textkorpus, das aufgrund seiner Heterogenität mit taxonomischen Kriterien nicht stringent klassifiziert werden kann. Sie hat sich aber als brauchbare Alternative zu einer Einteilung nach gängigen Etiketten wie "Detektivroman", "Polizeiroman", "Politthriller" oder "Spionageroman" erwiesen, da sie vermeidet, strukturelle und thematische Kriterien unreflektiert zu mischen und das Bewusstsein auf die Verschiedenartigkeit der Vergleichsmomente lenkt. Außerdem birgt sie für künftige Forschungsarbeiten den Vorteil, nach dominanten und sekundären Merkmalen unterscheiden zu können, wodurch im Hinblick auf das jeweilige Erkenntnisziel eine feinere Klassifizierung der Romane ermöglicht wird. Die so vorgenommene Kategorisierung ließ auch augenfällig werden, dass langlebige Ermittlungsserien im lateinamerikanischen Kulturraum etwas seltener vorkommen als im angelsächsischen Bereich. Versuche, solche Serien zu etablieren, wurden zwar in fast allen Ländern unternommen, doch scheint das weit verbreitete Misstrauen in Polizei und Staat dazu zu führen, dass sie weniger gut beim Publikum ankommen. "Gewaltromane" sind demgegenüber viel häufiger und in allen Ländern des Kulturraums vertreten. Lediglich die "ludischen Kriminalromane" erwiesen sich als ein vorrangig argentinisches und brasilianisches Phänomen. Ziel der Romananalysen war es herauszuarbeiten, auf welche Weise in Lateinamerika die Aneignung der Gattung vollzogen wird. Dazu wurden einerseits die Themenkomplexe, die neben den Kriminalfällen behandelt werden, bezüglich ihres gesellschaftskritischen Potenzials in den Blick genommen. Andererseits dienten drei Leitfragen der Ergründung dessen, ob und inwiefern sich die Romane von der Pseudonorm absetzen. Dies waren erstens die Frage nach der Ermittlungsmethode beziehungsweise Ermittlungsbehinderung durch den gesellschaftlichen Kontext und im Anschluss daran nach dem Mechanismus des Showdowns, zweitens diejenige nach dem gesellschaftlichen Stellenwert von Gewalt und Verbrechen und ihrer ästhetischen Darstellung und schließlich die nach der Subjektkonstruktion im Spannungsfeld verschiedener Diskurse. Im Ergebnis setzen sich die zwölf untersuchten Romane deutlich in den meisten Punkten von der Pseudonorm ab, was als repräsentativ für einen in Lateinamerika beobachtbaren Trend gelten darf: Dort wird weniger pseudonormative Kriminalliteratur als in Europa und Nordamerika produziert, woran auch zu erkennen ist, dass die Gattung dort weniger stark im Unterhaltungssektor verankert ist als in ihren Ursprungsländern. Obwohl die ausgewählten Werke inhaltlich, narratologisch und stilistisch stark divergieren, verbindet sie eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die unten nochmals zusammengefasst sind. Davor soll jedoch noch kurz erörtert werden, ob es bestimmte narratologische Techniken gibt, die besonders häufig verwendet werden. 363
Fazit
Insgesamt dominieren Erzählverfahren, die in der Kriminalliteratur international sehr verbreitet sind, so dass kein genuin lateinamerikanisches narratologisches Modell für Kriminalromane postulierbar scheint. Die Ermittlungsserien sind in dieser Hinsicht besonders traditionell. Es liegen heterodiegetische Erzählinstanzen bei interner Fokalisierung der Ermittlerfigur vor. Diese Anlage suggeriert bereits, dass der Prozess der Wahrheitsfindung im Zentrum steht und häufig auch zum Erfolg führt. Der Verlauf der Ermittlung wird ebenfalls traditionell chronologisch erzählt und der Tathergang analeptisch rekonstruiert. Bei den "ludischen Kriminalromanen", die ja auch eine Ermittlung darstellen, erweisen sich die Erzählverfahren hingegen als deutlich trickreicher und lassen sich nicht auf ein bestimmtes Modell reduzieren. Man findet sowohl hetero- als auch homodiegetische Erzählinstanzen. Auffallend ist zudem, dass bei keinem der drei untersuchten Romane die Ermittlerfigur intern fokalisiert wird (es sei denn, man wertet den Ich-Erzähler bei De Santis als den Ermittler). Dieser wesentliche narratologische Unterschied zu den "Ermittlungsromanen", signalisiert, dass in den "ludischen" Romanen der Erkenntnisprozess und damit auch die Lösung weniger zentral sind. Vielmehr geht es um ein Beobachten der Ermittlungsarbeit von außen, was ihre Verspottung ermöglicht. Dazu gesellen sich tendenziell experimentelle Verfahren mit illusionsdurchbrechenden Effekten. Die Zeitstruktur gestaltet sich bei den "ludischen Kriminalromanen" jedoch prinzipiell wie bei den "Ermittlungsromanen". Auch die Erzählverfahren der "Gewaltromane" lassen sich nicht auf ein einziges Modell festlegen. Die Erzählinstanz kann sowohl eine hetero- als auch homodiegetische sein. Besonders häufig ist hier aber die interne Fokalisierung des Täters, wodurch ein verstörender Effekt produziert und gleichzeitig der Prozess der Wahrheitsfindung hinfällig wird. Auffällig ist außerdem, dass diese Texte weniger stark auf ein chronologisch lineares Erzählen angewiesen sind. Da die Ermittlung fehlt und die zeitliche Aufeinanderfolge der verschiedenen Verbrechen häufig keine große Rolle spielt, wird der plot teils fragmentiert oder seine Chronologie gar beliebig. Ermittlung, Unterlassung und Showdown Bei den "Ermittlungsromanen" war die Frage nach der Methode besonders zentral. Die Pseudonorm sieht vor, dass die Ermittlung auf Rationalismus, Empirie sowie Intuition beruht. Typische Verfahren sind daher die Tatortbegehung und Aufnahme von Indizien, die Befragung von Zeugen und die kreative, intelligente sowie logische Schlussfolgerung des Ermittlers. Am Ende wird der Täter in einem Showdown gestellt oder überführt. Die Untersuchung von Leonardo Paduras Roman Máscaras hat gezeigt, dass der Polizist Mario Conde zwar in traditionel364
Wege der Aneignung
ler Weise Indizien sammelt und Zeugen befragt, auf die richtige Spur aber erst durch die assoziative Einbeziehung von kulturspezifischem Erfahrungswissen und persönlichen Erinnerungen kommt. Der Privatdetektiv Cayetano Brulé aus Roberto Ampueros Roman Cita en el Azul Profundo legt weniger Wert auf Indizien beziehungsweise hat auf sie keinen Zugriff. Seine Ermittlungsmethode basiert daher maßgeblich auf der Zeugenbefragung. Brulé verfügt darüber hinaus jedoch über Spezialwissen, das für die Lösung der Fälle unbedingt erforderlich ist. Aufgrund seiner bewegten Biografie kennt er die wirtschaftlichen Interessen und ideologischen Diskurse, die die Welt beherrschen, was ihm letzten Endes die Lösung des Falles ermöglicht. Der Polizist Espinosa aus Luiz Alfredo Garcia-Rozas Achados e Perdidos arbeitet ebenfalls auf der klassischen Grundlage von Indizien und Zeugenaussagen. Aber auch bei ihm kommt ein weiteres Element hinzu. Er dringt in die Psyche des Täters ein, indem er sich mögliche Tathergänge ausmalt und sie wieder verwirft, bis er den wahrscheinlichsten für sich als die Lösung festhält. In jedem der drei Romane konnte also eine zusätzliche, teils ziemlich unwissenschaftliche Komponente in der Ermittlungsarbeit ausgemacht werden, die die Romane kulturspezifisch markiert. Vor allem Ampueros und Garcia-Rozas Ermittlerfiguren äußern ferner erkenntnistheoretische Skepsis und stellen ihr eigenes Vorgehen dadurch in Frage, womit sie den pseudonormativen Glauben an die Lösbarkeit der Fälle aufweichen. Bei allen drei Romanen konnte außerdem festgestellt werden, dass der gesellschaftliche Kontext die Aufklärung von Verbrechen behindert. Auch darin unterscheiden sie sich von der Pseudonorm, nach der die demokratischen, rechtsstaatlichen Systeme, in denen die Fernsehserien spielen, prinzipiell nicht in Frage gestellt werden. In Paduras und Ampueros Romanen sind die Verbrechen als Folgen der gesellschaftspolitischen oder wirtschaftlichen Situation lesbar, wodurch die Systeme an sich der Kritik ausgesetzt werden. Repressive Machtdiskurse zwingen die Subjekte bei Padura dazu, "Masken" zu tragen, das heißt, ihre wahre Identität oder Weltanschauung durch ein angepasstes Verhalten zu verleugnen. Der offizielle Diskurs des Castro-Regimes führt darüber hinaus zur Voreingenommenheit des Ermittlers. Bei Ampuero wurde ein anderer Mechanismus sichtbar: Der geschickte Verschleierungsdiskurs der verbrecherischen Großkonzerne (WPA) unterbindet in seinem Roman, dass ein Nachweis für ihre illegalen Aktivitäten erbracht werden kann. Der Autor lenkt somit die Aufmerksamkeit auf die Unmöglichkeit einer empirischen Beweisführung bei bestimmten Verbrechen und enthüllt die Schattenseiten des globalisierten Kapitalismus. In Garcia-Rozas Roman konnte die negative Auswirkung des Kontextes auf die Ermittlungsarbeit nur punktuell nachgewiesen werden. Der pejorative Diskurs über die Polizei führt in seinem Roman dazu, dass Opfer von Verbrechen sich nicht an Polizisten wenden wollen, weil sie Angst vor ihnen 365
Fazit
haben. Die Abweichung von den pseudonormativen Erwartungen zeigte sich des Weiteren in der Frage nach dem Showdown. Padura und Ampuero verzichten auf einen Showdown und vermeiden dadurch, dass der Leser einseitig Partei ergreift, während Garcia-Roza, der insgesamt mehr auf Spannung und Unterhaltung setzt, eine stärkere Polarisierung des Lesers in Kauf nimmt. Bei der Untersuchung der "Gewaltromane" konnte die Frage nach der Ermittlungsmethode nur rudimentär beantwortet werden, da in ihnen nur selten eine Ermittlung stattfindet, und wenn, dann keine erfolgreiche. Die meisten "Gewaltromane" verlegen ihren Fokus vom Ermittler auf den Täter und machen dessen Funktion innerhalb gesellschaftlicher Zustände begreifbar. Schon allein dadurch durchbrechen sie die Pseudonorm, derzufolge Kriminalromane aus der Perspektive der "Guten" dargestellt werden. Die Konstruktion der Täterfiguren wird häufig von der Thematisierung der Rolle der Polizei begleitet. Diesbezüglich hat die Analyse ergeben, dass die Polizei in den meisten Romanen ihre Funktion als Kontrollorgan nicht mehr wahrnimmt, weil sie zum Zweck ihrer eigenen Bereicherung mit dem Verbrechen kooperiert wie in Patrícia Melos O Matador oder Élmer Mendozas Un asesino solitario, weil das Ausmaß des Verbrechens das Bekämpfbare übersteigt wie in Jorge Francos Rosario Tijeras, oder weil die Aufklärung der Fälle gezielt von der Regierung unterbunden wird wie in Alonso Cuetos Grandes Miradas. Auf der anderen Seite wird in "Gewaltromanen" auch eine Polizei gezeigt, deren Methode auf Gewalt und Folter basiert, wie in Raúl Argemís Penúltimo nombre de guerra und Santiago Roncagliolos Abril rojo. In all diesen Romanen wird der Sinn der Polizeiarbeit angezweifelt, da sie keine positive Wirkung für die Bevölkerung entfaltet. Somit steht implizit das gesamte Gesellschaftssystem in der Kritik. Nur in den beiden letztgenannten Romanen wird überhaupt eine offizielle Ermittlung angestrengt, die bei Argemí jedoch stark im Hintergrund bleibt, während sie bei Roncagliolo die zentrale Achse darstellt. Abril rojo zeigt einen gesetzestreuen und naiven Staatsanwalt, dessen Arbeit massiv von der Polizei behindert wird, da diese opportunistisch das Ansehen der Regierung schützt, das durch die Aufklärung beschädigt werden könnte. Der Roman endet zwar in einem Showdown, in dem der Ermittler den Täter erschießt und die pseudonormative Erwartung nach vollständiger Auflösung eingelöst wird, aber das "Gute" siegt hier mitnichten. Im darauf folgenden Abschlussbericht wird der Staatsanwalt fälschlicherweise aller Morde bezichtigt und das Fortwähren der Gewalt angedeutet. Romane, die aus der Täterperspektive erzählt werden, enden nicht notgedrungen mit einem Showdown, da kein Rätsel gelöst werden muss. Dominiert die Spannungsfrage danach, ob der Täter entkommen wird oder nicht, so können sie trotzdem in einen Entscheidungskampf mün366
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den. In den untersuchten Werken löst sich die Spannung häufig zugunsten des Täters, der seine Auftraggeber oder Widersacher umbringt wie bei Melo, Argemí und Mendoza. Bei Franco entfällt der Showdown aufgrund der fragmentarischen Struktur, die keine Spannungsfrage aufkommen lässt. Außerdem endet der Roman mit dem Tod der Täterin statt mit ihrem Triumph. Bei Cueto steht der Spannungshöhepunkt (das Attentat auf Montesinos) nicht am Ende; stattdessen mündet die Erzählung in die Reflexion der Täterin, die von weiteren Gewalttaten ablässt. Das durch die Pseudonorm forcierte Bedürfnis des Lesers nach einer Wiederherstellung der Ordnung, die das Verbrechen ins Wanken gebracht hat, wird in diesen Romanen kaum befriedigt. Sie konterkarieren außerdem durch die Verweigerung einer polarisierenden Entscheidungsszene die pseudonormative Markierung von "gut" und "böse" und vermeiden einseitige Schuldzuweisungen. "Ludische Kriminalromane" setzen demgegenüber wieder stärker auf den Rätselcharakter der Kriminalfälle und stellen die Aufklärung in den Vordergrund. Dies verbindet sie mit den "Ermittlungsromanen". An O Xangô de Baker Street von Jô Soares, Filosofía y Letras von Pablo De Santis und Borges e os Orangotangos Eternos von Luis Fernando Verissimo wurde jedoch deutlich, dass sie sich in einem Punkt erheblich von den "Ermittlungsromanen" unterscheiden. Sie betreiben die Aufklärung eines Verbrechens als unterhaltsames Spiel, mit dem keine oder nur wenige gesellschaftskritische Absichten verbunden sind. Am stärksten ist die denunzierende Komponente noch bei Soares, der seinen Spott auf wissenschaftliche Diskurse des ausgehenden 19. Jahrhunderts (Positivismus, Kriminologie, Rassenlehre) richtet. Die Romanhandlung lässt diese als falsch und nichtig erscheinen, da sie keinen Beitrag zur Lösung des Falles leisten. Soares setzt außerdem die berühmte, literarische Figur des Sherlock Holmes einer karnevalistischen Entthronung aus, indem er sie in ihrem Scheitern darstellt. Holmes’ deduktive Ermittlungsmethode wird als unwissenschaftlich entlarvt, da Soares deutlich macht, dass sie weniger auf empirischen Beobachtungen als vielmehr auf Kontextwissen und Intuition beruht. Konsequenterweise misslingt die Aufklärung. Pablo De Santis entwirft einen Ermittler (Gaspar Trejo), der im Grunde mit einer traditionellen, auf Indizien basierten Methode arbeitet. Diese wird in eine größere Bildlichkeit überführt (das Indizienmuseum), was die Fantasie des Lesers anregt, aber erkenntnistheoretisch keine Neuerung darstellt. Sowohl bei De Santis als auch bei Verissimo finden sich aber Momente, in denen Tatorte wie literarische Texte hermeneutisch interpretiert werden, womit beide an Borges anknüpfen. Dieses Vorgehen wird in der fiktionalen Welt dadurch gerechtfertigt, dass es sich um Morde handelt, die innerhalb literarischer Institutionen beziehungsweise Veranstaltungen stattgefunden haben. Beide Autoren verbinden die Fälle außerdem mit einer Satire auf den Literaturbetrieb. Im Vergleich 367
Fazit
zu den "Gewaltromanen" lösen die "ludischen Kriminalromane" pseudonormative Erwartungen einerseits besser ein, da am Ende die restlose Auflösung steht; andererseits fordern sie die ideologischen Prämissen der pseudonormativen Aufklärungsarbeit ständig heraus, indem sie deren Grenzen aufzeigen oder sie durch andere Methoden ersetzen. Bei Soares wird die Lösung nicht vom Ermittler erarbeitet, sondern vom Täter geliefert, wodurch die Verspottung des Ermittlers und der Triumph des Täters besonders stark hervortreten. Verissimo entwertet die intradiegetische Lösung des whodunit durch eine extradiegetische Enthüllung des ganzen Falles als Fiktion. Dadurch zeigt sich, dass der Fall letzten Endes nur mit literarischen Interpretationsmethoden gelöst werden kann. Lediglich Pablo De Santis führt seinen Roman auf ein klassisches Ende mit einem spannungsreichen Showdown hin. Das Gebäude, in dem sich die Geschehnisse abgespielt haben, stürzt jedoch in einem fantastischen Szenario zusammen, weswegen Mirós Bericht und seine Schlussfolgerungen als empirisch nicht überprüfbar ausgewiesen werden. Gewalt, Verbrechen und ihre Darstellung Die systematische Analyse der Romane brachte auch hinsichtlich der zweiten Leitfrage einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede ans Licht. In der Pseudonorm dominieren Individualverbrechen, die in jeder Gesellschaft grundsätzlich möglich sind. Die Täter handeln aus klassischen, universellen Motiven. Im Unterschied dazu werden die Verbrechen in den drei untersuchten "Ermittlungsromanen" immer in ihrer gesellschaftlichen Dimension dargestellt. Sehr glaubwürdig ist dieser Zusammenhang bei Padura, der das Mordmotiv fest im kubanischen Kontext verankert. Der Täter will verhindern, dass sein Betrug, der gefälschte Lebenslauf, in dem er sich als vorbildlicher Revolutionär darstellt, öffentlich und seine Karriere damit beendet wird. Die Thematik der Homophobie und der staatlichen Repression von Dissidenten in den 1970er Jahren arbeitet Padura geschickt mit ein, und nutzt sie dafür, eine offizielle, falsche aber glaubwürdige Lösung von einer inoffiziellen, richtigen aber nicht veröffentlichungsfähigen Lösung zu unterscheiden. Auch Ampuero schildert den Zusammenhang von Verbrechen und Gesellschaft überzeugend. Die internationalen Großkonzerne verfügen über den Einfluss und die nötige Macht, die Wirtschaft ganzer Länder zu schädigen, um ihre eigenen Interessen zu schützen. Da sie ihre Aktionen äußerst geschickt tarnen, bleibt dem Rechtssystem und der Politik kein Handlungsspielraum. Garcia-Roza spart zwar eine soziale Erklärung für die Marginalisierung seiner Figuren aus, fokussiert dafür aber deren Schutzlosigkeit, die sie de facto ihrer Grundrechte beraubt und zu 368
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leichten Opfern werden lässt. Da alle Romane verdeutlichen (wenn auch in unterschiedlichem Maße), dass das Verbrechen nicht teleologisch tilgbar, sondern systemimmanent und daher nur punktuell bekämpfbar ist, artikulieren sie gegenüber der Pseudonorm eine Haltung, die für den Leser unbequem ist, insofern sie ihm die Gewissheit von Sicherheit und Ordnung verwehren. Bezüglich der Darstellung von Gewalt kann festgehalten werden, dass der Vorgang der Gewaltausübung in "Ermittlungsromanen" in der Regel nicht beschrieben wird. Die Figuren werfen nur einen kühlen, technischen Blick auf die Leichen. Bei Garcia-Roza finden sich jedoch abweichend von diesem Gesamteindruck einige Gewaltszenen, die eine emotionale Betroffenheit und ansatzweise Polarisierung beim Leser bewirken, da die Opfer Kinder sind. "Gewaltromane" zeigen besonders eindringlich, dass viele unterschiedliche Akteure der Gesellschaft am Generieren von Verbrechen beteiligt sind. Typisch für die als Produkte ihrer Umstände präsentierten Antihelden ist, dass sie von höheren Ebenen aus instrumentalisiert werden, wie von Angehörigen der Oberschicht (Melo), von Mafias (Franco) oder von der Regierung (Mendoza, Roncagliolo). Manche werden auch von egoistischen Interessen geleitet wie Cacho (Argemí) oder von Rachegelüsten getrieben wie Gaby (Cueto). Bei Patrícia Melo erfahren die Morde des matador ferner ihre Rechtfertigung durch die Zustimmung und Unterstützung der Menschen aus der Nachbarschaft sowie der Polizei, deren positive Sanktion Máiquel motiviert, immer mehr Morde zu begehen. Zur Antriebsfeder wird außerdem die soziale und ökonomische Benachteiligung des Protagonisten. Dies spielt auch bei Francos Titelheldin Rosario eine Rolle. Der Wunsch nach sozialem Aufstieg motiviert sie zu ihrer Arbeit als sicaria. Ein weiterer Auslöser für ihre Verbrechen sind Gewalterfahrungen in ihrer Kindheit. Auftragskiller wie Máiquel und Rosario werden sogar als Volkshelden gefeiert, womit zum Ausdruck kommt, dass die pseudonormative Zuweisung von "gut" und "böse" in diesen Kontexten sinnentleert ist. Die Motivation zum Verbrechen bei Mendozas asesino solitario ist weniger stark im Wunsch nach sozialem Aufstieg zu suchen. Yorch geht es in erster Linie um das Ausleben von physischer Gewalt, was ihm ein Gefühl von Kontrolle und Macht verleiht. Als verwahrloster, gewaltbereiter Jugendlicher wird er von der Regierung angeheuert und ausgebildet. Anfangs vermittelt er zwar den Eindruck, seinen Lebensweg bewusster zu steuern und die ihn konditionierenden Mechanismen besser zu durchblicken als Máiquel und Rosario, erweist sich aber letzten Endes ebenfalls als Instrument seiner Auftraggeber. Die Erlangung von Macht über andere durch die Anwendung von Gewalt ist auch die Triebfeder von Argemís Protagonisten. Ihm ermöglicht die Militärdiktatur, seine hohe Gewaltbereitschaft noch zu potenzieren, indem er unter dem Deckmantel der Legalität Grausamkeiten begeht. Seine auf diese Weise erlernten Fähigkeiten 369
Fazit
setzt er danach in der Demokratie zu seiner persönlichen Bereicherung ein. Bei Roncagliolo wird ein Angehöriger des Militärs (Comandante Carrión) zum Serienmörder. Seine Konditionierung durch die gesellschaftlichen Umstände und sein Motiv werden jedoch weniger deutlich herausgearbeitet, da hier der Täter keine Protagonistenrolle spielt wie bei den anderen "Gewaltromanen". Erkennbar ist immerhin, dass er dem Willen der Regierung opportunistisch gehorcht. Aber auch seine ungeklärte mystische Verwirrung und sein negatives Bild von den andinen Bauern tragen dazu bei, dass er zum Mörder wird. Als Hauptgenerator von Gewalt bezichtigt Cuetos Roman die Fujimori-Montesinos-Regierung. Ihre menschenverachtende Haltung und ihre grausamen Morde erzeugen Gegengewalt im Volk. Grandes miradas enthält mit Beto aber auch eine Figur, die in einer Parallele zu Máiquel, Rosario und Yorch steht, da Beto sich von der Regierung als Mörder anheuern lässt. Die Protagonistin Gaby verübt ebenfalls einen grausamen Mord, wird aber von niemandem instrumentalisiert und kann daher selbst entscheiden, ob sie fortan auf Gewalt verzichten will. "Gewaltromane" weisen eine vergleichsweise hohe Frequenz an Gewaltszenen auf, wodurch immer wieder Schockeffekte produziert werden. Solche Effekte sind auch in der Pseudonorm vorgesehen. In den Analysen wurde jedoch auch herausgearbeitet, dass die Autoren Verfahren anwenden, mit denen sie dieser Schockwirkung eine bestimmte gesellschaftskritische Stoßrichtung verleihen. Sie zeigen durch die interne Fokalisierung des Täters seinen psychischen Abhärtungsprozess (Melo) oder seinen bereits erlernten, kalten Zynismus (Mendoza), ergründen die gestörte Persönlichkeitsstruktur des Täters (Cacho) oder lassen die Entstehung von Gegengewalt nachvollziehbar werden (Cueto). Durch die interne Fokalisierung des Beobachters und Zuhörers wirken bei Franco Gewaltszenen wie "konsumierbare" Anekdoten über Volkshelden, wodurch ihre Banalisierung in diesem spezifischen Kontext besonders deutlich hervortritt. In Roncagliolos Roman erfüllt die Darstellung von Gewalt vor allem die Funktion, als Köder für ein internationales Publikum zu dienen und es über die Geschehnisse in Peru aufzuklären. Bei den "Gewaltromanen" wird die Ubiquität des Verbrechens entschiedener thematisiert als bei den "Ermittlungsromanen", weswegen sie für den Leser noch unbequemer als diese sind. Im Gegensatz dazu konnte bei den "ludischen Kriminalromanen" belegt werden, dass die Morde als Ausgangspunkt für ein Rätsel fungieren, aber soziale Dimensionen des Verbrechens keine Rolle spielen. Die Täter erweisen sich als geistesgestört (wie Solera de Lara bei Soares und Brocca bei De Santis) oder agieren aus egoistischen Gründen (wie Conde bei De Santis). Bei Verissimo ist auf der intradiegetischen Ebene das Motiv ein pseudonormatives, nämlich Rache. Dieses erweist sich jedoch als 370
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zweitrangig, da die extradiegetische Ebene die ganze Geschichte als Finte des unzuverlässigen Erzählers entlarvt. De Santis und Verissimo kreieren einen geschützten Raum für die Romanhandlung, in den realweltliche Kräfte wie die Polizei nicht eindringen können. Aber auch Soares beschäftigt sich nicht ernsthaft mit dem tatsächlichen Umgang der Polizei mit Verbrechen, da sein Roman ganz und gar im Dienst der komödienhaften Parodie steht. Die Darstellung von Gewalt spielt in "ludischen Kriminalromanen" keine große Rolle. Meist werden die Leichen mit einem technisch kühlen Blick bezüglich ihres Rätselcharakters beschrieben. Dort, wo die Ausübung von Gewalt als Handlung beschrieben wird (wie bei De Santis), erfüllt sie die Funktion Schauer-, Grusel- oder Lacheffekte zu produzieren, jedoch nicht emotionale Betroffenheit und moralische Urteile hervorzurufen. Daher kann einerseits behauptet werden, dass "ludische Kriminalromane" die pseudonormative Verharmlosung repetieren. Andererseits lässt sich dagegen halten, dass die dargestellten Taten vom Leser gar nicht als realitätsnahe Taten rezipiert werden (aufgrund der Parodierung bei Soares, der fantastischen Elemente bei De Santis oder des Humors und der doppelten Distanz zur Wirklichkeit bei Verissimo), so dass die Banalisierung der Gewalt in diesen Romanen relativ bleibt. Subjektkonstruktionen Ziel der letzten Leitfrage war es herauszufinden, wie sich die Identitäten der Romanfiguren im Spannungsfeld von Machtdiskursen entwickeln. Pseudonormativ ist die Suggestion, dass Identitäten stabil und ontologisch sind, so dass die Figuren vom Zuschauer oder Leser stets als "gut" oder "böse" kategorisiert werden können. Bei den "Ermittlungsromanen" war die Untersuchung dieses Aspekts hinsichtlich der Opfer und Zeugen von Verbrechen besonders ergiebig. Die Subjekte werden zum großen Teil durch politische Diskurse konstruiert, unter deren Macht sie sich verformen. Im Falle Paduras leugnen die Figuren ihre "wahre" Identität und geben vor, ihren Ideen abzuschwören, um sich vor der Parametrisierung des Castro-Regimes sowie vor der homophoben Gesellschaft zu schützen. Ampuero stellt Figuren dar, die sich hauptsächlich über ihre ideologische Gesinnung definieren. Der Zusammenbruch des Kommunismus und der Hoffnungen der lateinamerikanischen Guerillas führt bei ihren Anhängern daher zum Identitätsverlust. Die Linke, die speziell im Chile der Pinochet-Diktatur für die Intellektuellen immer die "gute" Seite repräsentierte, splittet sich in der Demokratie in ein heterogenes Feld aus Abtrünnigen, Gemäßigten und Extremisten, das mit "Gut/Böse"-Kategorien nicht mehr greifbar ist. Garcia-Roza zeigt marginalisierte Figuren (Straßenkinder und Prostituierte), deren Lebensquali371
Fazit
tät durch einen deklassierenden Diskurs über sie beeinträchtigt wird. Ihre eigene Stimme können sie kaum erheben, da die Gesellschaft nicht bereit ist, sie zu hören. In allen drei Romanen werden Identitäten als diskursive Konstrukte lesbar, die einer ständigen Veränderung unterworfen sind. Die Subjekte bleiben häufig im in between der Diskurse gefangen. Dies schwächt sie zwar innerlich, für den power-bloc stellen sie jedoch eine latente Bedrohung dar, da die Staatsmacht sie nicht völlig assimilieren und kontrollieren kann, und ihre Handlungen unvorhersehbar scheinen. Sie weichen die Kategorien von "gut" und "böse" auf und erweisen sich als das unfassbare Andere, das nicht mit den Parametern der Macht gemessen werden kann. Machtdiskursen konnte auch in den "Gewaltromanen" eine wichtige Rolle bei der Subjektkonstruktion zugewiesen werden. Vor allem an die Täterfiguren ließen sich interessante Schlussfolgerungen knüpfen. Einige der Täter werden gezielt von außen manipuliert. Melos Máiquel sieht sich mit verschiedenen Diskursen konfrontiert, die ihm ein positives Bild seiner selbst vor Augen halten. Darin erstrahlt er als der beliebte, erfolgreiche Held, was sein geringes Selbstbewusstsein aufwertet. Die damit verbundenen Erwartungen der Gesellschaft kann er jedoch nur erfüllen, wenn er seine moralischen Kontrollmechanismen ausschaltet und zu hassen lernt. Wie er wird auch Francos Rosario von einem gesellschaftlichen Diskurs zur Heldin stilisiert und zur Legende überhöht, wodurch ihre Taten legitimiert scheinen. Rosarios Identität fußt jedoch nicht so sehr auf äußerlichen Diskursen wie Máiquels, sondern vor allem direkt auf ihren Gewalttaten. Bei Mendoza laufen in Yorchs Identität kulturelle Diskurse (el macho cabrón), audiovisuelle Vorbilder und Erfahrungswissen zusammen. In der korrupten PRI-Regierung findet er einen perfekten Auftraggeber, da sie ihm die Möglichkeit zur Gewaltausübung bei gleichzeitiger Straflosigkeit bietet. Aber auch Yorch erweist sich am Ende als ein von außen manipuliertes Instrument hierarchisch höher Stehender, was seinen Werdegang mit dem Máiquels und Rosarios vergleichbar macht. Die Täterfiguren werden also durch Einwirkungen von außen erschaffen und instrumentalisiert und daher stärker von der Macht vereinnahmt als die Opferfiguren aus den "Ermittlungsromanen", die sich durch Täuschung dem Zugriff auf ihr Leben zu entziehen versuchen. Scheinbar paradox bergen die Verbrecher in diesen Romanen daher weniger subversives Potential für die Herrschenden als die Opfer. Dafür verstören sie den Leser umso mehr, da an ihnen augenfällig wird, dass sie nicht schlicht von innen heraus "böse" sind, sondern von andern, vor allem von Vertretern des power-bloc "böse" gemacht werden. Im Unterschied zu den bereits angesprochenen Tätern wird Argemís Cacho nicht von außen manipuliert. Er bemächtigt sich selbst (bewusst oder aufgrund seiner Psychose) mehrerer Diskurse und betreibt durch die Übernahme unterschiedlicher Identitäten eine intenti372
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onale Mimikry zur Potenzierung seiner Macht. In der Reihe der hier untersuchten Verbrecher ist er wahrscheinlich derjenige, der am ehesten das "Böse" verkörpert, da er am wenigsten von anderen zum Verbrechen angestiftet wird. Auch Roncagliolos Ermittlerfigur Chacaltana ist deutlich ein diskursives Produkt. Er kennt für sein Verhalten nur eine Handlungsanweisung: Dienstvorschriften und Gesetzestexte. Außerhalb dieses Reglements kann er nicht reflektieren und deshalb nicht angemessen auf die Realität reagieren. Ein moralisches Urteil über ihn fällt dem Leser schwer, da sich Chacaltana zwar ans Gesetz hält, aber keine ethischen Grundsätze vertritt. Cuetos Roman spannt sogar eine ganze Bandbreite von möglichen Verhaltensweisen auf, die Personen unter einem repressiven Regime an den Tag legen. Sie können sich dem Diskurs gewaltfrei widersetzen (Guido), sich mit ihm durch das Tragen von Masken arrangieren (Javier), in ihn opportunistisch einstimmen (Don Osmán und Don Ramiro) oder auf ihn mit Gegengewalt reagieren (Gaby). Es wurde deutlich, dass sich alle Figuren in einem Geflecht von Diskursen bewegen, von denen sie abhängen und durch die sie geformt werden. Ontologische Identitätszuschreibungen wurden folglich von den Autoren vermieden. Die Subjektkonstruktion in den "ludischen Kriminalromanen" unterscheidet sich von den bis hierhin aufgeführten Möglichkeiten. Politische Machtdiskurse spielen dort keine Rolle. Hier findet man besonders häufig Figuren, die sich im literarischen Feld bewegen, bekannte fiktive Gestalten (Sherlock Holmes und Dr. Watson), reale und erfundene Autoren (Jorge Luis Borges und Homero Brocca) oder Übersetzer (Vogelstein), weswegen sie stärker als andere Kriminalromane dazu neigen, einen Metadiskurs über Kriminalliteratur oder Literatur im Allgemeinen zu entfalten. Zum einen Teil werden diese Figuren auf der Grundlage literarischer Vorbilder beziehungsweise realer Lebensdaten konstruiert, wobei das Spannungsverhältnis zwischen den Fiktionen und ihren Vorbildern dafür genutzt wird, Witz zu erzeugen und Spott zu platzieren (Soares) oder Verehrung auszudrücken (Verissimo). Zum anderen Teil entspringen die Figuren rein der Fantasie des Autors oder lehnen sich nur implizit an literarische Traditionen an (De Santis). Moralische Urteile über "gut" und "böse" werden in den "ludischen Kriminalromanen" nur rudimentär angelegt, da ihr parodistischer, spielerischer Charakter diese Dichotomie humorvoll bis ironisch umgeht und die Morde keine andere Funktion erfüllen als literarisch vielversprechende Rätsel zu kreieren. Nur Soares schreibt seinen weiblichen und farbigen Nebenfiguren einen subversiven Gestus ein, der sich gegen epochentypische, wissenschaftliche Diskurse richtet.
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Fazit
Anhand dieser Zusammenstellung wurde noch einmal deutlich, dass sich in struktureller Hinsicht "Ermittlungsromane" und "ludische Kriminalromane" näher stehen, in inhaltlicher Hinsicht jedoch "Ermittlungsromane" und "Gewaltromane". Da die letzteren beiden zusammengenommen die Mehrheit der lateinamerikanischen Kriminalromane stellen, möchte ich ihre inhaltlichen Spezifika nochmals prägnanter hervorheben. Hierzu hilft ein Gedanke aus Thomas Wörtches Aufsatz "Das Mörderische und das Komische". Darin beanstandet der Kritiker an "barrierefreien" Bestsellerkrimis (in anderen Worten an der Pseudonorm), dass sie immer wieder ein und dieselbe Universalie wiederholen, nämlich die, dass "Mord inakzeptabel und seine Aufklärung wünschenswert [sei] und die Bestrafung der Schuldigen die Welt zu einem besseren Ort mach[e]" (Wörtche 2008: 107). Die mangelnde Qualität solcher Werke (beispielsweise von Donna Leon, Henning Mankell oder auch Agatha Christie) liege nicht darin, dass dieser Universalie in irgendeiner Weise nicht zugestimmt werden könne, sondern vielmehr im "ewige[n] Umformulieren einer Evidenz", die die "Universalie also trivialisiert und banalisiert […], bis sie fast mantrischen Charakter annimmt" (ebd.: 108). Die so erzeugten Produkte nennt der Kritiker provokant "ästhetische und erkenntnistheoretische Stasis" (ebd.). Viele Schriftsteller konstruieren laut Wörtche ihre plots im Hinblick auf die Bestätigung dieser Universalie und nicht etwa, weil die Realität sie belegen würde. Der Versuchung, diese Gebetsmühle zu drehen, sind die hier untersuchten lateinamerikanischen Autoren nicht oder zumindest nur teilweise erlegen. Ihre Aneignung der Gattung des Kriminalromans hat sich im Sinne einer kreativen Um- und Weiterschreibung als effizienter Weg erwiesen, eigene Welterfahrungen und Weltanschauungen zu artikulieren. Um auf die gesellschaftspolitischen Zustände ihrer Länder glaubhaft zugreifen zu können, mussten die Autoren vorgefertigte Modelle modifizieren. In dieser Umgestaltung besteht ihre transkulturelle Leistung. Da die Pseudonorm jedoch in all diesen Werken in irgendeiner Weise mitschwingt – sei es durch Negation, Modifikation, Ironisierung, Parodierung, intertextuelle Anspielungen etc. – können sie nach Bachtin als "beabsichtigte Hybride" oder "Sinnhybride" bezeichnet werden (dies gilt auch für die "ludischen Kriminalromane"). Die unterschwellige Präsenz der Pseudonorm erlaubt es den Autoren einerseits, die Andersartigkeit der Kulturen und der gesellschaftlichen Zustände ihrer Länder besonders augenfällig werden zu lassen, und andererseits, die ideologische Basis der Pseudonorm zu verwerfen. Anstelle eines "Gut/Böse"Schemas treten Ambi- und Polyvalenz; stabile, scheinbar ontologische Identitäten, werden durch diskursiv ge- und verformte und wandelbare Identitäten ersetzt, normative Gewissheiten durch die Präsenz des "Anderen" untergraben; die Perspektive des power-bloc wird durch die der Täter und Opfer ergänzt und konterkariert, Helden durch Antihelden 374
Wege der Aneignung
und mittlere Charaktere verdrängt, die ordnende, evasive Wirkung des Showdowns durch Leerstellen oder Reflexionen gestört, Rationalismus bei der Ermittlung durch kulturspezifisches Wissen und Empathie angereichert. Im Gesamteindruck vermitteln die "Ermittlungs- und Gewaltromane" Entsetzen über das Ausmaß der Gewalt, Wut über White-collarVerbrecher, Empörung über das Versagen der Regierungen, maßvolle Empathie mit den ausführenden Tätern und Trauer über die Opfer. Moralisierende Urteile oder gar realpolitische Handlungsanweisungen enthalten sie jedoch nicht. Es darf vermutet werden, dass der transgressive Trend der lateinamerikanischen Kriminalliteratur zu einer sukzessiven Entwertung der Pseudonorm führt. Je häufiger als typisch empfundene Strukturen und Ideologeme unterwandert werden, desto stärker modifiziert und erweitert sich auch der Erwartungshorizont der Leser. Allerdings ist es ohnehin problematisch, von nur einem Erwartungshorizont zu sprechen, da die Leserschaft von Kriminalliteratur so heterogen ist wie die Kriminalliteratur selbst. Es darf angenommen werden, dass viele Leser heute nicht mehr grundsätzlich davon ausgehen, dass Kriminalromane harmonisierend wirken, sondern vor allem neuere Werke die Finger in die Wunden der jeweiligen Gesellschaft legen. Leser rechnen auch zunehmend mit freien, innovativen Erzählverfahren und dem Aufbrechen oder Infragestellen von gesellschaftlichen Überzeugungen sowie der Entlarvung von Diskursen über Täter und Opfer. Dies müsste insbesondere auf die Leser lateinamerikanischer Kriminalromane zutreffen. Interessant ist diesbezüglich jedoch, dass die US-amerikanische Kulturindustrie diesen Trend seit etwa fünfzehn bis zwanzig Jahren selbst durch transgressive KrimiFernsehserien eingeleitet hat. Erwähnt seien hier wieder Serien wie Homicide (1993-1999), The Sopranos (1999-2007), The Wire (2002-2008), The Shield (2002-2008), Prison Break (2005-2009), Dexter (seit 2006) oder Breaking Bad (seit 2007). Ihre Koexistenz mit den pseudonormativen Serien entwertet deren Durchschlagkraft zunehmend und diversifiziert die mögliche Füllung des Erwartungshorizonts. Zeitgenössische Werke weiterhin von den althergebrachten Schulen der Kriminalliteratur (die für viele Literaturwissenschaftler immer noch die "Norm" darstellen) abzusetzen, bringt keinen Erkenntnisgewinn mehr, da die literaturgeschichtliche Entwicklung inzwischen zu weit vorangeschritten ist. Aber auch das Operieren mit einer audiovisuell generierten Pseudonorm wird mit der Zeit nicht mehr nötig sein, so dass wir endlich beginnen können, Kriminalromane schlicht und ergreifend als Literatur a secas zu behandeln.
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Andere Primärwerke und Übersetzungen Aufgeführt sind nur diejenigen Primärwerke, aus denen ein Zitat entnommen oder auf deren Inhalt besonders eingegangen wurde. Die im literaturgeschichtlichen Teil (Kap. 2.4) erwähnten Romane sind hier nicht enthalten. Das Jahr der Erstveröffentlichung wird jedoch in den entsprechenden Teilkapiteln genannt. Amado, Jorge (2009 [1937]): Capitães da Aréia. São Paulo, Companhia do Bolso. Ampuero, Roberto (1993a): ¿Quién mató a Cristián Kustermann? Santiago de Chile, Planeta. ― (1993b): Der Schlüssel liegt in Bonn. Übers. von Hans-Otto Dill. Berlin, Eisbär Verlag. ― (1994): Boleros en La Habana. Santiago de Chile, Planeta. ― (1996): El alemán de Atacama. Santiago de Chile, Planeta. ― (1997): Bolero in Havanna. Übers. von Manfred Schmitz. Berlin, Das Neue Berlin. ― (2004): Halcones de la noche. Santiago de Chile, Planeta. ― (2008): El caso Neruda. Barcelona [u. a.], La otra orilla. ― (2009): Der Fall Neruda. Übers. von Carsten Regling. Berlin, Bloomsbury. Argemí, Raúl (2005): Patagonia Chu Chu. Sevilla, Algaida.
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