Der ökonomische Fachhabitus – professionsethische Konsequenzen für das Studium der Wirtschaftswissenschaften Alexander Lenger
„Erst nach einer Anzahl solcher Umwandlungen des Sehbildes wird der Studierende ein Bewohner der Welt des Wissenschaftlers, der sieht, was der Wissenschaftler sieht, und reagiert, wie es der Wissenschaftler tut. Die Welt, in die der Studierende dann eintritt, ist jedoch nicht ein für allemal durch die Natur seiner Umwelt einerseits und der Wissenschaft andererseits festgelegt. Sie wird vielmehr gemeinsam von der Umwelt und der bestimmten normal-wissenschaftlichen Tradition, der zu folgen der Studierende angehalten wurde, bestimmt.“ (Kuhn 2007 [1962], S. 124)
Zusammenfassung Der Beitrag schließt an die Diskussion zum Selektions- oder Indoktrinationseffekt an. Er fragt, wie die spezifischen Persönlichkeitseigenschaften von Wirtschaftswissenschaftlern, also ihre fachspezifischen Präferenzen sowie ihre Sozialisation in die spezifische Fachkultur erklärt werden können und welche Konsequenzen sich daraus für professionsethische Überlegungen ergeben. Hierzu wird im vorliegenden Beitrag auf die verhaltensökonomische Fachkulturforschung und das Habituskonzept von Pierre Bourdieu zurückgegriffen.
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Einleitung
Inzwischen liegen eine Vielzahl von empirischen und verhaltensökonomischen Untersuchungen zum Charakter von Ökonomen1 vor, die Hinweise auf eine signifikant größere Eigennutzorientierung, ein höheres Gewinnstreben und geringere moralische Orientierungen von Wirtschaftswissenschaftlern im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen geben.2 Auch wenn verschiedene Autoren den Versuch unternommen haben, Ökonomen gegen diese Sichtweise zu verteidigen, indem entweder Studien vorgelegt wurden, in denen Ökonomen ein größeres Kooperationspotenzial aufwiesen als ihre Vergleichsgruppen (Yezer et al. 1996; Laband & Beil 1999; Frey & Meier 2003; Hu & Liu 2003; Zsolnai 2003), oder auf die moralische Dimension des Eigennutzkonzeptes hingewiesen wird (Lanteri 2008), so sprechen die empirischen Befunde in ihrer Gesamtheit doch deutlich für fachspezifische Verhaltensweisen: Wirtschaftswissenschaftler weisen nicht nur in Bezug auf ökonomische Sachverhalte und Rhetorik (McCloskey 1990; Caplan 2001; Rubin 2003; Klamer 2007), sondern auch bei politischen (Kearl et al. 1979; Klein & Stern 2006; Fuller & Geide-Stevenson 2007) und moralischen Fragestellungen (Frey et al. 1993; Haucap & Just 2003) signifikant von der Gesamtbevölkerung abweichende Einstellungen auf. Angesichts dieser Befunde erscheint es zunehmend problematisch, primär den positiven Effekt von ökonomischer Bildung im Hochschulsegment und ökonomischer Professionalität zu betonen und Wirtschaftswissenschaftlern allein deswegen eine höhere Kompetenz bezüglich wirtschaftlichen Fragestellungen zuzuschreiben, weil diese Personen ein wirtschaftswissenschaftliches Studium abgeschlossen haben oder sich beruflich mit ökonomischen Fragestellungen beschäftigen. Gleichermaßen kann kritisch auf das fehlende reflexive Potenzial von Ökonomen und die Abwesenheit einer adäquaten ökonomischen Professionsethik hingewiesen werden. Vor diesem Hintergrund kann die derzeit im wirtschaftswissenschaftlichen Curriculum an deutschen Hochschulen stattfindende Verdrängung normativer Elemente zugunsten der „Modern Economics“ genannten Trias aus Mikroökonomik, Makroökonomik und Ökonometrie (Lenger & Taaffe 2014) als eine spezielle Form der Konsumentenorientierung im Hochschulwesen verstanden werden, richten sich die Inhalte des wirtschaftswissenschaftlichen Studiums doch letztlich nach den vermeintlichen Wünschen bzw. Präferenzen künftiger Ökonomen. In Anbetracht solcher Überlegungen rücken die Persönlichkeitseigenschaften von Wirtschaftswissenschaftlern, also ihre fachspezifischen Präferenzen sowie die Sozia1
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Um die Lesbarkeit zu verbessern, ist es dem Verlag ein Anliegen, möglichst geschlechtsneutrale Formulierungen zu wählen und ausschließlich eine Geschlechtsform im Text zu verwenden. Entsprechend dieser Vorgabe wurde im vorliegenden Text auf die Unterscheidung von männlicher und weiblicher Form verzichtet. Selbstverständlich sind immer beide Geschlechter angesprochen. Im Folgenden werden die Begriffe „Ökonomie“ und „Wirtschaft“ sowie „Ökonomik“ und „Wirtschaftswissenschaften“ jeweils synonym verwendet. Da es nicht um eine Diskussion der Unterschiede zwischen orthodoxer und heterodoxer Wirtschaftswissenschaft geht, beziehen sich die Begriffe an dieser Stelle ausschließlich auf den disziplinären Mainstream – die neoklassische Wirtschaftswissenschaft auf der Grundlage der allgemeinen Gleichgewichtstheorie und dem ökonomischen Verhaltensmodell des homo oeconomicus.
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lisation in diese spezifische Fachkultur in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Es gilt die Frage zu klären, wie die spezifischen Eigenarten von Wirtschaftswissenschaftlern erklärt werden können und welche Konsequenzen sich daraus für professionsethische Überlegungen ergeben. Hierzu wird im vorliegenden Beitrag auf die verhaltensökonomische Fachkulturforschung und das Habituskonzept von Pierre Bourdieu zurückgegriffen. Mit dem Habituskonzept – so viel sei hier vorweggenommen – beschreibt Bourdieu die „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ eines Menschen, in denen sämtliche inkorporierten früheren sozialen Erfahrungen zum Ausdruck kommen (Bourdieu 1987 [1980], S. 101). Für Bourdieu stellt der Habitus eine „Tiefenstruktur der Handlungsmuster“ dar, die eine unendliche Vielzahl geregelter, sich an neue Situationen anpassende Praktiken erzeugt und zugleich die Einheitlichkeit der Person im Handeln gewährleistet (siehe ausführlicher Lenger et al. 2013, S. 19–28 sowie Abschnitt 3). Während der Fachkulturforschung somit die theoretische Annahme zugrunde liegt, dass sich familiäre bzw. biografische Primärsozialisation und berufliche bzw. fachliche Sekundärsozialisation als Kontrast gegenüberstehen, wird im Folgenden mit Rückgriff auf das Habituskonzept von Bourdieu die These entfaltet, dass sich ein ökonomischer Professionshabitus nicht allein aus der beruflichen und/oder universitären Fachsozialisation ableiten lässt, weil mittels einer solchen Perspektive die Einheitlichkeit im Handeln einer Person aus dem Blick gerät und entsprechend nur das professionelle bzw. situative Rollenhandeln abgebildet werden kann. Um die Bedeutung der habituellen Prägung angemessen fassen zu können, wird auf Befunde aus dem Feld der sozialen Arbeit zurückgegriffen, für welche deutlich elaboriertere Befunde zur Frage der Bildung eines Professionshabitus und korrespondierender professionsethischer Konsequenzen vorliegen (beispielsweise Becker-Lenz & Müller 2009 oder Schumacher 2014). Für ein Konzept eines professionellen Habitus müssen die sozialstrukturelle Verankerung und die soziale Lage, das heißt die Primärsozialisation, wesentlich berücksichtigt werden. Ziel der Arbeit ist es, ein tragfähiges theoretisches Modell für ein besseres Verständnis zum Verhältnis von Biografie und Profession in den Wirtschaftswissenschaften in die Diskussion einzubringen. Da biografische Kompetenzen als Denk- und Wahrnehmungsschemata der sozialen Welt nicht nur das alltägliche Handeln, sondern auch das berufliche Handeln beeinflussen, ist insbesondere danach zu fragen, wie Gesamthabitus und fachspezifische Sozialisation konzeptionell zusammen gedacht werden können und welche Konsequenzen hieraus für professionsethische Fragestellungen resultieren. Der vorliegende Beitrag gliedert sich wie folgt: Zunächst werden die zentralen Befunde der ökonomischen Fachkulturforschung skizziert (Abschnitt 2). Auch wenn bisher keine umfassenden fächerübergreifenden und systematischen Untersuchungen zu den Berufswahlmotiven von jungen Menschen vorliegen, so weisen die Einzelbefunde doch im Kern auf einen Selektionseffekt hin, wonach sich bestimmte Gruppen von Menschen signifikant häufiger für ein Studium der Wirtschaftswissenschaften entscheiden als andere Gruppen. Die Einsicht, dass die Einzigartigkeit von Der ökonomische Fachhabitus – professionsethische Konsequenzen für das Studium der Wirtschaftswissenschaften
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Wirtschaftswissenschaftlern zum Großteil auf Selektionseffekten und subjektiven Einschätzungen beruht und nur graduell auf Anpassungs- bzw. Lerneffekte zurückgeführt werden kann, korrespondiert unmittelbar mit dem Habituskonzept von Pierre Bourdieu und seiner Konzeption eines feldspezifischen Habitus (Abschnitt 3). Entsprechend gilt es in einem weiteren Schritt zu fragen, welche Folgen daraus für die ökonomische Ausbildung resultieren (Abschnitt 4). Denn anders als die gängige Schlussfolgerung, dass die Charaktere bzw. die Präferenzen der auszubildenden Personen dem Einfluss der auszubildenden Institution entzogen sind und deswegen der Selektionseffekt auch keine Auswirkungen auf das Curriculum und die Vermittlung wirtschaftswissenschaftlicher Inhalte haben sollte, vertrete ich im vorliegenden Aufsatz die Auffassung, dass aus dem Befund der angedeuteten fachspezifischen Verhaltensweisen Handlungsbedarf auf zwei Ebenen resultiert. So muss erstens darüber nachgedacht werden, die Personenauswahl für das Studium der Wirtschaftswissenschaften durch die Einführung von Habituspassungstests in eine bestimmte, gesellschaftlich erwünschte Richtung zu kanalisieren. Zudem gilt es zweitens Maßnahmen anzudenken, mit denen im Curriculum der wirtschaftswissenschaftlichen Studiengänge in besonderer Weise auf die Spezifität der Studierendenschaft durch die Integration zusätzlicher Reflexionselemente reagiert werden muss. Der Beitrag schließt mit einem kurzen Fazit (Abschnitt 5).
2 Der wirtschaftswissenschaftliche Fachhabitus: Indoktrination, Selbstselektion oder subjektive Restriktionen? Die Frage nach der Entstehung einer wissenschaftsdisziplinären Verhaltensweise und eines wirtschaftswissenschaftlichen Fachhabitus kann nur empirisch beantwortet werden. So gilt es zu fragen, ob und inwiefern Wirtschaftswissenschaftler einen fachspezifischen Habitus im Rahmen ihres Studiums inkorporieren und welche Folgen hieraus für die Fachdidaktik und die Profession erwachsen. Die Wirtschaftswissenschaften stellen insofern eine eigenständige Profession dar, als man darunter Berufe mit eigenständiger Fachlichkeit, wissenschaftlicher Grundlage und einer besonderen Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen und dem Staat versteht. Zur Beantwortung der Frage nach einem wirtschaftswissenschaftlichen Fachhabitus soll im Folgenden auf Studien zu Selektions- und Indoktrinationseffekten aufgebaut werden. Im Anschluss daran können Fragen nach Sollen und Können didaktischer Maßnahmen gestellt sowie professionsethische Überlegungen diskutiert werden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass verschiedene verhaltensökonomische Studien zeigen, dass Ökonomen egoistischeres und selbstinteressierteres Verhalten aufweisen als die Gesamtbevölkerung (vgl. hierzu exemplarisch die prominenten Studien von Marwell & Ames 1981; Frey 1986; Carter & Irons 1991; Frank et al. 1993, 1996; Frey et al. 1993; Rubinstein 2006 sowie zum Überblick Ruske & Suttner 2012). Die Studien belegen ein analoges Verhalten in der Praxis zu der im Mainstream-Stu-
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Gerhard Minnameier Klaus Beck, Margarete(Hg.) Landenberger, Fritz Oser (Hg.)
Technologiebasierte Kompetenzmessung Ethik und Beruf in der beruflichen Bildung Interdisziplinäre Ergebnisse ausZugänge der BMBF-Förderinitiative ASCOT
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