Der \"innere Gerichtshof\" der Vernunft. Kants Theorie des Gewissens als Ausdruck der unbedingten Selbstverpflichtung zur Freiheit

May 27, 2017 | Author: Sasa Josifovic | Category: Ethics, Continental Philosophy, German Idealism, Immanuel Kant
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Der „innere Gerichtshof“ der Vernunft Normativität, Rationalität und Gewissen in der Philosophie Immanuel Kants und im Deutschen Idealismus

Herausgegeben von

Saša Josifović und Arthur Kok

LEIDEN | BOSTON

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Inhaltverzeichnis Über die Autoren VII Einleitung 1 Saša Josifović und Arthur Kok Selbstbestimmung der Person und sittliche Gemeinschaft als Grundlagen der Ethik 8 Klaus Düsing „Verdammnis“ und „Lossprechung“ durch das Gewissen: Zum Verhältnis von Freiheit und moralischer Verantwortlichkeit in Kants praktischer Philosophie 24 Walid Faizzada Der „innere Gerichtshof“ der Vernunft Kants Theorie des Gewissens als Ausdruck der unbedingten Selbstverpflichtung zur Freiheit 47 Saša Josifović Gewissen und Verbindlichkeit Kants Idee eines „inneren Gerichtshofs“ zwischen Christian Wolfff und Adam Smith 63 Heiner F. Klemme Gott als Richter? Zum Gewissen im § 13 von Kants Tugendlehre 84 Thomas Oehl Über einen (unentdeckten) Gottesbeweis in Kants Philosophie des Gewissens 115 Elke Elisabeth Schmidt und Dieter Schönecker Jenseits des Gewissens Der Mensch als Endzweck der Schöpfung 154 Arthur Kok

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Inhaltverzeichnis

Natur versus Freiheit? Zu Hegels logischer Überwindung eines wirkungsmächtigen Gegensatzes 170 Christian Krijnen Reason’s Search for the Unconditioned and the Standpoint of the Subject in Kant 189 Stefan Bird-Pollan Die Person als Selbstzweck 208 Paul Cobben Individuum est efffabile Hegels Versuch einer Weiterführung Kants in der Sicht des Menschlichen 219 Kurt Appel Index 245

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Der „innere Gerichtshof“ der Vernunft Kants Theorie des Gewissens als Ausdruck der unbedingten Selbstverpflichtung zur Freiheit Saša Josifović

Bereits aufgrund der Tatsache, dass Menschen als körperliche Wesen existieren, ist es unvermeidlich, dass sie in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt stehen, also teils Einflüssen ihrer Umwelt ausgesetzt sind, teils verändernd auf die Zustände in der Welt einwirken. Sie sind dadurch unausweichlich an Ereignissen beteiligt, von denen einige als Handlungen angesehen werden können. Grundsätzlich könnte jede Beteiligung menschlicher Wesen an Ereignissen in der Welt, also jede Veränderung der Zustände der Welt, die durch die leibliche Einwirkung von Menschen verursacht wird, als deren Handlung angesehen werden; da aber die Umstände solcher Beteiligung und Einwirkung sehr vielfältig ausfallen können, ergibt sich in der Geschichte und Gegenwart der Handlungstheorie eine Vielzahl miteinander konkurrierender Beschreibungsansätze mit jeweils spezifijischen Wahrheits- und Geltungsansprüchen sowie spezifijischen Schwerpunktsetzungen. Nicht jede Interaktion leiblicher Wesen mit ihrer Umwelt, also nicht jede Beteiligung leiblicher Wesen an Ereignissen in der Welt, muss notwendigerweise als Handlung oder sogar deren Handlung angesehen werden. In weiten Teilen der Geschichte der Philosophie werden Handlungen nämlich als eine spezifijische Art von Ereignissen in der Welt angesehen und es wird der Versuch unternommen, das Spezifijische an ihnen begriffflich zu erfassen, indem Charakteristika angegeben werden, die zur Abgrenzung von Handlungen gegenüber Phänomenen, die nicht als Handlungen anzusehen sind, dienen. Wenn beispielsweise eine Windböe einen Menschen ins Taumeln bringt, taumelt der Mensch; ob dies aber seine Handlung ist, stellt eine Frage für sich dar. In diesem Zusammenhang haben sich zwei Theorien weitgehend etabliert, nämlich zum einen die sogenannte Zuschreibungstheorie (auch Identifijikationstheorie) und zum anderen die Theorie praktischer Gründe. Die Zuschreibungstheorie besagt, dass Handlungen eine spezifijische Art von Ereignissen in der Welt darstellen, die Handlungsträgern bzw. Akteuren zugeschrieben werden können. Als Identifijikationstheorie besagt sie, dass Handlungen eine spezifijische Art von Ereignissen in der Welt darstellen, die sich dadurch auszeichnen, dass sich Akteure mit ausgewählten Aspekten dieser Ereignisse identifijizieren und eventuell auch ihren weiteren Verlauf mitgestalten. Die Theorie praktischer Gründe besagt, dass Handlungen aus Gründen geschehen, die als solche nachvollzogen und angegeben werden © koninklijke brill nv, leiden, 2017 | doi 10.1163/9789004327191_005

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können. Unter Gründen werden in der Tradition von Donald Davidson WunschÜberzeugungs-Paare verstanden. Beide Ansätze werden im Laufe der Philosophiegeschichte und aktuellen Debatten in der modernen Handlungstheorie zu höchster Komplexität angereichert und es hat sich nunmehr eine dynamische Debattenlandschaft entwickelt, deren Skizze eine eigenständige und stets aktualisierungsbedürftige Aufgabe darstellt. Die richtungsweisenden Impulse der modernen Handlungstheorie stammen jedenfalls von Henry Frankfurt hinsichtlich der Zuschreibungs- bzw. Identifijikationstheorie und Donald Davidson sowie G.E.M. Anscombe hinsichtlich der Theorie praktischer Gründe. Die wirkungsmächtigste klassische Referenz ist sicherlich Aristoteles. Die handlungstheoretischen Entwürfe, die in der Klassischen Deutschen Philosophie entwickelt wurden, zeichnen sich trotz aller nachvollziehbaren Diffferenzen zwischen den einzelnen Autoren und trotz aller gedanklichen Dynamik innerhalb der Theoriebildung der jeweils einzelnen Autoren, durch einige gemeinsame, und zwar wesentliche, Charakteristika aus. 1.

2. 3. 4. 5.

Anders als in vielen modernen Ansätzen wird die Handlung in der Klassischen Deutschen Philosophie als Ausdruck der willentlichen Selbstbestimmung angesehen. Auch wird konsequent zwischen Taten und Handlungen unterschieden. Das menschliche Handeln wird vom animalischen Verhalten unterscheiden. Die Handlungstheorie steht immer im Kontext der Freiheit. Es ist also vorzugsweise die freie Handlung thematisch. Die Normativität entwickelt sich nicht in Respondenz auf Tatsachen und Sachverhalte in der Welt, wie beispielsweise bei Derek Parfijit oder Joseph Raz, sondern im Ausgangspunkt von der Spontaneität und Autonomie des Subjekts.

Diese Charakteristika ergeben sich zum einen als Resultat der einschlägigen Theoriebildung, die sich Kant und Hegel aus der Geschichte der Philosophie zuspricht, teils durch die spezifijischen Impulse, die sie der weiteren Theoriebildung verleihen. Sie stehen daher nicht allein im Kontext der aktuellen Debatten, sondern zugleich im Kontext der Philosophiegeschichte, worin sie eine bedeutende Stellung einnehmen. Im Jahrtausend vor Kant und Hegel etabliert sich sukzessive ein fundamentaler Unterschied zwischen animalischem Verhalten und menschlichem Handeln, und es wird angenommen, dass sich menschliches Handeln durch einige Besonderheiten auszeichnet, die philosophisch expliziert werden können. Diese Besonderheiten ergeben sich primär im Bewusstsein der

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Freiheit, die insbesondere seit dem 13. Jahrhundert weitgehend als willentliche Selbstbestimmung angesehen wird. Daher steht die Handlungstheorie in weiten Teilen der Geschichte der Philosophie, insbesondere im Zweiten Jahrtausend mitsamt der Klassischen Deutschen Philosophie unter dem Primat der Freiheit. Unter dem Ausdruck „liberum arbitrium“, freie (menschliche) Willkür, wird im Zweiten Jahrtausend eine komplexe Theorie der Handlungsorganisation unter dem Gesichtspunkt der willentlichen Selbstbestimmung entwickelt, die auf systematische Art und Weise sowohl die Bedingungen als auch Folgen des menschlichen Handelns erörtert.1 Die gesamte Handlungskoordination erfolgt unter dem Gesichtspunkt des höchsten Guts, das als Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit eine christlich-metaphysische Reprise der teleologischen aristotelischen Idee darstellt, dass alles Handeln letztendlich auf die Glückseligkeit abzielt. Doch, indem diese Reprise unter den Vorzeichen der freien willentlichen Selbstbestimmung steht, entwickelt sich aus der gedanklichen Dynamik der christlichen Philosophie des Mittelalters auch eine neue Schwerpunktsetzung, aus deren Mitte die emphatische Begeisterung der Philosophen für die Idee der Freiheit und des freien Menschen entspringt. Die fundamentale anthropologische Diffferenz zwischen dem animalischen Verhalten und menschlichen Handeln beruht auf der Idee der Freiheit. Diese Bedeutung der christlichen Philosophie des Mittelalters im Hinblick auf die Theorie der Freiheit wird auch in der Moderne als solche anerkannt. So betont Hegel in Bezug auf die Idee der Freiheit: Diese Idee ist durch das Christentum in die Welt gekommen, nach welchem das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat, indem es Gegenstand und Zweck der Liebe Gottes ist, dazu bestimmt ist, zu Gott als Geist sein absolutes Verhältnis zu haben, d. i. daß der Mensch an sich zur höchsten Freiheit bestimmt ist. (Hegel, Enz., § 482, Anmerkung). Als Gegenstand und Zweck der Liebe Gottes ist der Mensch des Christentums also zur höchsten Freiheit bestimmt. Daher steht die Handlungstheorie in weiten Teilen der Geschichte der Philosophie einschließlich des Deutschen Idealismus unter den Vorzeichen der Freiheit. Sie entwickelt sich also als Theorie des freien Handelns. Da Freiheit als kontrollierte willentliche Selbstbestimmung angesehen wird, stellt die Handlung demnach einen Ausdruck der freien willentlichen Selbstbestimmung von Akteuren in der Welt dar. Das intime Verantwortungsverhältnis zwischen dem Menschen als einer unverwechselbar einzigartigen Persönlichkeit und einem ebenfalls 1  Vgl. hierzu: Kobusch, Theo (1997): Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.

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persönlichen Gott fijindet einen wirkungsmächtigen Ausdruck in Kants Theorie des Gewissens, das von ihm als „innerer Gerichtshof im Menschen“ bezeichnet wird. Das Gewissen wird von Kant als „subjektives Prinzip einer vor Gott seiner Taten wegen zu leistenden Verantwortung“ gedacht. (MS, A 101 f.) Zwei Dinge sind dabei besonders interessant, und zwar im Hinblick auf die Frage, wie die einschlägigen Resultate der christlichen Metaphysik von Kant aufgenommen und transzendentalphilosophisch aufgearbeitet werden; nämlich zum einen die Verantwortung vor Gott und zum anderen der Gegenstand der Verantwortung vor Gott, also der zu verhandelnde Sachverhalt, nämlich „Taten“. Zum ersten Punkt wird hier nichts gesagt, denn der vorliegende Sammelband enthält eine umfassende und gründliche Studie von Elke Schmidt und Dieter Schönecker, die sich mit diesem Gegenstand auseinandersetzt und worin sogar die These vertreten wird, dass Kant hier einen bislang unentdeckten Gottesbeweis vorlegt. Da meine Herangehensweise im weitesten Sinne handlungstheoretisch ist, konzentriere ich mich auf den zweiten Punkt, nämlich die Tatsache, dass der Gegenstand der Verhandlung im Gewissen, dem inneren Gerichtshof im Menschen, seine „Taten“ sind. Nun ist aber eine „Tat“ Kant zufolge nicht jede beliebige Beteiligung von Menschen an Ereignissen in der Welt, ja nicht einmal jede Handlung derselben, sondern nur eine spezifijische Art von Handlungen, nämlich: „eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht“, und, was noch viel wichtiger ist, „folglich auch, sofern das Subjekt in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird“ (MS, AB 22). Die Tat ist eine freie Handlung. Also stellt das Gewissen ähnlich wie in Hegels oben zitierter Anmerkung die subjektive Instanziierung eines intimen Verantwortungsverhältnisses zwischen Mensch und Gott – ob buchstäblich, metaphorisch oder allegorisch, sei dahingestellt – dar, in dem der Mensch vor Gott Verantwortung darüber ablegt, was er aus (dem Geschenk) seiner Freiheit im Einzelnen und im Ganzen seiner Existenz gemacht hat. Das Maß aller Dinge, mithin auch der „Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!“.2 Dies ist sehr charakteristisch für die klassische Deutsche Philosophie, die sich als Resultat und Reflexion der christlichen Philosophie im zweiten Jahrtausend, an dessen Ende sie steht, ergibt.

1

Kants Theorie des freien Handelns

Es ist überaus merkwürdig, dass der Mensch „nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird“, sofern seine Tat „unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht“. (MS, AB 22). Von einem vorphilosophischen Standpunkt her wäre durchaus 2  Schelling, F.W.J., 1795: Vom Ich als Prinzip der Philosophie. In: AA I, 2, 101; SW I, 177.

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anzunehmen, dass „Gesetze der Verbindlichkeit“ die „Freiheit der Willkür“ einschränken, indem sie der „Willkür“ Grenzen setzen. Dies ist umso mehr der Fall, als sich „Verbindlichkeit“ und „Willkür“ im natürlichen Sprachgebrauch gänzlich auszuschließen scheinen. Aber Kants Formulierung ist wohldurchdacht und nur auf den ersten Blick kontraintuitiv. Sie enthält eine Pointe, die den spezifijischen Impuls zum Ausdruck bringt, den Kant der Theorie der freien menschlichen Willkür verleiht, die sich ihm aus der Geschichte der Philosophie der Freiheit als „liberum arbitrium“ bzw., wie er schreibt, „arbitrium liberum“ zuspricht. Durch diesen Impuls wird die Theorie des liberum arbitrium in die eigentliche Gestalt der „praktischen Freiheit“ kantischer Prägung übertragen, und darin besteht Kants ganz origineller und innovativer Beitrag zur philosophischen Theorie der Freiheit. Dieser Beitrag entwickelt sich im Kontext der Begriffflichkeit und Systematik des transzendentalen Idealismus, in dessen Mittelpunkt die Spontaneität und Autonomie des Subjekts stehen. In der Geschichte der Philosophie entwickelt sich, insbesondere im zweiten Jahrtausend, ein zunehmend ausgeprägtes Bewusstsein dafür aus, dass der menschlichen Willkür nicht allein Grenzen durch „Gesetze der Verbindlichkeit“, sondern zunächst Grenzen ganz anderer Art gesetzt werden, nämlich durch Naturzwänge. Daher ergibt sich zuallererst die Frage, ob überhaupt und wie der Mensch imstande ist, sich über gegebene Naturzwänge hinwegzusetzen und als freien Handlungsträger zu konstituieren. Aus dieser Fragestellung und ihrer Beantwortung ergibt sich die fundamentale anthropologische Diffferenz zwischen animalischem „Verhalten“ und menschlichem „Handeln“. Sie beruht auf der konsequenten begriffflichen Unterscheidung zwischen zwei Arten der „Willkür“, nämlich der animalischen und menschlichen. Die animalische Willkür wird von Kant in den Metaphysikvorlesungen, der Kritik der reinen Vernunft und der Einleitung in die Metaphysik der Sitten mit dem traditionsreichen Ausdruck „arbitrium brutum“, die menschliche mit dem Ausdruck „arbitrium liberum“ bezeichnet. Die menschliche Willkür gilt als frei. Ganz in der Tradition der einschlägigen Theoriegeschichte führt Kant in den Metaphysikvorlesungen und der Kritik der reinen Vernunft aus, dass sich die sinnlich bzw. „pathologisch“ afffijizierte Willkür, nämlich „arbitrium sensitivum“, auf zweierlei Art und Weise vollziehen kann; nämlich entweder so, dass sie sowohl pathologisch afffijiziert als auch pathologisch nezessitiert (KrV, B 562) ist, oder so, dass sie zwar pathologisch afffijiziert, aber nicht pathologisch nezessitiert ist. Sofern ein arbitrium sensitivum pathologisch afffijiziert und zugleich pathologisch nezessitiert ist, wird es als „arbitrium brutum“, animalische Willkür, bezeichnet. Sofern es aber zwar pathologisch afffijiziert, jedoch nicht pathologisch nezessitiert ist, handelt es sich um „arbitrium liberum“, nämlich freie Willkür.

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Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht nothwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich unabhängig von der Nöthigung durch sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmen. (KrV, B562) Denn nicht bloß das, was reizt, d.i. die Sinne unmittelbar afffijicirt, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; (KrV, B 830) Demnach handelt es sich bei der menschlichen Willkür um ein arbitrium sensitivum liberum, also eine sinnlich afffijizierte, aber nicht sinnlich nezessitierte Willkür, denn (wir) Menschen besitzen offfenbar die Fähigkeit, „die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden“, und zwar, indem wir etwaige Konsequenzen unseres Tuns und Lassens mitsamt deren Attraktivität berücksichtigen, also: „durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist“. Wir sind imstande, einem gegebenen Stimulus und einer sich unmittelbar einstellenden Neigung bzw. Handlungsdisposition zu widerstehen, wenn absehbar ist, dass sie Konsequenzen nach sich ziehen, die wir als unattraktiv erachten. Das ist soweit unkontrovers, und zwar aus zwei Gründen, nämlich erstens, weil es intuitiv nachvollziehbar ist, und zweitens, weil es sich als Resultat einer weitreichenden philosophischen Theoriebildung ergibt. Doch an diesem Punkt spitzt Kant die Fragestellung auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu und entwickelt dadurch ein neues Problembewusstsein, dessen Lösung die Theorie der praktischen Freiheit darstellt und worin praktische Gesetze der Autonomie die entscheidende Rolle spielen. Kants Rezeption der Theorie des liberum arbitrium entsprechend sind menschliche Akteure imstande, sich in reflexive Distanz zu den gegebenen Antrieben der Sinnlichkeit zu versetzen und aus solcher reflexiven Distanz zu entscheiden, ob sie sich mit ihnen identifijizieren oder nicht. Da ihr Handeln nicht pathologisch nezessitiert ist, kann davon ausgegangen werden, dass gegebene Stimuli zwar durchaus Gründe für die Entwicklung von Handlungsdispositionen darstellen, dass diese Gründe aber nicht zureichend, mithin nötigend sein müssen, sondern in komplexeren Begründungszusammenhängen auftreten können. Sofern das Subjekt in solchen Situationen selbst entscheidet, ob es dem Stimulus bzw. der Neigung nachgeht oder nicht, gilt es als frei. Die Frage, die von Kant mit allem Nachdruck formuliert wird, lautet: Was heißt hier eigentlich „selbst“? Wie entscheidet das

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Subjekt „selbst“, ob es einer Neigung nachgehen will oder nicht. Es ist denkbar, dass sich im Subjekt eine Konkurrenz von Neigungen einstellt und das Subjekt der stärkeren Neigung nachgeht, sich im Nachhinein mit der Lust, die sich durch die Befriedigung der Neigung einstellt, identifijiziert und damit auch die Handlung als Ausdruck seiner eigenen willentlichen Selbstbestimmung anerkennt. Aber es besteht der begründete Verdacht, dass das Subjekt in gewisser Hinsicht überhaupt nicht „selbst“ entschieden hat, was es wollen und was es tun und lassen will. Diesen Verdacht bringt Korsgaard zum Ausdruck: The desire to pursue the end and the desires that draw me away from it each hold sway in their turn, but my will is never active. The distinction between my will and the operation of the desires and impulses in me does not exist, and that means that I, considered as an agent, do not exist.3 Im Falle einer gegebenen Konkurrenz von Neigungen ist das Subjekt, sofern sein Tun und Lassen durch die stärkere Neigung nezessitiert wird, genauso wenig frei, wie wenn sein Verhalten durch eine einzelne gegebene Neigung nezessitiert wird, die nicht in Konkurrenz mit anderen Neigungen steht. Es ist also im Hinblick auf die freie willentliche Selbstbestimmung unwesentlich, ob das Verhalten eines Subjekts durch eine einzelne Neigung oder die stärkste von vielen gegebenen Neigungen nezessitiert wird: sofern es überhaupt pathologisch nezessitiert wird, ist es nicht frei. Das Subjekt konstituiert sich, wie Korsgaard im Fortgang ihrer Erörterungen ausführt, überhaupt als Handlungsträger, indem es sich in reflexive Distanz zu den gegebenen Neigungen versetzt und selbst entscheidet, ob es ihnen nachgehen will oder nicht. Alle Stimuli und auf ihnen beruhende Neigungen werden an das Subjekt vermittels der Rezeptivität der Sinnlichkeit herangetragen. Das Subjekt ist also hinsichtlich der Frage, ob es die entsprechende Neigung haben will oder nicht, durch und durch fremdbestimmt: „Neigung ist blind und knechtisch, sie mag nun gutartig sein oder nicht“ (KpV, A 213). Das Subjekt erhebt sich über die Nötigung durch sinnliche Antriebe nur, indem es von einem Vermögen Gebrauch macht, das sich nicht durch Rezeptivität, sondern durch Spontaneität auszeichnet. Dieses Vermögen stellt in Kants Transzendentalphilosophie die Vernunft dar. Kant vertritt den Standpunkt, dass die Vernunft das einzige Vermögen im Menschen darstellt, das imstande ist, sich ganz unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe zu vollziehen und aus eigener Spontaneität den Willen zu bestimmen. So geht Kant zu Beginn der Kritik der 3  Korsgaard 2009: Self-Constitution: Agency, Identity, and Integrity. Oxford. 70 f.

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praktischen Vernunft die Frage an, ob die reine Vernunft überhaupt imstande ist, den Willen ganz a priori zu bestimmen und die empirisch praktische Vernunft von der „Anmaßung“ abzuhalten, „den Bestimmungsgrund des Willens allein angeben zu wollen“ (KpV, A 31), beantwortet diese Frage afffijirmativ und erörtert, wie dies überhaupt möglich ist, wie also die reine Vernunft praktisch sein, also den Willen ganz aus eigener Spontaneität bestimmen kann. Bei der Beantwortung dieser Frage spielen die praktischen Gesetze eine Schlüsselrolle: 1. Die Vernunft stellt ein Vermögen dar, dass sich nicht durch Rezeptivität, sondern durch Spontaneität auszeichnet. 2. Sie stellt ein gesetzgebendes Vermögen dar, ist also imstande, aus eigener Spontaneität Gesetzte zu geben, die den Willen bestimmen können. 3. Solche Gesetze werden, sofern sie „objektiv“ verbindlich sind, als „praktische Gesetze“ bezeichnet. 4. Für menschliche Akteure und andere Wesen, bei denen die „Vernunft nicht ganz allein Bestimmungsgrund des Willens ist“ (KpV, A 36), die sich also durch die sogenannte „Willensschwäche“ auszeichnen, werden praktische Gesetze in Form von ausnahmslos gültigen, also „kategorisch“ gültigen Imperativen formuliert. Die reine Vernunft kann also praktisch sein, nämlich den Willen ganz a priori bestimmen, indem sie praktische Gesetze erlässt, die handlungsleitende Funktion besitzen. Diese Funktion erhalten sie mithilfe der bestimmenden Urteilskraft und freien Selbstverpflichtung. Menschliche Akteure sind Kant zufolge imstande, einzelne Situationen, die Gelegenheiten bieten, praktische Gesetze in der Tat zu verwirklichen, als solche, also als praktische Gründe, zu erkennen, indem sie sie vermittels bestimmender Urteilskraft als Einzelfälle unter die entsprechenden Gesetze subsumieren. Sie sind überdies imstande, den entsprechenden rationalen Prozess mit der Fähigkeit zur freien Selbstverpflichtung zu begleiten und dadurch den gesamten Entscheidungs- und Motivationsprozess aus eigener Spontaneität zu bestimmen und zu kontrollieren. Nur auf diese Art und Weise ist die Vollständigkeit und Transparenz von Begründungszusammenhängen gegeben, die nötig ist, um von freier willentlicher Selbst-Bestimmung im strengsten Sinne zu sprechen. Nur dadurch wird ein Subjekt befähigt, „selbst“ zu entscheiden, was es tun und lassen, was es wollen und nicht wollen will und nicht zuletzt: ob es einer gegebenen Neigung überhaupt nachgehen will oder nicht. Selbst das geringste Maß an Intransparenz oder Kontingenz, das sich im Rahmen dieses Prozesses einstellen könnte, bringt unausweichlich auch Fremdbestimmung mit sich. Es kontaminiert die willentliche Selbstbestimmung und erweckt den begründeten Verdacht, dass es sich bloß um die „Freiheit eines Bratenwenders“ (KpV, A 174) handelt. Das Subjekt ist umso weniger selbstbestimmt und umso mehr fremdbestimmt, je mehr Intransparenz und Kontingenz in seine Entscheidungs- und Motivationsprozesse einfließen.

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Vor diesem Hintergrund ist die Formulierung, dass das Subjekt „nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet“ wird, „sofern seine Tat unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht“, inhaltlich nachvollziehbar: Da nur die Autonomie der Vernunft in Begleitung der bestimmenden Urteilskraft und Fähigkeit zur freien Selbstverpflichtung das Subjekt dazu befähigt, den Prozess seiner willentlichen Selbstbestimmung vollständig zu kontrollieren, kann von gelingender willentlicher Selbst-Bestimmung nur dort die Rede sein, wo das Subjekt tatsächlich sein Tun und Lassen nach den Gesetzen der Autonomie selbst bestimmt. Sofern es ohne Rücksicht auf Gesetze der Autonomie tätig ist, handelt es sich unbedingt um eine Tätigkeit, die durch die Rezeptivität der Sinnlichkeit – statt Spontaneität der Vernunft – bestimmt ist und das Subjekt ist nicht frei im strengsten Sinne, in dem praktische Freiheit nach Kant zu verstehen ist. Diese Idee entwickelt Kant kontinuierlich seit den Siebzigerjahren des 18. Jahrhunderts unter Verwendung bestimmter gedanklicher Formeln bzw. begriffflicher Figuren, die nahezu unverändert bleiben und selbst in der Metaphysik der Sitten noch angetrofffen werden: So stellt er bereits in den Metaphysikvorlesungen fest, dass die freie Willkür im strengsten Sinne als „liberum arbitrium intellectuale oder transcendentale“ bezeichnet werden muss und sie sich dadurch auszeichnet, dass sie „durch gar keine stimulos necessitirt oder impellirt wird, sondern durch Motiven, durch Bewegungsgründe des Verstandes determinirt wird“. (PM 182) In der Kritik der reinen Vernunft sieht er dies als Ausdruck des Vermögens an, „sich unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmen“. (KrV, B 562: AA III, 365) Ähnlich äußert sich Kant in der Metaphysik der Sitten: „Die Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe; dies ist der negative Begrifff derselben“, und fügt unmittelbar hinzu: „Der Positive ist: das Vermögen der reinen Vernunft für sich selbst praktisch zu sein.“ (MS, AA VI, 213 f.) Dass reine Vernunft praktisch sein kann und wie sie den Willen vermittels praktischer Gesetze zu bestimmen vermag, ist aus der Zweiten Kritik bekannt. Kant bestätigt diese Theorie in der Einleitung zur MS: „Dies ist aber nicht anders möglich, als durch die Unterwerfung der Maxime einer jeden Handlung unter die Bedingung der Tauglichkeit der ersten zum allgemeinen Gesetze.“ (MS, AA, VI, 214) Daher hält Kant auch in der Metaphysik der Sitten, worin die gedankliche Arbeit der Zweiten Kritik mitsamt der Theorie vom Faktum der Vernunft und Sittengesetz als „Grundgesetz“ der intelligiblen Welt (KpV, A 74), nämlich Welt der Freiheit, aufgehoben ist, in einer Formulierung fest, die stark an die entsprechende Passage aus den Metaphysikvorlesungen erinnert, nämlich: „Die Willkür, die durch reine Vernunft bestimmt werden kann, heißt freie Willkür. Die, welche nur durch Neigung (sinnlichen Antrieb, Stimulus) bestimmbar ist, würde tierische Willkür (arbitrium brutum) sein.“ (MS, AA VI,

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213, 29–32) Der philosophische Fortschritt, der sich aber zwischen diesen beiden Passagen entwickelt, betriffft die genaue Art und Weise, wie die Willkür in positivem Sinne frei wird, indem sie durch die Vernunft nach Gesetzen der Freiheit, nämlich moralischen Gesetzen, bestimmt wird. Will man es auf den Punkt bringen, müsste man sagen, dass in der fertigen Theorie der praktischen Freiheit – um es mit Hegel zu formulieren – erkannt wird, was im Begrifff „liberum arbitrium intellectuale oder transcendentale“ als bekannt erschien: es liegt nunmehr eine gründliche begrifffliche Explikation dessen vor, was ein liberum arbitrium „intellectuale oder transcendentale“ ist. Darin besteht der innovative Impuls, den Kant der Theorie der menschlichen Willkür und menschlichen Freiheit versetzt, die bereits auf eine tausendjährige Geschichte zurückblickt. Er stimmt mit allen Vorgängern darin überein, dass menschliche Freiheit im Kern als willentliche Selbstbestimmung aufzufassen ist, aber er geht dem Gedanken der Selbstbestimmung bis zur letzten Konsequenz nach und stellt fest, dass von willentlicher Selbstbestimmung im strengsten Sinne nur dort die Rede sein kann, wo die Vollständigkeit der Gesetze, Begründungszusammenhänge und Selbstverpflichtung gegeben ist und der gesamte Kontext von der Spontaneität der menschlichen Vernunft getragen wird. Darüber hinaus stellt die handlungsleitende Funktion praktischer Gesetze einen Ausdruck der transzendentalen Freiheit im Kontext der praktischen Freiheit dar, denn Kant vertritt den Standpunkt, dass mit der Theorie vom Sittengesetz als Faktum der Vernunft das „Grundgesetz“ der intelligiblen Welt (vgl.: KpV, A 72 fff., insbesondere A 74 f.), entdeckt wurde, also das Grundgesetz der Kausalität aus Freiheit. Kausalität aus Freiheit vollzieht sich demnach im Modus des moralischen Sollens.4 So kommen Freiheit und Ethik im Gewissen, dem inneren Gerichtshof im Menschen, zusammen, worin sich das Subjekt „als der mit Vernunft begabte Sinnenmensch“ vor sich selbst „als Subjekt der moralischen, von dem Begrifffe der Freiheit ausgehenden, Gesetzgebung“ (MS, A 101, Fußnote) Rechenschaft über seine Taten gibt: nämlich über seine freien Handlungen, wobei diese als frei gelten, insofern sie gänzlich auf der Autonomie beruhen und nach der Kausalität aus Freiheit, also Kausalität des moralischen Sollens, erfolgen. Der Mensch legt also vor sich selbst als freies Wesen Verantwortung darüber ab, wie frei er wirklich ist – wie sehr er eigentlich Mensch ist und wie sehr er sich über die animalische Existenz, das arbitrium brutum, erhebt. Prinzipiell erhebt ihn zwar das Bewusstsein des Sittengesetzes „unendlich“ und offfenbart 4  Vgl.: Josifovic, S. 2014: Willensstruktur und Handlungsorganisation in Kants Theorie der praktischen Freiheit. Leiden/Boston. 254 fff.

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ihm „ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben“ (KpV, A 289), nämlich ein durch und durch selbstbestimmtes Leben aus Autonomie, aber wie sehr er im Einzelnen und Ganzen als ebendieser „mit Vernunft begabte Sinnenmensch“ dem Ideal eines solchen Lebens entspricht, muss er im Gewissen mit sich ausmachen.

2

Die unbedingte Pflicht zur Freiheit

Als Gegenstand und Zweck der Liebe Gottes ist der Mensch des Christentums und der Aufklärung also zur absoluten Freiheit bestimmt und diese Bestimmung gelangt in Kants Theorie des Gewissens auch in der zweiten einschlägigen Passage, nämlich in der Religionsschrift, zum Ausdruck. Neben der Tugendlehre in der MS spricht Kant das Gewissen also auch in der Religionsschrift an. Die beiden Passagen weisen in der Hauptsache eine bedeutende Gemeinsamkeit auf, nämlich die unbedingte Selbstverpflichtung des Subjekts zur Freiheit. Diese war in der Tugendlehre über die freiheitstheoretische Bedeutung der „Tat“ erkennbar und äußerte sich in der Selbstverpflichtung zum freien Handeln, nämlich dadurch, dass die Handlungen unter Gesetze der Verbindlichkeit gestellt und somit zu Taten qualifijiziert werden. Ähnlich, allerdings noch verbindlicher und deutlicher, äußert sich Kant in der Religionsschrift: „Das Bewußtsein, daß die Handlung, die ich unternehmen will, recht ist, ist unbedingte Pflicht.“ (RS, A 271 / B 288). Ob eine Handlung recht ist oder nicht, ob sie also unter den bestehenden Gesetzen der Verbindlichkeit steht oder nicht, prüft, wie Kant an gegebener Stelle schreibt, „der Verstand“ (RS, A 271 / B 289) bzw., wie es weiter unten heißt, „die Vernunft, so fern sie subjektiv praktisch ist“ (RS, A 271 / B 289). Genau genommen, müsste es die bestimmende Urteilskraft sein, aber das ist nicht von Bedeutung. Ob aber, und das ist durchaus von Bedeutung, diese Prüfung „mit aller Behutsamkeit“ erfolgt und die „Gewißheit“ besteht, dass das Handeln eines Akteurs recht ist; das prüft das Gewissen. Das Gewissen stellt somit „die sich richtende moralische Urteilskraft“ dar (RS, A 271 / B 289), nämlich die Instanz, die prüft, ob die Selbstverpflichtung des Subjekts zur Bestimmung seines Willens (zur Tat) durch die Autonomie der praktischen Vernunft erfolgt. Ob dann die Tat gelingt oder nicht, ist eine ganz andere Sache und fällt in den Bereich der empirisch praktischen, bzw. pragmatischen Vernunft, deren regulative, nicht normative, Funktion in hypothetischen Imperativen zum Ausdruck gelangt. Das Subjekt hat also die unbedingte Pflicht zur Freiheit. Dies wird in der Religionsschrift in Bezugnahme auf Plinius, eingeführt: „Es ist ein moralischer Grundsatz, der keines Beweises bedarf: man soll nichts auf die Gefahr

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wagen, daß es unrecht sei (quod dubitas, ne feceris! Plin.)“ (RS, A 271 / B 288). Dieser Grundsatz mag zwar keines Beweises bedürfen, aber es ist, wenn man es will, durchaus möglich, ihn im Kontext der kantischen praktischen Philosophie zu beweisen, denn praktische Gesetze gelten nach § 1 der Kritik der praktischen Vernunft ausnahmslos, also für jeden einzelnen Akteur in jeder beliebigen Situation. Da sie ausnahmslos gelten, ist es überhaupt nicht der Willkür des Akteurs überlassen, ob er seine Handlungen, speziell seine Handlungsmaximen, unter die Verbindlichkeit der praktischen Gesetze stellen will oder nicht. Er hat dies zu tun, denn sie gelten ausnahmslos! Das ist eine ganz eindeutige Stellungnahme zu einer der wichtigsten Grundfragen innerhalb der Theorie des liberum arbitrium im Zweiten Jahrtausend, nämlich: „Besteht Freiheit darin, dass ein Akteur wählen kann, ob er im Einklang oder Widerspruch zu den moralischen Gesetzen handelt?“ Kants Antwort ist eindeutig: Solche Wahlfreiheit besteht gar nicht. Das Subjekt ist als Akteur nur dann frei, wenn es sein Tun und Lassen selbst bestimmt – und das geht nur so, wie oben erörtert, also durch autonome „Taten“ im strengsten Sinne. Alles andere ist keine wirkliche Freiheit, sondern ein Ausdruck davon, dass sich das Subjekt durch Willensschwäche oder irgendwelche Stimuli, Neigungen, Triebe und Zufälle fremdbestimmen lässt, also letztendlich die „Freiheit eines Bratenwenders“. Die unbedingte Pflicht eines jeden sich als Handlungsträger konstituierenden Subjekts, dafür Sorge zu tragen, dass seine Handlung recht ist, dass sie also eine Tat ist, gelangt auch in der Tugendlehre (MS, A 103) zum Ausdruck. Unter dem Begrifff des „warnenden Gewissens“ betont Kant nachdrücklich, dass im Vorfeld der Handlung, nämlich im Rahmen der Entschließung zur Handlung bzw. Tat, „die äußerste Bedenklichkeit“ geboten ist und es „keine Kleinigkeitskrämerei“ darstellt, ganz gründlich zu prüfen, ob meine Handlung im Einklang mit dem Sittengesetz steht. Das Gewissen muss die nötige Strenge aufweisen und der Ausdruck „weites Gewissen“ ist, wie Kant schreibt, synonym für Gewissenlosigkeit.

3

Das Verhältnis von Selbstbestimmung, Selbstunterwerfung und Selbstverpflichtung

Der innere Gerichtshof im Menschen stellt einen allegorischen Ausdruck der transzendentalphilosophischen Struktur des Subjekts dar, deren Instanzen das Subjekt der Autonomie und der mit Vernunft begabte Sinnenmensch sind. Daher äußert sich das Gewissen als Selbstrechtfertigung des Subjekts, das sich als „zwiefache Persönlichkeit“ vorstellt, indem es die beiden Grundinstanzen

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seines Seins in jeweiliger Selbstständigkeit einander gegenüber stellt: Dadurch entsteht ein Autoritäts- und Verantwortungsverhältnis zwischen dem einseitig vorgestellten Subjekt der Autonomie und dem ebenfalls einseitig vorgestellten vernunftbegabten Sinnenwesen, also dem empirischen Subjekt; das ganz wesentlich von der Grundstruktur der praktischen Freiheit geprägt ist, deren Kausalität ein Produkt der normativen Kraft des Subjekts der Autonomie ist. Das Subjekt, das sich als Subjekt der Autonomie vorstellt, denkt sich zugleich als Autorität, aus deren vernunftgegründeter Autonomie die praktische Normativität hervorgeht. Es stellt sich als Quelle der praktischen Gesetze vor, die gegenüber vernunftbegabten aber nicht heiligen Wesen, also empirischen Subjekten, in Form kategorischer Imperative vorgetragen werden. Mit dieser imperativischen Form geht auch der Autoritätsanspruch einher, der sich als Anspruch der Verpflichtung des empirischen Subjekts zur Konformität mit den praktischen Gesetzen äußert. Als Subjekt der Autonomie, nämlich jene „idealische Person“ (MS, A 101), die als „Richter“ vorgestellt wird, erhebt das Subjekt also den Anspruch der Autorität, einen Herrschaftsanspruch, gegenüber sich selbst in der Instanz des empirischen Subjekts, des Sinnenwesens. Aufgrund der jeweiligen Einseitigkeit, in der sich die beiden Instanzen des Seins der transzendentalen Subjektivität hier gegenüber stehen, wird der Herrschaftsanspruch aus der Perspektive der idealischen Person nicht im Verständnis der Selbstverpflichtung, sondern im Verständnis der Fremdverpflichtung vorgetragen: Er äußert sich also als Anspruch der Unterwerfung der empirischen Subjektivität unter die Gesetze der Freiheit. Zugleich stellt sich das Subjekt in der Instanz des vernunftbegabten Sinnenmenschen vor, nämlich einseitig als Adressat der normativen Autorität des Subjekts der Autonomie, also einseitig als Normenempfänger. Dem Autoritätsanspruch des Subjekts der Autonomie entspricht in der Instanz des empirischen Subjekts die Fähigkeit zur Anerkennung der Pflicht, mithin die Fähigkeit der Selbstunterwerfung. Diese Fähigkeit wird beispielsweise von Korsgaard (2009) als ganz wesentlich für die praktische Selbstkonstituierung von Handlungsträgern angesehen. Das ist sie auch. Allerdings handelt es sich im Gewissen zunächst um die Gegenüberstellung zweier normativer Grundhaltungen, nämlich Selbstbestimmung und Selbstunterwerfung, aus deren intimem Verantwortungsverhältnis der komplexere Prozess der Selbstverpflichtung erst hervorgeht. Hierbei handelt es sich, wenn man so will, um eine Präfijiguration der von Hegel entwickelten Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft:5 Im Gewissen 5  Vgl.: Stekeler-Weithofer, P. (2004): Selbstbildung und Selbstunterdrückung. Zur Bedeutung der Passagen über Herrschaft und Knechtschaft in Hegels Phänomenologie des Geistes.

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stellt sich das Subjekt als „zwiefache Persönlichkeit“ vor, deren eine Instanz (das Subjekt als intelligibles Wesen), den Anspruch der Herrschaft und Richterschaft über die andere (das Subjekt als Sinnenwesen) erhebt und im „Ausspruch über Glückseligkeit oder Elend, als moralische Folge der Tat“ (MS, A 101, Anmerkung) geltend macht. Zugleich stellt die zweite Instanz (das Subjekt als Sinnenwesen) die allegorische Verkörperung des Knechts dar, der die normative Kraft und richterliche Autorität des Herrn als solche anerkennt und sich dem Richterspruch mitsamt seinen Folgen, nämlich Glückseligkeit oder Elend, fügt. Aus dem Gesamtkontext der von Kant entwickelten Theorie der Freiheit wissen wir, dass das Grundgesetz der intelligiblen Welt das Sittengesetz ist, dass also die Gesetze der Freiheit moralische Gesetze sind und sich die Kausalität aus Freiheit im Modus des moralischen Sollens vollzieht. Wir wissen auch, dass die Gesetze der Sinnenwelt empirisch sind. Nun stellt Kant in der einschlägigen Anmerkung (MS A 101, Anmerkung) fest: „denn über das Kausal-Verhältnis des Intelligiblen zum Sensiblen gibt es keine Theorie“. Es gibt also keine Theorie, die das gesetzmäßige Verhältnis zwischen der idealischen und empirischen Person beschreibt. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein Verhältnis, das sehr charakteristisch für die bestimmende Urteilskraft mitsamt ihrer ganzen Fallibilität ist. Bereits im Schematismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft stellt Kant fest: Ein Arzt daher, ein Richter, oder ein Staatskundiger, kann viele schöne pathologische, juristische oder politische Regeln im Kopfe haben, (. . .), und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstoßen, entweder weil es ihm an natürlicher Urteilskraft (obgleich nicht am Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto einsehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann, oder auch darum, weil er nicht genug durch Beispiele und wirkliche Geschäfte zu diesem Urteile abgerichtet worden. (KrV, B 172 f.) Der Richter kann sich also durchaus irren. Darum ist es unbedingte Pflicht, „mit aller Behutsamkeit“, die an der einschlägigen Stelle in der Religionsschrift gefordert wird, dafür Sorge zu tragen, dass die entsprechende Prüfung In: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie 2004/1, 49–68. Vgl. auch: Ders. 2013: Recognition of Norms and Recognition of Persons. Practical Acknowledgment in Hegel’s Phenomenology of Spirit. In: C. Krijnen (Hg.), Recognition – German Idealism as an Ongoing Challenge, Leiden / Boston 2013. 207–233. Vgl. auch: Josifovic, S. 2013: The Dialectic of Normative Attitudes in Hegel’s Lordship and Bondage. In: Krijnen 2013. 267–286.

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gründlich und sorgfältig erfolgt. Der Richter als allegorischer Repräsentant des Subjekts der Autonomie kann niemals in den Verdacht geraten, dass er „das Allgemeine in abstracto“, also die moralischen Gesetze, nicht kennt. Es kann höchstens sein, dass er nicht gründlich genug prüft, ob und inwiefern ein gegebener Einzelfall darunter in concreto zu subsumieren ist. Da es also keine Theorie über das Verhältnis des Intelligiblen zum Sensiblen gibt, kann nicht mehr als Gewissenhaftigkeit bei der Prüfung beansprucht werden. Das gesamte Verhältnis aber zwischen der idealischen und empirischen Person stellt einen Ausdruck der Fähigkeit des Subjekts zur freien Selbstverpflichtung dar. Dieses Selbstverständnis geht aus dem Bewusstsein hervor, dass die beiden Instanzen, die in der Allegorie des inneren Gerichtshofs im Menschen jeweils einseitig vorgestellt werden, in Wahrheit nur Ausdrucksweisen einer „zwiefachen Persönlichkeit“ sind, die sie als Einheit umfasst. Als diese umfassende Persönlichkeit beinhaltet das Subjekt sowohl die Fähigkeit der Autonomie als auch die Fähigkeit zur Tat, also Handlung aus Pflicht. Anders als in der Allegorie äußert sich die Autonomie hier aber nicht als Gesetzgebung mit dem Autoritätsanspruch der Fremdverpflichtung, sondern im eigentlichen Sinne der Autonomie als Fähigkeit des Subjekts, seinen eigenen Willen vermittels der Spontaneität seiner eigenen Vernunft zu bestimmen, also als Selbstbestimmung. Zugleich äußert sich die Fähigkeit, seine Handlungen unter bestehende Gesetze der Verbindlichkeit zu stellen und somit zu Taten zu erheben, als Ausdruck der Selbstverpflichtung, nicht als Unterwerfung unter fremde Gesetze. Im Ganzen bringt der innere Gerichtshof im Menschen also die transzendentalphilosophische Dynamik von Selbstbestimmung und Selbstverpflichtung zum Ausdruck, nämlich die beiden normativen Grundhaltungen des Subjekts, die unerlässlich für freie willentliche Selbstbestimmung und praktische Freiheit sind. Der Maßstab aller Dinge ist Freiheit.

Literatur Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hg. v. Nicolin, Friedhelm / Pöggeler, Otto. Hamburg: Meiner, 8. erw. Aufl. Josifovic, Sasa: The Dialectic of Normative Attitudes in Hegel’s Lordship and Bondage. In: Krijnen (Hg.) Recognition – German Idealism as an Ongoing Challenge. Leiden / Boston: Brill 2013. S. 267–286. Ders.: Willensstruktur und Handlungsorganisation in Kants Theorie der praktischen Freiheit. Leiden/Boston: Brill 2014.

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Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (Sonderausgabe) 1983. Kants Gesammelte Schriften, hg. von der (Königlich) Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1900 fff. Kobusch, Theo: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 1997. Korsgaard, Christine M.: Self-Constitution: Agency, Identity, and Integrity, Oxford: University Press 2009. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Werke. Bd. 1, Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wesen (1795). Leipzig 1907. Stekeler-Weithofer, Pirmin: Selbstbildung und Selbstunterdrückung. Zur Bedeutung der Passagen über Herrschaft und Knechtschaft in Hegels Phänomenologie des Geistes. In: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie 2004/1, S. 49–68. Ders.: Recognition of Norms and Recognition of Persons. Practical Acknowledgment in Hegel’s Phenomenology of Spirit. In: Krijnen, C. (Hg.), Recognition – German Idealism as an Ongoing Challenge. Leiden / Boston: Brill 2013. S. 207–233.

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