Der Havelberger Dom Die gotischen Umbauten Tilo Schöfbeck
Einführung
Der Havelberger Dom, Bischofssitz seit 948, ist einer der bedeutendsten sakralen Bauten Ostelbiens. Die ältesten, noch romanischen Bauteile gehen zurück bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts. 1279 brannte der Dom ab, was sich heute noch an den abgeplatzten Natursteinen der Obergadenzone ablesen lässt. Anschließend erfolgte eine provisorische Wiederherstellung, aber zu Beginn des 14. Jahrhunderts arbeitete man sich abschnittsweise von Osten in Richtung Turm vor, um dem Bau ein gotisches Gepräge zu geben. In diesem Zuge (um 1311) entstand die polygonale Apsis. Die Seitenschiffsdächer wurden verändert und der sichtbare Außenbau erhielt an Chor und Südseite einen flächigen Putz mit weiß aufgemaltem Fugenquadernetz. Erst 70 Jahre später wurde der westliche Teil des Langhauses (in Weiterführung der älteren Bauidee) bis zum Turm in gotischen Formen fortgesetzt. Der Dom hat in seiner mehr als 850-jährigen Baugeschichte eine Vielzahl von Änderungen erfahren, von denen die gotische Umgestaltung sicher die für das heutige Erscheinungsbild die prägendste und somit von herausragendem kunst- und landesgeschichtlichem Interesse ist. Eine genaue zeitliche Einordnung dieser Bauphasen stand bisher aus bzw. war nur unzureichend untersucht und fehlerhaft. Die bauhistorische Grundlage leistete Paul Eichholz im Inventarband von 1909. Er beschrieb den vermeintlichen Bauverlauf jedoch genau entgegen der deutlich erkennbaren Stratigrafie von Ost nach West.1 Erst jüngst konnte Reinhard Schmitt mit der populären Idee der ottonischen und militärischen Entstehung des Westbaues aufräumen.2 Joachim Hoffmann hatte es sich in seiner 2007 eingereichten Dissertationsschrift zur Aufgabe gemacht, die mittelalterliche Baugeschichte zu untersuchen und detailliert neu darzustellen.3 Eingehende Bauforschung mit Methoden der naturwissenschaftlichen Datierung, insbesondere der Dendrochronologie, aber wurde bisher kaum ausgeschöpft.4 Im Vorfeld der 2011 geplanten Sanierung des Dachwerks über dem südlichen Seitenschiff konnte ich den angetroffenen Bestand der historischen Holzkonstruktion im
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Eichholz/solger/Spatz 1909, S. 36 – 74. Schmitt 1997, S. 6 – 41. Vgl. den Beitrag von Joachim Hoffmann in diesem Band. Eine Ausnahme bildet vor einigen Jahren die Untersuchung eines bauzeitlichen Rüstholzes von 1157, das Joachim Hoffmann (Trier) entdeckt hat. 2008 fand eine gemeinsame Voruntersuchung des Mittelschiffdachwerks durch Frank Högg (Wasserleben) und den Verfasser statt.
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1 Havelberg, Dom. Luftbild von Südost
Auftrag der Stiftung Dome und Schlösser Sachsen-Anhalt bauhistorisch untersuchen und dokumentieren. Dadurch ergab sich gleichzeitig die Gelegenheit, strittige Fragen zur gotischen Umbaugeschichte des Domes eingehender zu erforschen. Fragestellung
Dieser Text ist das Ergebnis langjähriger Diskussionen.5 In den vergangenen Jahren rückte der gotische Umbau des Havelberger Domes aus unterschiedlichen Gründen in den Fokus. Wie verlief die gotische Umgestaltung des Domes ? Stammen das Konzept und seine Umsetzung tatsächlich aus der Zeit kurz nach dem Brand von 1279, wie zumeist behauptet ?6 Wie verhält sich diese Annahme zu den Dendrodaten der Dachwerke, die Bauabschlüsse um 1311 bzw. um 1386 signalisieren ? Was hat es mit den Putzflächen unter den Seitenschiffsdächern auf sich, und wie lassen sich eigentlich die zahlreichen Bauphasen trennen ? Die Fragen lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt nur in großen Zügen beantworten, ein Nachweis im Detail muss einer späteren Bauforschung vorbehalten bleiben, wenn die Wände kartiert und als Baualterspläne dargestellt werden können.
5 Ich danke Joachim Hoffmann, Antje Reichel, Reinhard Schmitt und Dirk Schumann für einen regen Gedankenaustausch. Vgl. den Beitrag von Dirk Schumann in diesem Band, der sich intensiv der gotischen Bauplastik widmet. 6 Eichholz/solger/Spatz 1909, Dehio 2002.
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2 Havelberg, Dom. Grundriss mit skizziertem Baualtersplan
Bauphase 1 (um 1280/90)
Laut chronikalischer Überlieferung kam es 1279 durch Brandstiftung zu einem großen Schaden am Kirchenbau : »Legitur Havelbergae quod anno 1279 […] ecclesia ab hostibus violata et optimis ornamentis incendio deleta sit«.7 Die Spuren jener Katastrophe lassen sich an dem ursprünglich gelblich-grauen Natursteinmauerwerk deutlich ablesen – die Obergadenwände sind rot geflammt, die Steine stark abgeplatzt, besonders im unteren Bereich der ursprünglich sehr flach geneigten Seitenschiffsdächer.8 In einer ersten Reparaturphase wurde nun in unmittelbarer Folge der romanische Bau wiederhergestellt. Die erstmalige Identifikation dieser unbekannten Zwischenphase gelang Dirk Schumann. Dies lässt sich unter anderem durch Mauer werksflickungen und eine erste Verputzung im Bereich der Obergadenfenster nachweisen. Die Fensterlaibungen wurden teilweise neu in Backstein ausgeführt und an den Kanten mit Putzfaschen versehen. Welches Ausmaß diese Instandsetzungsarbeiten erreichten, muss späteren Forschungen vorbehalten bleiben. Denn es zeigen sich in den Langschiffwänden über dem Gewölbe zahlreiche Bauabschnitte, die von sukzessivem Umbau sprechen. Das gilt insbesondere für den hochgotischen Umbau. Der romanische Bau war flach gedeckt, weshalb ältere Ausstattung – anders als bei einem schützenden Gewölbebau – zum größten Teil beim Brand zerstört worden 7 Zitiert nach Eichholz/Solger/Spatz 1909, S. 60. 8 Ob es sich bei den Brandschäden an der Südfassade des Südquerhauses um Spuren derselben Katastrophe handelt, also auch das Dach des Ostflügels in Flammen aufgegangen war, lässt sich hier nicht feststellen.
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3 Havelberg, Dom. Langhaus, Südseite mit Kapelle und Putzresten des beginnenden 14. Jahrhunderts
sein dürfte. Ein Indiz für den Wiederaufbau und die sicherlich damit einhergehende Neuausstattung ist die Datierung des südlichen Chorgestühles, dessen Eichenholz in der Zeit kurz nach 1276(d) gefällt wurde und entsprechend in Nachfolge des Brandes von 1279 verarbeitet worden sein kann.9 Bauphase 2 (beendet um 1311)
Bei der ersten Reparatur des Brandschadens dürfte es sich nur um eine Wiederherstellung für kurze Zeit gehandelt haben. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts fließen größere finanzielle Mittel nach Havelberg, die es dem Bischof Arnold (1304 – 12) offensichtlich ermöglichten, ein gotisches Baukonzept unter Einbeziehung der ro-
9 Gutachten Deutsches Archäologisches Institut (DAI), Dr. K.-U. Heußner : Labornummer C 51018, Archivprobe. Die Auszählung des erhaltenen, aber etwas desolaten Splintholzes vor Ort (17 Ringe, Waldkante erhalten !) ergibt die kleine Unsicherheit. Es ist nicht auszuschließen, dass an der Bruchkante des Splintholzes (Kern-Splintgrenze bei 1257) noch wenig mehr als die sicherheitshalber addierten zwei Jahrringe verloren gegangen sind (durchschnittliche Jahrringbreite 1,5 – 2 mm).
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manischen Bausubstanz umzusetzen.10 Wenngleich die Dendrodatierung der Ostteile auf 1311(d) nur auf wiederverwendeten Hölzern im Nordquerhausdach beruht, dürfte der Stillstand der Bauarbeiten nach 1312 nicht nur zufällig mit dem Tod des Bischofs einhergehen. Nach dem Chor wurde das erste bis vierte Joch von Ost in hochgotischer Umbauphase umgestaltet. Der Obergaden erhielt die heutige Höhe, die Seitenschiffe waren ursprünglich mit quergestellten Satteldächern überdeckt. Die Spuren dieser Dächer lassen sich an der Hochschiffswand und an den Strebepfeilern deutlich ablesen. Im Seitenschiffsdach gehören zu dieser Phase einerseits der großflächige Quaderputz mit gerauten Rücklagen und weiß gehöhten Fugenbändern, andererseits die großen Sandsteinrinnen, die sich nur noch rudimentär erhalten haben. Auf der Nordseite waren diese Rinnen ebenso vorhanden, hier fehlte aber offensichtlich der Quaderputz. Durch die Lage auf dem Domberg war die Südseite prädestiniert für eine repräsentative Gestaltung. Als heller Putzbau, einen Werksteinbau imitierend, sollte der Dom über der Havel leuchten. Gleichzeitig schützte und verdeckte er die Mauerbereiche aus unregelmäßigem Mischmauerwerk. Der Putz findet sich auch auf dem Chorpolygon aus Bruch- und BacksteinMischmauerwerk, das von relativ breiten Spitzbogenfenstern durchbrochen und von einem kräftigen Kranzgesims abgeschlossen wird. Seine Erhaltung ist insbesondere unter dem heutigen Südseitenschiffsdach verhältnismäßig gut, da er bereits nach einem dreiviertel Jahrhundert Bewitterung wieder unter Dach kam. Die Restflächen des Quaderputzes sowie erhabene Putzspuren lassen deutlich die Satteldachform erkennen, nur das östlichste Joch zeigt die Spuren eines Pultdaches, angeschlossen an den Südquerarm. Der Übergang zum Ostflügel war jedoch nicht – wie aktuell – durch eine große Dachkehle überbrückt, sondern mittels einer Grabenrinne wurde 10 Vgl. zur finanziellen Situation Eichholz/solger/Spatz 1909, S. 64.
4 Havelberg, Dom. Reste der ersten Reparaturen nach dem Brand von 1279 unter dem Dach des Südseitenschiffes, Backstein ausflickungen mit ehemaliger Fensterfasche und Putzflächen über brandgeschädigten Mauerpartien
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5 Havelberg, Dom. Quaderputz um 1310 mit rauen Rückl agen und Fugenr itzung mit auf gemalten weißen B andfugen
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der Nordgiebel des Konventsbaues sichtbar gelassen ; heute findet sich eine entsprechende dreibahnige Giebelblende unter dem Dach. Größere Rüstlöcher, die in diesem Zusammenhang in die bereits brandgeschädigte Obergadenwand eingebracht wurden und gelegentlich noch runde Weichhölzer bergen, dürften mit der Dachkonstruktion in Zusammenhang stehen. Das gilt insbesondere aber auch für die rechteckigen Öffnungen in Höhe des ehemaligen Dachfußes. Nennenswerte hölzerne Substanz hat sich im Seitenschiffsdach merkwürdigerweise nicht erhalten, nur im Mittelschiffs- und Querhausdach ließen sich Hölzer datieren, die eine Zeitstellung von 1311(d) ergaben.11 Stilistisch ähneln beispielsweise die schlichte Kapitellgestaltung der Chordienste und des Chornordportals der Havelberger Stadtkirche St. Laurentius einander stark. Das bauzeitliche Chordachwerk dort stammt von 1309(d).12 Aus den Befunden ergibt sich für die Ostteile ein Architekturbild mit quergestellten Dächern, wie es der Magdeburger Dom zeigt. Magdeburg war Sitz des Erzbischofs und gleichzeitig der modernste Bau der Umgebung. Die Langhausgestaltung entstand dort in mehreren Bauphasen der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts.13 Im Gegensatz zu Magdeburg, dessen schmale Satteldächer zum Obergaden hin mit einem Walmdach endeten, um den großen Fenstern maximalen Lichteinfall zu gewähren, war die Havelberger Lösung viel simpler. Hier schlossen die Dächer unmittelbar an das Mauerwerk an, die Sandsteinrinnen führen das Wasser hinab in den Hof. Geschickt passte sich die Kapelle im sechsten Joch von Westen aus jener Zeit in die Dachlandschaft ein, hielt sie sich doch an das Jochraster. Sie hat genauso wie alle Zwerchhäuser einen Giebel besessen, von dem wir aber keine Spuren mehr finden.14 Bauphase 3 (um 1386)
Ähnlich der für Mecklenburg festgestellten geringen bis erloschenen Kirchenbautätigkeit zwischen 1320/30 und 1350/60 kommt es auch in Havelberg zu einer langjährigen Verzögerung der Umbauarbeiten am Dom. Zwischen dem fünften und dem sechsten Joch von West waren die Arbeiten liegen geblieben, das fünfte Pfeilerpaar noch bis etwa auf Arkadenhöhe fertiggestellt. Deutlich erkennt man den Wechsel im Mauerverband der Dienstvorlage – die nunmehr schmaler erscheint
11 Dendrolabor DAI, Labornummer 51012. Zwar ließ sich nur eine Waldkantenprobe datieren, jedoch zeigen die Hölzer deutliche Spuren eines einheitlichen Abbundes mit konischen Hakenblättern und zeittypischen feinen Reißlinien als Bundzeichen. 12 Auffällig ähnlich sind auch die Kapitellzonen der Pfeiler im Langhaus des Domes von Tartu/ Dorpat (Estland) gestaltet, entstanden ebenfalls um 1300. 13 Vgl. Rogacki-Thiemann 2007, S. 82 ff. 14 Ein auf einer Postkarte aus dem Jahr 1917 sichtbarer Giebel stammt erst aus dem 17./18. Jahrhundert und dürfte in den 1920/30er Jahren abgetragen worden sein.
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6 Havelberg, Dom. Spuren des ehe maligen Sattel daches über der östlichen Seiten schiffskapelle (Südseite), deutlich ist die feuergeschä digte grobe Mauer werksoberfläche erkennbar
– und an der Qualität der verhältnismäßig kleineren Backsteine mit breiteren Fugen. Im Südseitenschiff lässt sich die Zäsur westlich der Kapelle ablesen. Erstaunlich ist die konsequente Beibehaltung des älteren Baukonzeptes. Nur im Detail ändern sich Bautechnik und Bauplastik (z. B. Sandsteinbasen), der architektonische Gedanke mit Vorlagensystem und Wölbung wird weitgehend ähnlich weitergeführt. Das erinnert an den Traditionalismus der Schweriner Domarchitektur, deren gotische Errichtungsphasen stark denen Havelbergs ähneln – der Chor wurde um 1316(d) fertiggestellt, das Langhaus 1384(d) bzw. 1399(d). Nach der Weiterführung der gotischen Umbauarbeiten entschloss man sich – gut siebzig Jahre später –, auf die Dachlösung mit den quergestellten Satteldächern zu verzichten und dafür ein einheitliches Pultdach über dem Südseitenschiff zu errichten. Dachlösungen mit Grabenrinnen sind für ihre Schadensanfälligkeit bekannt, daneben kann man einen veränderten Plan annehmen, der die konventionelle Ansicht einer Basilika mit seitlichen Pultdächern anstrebte. Dafür wurden die kleinen Dachwerke abgebrochen, das neue Dach mit frischem einheimischem Eichenholz verzimmert. Es kamen ausschließlich Vollhölzer zum Einsatz, verhältnismäßig schnellwüchsige Bäume, die nur mit dem Beil vierkantig zugerichtet wurden. Da die jüngsten Bauhölzer während der Vegetationsperiode 1386 geschlagen wurden, kann ein Aufschlagen des Daches noch im selben Jahr angenommen werden. Die Konstruktion besteht aus einem Dachbalken auf Mauerschwellen, Ständer, Sparren, Sparrenknecht und zwei sich kreuzenden Streben. Das gesamte Dachwerk wurde in einem Zuge, aber in mehreren Abbundphasen aufgerichtet. Sofern eine Zählung erfolgte, erfolgte sie in der Wandebene mittels Macken (viereckige Aus stiche) und in zwei Abbundphasen auch auf der Traufseite durch Strichaddition (Reißhaken). Teilweise wurden die Zählungen noch jochweise unterschieden. TyDer Havelberger Dom
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pisch für die im Ursprungszustand erhaltenen Gespärre sind der abgeschrägte Kopf des Dachbalkens, welcher ohne nennenswertes Vorholz die Dachneigung des Sparren fortsetzt ; die angeblatteten Fußstreben von Ständer und Sparren (Sparrenknecht) und die beidseitig gezapfte Langstrebe zwischen Dachbalken und Sparren sowie der Überstand des Sparrens am Kopfende – eine Maßnahme, die dem besseren Anschluss der Dachhaut an die Obergadenwand dienen sollte. Die Dimensionen des Dachwerks sind demnach unverändert, es ist höchstens durch die Zerstörung der Mauerschwellen etwas abgesackt. Verändert haben sich im Laufe der Jahre die Dachdeckung – hier sind wohl Hohlziegel (Mönch/Nonnen) im Mittelalter anzunehmen – und die 7 Havelberg, Dom. Rest der früheren Wasser ableitung in den Grabenrinnen der hoch Trauflösung. gotischen Satteldächer über dem östlichen Das Dachwerk über dem westlichen Südseitenschiff Mittelschiff dehnt sich exakt über den spätgotischen Bereich von sechs Jochen aus, die korrespondierenden Baunähte zeigen sich deutlich auf beiden Seiten der Hochschiffwand. Konstruktiv haben wir einen frühen Vertreter eines Kreuzstrebendachs mit firstmittiger Längsaussteifung vor uns. An den Spitzsäulen hängen jeweils die Binderbalken, die Leergespärre dazwischen stehen nur auf Stichbalken, die wiederum auf zwei Mauerschwellen aufliegen. Die Abbundzeichen (Reißhaken) zeigen zwei Abbundeinheiten, gefügetechnisch und dendrochronologisch handelt es sich aber um eine homogene Konstruktion von 1385(d).15 Im Zuge der spätgotischen Umgestaltung kam es auch zu Veränderungen im Bereich der beiden »Querhausarme«. Deutlich erheben sich auf beiden Seiten die Backsteinaufbauten im großen Backsteinformat des Langhauses über kleinformatigerem Mauerwerk. Im Süden entstand sogar ein tonnengewölbter Raum, dessen Funktion bislang nicht eindeutig geklärt ist. Markant prangen die beiden filigranen Schaugiebel in die Ferne, im Süden als Pfeilerblendengiebel, im Norden eher als ein PfeilerSchildgiebel ausgeführt und teilweise vom achteckigen Treppentürmchen überdeckt. Die krabbenbesetzten Wimperge und Pfeilergiebel wirken wie eine Reminiszenz an
15 Die Gutachten zu Mittel- und Seitenschiff : DAI Labornummern C 51006 – 51017 und Gutachten Dr. Bärbel Heußner, Petershagen, vom 13.6.2010.
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8 a und b Havelberg, Dom. Hauptbaunähte zwischen den Bauphasen von 1311 d und 1386 d auf der Nord- und Südseite
die berühmte Choriner Westfassade. Das mag kein Zufall sein, der Rückbezug auf die Blütezeit der Mark ist in dieser spätgotischen Bauphase offensichtlich. Trotzdem gehören die Giebel in das letzte Viertel des 14. Jahrhunderts, wie ein Vergleich mit sicher datierten Schaugiebeln zeigt. Eine ältere Form des Pfeilergiebels findet sich beispielsweise in der Stettiner Johanniskirche (1368d), typologisch verwandt sind die Kapellengiebel der Parchimer Georgenkirche (1389d), die Schaugiebel des Friedländer Tores und des Rathauses von Grimmen (beide 1394 d). Einen weiterer Hinweis auf diese Zeitstellung gibt das Beguinenhaus, die Kapelle des nahegelegenen St.-Spiritus-Hospital in Havelberg, in dem die gleichen Formsteine wie im Nordgiebel des Domes vorkommen und dessen Errichtung urkundlich für das Jahr 1390 überliefert ist.16 Die Fertigstellung sowohl des Langhauses als auch der Querhausbekrönungen geschah offensichtlich stufenweise, darauf weisem zahlreiche horizontale wie vertikale Baufugen hin. Die Bauzeit dürfte also in die Amtszeit der Bischöfe Dietrich II. von Man (1370 – 85) und des berühmten Förderers der Wilsnacker Wallfahrt, Johann III. von Wöpelitz (1385 – 1401), gelegen haben. Um das Jahr 1387 dürften die Dachwerke
16 Eichholz/solger/Spatz 1909, S. 121 f.
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aufgeschlagen worden sein. Die Entstehungszeit des berühmten Sandsteinlettners am Beginn des Chores wird in der Zeit um 1396 vermutet und dürfte den Höhepunkt des künstlerischen Engagements von Bischof Wöpelitz bezeichnen. Exkurs : Die Obergadenfenster
Heute überschneiden die Seitenschiffsdächer teilweise die Obergadenfenster, sodass es Probleme mit der Wasserabführung gibt. Wie oben erläutert, hat sich die Dachwerksgeometrie seit dem Mittelalter aber nicht nennenswert verändert. Was ist also geschehen ? Hier ein Lösungsansatz : Im Zuge des hochgotischen Umbaues von 1311d waren die Obergadenfenster tiefer hinabgezogen, die Firsthöhe der quergestellten Satteldächer gab noch einen guten Meter Spielraum. Über den westlichen Seitenschiffsjochen befand sich noch ein flach geneigtes Pultdach als provisorisch wiederhergestellter Zustand aus der Zeit nach dem Brand von 1279. Auch hier reichten die Obergadenfenster tiefer hinab. Während des Umbaues von 1386 musste der untere Fensterbereich dann vermauert werden, um den korrekten Anschluss des neuen Pultdaches zu ermöglichen. Dieser Zustand währte bis zur Restaurierung 1840 – 42.17 Die ursprünglich zweibahnigen Fenster wurden hierbei dreibahnig umgestaltet, ihre Länge maximiert, indem die Sohlbänke nunmehr bündig mit dem Dachfirst abschlossen. Weil aber bei unterschiedlicher Firstlinie (aufgrund von Sackungen, Neuverzimmerung 1841 etc.) und der identischen Länge aller Fensterfelder es zu Überschneidungen mit den Sohlbänken kam, gibt es hier seitdem Probleme. Die einzige Lösung scheint die behutsame Korrektur dieses historischen Baufehlers zu sein, indem die Fenstervermauerung wieder etwas erhöht wird. Instandsetzungsphasen
Im westlichen Dachbereich, exakt die ersten zehn Vollgespärre, wurden um das Jahr 1674 sämtliche Dachbalken ausgewechselt. Offensichtlich war der Zwickelbereich von Turm, Westflügel und Seitenschiff besonders geschädigt, die Jahre des Dreißigjährigen Krieges dürften in jedem Fall zu mangelndem Bauunterhalt geführt haben, sodass eine gründliche Reparatur fällig wurde. Dabei sind in diesem Zuge auch manche Gespärre neu aufgeschlagen worden, mit erneuerten Streben. Welchen Zusammenhang es mit dem Westflügel und dem nahegelegenen Aufzug darin gibt, muss hier offenbleiben.
17 Zur Restaurierungsgeschichte des 19. Jahrhunderts und den teilweise erheblichen Eingriffen in die historische Bausubstanz vgl. Reichel 1998.
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9 Havelberg, Dom. Querschnitt des Langhauses
In den Jahren 1840 und 1841 kam es zu umfangreichen Dachreparaturen in Havelberg. Insbesondere das Mittelschiffsdach mit den Querhausdächern wurden vollständig erneuert, dabei fanden verhältnismäßig wenig mittelalterliche Eichenhölzer von 1311 Wiederverwendung. Das neue Dachwerk aus Kiefernhölzern erstreckt sich exakt bis zur Grenze zwischen hochgotischer und spätgotischer Bauphase, wobei letzteres Dachwerk vollständig im Gefüge erhalten ist. Offenbar war die ältere Konstruktion labiler und schadhafter (ggf. einfaches Kreuzstrebendach ohne weitere Längsaussteifung), sodass man sich zur Neuerrichtung entschloss. Gleichzeitig wurden die beiden östlichen Seitenschiffsjoche mitsamt dem Zwickelbereich zum Ostflügel durch neue Gespärre überdeckt. Die ältere Lösung führte hier zu einer Grabenrinne am Nordgiebel des Konventsgebäudes. Dieser blendengeschmückte Giebel stand also frei, das Pultdach schloss bündig mit dem Querarm ab. Wie man aber an den alten Ortgangspuren ablesen kann, gab es ein Pultdach bereits früher – während der hochgotischen Bauphase mit den quergestellten Satteldächern schloss das Dach somit bündig an den Ostflügel an. Die neuen Kiefernhölzer stammen aus der Umgebung und von 1840 (d), sind also 1841 verbaut. Dazu passen Der Havelberger Dom
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10 Havelberg, Dom. Blick in das Langhausdachwerk von 1386 nach Osten
11 Havelberg, Dom. Südliches Seitenschiff, vollständig original erhaltenes Gespärre 26
12 Havelberg, Dom. Südliches Seitenschiffs dach, Blick nach Westen, Zustand vor der Sanierung von 2011
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13 Havelberg, Dom. Ansicht des Südquerarmes mit Pfeiler giebelvor der jüngsten Sanie rung und T eilverputzung des Natursteinmauerwerks
14 Havelberg, Dom. Giebel des Nordquerarmes mit Eulen turm
die Nachrichten von Baukondukteur Herzer, beispielsweise im Monatsrapport vom März/April 1841.18 »Maurer, Zimmerer und Dachdeckerarbeiten im Gange, Mittelschiffsdach vollständig eingedeckt, Nordseitenschiff mit Dachsteinen belegt, Zinkdachfenster eingebaut, Südschiff, Zimmerer im südlichen Seitenschiff zugange (Turmseite neuer Dachverband), Turm im Inneren zum großen Teil hergestellt.« Im November
18 Mitteilung von Antje Reichel, Prignitz-Museum Havelberg, der ich für diese Angaben danke. Rep. 2A WP 775.
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15 Neubrandenburg, F riedländer Tor. Stadtseitiger Schaugiebel von 1394
16 Grimmen, Rathaus mit Schaugiebel von 1394
17 Parchim, St. Marien. Originaler Chorgiebel um 1400 vor seiner Zerstörung, Aufnahme um 1890
schreibt er : »Portal zum Turm fertig aufg emauert, Turmtreppe hergestellt, Mönchsstube ist hergestellt, einschließlich Giebel.« Die Turmtreppe und der Eingang beziehen sich tatsächlich auf den südlichen Seitenschiffs-Dacheingang. Diese ursprüngliche romanische Öffnung befand sich bis dahin im südwestlichsten Gewölbezwickel, von wo aus die Dachbalkenebene über eine Stiege erreicht werden konnte. Spuren eines Wechsels dafür lassen sich noch auf den ersten beiden Dachbalken finden. Die alte Öffnung wurde vermauert, dafür ein neuer Zugang von der Turmseite her in das romanische Mauerwerk eingebrochen. Für die turmseitige Treppe wurden Hölzer von 1386 wiederverwendet, mit Blattsassen und gerissenen Abbundzeichen – also offenbar Sparrentei-
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18 Havelberg, Kapelle des St.-Spiritus-Hospitals von 1400(u), Südseite
le aus dem östlichen Dachbereich. Die Backsteinformate sowie Mörtel und Verband verweisen das Portal ebenfalls in die Bauphase um 1841. Gleiches gilt auch für die Treppe zum südlichen Laufgang mitsamt den Veränderungen am Durchgang. Die Veränderungen der Dachkonstruktionen waren grundsätzlicher Natur. Bestand die mittelalterliche Konstruktion nur aus Einzelgespärren, ohne jede Längsaussteifung, so wird die Ständerebene jetzt als Wandgerüst mit Schwelle, Riegeln und Rähm ausgeführt. Die Gebinde bestehen teilweise aus zweitverwendeten Balken, verfügen aber nur noch über eine Strebe zur Queraussteifung. Im 20. Jahrhundert kam es vereinzelt zu einfachen Reparaturen, einigen Ersetzungen, davon wiederum die meisten im Zuge einer Neueindeckung im Jahre 1992. Zusammenfassung
Baugeschichtlich wird durch die Untersuchung die These von der Mehrphasigkeit des gotischen Domumbaues erhärtet und präzisiert. Demnach hatte es sich bei der Wiederherstellung des Gebäudes nach dem Brand von 1279 nur um eine provisorische Maßnahme gehandelt, von der keine gestaltprägenden Formen erhalten blieben. Die Umbauten wie Chorpolygon, Strebepfeiler, Veränderung der Fenster und Portale, Innengestaltung mit einem gotischen Aufrisssystem inkl. Einwölbung – sie alle lassen sich den beiden Hauptbauphasen von ca. 1311 und ca. 1387 zuordnen. Die abgetreppte Bauphasengrenze befindet sich in Höhe des sechsten Joches von Der Havelberger Dom
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19 Havelberg, Dom. Formsteindetails der St.-Spititus-Kapelle
20 Havelberg, Dom. Formsteindetails am Nordgiebel des nördlichen Querarmes
West. Innerhalb der Bauphasen sind (insbesondere im Hochschiffbereich) wiederum noch einzelne Bauabschnitte zu beobachten, die noch weiterer Erforschung bedürfen. Beim südlichen Havelberger Seitenschiffsdach handelt es sich um eines der wenigen erhaltenen mittelalterlichen Seitenschiffsdächer in Norddeutschland. Seitenschiffsdächer von Basiliken, die oft als Pultdächer ausgeführt wurden, sind höheren Belastungen ausgesetzt als die Mittelschiffsdächer. Die dem Havelberger Dom in Bauvolumen und Bedeutung vergleichbaren Bauten wie der Schweriner Dom und das Doberaner Münster haben neuzeitliche Dächer, auch die Rostocker Marienkirche ist dort weitgehend erneuert, und auf der Stralsunder Nikolaikirche gibt es nur noch ein kleines Feld über dem Kapellenkranz. Das Havelberger Pultdach stammt noch zum überwiegenden Teil aus der mittelalterlichen Erbauungszeit von 1387. Von insgesamt zehn Jochen gehören noch sieben in ihren Gespärren weitestgehend in das Mittelalter. Die Kiefern, bis auf wenige zweitverwendete Bauteile barocken Ursprungs, gehören zu einer Reparatur von ca. 1842. Abschließend lassen die neuen Beobachtungen und Datierungen die gotische Umbaugeschichte in einem neuen Licht erscheinen. Die detaillierten Bauphasen exakt zu analysieren und zu dokumentieren, sollte eine Aufgabe für die Forschungen der Zukunft sein. Mit diesen Erkenntnissen sollte dem Mosaik ein weiterer Stein hinzugefügt werden.
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Literatur Dehio 2002 : Dehio, Georg : Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Sachsen-Anhalt I : Regierungsbezirk Magdeburg, bearbeitet von Ute Bednarz, Folkhard Cremer u. a., München, Berlin 2002. Eichholz/solger/Spatz 1909 : Eichholz, Paul ; Solger, Friedrich ; Spatz, Willi (Bearb.) : Die Kunstdenkmäler des Kreises Westprignitz (= Kunstdenkmäler der Provinz Brandenburg, Bd. 1, T. 1), Berlin 1909. Reichel 1998 : Reichel, Antje : Die Restaurierungen am Havelberger Dom im 19. Jahrhundert, in : Denkmalpflege in Sachen-Anhalt 2, 1998, S. 149 – 157. Rogacki-Thiemann 2007 : Rogacki-Thiemann, Birte : Der Magdeburger Dom St. Mauritius et St. Katharina, Petersberg 2007. Schmitt 1997 : Schmitt, Reinhard : Zum Westbau des Havelberger Domes. Bergfried, Wehrturm oder Kirchturm ?, in : Burgen und Schlösser in Sachsen-Anhalt 6, 1997.
Bildnachweis Abb. 1 : Wolfgang Mombrei, www.fotos-aus-der-luft.de Abb. 2 : Tilo Schöfbeck, auf der Grundlage von Eichholz/Solger/Spatz 1909 Abb. 3 – 8, 10 – 15, 18 – 20 : Tilo Schöfbeck Abb. 9 aus : Eichholz/Solger/Spatz 1909 Abb. 16, 17 : Landesamt für Kultur- und Denkmalpflege, Dezernat Bau- und Kunstdenkmalpflege, Bildarchiv
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