\"Der Dekalog (Dtn 5,6-21): Eine Sachanalyse.\" In: Volker Garske und Bernhard Lang, Die Zehn Gebote (EinFach Religion; Paderborn: Schöningh 2015), S. 18–40.
Bernhard Lang, Der Dekalog (Dtn 5,6-21): Eine Sachanalyse. In: Volker Garske und Bernhard Lang, Die Zehn Gebote. Dtn 5,6-21 (EinFach Religion; Paderborn: Schöningh 2015), S. 18-40. Der Dekalog (Dtn 5,6-21): Eine Sachanalyse Bernhard Lang /S. 18:/ Wer sich mit den Zehn Geboten beschäftigt, befasst sich mit einem der bekanntesten und einflussreichsten Bibeltexte. Fast jeder hat eine ungefähre Vorstellung von einer Zehnerliste von Bestimmungen, die mit „du sollst“ oder „du sollst nicht“ beginnen. Das Wissen um den genauen Inhalt und erst recht das Wissen um den historischen Ursprung des Dekalogs ist heute eher gering. Wir leben nicht unter bibelfesten Zeitgenossen. Ziel der nachfolgenden Ausführungen ist die Bereitstellung aller Grundinformationen, die ein angemessenes Verständnis des Dekalogs ermöglichen. Unter „Dekalog“, gleichbedeutend mit „die Zehn Gebote“, wollen wir, dem üblichen Sprachgebrauch folgend, eine in der Bibel zweimal (mit geringen Unterschieden) überlieferte Liste von Geboten und Verboten verstehen. Nach der biblischen Erzählung stammt diese Liste vom Gott Israels selbst. Das Buch Exodus führt nicht nur den Wortlaut der göttlichen Mitteilung an (Ex 20), sondern erzählt, wie es zu dieser Offenbarung kam und für wen sie bestimmt ist. In einem erzählerischen Rückblick auf das Offenbarungsereignis wird der Wortlaut im Buch Deuteronomium – mit geringer Abweichung – wiederholt (Dtn 5). Schon an der Doppelüberlieferung des Textes lässt sich die Bedeutung ablesen, die dem Dekalog bereits in biblischer Zeit zugemessen wurde. Wir beginnen unsere Darlegungen mit einem Blick auf den biblischen Bericht von der Offenbarung des Dekalogs. 1. Der biblische Bericht von der Offenbarung der Zehn Gebote Das Buch Exodus erzählt folgende Geschichte: Die Israeliten sind in Zeiten einer Hungersnot aus Palästina nach Ägypten gekommen. Auf Geheiß des ägyptischen Königs werden sie unterdrückt. Sie werden zu Frondiensten beim Bau einer Stadt herangezogen, und ihren neugeborenen Knaben droht der Tod. Als Säugling von seiner Mutter ausgesetzt, hat Mose das Glück von der Tochter Pharaos gefunden, gerettet und adoptieret zu werden. Doch als Erwachsener fällt er in Ungnade, als er einen die Hebräer plagenden ägyptischen Arbeitsaufseher erschlägt. Moses Aufstieg zum Führer der Hebräer beginnt außerhalb Ägyptens, im Land Midian, wohin er flieht, um bei einem Priester als Hirte zu dienen. Dort offenbart sich ihm der Gott der Hebräer in einem brennenden Dornbusch und erteilt ihm den Auftrag, sein Volk aus Ägypten herauszuführen und in ein Land zu bringen, wo Milch und Honig fließen. Nach Ägypten zurückgekehrt, gelingt es Mose, seine Forderung dem König vorzutragen, doch zunächst ohne Erfolg. Nach Auseinandersetzungen gelingt es den Hebräern schließlich, das Land zu verlassen – nach der Einen Überlieferung mit Pharaos Erlaubnis, nach der anderen in heimlicher Flucht. Die Flucht zieht Verfolgung nach sich, doch Gott rettet das Volk, indem er die ägyptischen Verfolger in einem See ertrinken lässt, während die Hebräer diesen trockenen Fußes durchqueren. Geführt von Mose ziehen nun 600 000 Israeliten durch die Wüste, dem von Gott als Besitz verheißenen Land Palästina entgegen. Es ereignen sich verschiedene Wunder, ohne die das Volk in der Wüste nicht überleben könnte: Mose schlägt Wasser aus
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einem Felsen, plötzlich auftretende Wachtelschwärme liefern Fleisch. Das größte Wunder der Wanderung ereignet sich während des Aufenthalts am Fuße eines mächtigen Berges in der Wüste Sinai. Nach einer Vorbereitung führt Mose das Volk an den Berg heran. Gottes Anwesenheit zeigt sich in Rauch, der aus dem Berg aufsteigt, in Donnergrollen und Erdbeben. Gottes Stimme ertönt und verkündet die Zehn Gebote. Das Volk /S. 19:/ aber bekommt Furcht vor Gott. Es will fortan nicht mehr Gottes Stimme unmittelbar hören, sondern nur die vermittelnde, Gottes Gesetz überbringende Stimme Gottes. Und so geschieht es auch. Mehrmals besteigt Mose den Berg, um immer wieder weitere Gesetze zu erhalten. Nach einer ersten Mitteilung solcher Gesetze an das Volk zeichnet Mose das von Gott erlassene Gesetz auf, errichtet am Fuß des Berges einen Altar, lässt dort Opfer darbringen. Mit dem Blut der Opfertiere wird nicht nur der Altar besprengt, sondern auch das anwesende Volk, das Gesetz wird vorgelesen, und das Volk akzeptiert das göttliche Gesetz. Auf diese Weise schließt Gott einen Bund mit dem Volk. Im Bibeltext ist das Geschehen nur angedeutet, doch der Sinn des Bundesschlusses ist erkennbar: Gott verheißt seinen Schutz, während das Volk verspricht, Gottes Geboten treu zu bleiben. Soweit der Zusammenhang, in dem der Dekalog im Buch Exodus eingeführt wird. Im Buch Deuteronomium wird die Geschichte des Mose und der Wüstenwanderung des Volkes zu Ende geführt. Alt geworden, versammelt Mose das Volk um sich. In einer langen Rede legt er den Israeliten die Liebe zu Gott ans Herz sowie den Gehorsam gegenüber dem in der Wüste geoffenbarten göttlichen Gesetz. Viele Rechtsbestimmungen werden zu diesem Zweck in Erinnerung gerufen und erläutert. Auch die Zehn Gebote werden wiederholt, und strenge Strafen für Verstöße gegen Gottes Gesetz werden angedroht. Das letzte von Mose erlassene Gesetz betrifft die regelmäßige öffentliche Vorlesung des gesamten Gesetzbuches (nämlich des Deuteronomiums) vor der Gemeinde. Als Zeitpunkt dafür wird das Herbstfest (Erntefest) jedes siebten Jahres festgelegt. In seinem 120. Lebensjahr, dem vierzigsten Jahr der Wüstenwanderung, stirbt Mose im Ostjordanland, auf dem Berg Nebo gegenüber von Jericho, einem Berg, von dem aus er das verheißene Land schauen kann. Ein Detail der erzählerischen Ausgestaltung ist noch nachzutragen: die Erwähnung steinerner Tafeln, auf die Gott – oder Mose – die Gebote geschrieben hat. Tatsächlich wird mehrmals mitgeteilt, Gott habe die Tafeln mit den Geboten eigenhändig geschrieben und dann Mose übergeben. Das steht ausdrücklich im Buch Deuteronomium (Dtn 5,22; 9,10; 10,2) und im Buch Exodus (Ex 24,12; 31,18). Zweimal wird im Buch Exodus mitgeteilt, Mose – und nicht Gott – habe den Wortlaut aufgeschrieben (Ex 24, 4; 34,27-28); hier, wie oft im Buch Exodus, ist die Erzählung uneinheitlich. Die biblischen Erzähler haben großes Interesse an diesen Tafeln. Sie berichten einmal vom genauen Aussehen der Tafeln: Die Tafeln sind beidseitig mit eingeritzten Schriftzeichen beschrieben (Ex 32,15-16). Sie berichten weiter, wie Mose, als er mit den Tafeln vom Gottesberg herabkam, im Zorn über das Volk Israel geriet, als er schon von weitem sah, was während seiner Abwesenheit geschehen war: Unter der Leitung seines Bruders Aaron haben die Israeliten ein goldenes Stierbild – das Goldene Kalb – hergestellt, dessen Fertigstellung sie durch Tänze feierten. Das Stierbild jedoch missfiel Mose, da es gegen das Bilderverbot verstieß. Erzürnt zerbrach Mose die Tafeln – offenbar zum Zeichen des Bundesbruchs, dessen sich Israel durch sein Handeln schuldig gemacht hat. Immerhin wird dann erzählt, Mose habe von Gott neue Tafeln bekommen, und diese seien in der „Bundeslade“ verwahrt worden, einem verzierten Holzkasten, der auf der Wüstenwanderung in einem Kultzelt seinen Platz fand.
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2. Wie ist der biblische Bericht zu beurteilen? Forschungsgeschichte und heutiger Stand der Forschung Bis in die Neuzeit galt der gesamte biblischen Bericht als von Mose selbst aufgeschrieben oder diktiert und damit als glaubwürdiges historisches Zeugnis über einen ungewöhnlichen, für die Menschheitsgeschichte einmaligen Vorgang: Gott selbst hat sich einem Volk /S. 20:/ direkt geoffenbart, indem er mit diesem Volk und vor allem mit dessen führendem Vertreter, mit Mose, gesprochen hat. In alten Bibelausgaben findet man manchmal noch die für die Offenbarung am Berg Sinai (im 17. Jahrhundert) errechneten Daten: Die Offenbarung am Sinai habe im Jahr 1491 v. Chr., die Abschiedsrede des Mose nach vierzigjähriger Wüstenwanderung im Jahr 1451 v. Chr. stattgefunden. Das an letzter Stelle genannte Jahr sei auch das Todesjahr des Mose gewesen. Gestützt wurde diese Auffassung durch zwei theologische Lehren: die Irrtumslosigkeit der Bibel und die Inspiration. Unter Inspiration verstand man die Leitung der biblischen Autoren durch den Heiligen Geist. Die Zeit der Aufklärung Unter den Gebildeten des 18. Jahrhunderts machten sich erhebliche Zweifel am Geschichtswert der biblischen Erzählung breit. Nicht Gott, sondern Mose galt als Urheber der Zehn Gebote. Mose konnte dementsprechend als kluger Gesetzgeber gefeiert oder als Betrüger getadelt werden – als Betrüger nämlich, der seine politische Führerschaft dadurch befestigte, dass er dem leichtgläubigen Volk einen göttlichen Ursprung der von ihm eingeführten Gesetze vorspiegelte. Auch die Uneinheitlichkeit und Verworrenheit des biblischen Berichts kam Lesern wie Goethe zum Bewusstsein. Ein typisches Dokument der frühen Bibelkritik ist Goethes kleine Schrift Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen, zum erstenmal gründlich beantwortet von einem Landgeistlichen in Schwaben (anonym gedruckt 1773). Nach Goethe haben die Bundestafeln vom Sinai nur Kultgesetze des jüdischen Volkes enthalten und nicht die ethischen Lebensregeln des Dekalogs. Den ursprünglichen kultischen Dekalog fand Goethe in Exodus 34; dieser Text sei zwar weiter überliefert worden, doch im Laufe der Redaktionsgeschichte der biblischen Textes durch den bekannten Dekalog (Ex 20) verdrängt worden. Wie Goethe dachten damals viele: Die biblische Erzählung enthält Historisches, das mit Nichthistorischem vermischt ist; außerdem seien ältere, zuverlässige Berichte durch nachträgliche Textbearbeitung verschlimmbessert worden. Die klassische Pentateuchkritik Typisch für die Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts ist die Annahme, die biblische Erzählung sei im jetzigen Text aus mehreren ursprünglich selbständigen und jeweils in sich literarisch schlüssigen alten Schriften zusammengebastelt. Mit viel Fleiß versuchte man, diese alten Schriften im genauen Wortlaut zu rekonstruieren. Die Geschichte des Auszugs aus Ägypten und der Offenbarung am Sinai fand man in vier verschiedenen Quellen: (1) In einer Schrift, die einem Verfasser mit dem Kunstnamen „Jahwist“ zugeschrieben wurde, steht ein kultischer Dekalog (Ex 34). Datierung: frühe Königszeit Israels, vielleicht 10. oder 9. Jahrhundert v. Chr. (2) Beim „Elohisten“ waren sich die Ausleger uneins. Nach den einen enthielt dieses Werk eine Vorform des (später erweiterten) Dekalogs in Exodus 20; nach anderen gab es nach diesem Dokument am Sinai zwar eine Begegnung zwischen Gott und Volk, doch keine Gesetzgebung. Vielleicht 8. Jahrhundert v. Chr. (3) Im Deuteronomium steht der Dekalog an der Spitze (Dtn 5). Das Buch mag aus dem ausgehenden 7. Jahrhundert stammen und mit einer die Alleinverehrung Jahwes fördernden Religionsreform des Königs Joschija von Juda (ca. 623 v. Chr.) zu tun haben. (4) Die Priesterschrift berichtet von einer
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Gesetzesoffenbarung am Sinai, doch diese bestand in der Anleitung zum Bau eines Zeltheiligtums. Einen Dekalog enthält die Priesterschrift nicht. Entstanden im 5. Jahrhundert v. Chr. Über die Entstehung der Zehn Gebote wurden allerlei Überlegungen angestellt. Sie liefen auf folgende Hypothese hinaus: In der Frühzeit des Volkes Israel gab es regelmäßige Feste, zu denen sich Vertreter der Stämme Israels versammelten; auf solchen Festen wurde von einem Gesetzessprecher Gottesrecht proklamiert, und zwar in der Form einer Reihe kultischer Bestimmungen wie sie Exodus 34 überliefert sind. Von da kam ein kultischer Dekalog in die Erzählung von Exodus und Sinai. Der uns bekannte ethische Dekalog dagegen ist ein alternativer Dekalogtext, der einige kultische durch ethische Bestimmungen ersetzt und den alten kultischen Dekalog schließlich aus der Mitte der Sinaierzählung an deren Rand gedrängt hat. /S. 21:/ Spiegelt sich in der Exodus- und Sinaierzählung der verschiedenen Quellenschriften echte historische Erinnerung? Die von den meisten Forschern gegebene Antwort lautete: Um 1200 v. Chr. könnte es einen Auszug einiger Hebräer aus Ägypten gegeben haben. An einem solchen Geschehen war jedoch nicht das ganze Volk beteiligt. Ob Mose eine historische Gestalt war oder ein Held der Legende, ist nicht zu entscheiden. Eine Offenbarung am Berg Sinai hat es nicht gegeben; diese Überlieferung ist eher eine erzählerische Konstruktion. Die heutige Forschung Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, zehrt die Forschung von der klassischen Pentateuchkritik, ohne von deren Interpretationen jedoch in allen Einzelheiten zu folgen. Folgende Überzeugungen sind unter heutigen Forschern weit verbreitet: Die Erzählung: Legende und Dichtung, nicht Geschichte! Die Erzählung vom Auszug aus Ägypten und von der Gottesoffenbarung am Berg Sinai gilt heute als Legende. Zwar mag sich in der Geschichte vom Auszug aus Ägypten noch historische Erinnerung spiegeln, aber historische Fakten lassen sich der Erzählung nicht entnehmen. Demnach hat es auch die Dekalogtafeln in Wirklichkeit nie gegeben. Die Datierung: Perserzeit, nicht Königszeit! Die Erzählungen des Pentateuchs und die rechtlichen Bestimmungen, einschließlich dekalogischer Gebotsreihen, spiegeln die Erzählund Rechtskultur des Judentums der Perserzeit (ca. 550–330 v. Chr.), d.h. der Zeit nach dem Verlust staatlicher Existenz des biblischen Volkes. Diese Neubewertung stellt alle früheren Datierungen, die ja bis ins 10. Jahrhundert v. Chr. zurückreichen, in Frage. Alle diese perserzeitlichen Texte dienen dazu, der damals entstehenden, sich nicht auf Staat und Königtum stützenden jüdischen1 Volk eine Identität zu geben und eine religiöse Lebensordnung zu begründen. Der Dekalog bildet ein außerordentlich lehrreiches Beispiel für einen Text, der das Leben des Volkes ordnen und religiöse Identität stiften will. Fragt man nach einem ungefähren Entstehungsdatum des Dekalogs, halte ich [B. L.] die Angabe „ca. 500 v. Chr.“ für vertretbar. 1
Zum Sprachgebrauch: Es ist üblich, zwischen dem „alten Israel“ und Israeliten einerseits und dem „Frühjudentum“ und Juden andererseits zu unterscheiden. Als „altes Israel“ bezeichnet man das Volk der Bibel in der Königszeit (und zuvor in der legendären Zeit des Mose, des Auszugs aus Ägypten, der Wüstenwanderung usw.); von „Juden“ und „Frühjudentum“ dagegen spricht man seit der Perserzeit, d.h. dem 6. Jahrhundert v. Chr. Das Frühjudentum wird um 200 n. Chr. vom klassischen Judentum abgelöst; um 200 entstand die Mischna, ein Gesetzbuch, das erste große literarische Zeugnis des nachbiblischen Judentums. Für unseren Zusammenhang bedeutet das: Nach der Auffassung des vorliegenden Aufsatzes stellt der Dekalog sehr wahrscheinlich ein Zeugnis des Frühjudentums da, kein Zeugnis des alten Israel.
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Der Stil: Nicht Protokoll einer Offenbarung, sondern Offenbarungsdichtung im Stil der Propheten! Der Dekalog gehört zur Offenbarungsdichtung.2 Gemeint ist dies: Eine Offenbarung am Sinai, bei der Gott persönlich auftrat und in hebräischer Sprache seine Gebote diktierte oder selbst niederschieb, hat es nie gegeben. (Nur in einem Theaterstück könnte Gott „persönlich“ erscheinen – in Gestalt eines menschlichen Schauspielers.) Geläufig ist den alten Israeliten jedoch die Vorstellung vom „redenden Gott“. Die Propheten der alten Zeit – der Königszeit Israels – haben sich als von Gott beauftragte Sprecher gewusst. Ein Beispiel älterer prophetischer Mitteilung lautet: „So spricht Jahwe: Wegen der drei Verbrechen, die Israel beging, wegen der vier nehme ich es nicht zurück: Weil sie den Unschuldigen für Geld verkaufen und den Armen für ein Paar Sandalen, weil sie den Kleinen in den Staub treten ... Seht, ich lassen den Boden unter euch schwanken, wie ein Wagen schwankt, der voll ist von Garben. Dann gibt es auch für den Schnellsten keine Flucht mehr ...“ (Am 2,6-16, gekürzt). Eine jüngere prophetische Mitteilung hat folgenden Wortlaut: „So spricht Jahwe, /S. 22:/ dein Erlöser, der Heilige Israels: Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich lehrt, was Nutzen bringt, und der dich auf den Weg führt, den du gehen sollst. Hättest du doch auf meine Gebote geachtet! Dein Glück wäre wie ein Strom, und dein Heil wie die Wogen des Meeres“ (Jes 48,17-18). Von solcher Sprache angeregt, heißt es am Anfang des Dekalogs: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.“ Der Inhalt: Nichts Neues, sondern das Erbe der prophetischen Botschaft. Der religiöse wie der ethische und rechtliche Inhalt der Dekaloggebote lässt sich auf die Propheten der Königszeit Israels (9.-7. Jahrhundert v. Chr.) zurückführen. Die im Dekalog geforderte Alleinverehrung Jahwes wird zum ersten Mal im 8. Jahrhundert vom Propheten Hosea gefordert. „Ich aber, ich bin Jahwe, dein Gott, seit der Zeit in Ägypten; du sollst keinen anderen Gott kennen als mich. Es gibt keinen Retter außer mir“, lässt Hosea seinen Gott sprechen (Hos 13,4). Israels Propheten haben oft die Verletzung von Grundrechten in der Gesellschaft ihrer Zeit angeprangert. Bei Hosea heißt es: „Fluch und Betrug, Mord, Diebstahl und Ehebruch machen sich breit, Bluttat reiht sich an Bluttat“ (Hos 4,2). Jeremia zählt als Sünden des Volkes auf: Diebstahl, Mord, Ehebruch, falsches Schwören; er fügt noch religiöse Vergehen hinzu: Verehrung des Baal durch das darbringen von Opfern, Verehrung weiterer Götter (Jer 7,9). 3. Arbeitsübersetzung des Dekalogs Bevor wir uns der Entstehung und Interpretation des Dekalogs zuwenden, ist es nötig, dafür eine verlässliche Textgrundlage bereitzustellen. Dafür greifen wir auf die Fassung zurück, die im Buch Deuteronomium überliefert ist, denn diese Fassung scheint mir die historisch ältere zu sein. Dieser Text ist genau zu übersetzen. Da die Wiedergabe der Einheitsübersetzung nicht voll befriedigt, wird sie nachstehend kommentiert. Wortlaut des Dekalogs (Dtn 5), Sprachliche Bemerkungen Einheitsübersetzung 6 Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. 7 Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. 7 „Du sollst...“: im Hebräischen steht die 8 Du sollst dir kein Gottesbildnis machen, das gewöhnliche Befehlsform „habe nicht“; die 2
B. Lang, Der redende Gott. Erfahrene und erfundene Offenbarung im Alten Testament, in: J. Assmann und H. Strohm (Hg.), Orakel und Offenbarung. Formen göttlicher Willensbekundung, München 2014, 181–208.
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irgendetwas darstellt am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.
Wiedergabe „du sollst ...“, die umständlich und feierlich klingt, stammt aus Luthers Übersetzung. Das Hebräische hat hier wie bei allen Verboten des Dekalogs die gewöhnliche Form des verneinten Imperativs. Es kann also immer übersetzt werden: Habe keine anderen Götter! Mache dir kein Gottesbildnis! Usw. – „andere Götter“: Im Hebräischen bedeutet dasselbe Wort (elohim) zugleich „Gott“ und „Götter“; das pluralische Adjektiv stellt die Bedeutung „Götter“ sicher; daher ist auch die einfache Übersetzung „Götter“ möglich.
9 Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen und an der dritten und vierten Generation; /S. 23:/ 10 bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld.
9 „vor anderen Göttern“: Im Hebräischen heißt es „vor ihnen“. – „der Herr, dein Gott“: im Hebräischen „Jahwe, dein Gott“ (wie oben, V. 6). – „eifersüchtiger Gott“: das hebräische Wort qannâ bedeutet nicht „eifersüchtig“, sondern „zornmütig“ und wird für die kriegerische, draufgängerische Seite Jahwes als Kriegsgott gebraucht; hier /S. 23:/ bedeutet es ungefähr „leidenschaftlich emotional“ im Hassen wie im Lieben. – „Tausenden“: das hebräische Wort hat hier die Bedeutung „Gruppe, Gemeinde (im Blick auf die Zahl, nicht auf die familiäre Bindung)“. – „Schuld der Väter“: prägnanter wäre „Frevel der Väter“.
11 Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht.
12 Achte auf den Sabbat: Halte ihn heilig, wie es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht hat.
12 Sabbat: hebräisch „Tag des Sabbats“. – „der Herr, dein Gott“: hebräisch „Jahwe, dein Gott“. – „wie es dir...“: Es liegt nicht unbedingt ein Rückverweis auf eine andernorts gegebene Regel vor; daher besser: „halte ihn heilig. Dies gebietet dir Jahwe, dein Gott: ...“
13 Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. 14 Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Rind, dein Esel und dein ganzes Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. Dein Sklave und deine Sklavin sollen sich ausruhen wie du. 15 Denk daran: Als du in Ägypten Sklave warst, hat dich der Herr, dein Gott, mit starker Hand und hoch erhobenem Arm dort herausgeführt. Darum hat es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht, den Sabbat zu halten.
14 Ruhetag: hebräisch jom ha-schabbat, also „Tag des Sabbats“, wie V. 12. „Ruhetag“ ist eine Deutung, keine Übersetzung des Wortes schabbat. – „dem Herrn, deinem Gott geweiht“: hebräisch nur „für Jahwe, deinen Gott“. – „Stadtbereiche“: hebräisch ist vom „Stadttor“ die Rede; wörtlich: „dein Fremder in deinen Stadttoren“. Das Stadttor repräsentiert die ganze Stadt. 15, 16 „der Herr, dein Gott“ (mehrmals): hebräisch „Jahwe, dein Gott“. 15 In der Exodus-Fassung wird das Sabbatgebot anders begründet: „Denn in sechs Tagen hat Jahwe Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat Jahwe den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt“ (Ex 20,11). In Ex 20,8-11 ist das Wort „Tag“ siebenmal verwendet, nach der Zahl der Wochentage.
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16 Ehre deinen Vater und deine Mutter, wie es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht hat, damit du lange lebst und es dir gut geht in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt. 17 Du sollst nicht morden, 18 du sollst nicht die Ehe brechen, 19 du sollst nicht stehlen, 20 du sollst nicht Falsches gegen deinen Nächsten aussagen, 21 du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen und du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren, nicht sein Feld, seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel, nichts, was deinem Nächsten gehört.
16 „Ehre ..., wie es dir ...“: Dafür besser: „Ehre deinen Vater und deine Mutter. Dies gebietet die Jahwe, dein Gott, damit du...“. Der letzte Satz („Dies gebietet dir...“) bezieht sich nicht nur auf die Elternehrung, sondern auf alle vorangegangenen Gebote. 17 „morden“: oder „töten“.
/S. 24:/ Es scheint mir sinnvoll, der Erklärung des Dekalogs einen Text zugrunde zu legen, der die in der linken Spalte gegebenen Vorschläge berücksichtigt. Der deuteronomische Dekalogtext lässt sich – in Anlehnung an die Einheitsübersetzung, doch mit verschiedenen verbessernden Eingriffen – wie folgt wiedergeben: Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. I Du sollst neben mir keine weiteren Götter haben. II Du sollst dir kein Gottesbildnis machen, das irgendetwas darstellt am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Du sollst dich nicht vor ihnen [Göttern] niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, Jahwe, dein Gott, bin ein leidenschaftlicher Gott: Bei denen, die mir feind sind, ahnde ich den Frevel der Väter an den Söhnen und an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich der (ganzen) Gemeinde meine Huld. III Du sollst den Namen Jahwes, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn Jahwe lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht. IV Achte auf den Sabbat-Tag: Halte ihn heilig. Dies gebietet dir Jahwe, dein Gott: Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag (Sabbat-Tag) für Jahwe, deinen Gott. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Rind, dein Esel und dein ganzes Vieh und der Fremde, der in deinen Städten lebt. Dein Sklave und deine Sklavin sollen sich ausruhen wie du. Denk daran: Als du in Ägypten Sklave warst, hat dich Jahwe, dein Gott, mit starker Hand und hoch erhobenem Arm dort herausgeführt. Darum gebietet dir Jahwe, dein Gott, den Sabbat-Tag zu halten. V Ehre deinen Vater und deine Mutter. Dies gebietet dir Jahwe, dein Gott, damit du lange lebst und es dir gut geht in dem Land, das Jahwe, dein Gott, dir gibt. VI Du sollst nicht morden, VII du sollst nicht die Ehe brechen, VIII du sollst nicht stehlen, IX du sollst nicht Falsches gegen deinen Nächsten aussagen, X du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen und du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren, nicht sein Feld, seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel, nichts, was deinem Nächsten gehört. (Dtn 5,6-21, Einheitsübersetzung modifiziert)
In dieser Fassung sind noch weitere Verständnishilfen eingebaut: Der hebräische Gottesname ist fett gedruckt; die Zählung der Gebote von I bis X ist durchgeführt. Unsere Zählung weicht von der traditionellen katholischen und lutherischen Zählung ab. Diese traditionelle Zählung
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übergeht das Bilderverbot; der Verlust wird ausgeglichen, indem unser X. Gebot in zwei Teile geteilt wird. /S. 25:/
4. Kurze Erläuterung des Dekalogs Wer sich näher mit dem Dekalog beschäftigt, benötigt eine Reihe von Informationen vor allem kultur- und rechtsgeschichtlicher, aber auch religionsgeschichtlicher Art. Solche Informationen sind nachstehend zusammengestellt. Prolog Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Dtn 5,6
„Jahwe“ ist der Eigenname des Gottes Israels. Wie der Name ursprünglich ausgesprochen wurde, wissen wir nicht. Eine Alternative Aussprache, wie sie von einigen Forschern heute favorisiert wird, lautet „Jahu“. Fast alle modernen Bibelübersetzungen ersetzen den biblischen Gottesnamen in Anlehnung an die antiken Bibelübersetzungen (Septuaginta und Vulgata) durch den Ausdruck „der Herr“. Das entspricht der schon in der Antike belegten Scheu der Juden, den heiligen Gottesnamen auszusprechen. – Die Selbstvorstellung soll den Dekalog mit der Exoduserzählung fest verbinden und Gottes Anspruch auf sein Volk ausdrücken: Der Gott, der das Volk aus der Hand der Ägypter befreit hat, ist nun der Herr des befreiten Volkes. Die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei wird vom Dekalog als Herrschaftswechsel verstanden. Bisher war der ägyptische König Herr der Israeliten, der Zwangsarbeit verlangte, jetzt ist Jahwe Herr des Volkes. Für das Verständnis des Dekalogs wichtig ist die Selbstbeschreibung Gottes als Gott „der dich aus Ägypten geführt hat“. Angesprochen wird das soeben aus Ägypten befreite Volk Israel. Gott spricht nicht als Schöpfer der Welt zu allen Menschen, um allen ohne Unterschied ein universal gültiges Gesetz zu geben. Er sagt nicht: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat und die Geschicke aller Völker lenkt.“ Er richtet sich vielmehr speziell an Israel. Dadurch werden die Gebote – zumindest nach modernem Verständnis – relativiert. Sie gelten nicht von vornherein für alle Menschen. Die Zehn Gebote erheben nicht den Anspruch, eine zeitlose Schöpfungsordnung in Worte zu fassen.3 Sie sind nicht Schöpfungs-Gesetz sondern Israel-Gesetz. Diesen Gedanken kann man sich noch durch folgende Überlegung verdeutlichen: Hätten die Erfinder der Zehn Gebote diese als bindendes Gesetz für die gesamte Menschheit verstanden, dann hätten sie den Dekalog nicht in die Bücher Exodus und Deuteronomium gestellt. Sie hätten für einen universal gültigen Dekalog vielmehr das Buch Genesis gewählt, genauer: die Paradiesgeschichte. Der Dekalog wird in seinem Prolog als Israel-Gesetz und nicht als Schöpfungs-Gesetz eingeführt. – Das bedeutet für den heutigen Leser: Die Zehn Gebote bilden eine Rechts- und Lebensordnung, die in einer bestimmten historischen Situation entstanden ist; in anderen Zeiten und bei anderen Völkern können sie wertgeschätzt werden, doch ist in eben diesen anderen Zeiten von den anderen Völkern neu zu bedenken, welche Gebote für sie relevant sind und bindend sein sollen. 3
Ein Paradoxon ist an dieser Stelle zu vermerken: Tatsächlich präsentiert die Exodus-Fassung des Dekalogs den Sabbat als der Schöpfungsordnung zugehörend (Ex 20,11). Der Sabbat wurde zwar im Laufe seiner nachbiblischen Geschichte zu einer universal respektierten Institution, war dies jedoch nicht von Anfang an.
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Alleinverehrung I Du sollst neben mir keine weiteren Götter haben.
Dem Gebot „Du sollst neben mir keine weiteren Götter haben“ kommt als dem an erster, hervorgehobener Stelle genannten Gebot besondere Bedeutung zu. Eingeschärft wird die ausschließliche Verehrung Jahwes, des Gottes Israels; andere Götter werden als existierend /S. 26:/ vorausgesetzt, so dass die Religionswissenschaft von „Monolatrie“ (Alleinverehrung) und noch nicht von „Monotheismus“ (Glaube an die Existenz nur eines einzigen Gottes) spricht. Über die Herkunft der Monolatrie lassen sich nur Vermutungen anstellen. Möglicherweise stammt das I. Gebot letztlich aus dem sakralen Kriegsrecht, das im Ausnahmezustand eines Krieges die Verehrung aller Götter untersagt, mit Ausnahme jenes Kriegsgottes, in dessen Namen das königliche Heer zu Felde zieht. In Israel gilt Jahwe als der das Heer anführende „Herr des Krieges“. Bilderverbot II Du sollst dir kein Gottesbildnis machen, das irgendetwas darstellt am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Dtn 5,8
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Abb. 1. Gott. Eine bärtige, nur grob ausgeführte Gestalt, angetan mit knöchellangem Gewand, sitzt auf dem Thron, den Arm zum Segensgruß erhoben. Links oben die Mondsichel, darunter das ägyptische Henkelkreuz (anch = Lebenskraft). Als das althebräische Siegel um 700 v. Chr. entstand, war das Verbot, Gott bildlich darzustellen, noch unbekannt.
--/S. 27:/ Das Bilderverbot untersagt die Herstellung eines Kultbildes, das den Gott Israels in Gestalt eines Menschen oder eines Tieres darstellt. Zweifellos gab es in älterer Zeit solche bildlichen Darstellungen. Im Jerusalemer Tempel – dem sog. „Ersten Tempel“ der Zeit vor 586 v. Chr. – befand sich eine Statue, die Jahwe als männliche, mit langem Gewand
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bekleidete und auf einem Thron sitzende Gestalt darstellte; die Berufungsvision des Propheten Jesaja (überliefert in Jes 6) gibt uns ebenso eine Vorstellung von diesem Bild wie ein althebräisches Siegel (Abb. 1). In den Jahwetempeln des Nordreichs Israel war Jahwe in Tiergestalt dargestellt: als junger Stier, der die Stärke, Fruchtbarkeit und Kampfeslust Gottes verkörperte. Die Stierbilder verschwanden mit der Zerstörung des Nordreichs 722 v. Chr., das anthropomorphe Bild des Jerusalemer Tempels mit der Zerstörung Jerusalems im Jahr 586 v. Chr. Als der Tempel (der sog. „Zweite Tempel“) um 500 v. Chr. erbaut wurde, verzichtete man auf die Herstellung einer bildlichen Darstellung Jahwes. Wie es zu diesem Verzicht kam, der sich im Bilderverbot ausdrückt, wissen wir nicht. Hinweise finden sich im Buch Deuteronomium: Diese Schrift sieht einen im Freien stehenden, von keinem Kultbild begleiteten Altar als einzige, dem Jahwekult dienende Einrichtung vor. Da sich das Buch Deuteronomium auf eine bestimmte Priesterzunft – die Leviten – zurückführen lässt, legt sich die Vermutung nahe, die Leviten hätten, vielleicht in Erinnerung an ein bildloses Bergheiligtum, das Bilderverbot formuliert, als es zur Errichtung des Zweiten Tempels kam. Obwohl ein Tempelhaus eigentlich ausschließlich dazu dienen, ein Kultbild zu beherbergen, wurde – wohl gegen den Wunsch der Leviten – tatsächlich wieder ein Tempelhaus gebaut; doch es blieb – dem Wunsch der Leviten entsprechend, ohne Kultbild. In einem deuteronomischen Text heißt es, niemand habe die Gestalt Jahwes gesehen, als dieser sich am heiligen Berg geoffenbart hat (Dtn 4,15). Weiter lesen wir, niemand dürfe Gräuel (= Bilder von fremden Göttern) als Trophäen in das „Haus“ (= das Tempelhaus) Jahwes bringen (Dtn 7,26). So darf man die Bildlosigkeit des Zweiten Tempels als Kompromiss zwischen zwei Gruppen auffassen: Die eine wollte nur einen bildlosen Altar und kein Tempelhaus; die andere wollte ein Tempelhaus mit Gottesbild; als Kompromiss einigte man sich darauf, einen Altar zu bauen, der im Freien vor einem bildlos bleibenden Tempelhaus stand.4 Niederwerfen Du sollst dich nicht vor ihnen [Göttern] niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Dtn 5,9a
Das Verbot des sich Niederwerfens vor Göttern (und Götterbildern) ist eine Erläuterung des Gebots der Alleinverehrung und des Bilderverbots. Es wird nicht als eigene Gebot gezählt. Gottesbilder werden geehrt, indem man sich vor ihnen zu Boden wirft (sog. Gestus der Proskynese, vgl. Abb. 2), um dadurch seine Niedrigkeit anzuzeigen. Man dient den Göttern durch Opferdarbringung, was in Israel bedeutet: man weiht bestimmte Bestandteile eines getöteten Tieres (etwa eines Schafes oder einer Ziege) – besonders Kopf, Genitalien und Blut als eigentliche Träger des Lebens – einer Gottheit, um sie dann anschließend auf einem Altar zu verbrennen. /S. 28:/ --
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Zum „Bilderverbot“ vgl. B. Lang, Die Leviten. Von der Gegnerschaft einer alttestamentlichen Priesterzunft gegen Ahnenverehrung und Bilderkult, in: ders., Buch der Kriege – Buch des Himmels. Kleine Schriften zur Exegese und Theologie, Leuven, 45–82, hier 71–80.
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Abb. 2. Proskynese. In der Welt der Bibel haben sich Menschen vor Götterbildern, aber auch vor sozial Höhergestellten zum Zeichen der Unterwerfung in den Staub geworfen. Der Gestus der Proskynese wird nach diesem antiken Relief von König Jehu von Israel vor seinem Lehnsherrn, dem assyrischen König Salmanassar vollzogen. Das Relief bildet Teil der Dekoration des Schwarzen Obelisken (ca. 827 v. Chr.) im Britischen Museum.
-Frevel der Väter Denn ich, Jahwe, dein Gott, bin ein leidenschaftlicher Gott: Bei denen, die mir feind sind, ahnde ich den Frevel der Väter an den Söhnen und an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich der (ganzen) Gemeinde meine Huld.
Der Frevel, den der „leidenschaftliche Gott“ durch Strafe ahndet, ist das Zuwiderhandeln gegen Alleinverehrung und Bilderverbot. Warum ist speziell vom „Frevel der Väter“ die Rede? Legen wir den Erzählgang des Buches Exodus zugrunde, dann legt sich folgendes Verständnis nahe: Der erste, ursprüngliche Dekalog ist verloren; als Mose mit den Dekalogtafeln vom heiligen Berg herabstieg, war er über den Reigentanz empört, den das Volk vor dem Goldenen Kalb aufführte. Sowohl das Goldene Kalb selbst als auch der Reigentanz verstießen gegen das Gebot der Alleinverehrung und das Bilderverbot. Aber müsste es dann nicht heißen: „Frevel der Israeliten“? Oder „Frevel der Hebräer“? Ja, eigentlich wären solche Ausdrücke zu erwarten. Doch an dieser Stelle schimmert der zeitgenössische Bezug aus der Zeit der Entstehung des Dekalogs durch: Gemeint sind die „Väter“ oder Vorfahren der jetzt, nach der Zerstörung von Jerusalem im Jahr 586 v. Chr. lebenden Generation. Dieser Generation wirft man vor, sie habe fremde Götter verehrt und so Gottes Zornesgericht über Jerusalem und über das ganze Volk gebracht. Geschichtlich betrachtet ist der Ausdruck „Frevel der Väter“ (Einheitsübersetzung: „Sünde der Väter“) eine polemische Bezeichnung für Israels ältere, polytheistische Religion, die seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. von der Jahwe-allein-Bewegung abgelehnt und bekämpft wurde. Der Dekalog erscheint an dieser Stelle als Zeugnis einer Art Jugendbewegung, die es besser machen will als die Generation der Alten.
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Ein Gott untreues Geschlecht, auf die eine neue, Gott treue junge Generation folgt: lässt sich dieser Wechsel innerhalb der Geschichte Israels einer bestimmten historischen Situation zuordnen? Ich zweifle nicht daran, dass sich diese Frage plausibel beantworten lässt. Denn es kann sich meines Erachtens nur um einen Vorgang handeln, der durch bedeutende historische Umwälzungen gekennzeichnet ist. Die Umwälzung muss es der neuen Generation nahegelegt haben, die Generation der Alten mit harter Kritik zu belegen. Einen solchen /S. 29:/ historischen Vorgang aber stellt nur die Zerstörung Jerusalems im Jahre 586 v. Chr. dar. Die Schuld für die Zerstörung Jerusalems und die babylonische Gefangenschaft (die Verschleppung der judäischen Oberschicht nach Babylonien) wird den Alten und ihrem polytheistischen, auch in Kriegszeiten nicht unterbrochenen Kult zugeschrieben. Das Fünfgebot nennt das den „Frevel der Väter“. Nehmen wir diesen Zusammenhang ernst, dann ergibt sich auch ein Anhaltspunkt für die zeitliche Einordnung des Fünfgebots: Es muss während der Zeit des babylonischen Exils, also nach der Zerstörung Jerusalems, im 6. Jahrhundert v. Chr. entstanden sein. Der Erläuterung bedarf noch der Hinweis auf die „Vererbung“ von göttlicher Bestrafung bzw. göttlichem Wohlwollen an die Nachkommen. „Bei denen, die mir feind sind, verfolge ich den Frevel der Väter an den Söhnen und an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich der ganzen Gemeinde meine Huld.“ Warum gibt es göttliche Bestrafung bis in die dritte und vierte Generation, und Belohnung für die gesamte Gemeinde (übrigens nicht bis ins tausendste Geschlecht, wie die Einheitsübersetzung sagt)? Die Antwort ist einfach: Es leben jeweils drei bis vier Generationen gleichzeitig, denn ein Mann (1. Generation) kann nicht nur seine Söhne (2. Generation), sondern auch Enkel und Urenkel (3. und 4. Generation) noch erleben. Schuld und Erfolg werden nicht unbeschränkt allen künftigen Generationen vererbt, sondern nur jenen, die als Mitglieder des „Vaterhauses“ einer einzigen Schicksalsgemeinschaft von Erfolg und Misserfolg, Freude und Leid, Reichtum und Armut, hohem oder zweifelhaftem Ansehen angehören. Stets als Gruppe betroffen, wird das Vaterhaus von denselben moralischen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen bestimmt. Missbrauch des Gottesnamens III Du sollst den Namen Jahwes, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn Jahwe lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht. Dtn 5,11
Wem als Angeklagter keine Schuld nachgewiesen werden kann, der kann sich von der Beschuldigung unter Anrufung Gottes durch eine Eidesleistung befreien. Wer einen solchen Reinigungseid vorsätzlich falsch leistet, begeht ein schlimmes Sakralverbrechen.5 Sabbatgebot IV Achte auf den Sabbat-Tag: Halte ihn heilig. Dies gebietet dir Jahwe, dein Gott: Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag (Sabbat-Tag) für Jahwe, deinen Gott. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Rind, dein Esel und dein ganzes Vieh und der Fremde, der in deinen Städten lebt. Dein Sklave und deine Sklavin sollen sich ausruhen wie du. Denk daran: Als du in Ägypten Sklave warst, hat dich Jahwe, dein Gott, mit starker Hand und hoch erhobenem Arm dort herausgeführt. Darum gebietet dir Jahwe, dein Gott, den Sabbat-Tag zu halten. Dtn 5,12-15
Begründung des Sabbatgebots. – Hier wie überall in der vorliegenden Erläuterung wird die deuteronomische Fassung des Dekalogs zugrunde gelegt, nicht die des Exodus-Buches. Beim 5
Vgl. B. Lang, Das Verbot des Meineids im Dekalog, Theologische Quartalschrift 161 (1981) 97–105.
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Sabbatgebot ist es wichtig, sich dies ins Gedächtnis zu rufen, denn das Sabbatgebot wird im Buch Exodus anders begründet als im Buch Deuteronomium. Die Unterschiede sind die: /S. 30:/ •
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In der Exodus-Fassung (Ex 20,11) ist Gottes Ruhe nach Vollendung des Schöpfungswerks das Vorbild der Sabbatruhe. Der Sabbat erscheint als in der kosmischen Ordnung begründet. Es liegt Schöpfungstheologie vor. in der deuteronomischen Version (Dtn 5,15) werden das Mitleid mit dem Los von Sklaven und die Erinnerung an die Knechtschaft des Volkes in Ägypten zur Begründung des Gebots herangezogen. Der Sabbat stiftet eine neue soziale Ordnung – eine neue Ordnung, welche die Gleichbehandlung aller Menschen am Sabbat fordert und so auf die prinzipielle Gleichheit aller Menschen hinweist. Wie haben es mit Befreiungstheologie zu tun.
Wer im schulischen Kontext den biblischen Wortlaut des Dekalogs behandelt, wird auch deshalb die deuteronomische Fassung des Dekalogs zugrunde legen, weil die Gleichheit der Menschen nur in dieser Fassung zu finden ist. Dank seiner befreiungstheologischen (statt schöpfungstheologischen) Ausrichtung bietet der deuteronomische Dekalogtext einen didaktischen Vorteil. Herkunft des Sabbats. – Der Sabbat als wöchentlicher, d.h. alle sieben Tage wiederkehrender arbeitsfreier Tag hat zwei Wurzeln: eine religiöse und eine profane. Die religiöse Wurzel ist ein Fest, das Sabbat (schabbat) hieß und in jeder Monatsmitte gefeiert wurde, vermutlich nachts, denn in der Monatsmitte war Vollmond. Im Hebräischen ist das Wort schabbat ein Fremdwort; es ist der akkadischen (d.h. babylonischen) Sprache des Zweistromlandes entlehnt. Im Akkadischen wird mit schapattum der 15. Tag des Monats bezeichnet, der gleichzeitig – idealisiert, und nicht immer genau der Realität entsprechend – als Vollmondstag gilt. In Israel wurde in älterer Zeit an diesem Festtag offenbar nicht gearbeitet; das ergibt sich aus dem Buch Amos, wo von Händlern die Rede ist, die an diesem Tag keine Geschäfte machen können (Am 8,5). Die profane Wurzel ist das Arbeitsrecht. Das vorderorientalische Arbeitsrecht gewährt den Landarbeitern während der Zeit der härtesten Feldarbeit – beim Pflügen und bei der Ernte – jeden zehnten (so in Babylonien) oder siebten (so in Israel: Ex 23,12; 34,21) Tag als Ruhetag. Erst in spätbiblischer Zeit kam es zur Institution der Woche, die nicht nur zu einer besonderen Arbeitssaison, sondern grundsätzlich während des ganzen Jahres einen regelmäßig wiederkehrenden Ruhetag vorsieht. Dieser wöchentliche Ruhetag wurde – im Rückgriff auf den alten monatlichen Sabbat – auch als Sabbat bezeichnet. Ein religiöser Tag? – Dem Dekalog zufolge ist der Sabbat ein arbeitsfreier Tag; die arbeitsrechtlichen Regelungen werden erläutert. Eine religiöse Dimension klingt nur in der Wendung „Sabbat für Jahwe“ an. Die religiöse Komponente des Sabbatgebots bleibt sehr verhalten; ausgedrückt wird sie nur durch zwei kleine Hinweise: der Sabbat sei zu „heiligen“ und der Sabbat sei ein Tag „für Jahwe“ (und nicht „dem Herrn, deinem Gott geweiht“, wie die Einheitsübersetzung sagt). Wird eine Sache „geheiligt“, so gehört sie Jahwe und ist damit „tabu“, d.h. der freien Verfügung des Menschen entzogen. Der Sabbat gehört Jahwe, doch Jahwe, so legt es der Wortlaut des Gebots nahe, stellt nur zwei leicht zu erfüllende Forderungen auf: (1) Am Sabbat soll man Jahwes gedenken, der das Volk von der Arbeitslast der ägyptischen Fron
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befreit hat. Von religiösen Versammlungen, die man später, in neutestamentlicher Zeit, am Sabbat abgehalten hat, verlautet im Dekalog nichts. (2) Am Sabbat soll nicht gearbeitet werden. In einer Gesellschaft, deren Arbeitsleben durch Landwirtschaft bestimmt ist, ist Ruhe ein hoher Wert. Am Sabbat ruhen die Menschen tatsächlich aus. In der „Freizeit“ vollzogene Tätigkeiten, die körperlich beanspruchen, wie z.B. Sport, sind der Bibel unbekannt. Nicht nach „Freizeit“ sehnt sich der arbeitende Mensch, sondern einfach nach Ausruhen und Nichtstun. Sport kann sich nur eine Gesellschaft leisten, die eine Klasse von Menschen kennt, die nicht oder nur wenig arbeiten müssen; das war bei den alten Griechen der Fall. /S. 31:/ Der Sabbat wird in der Zeit, in welcher das Sabbatgebot in den Dekalog eingefügt worden ist, zum sichtbaren Zeichen jüdischer Identität: Wer am Sabbat nicht arbeitet, bekennt sich zum Judentum. In der späteren, weltweiten Rezeption wird der Sabbat als wöchentlicher Ruhetag zum Zeichen des Menschen schlechthin, genauer: zum Zeichen dafür, dass der Mensch nicht nur für die Arbeit da ist. Wer soll am Sabbat nicht arbeiten? – Anders als bei den übrigen Geboten wird im Sabbatgebot genau gesagt, für wen die Arbeitsruhe gelten soll – für alle. Genauer: für alle, die vom Hausherrn, dem Besitzer eines Landguts, abhängig sind und von ihm zur Arbeit herangezogen werden können. Das sind in erster Linie seine Söhne und Töchter sowie seine Sklaven oder Knechte. Bemerkenswert ist der Hinweis auf die Sklaverei des Volkes in Ägypten. Der befreite Sklave besitzt nun zwar selbst Sklaven, aber diese sollen wie ihr Herr Zeiten der Ruhe genießen. Über die Lebensverhältnisse der Sklaven im alten Israel ist wenig bekannt, weshalb manche Experten das hebräische Wort ebed lieber mit „Knecht“ als mit „Sklave“ übersetzen. Das hebräische Wort ebed bezeichnet den Menschen, der von anderen Menschen abhängig ist und dessen Freiheit dadurch eingeschränkt ist. Besonders entwürdigende Behandlung von Sklaven aus dem alten Israel sind nicht bekannt; an Verhältnisse wie im alten Rom und in der hellenistischen Welt, wo es Sklavenarbeit in Bergwerken gab, ist nicht zu denken. Doch auch die Sklaverei in der griechisch-römischen Welt darf man sich nicht nach dem anachronistischen, in moderner Romanliteratur verbreiteten Modell des Schiffes (der Galeere) vorstellen, auf dem hunderte von angeketteten Sklaven die Ruder bewegten. Der antike Sklave wurde – auch im alten Israel – als Landarbeiter oder Hausbediensteter verwendet. Genannt werden auch die Fremden: Es handelt sich um ortsansässige Fremde ohne Grundbesitz. Sie gehören nicht zum Haushalt des Hausherrn, leben jedoch am selben Ort. Vermutlich bietet der Hausherr Menschen, die in einer fremden Umgebung leben, Schutz; als Gegenleistung stehen sie ihm für bestimmte Dienste zur Verfügung, vermutlich in Zeiten intensiver Arbeiten auf dem Feld – beim Pflügen und Ernten. Oder sie verdingen sich als Landarbeiter. Auf alle Fälle gilt: auch ihnen steht das Recht auf Sabbatruhe zu. Wie steht es mit Arbeitstieren? Esel und Kamele dienten als Reittiere und Lasttiere für den Transport; Rinder wurden paarweise vor den Pflug gespannt und wohl auch beim Ausdreschen des geernteten Getreides verwendet. Rinder zogen auch Lastkarren. Der Ausbeutung der Tiere wird durch das Ruhegebot eine Grenze gesetzt; gleichzeitig spricht sich hier der Gedanke der Lebensgemeinschaft von Mensch und Haustier aus. Übrigens: Der Hund als Haustier ist in der Bibel nur einmal belegt: Tobias wird auf seiner Reise von seinem Hund begleitet (Tob 5,17). Schließlich: Warum wird die Frau im Gebot der Sabbatruhe nicht erwähnt? Warum heißt es nicht: „An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, deine Frau, dein Sohn und deine Tochter ...“?
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Die Frau wird nicht eigens erwähnt, denn es werden mit Söhnen, Töchtern, Sklaven, Fremden und Arbeitstieren nur jene genannt, über die der Hausherr verfügen kann. Seiner Frau kann der Hausherr keine Weisungen erteilen, denn sie ist im Bereich ihrer Hausarbeit selbständig und unabhängig. Ihre Sabbatruhe ist selbstverständlich. Kulturgeschichtliche Bedeutung. – (1) Der Sabbat als wöchentlicher Ruhetag hat die gesamte Welt erobert; er stellt eine Institution dar, die das menschliche Grundrecht auf Arbeitsruhe verwirklicht und die Ausbeutung abhängiger arbeitender Menschen begrenzt. (2) Das Sabbatgebot in seiner deuteronomischen Formulierung (Dtn 5) drückt eine Überzeugung aus, die in der Bibel und ihrer Welt erst allmählich in die Blick kommt: die Gleichheit aller Menschen – Erwachsene und Kinder, Männer und Frauen, Freie und Sklaven, Einheimische und Fremde, und sogar die Gleichheit von Mensch und Tier. Am Sabbat sind alle gleich und frei! Der Gedanke wird im Buch Deuteronomium noch weitergedacht: Die Gleichheit aller gilt auch bei agrarischen Festen, näm- /S. 32:/ lich am Wochenfest (= dem Fest der ersten Ernte im Frühjahr) und am Laubhüttenfest (= Erntefest im Spätherbst); an diesen Festen sollen sich alle in gleicher Weise freuen, d.h. gleichen Zugang zu den Nahrungsmitteln haben (Dtn 16,11.14). An diesen Festen gilt: „Du sollst vor Jahwe, deinem Gott, fröhlich sein – du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, auch die Leviten, die in deinen Stadtbereichen Wohnrecht haben, und die Fremden, Waisen und Witwen, die in deiner Mitte leben“ (Dtn 16,11). Elterngebot V Ehre deinen Vater und deine Mutter. Dtn 5,16a
Die Kinder sind verpflichtet, für die betagten Eltern zu sorgen. Das ergibt sich aus dem vergleichenden Studium des Wortes „ehren“ sowie aus altorientalischen Rechtsurkunden. In der Antike gab es weder Altersheime noch eine von der Gemeinschaft organisierte Altenversorgung. Wer keine Kinder hatte, die in der Nähe lebten, bleib auf sich selbst – und vielleicht gelegentlich geübte Barmherzigkeit anderer – angewiesen. Ein Weg, sich die Altersversorgung zu sichern, war die Adoption: Ein Erwachsener adoptierte einen jungen Menschen, vermachte diesem seinen Besitz, forderte jedoch – im schriftlichen Adoptionsvertrag – die regelmäßige Lieferung von Nahrungsmitteln und Kleidungsstücken. Das Elterngebots dient mit dem Ziel, das Leben alter Menschen zu schützen, auch ganz allgemein dem Ziel, menschliches Leben zu schützen. Das Thema „Altersversorgung“ ist von großer sozial- und kulturgeschichtlicher Bedeutung.6 Zur Elternehrung gehört nach der Sitte der biblischen Welt im Todesfall auch die ordnungsgemäße Bestattung von Vater und Mutter sowie die regelmäßige Ehrung der Toten im Ahnenkult. Echter Ahnenkult, der die Verstorbenen als (niedere) Götter auffasst, ist in der Bibel ausgeschlossen; immerhin ist eine gemäßigte, der polytheistischen Tendenz entkleidete Form der Ahnenehrung denkbar.7 Auf eine speziell religiöse Dimension des Elterngebots wird im Abschnitt 5 hingewiesen werden.
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Material zum Thema „Altersversorgung“ bei B. Lang, Altersversorgung in der biblischen Welt, in: ders., Wie wird man Prophet in Israel?, Düsseldorf 1980, 90–103; ders., Alter (AT), in: wibilex.de; Christian Gnilka, Altersversorgung, in: Reallexikon für Antike und Christentum. Supplement-Band 1, Stuttgart 2001, 266–289. 7 Lang, Die Leviten, 67f.
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Verheißung Dies gebietet dir Jahwe, dein Gott, damit du lange lebst und es dir gut geht in dem Land, das Jahwe, dein Gott, dir gibt. Dtn 5,16b
Für die gehorsame Befolgung nicht nur des letztgenannten Gebots – des Elterngebots – sondern aller vorstehend genannten Gebote (Alleinverehrungsgebot, Bilderverbot, Sabbat) wird Lohn in Aussicht gestellt: Jahwe wird denen, die seine Gebote befolgen, ein langes Leben schenken. Der Hinweis auf die Landgabe bezieht sich auf ein in der Genesis mehrfach erwähntes Versprechen Gottes, er werde den Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs das Land Palästina als Lebensraum zuweisen. Wir haben es also mit einen jener Bestandteile des Dekalogs zu tun, der den Dekalog mit der Pentateucherzählung verknüpft. Wie der Hinweis auf die Landverheißung zeigt, lässt sich der Dekalog nicht einfach vom Kontext des Pentateuchs isolieren und als zeitloser Text betrachten. Viele christliche Ausleger haben die lebens- und Landverheißung als ein Signal verstanden, das innerhalb des Dekalogs einen Einschnitt anzeigt. Mit dieser Verheißung ende die „1. Tafel“ des Dekalogs; danach beginne die „2. Tafel“. Während sich für die Gliederung des Dekalogs in zwei Teile – Teil 1 mit religiösen Geboten, Teil 2 mit nichtreligiösen – gute Gründe /S. 33:/ für sich hat (siehe unten, Kapitel 5), gibt es keinen triftigen Grund, die Zweiteilung mit den beiden Gesetzestafeln in Verbindung zu bringen. Warum in der Bibel von zwei (und nicht von einer oder von drei usw.) Tafeln die Rede ist, lässt sich schwer sagen. Vielleicht lässt sich der Vertragskontext des Dekalogs zur Erklärung heranziehen. Durch Vertrag verpflichtet sich das Volk Israel, sich an die Gebote des Dekalogs zu halten. Antike Vertragsurkunden wurden gewöhnlich mehrfach ausgefertigt. Nach diesem Vorschlag hätte jede Tafel den vollständigen Dekalogtext enthalten, und nicht nur jeweils einen Teil der Gebote. Mord VI Du sollst nicht morden. Dtn 5,17
Verboten ist das absichtliche, hinterhältige Töten eines Menschen, insbesondere eines persönlichen Feindes. Nicht verboten wird das Töten im Krieg, die Todesstrafe für schwere Vergehen, die Selbsttötung (Suizid) und die Tötung von Tieren. Dem Verbot des Mordes liegt die Überzeugung zugrunde, das menschliche Leben sei zu schützen; jeder Mensch hat Recht auf sein Leben. Es darf ihm nicht willkürlich genommen werden. Das Leben jedes Menschen ist unantastbar. – Heute neigen viele Christen (mit Recht) dazu, das Tötungsverbot auszuweiten; die Todesstrafe gilt ihnen als mit menschlicher Würde unvereinbar. Ehebruch VII Du sollst nicht die Ehe brechen. Dtn 5,18
Die eheliche Bindung eines Mannes oder einer Frau soll von anderen Menschen respektiert werden. Nach biblischer Rechtsauffassung bricht die untreue Frau die eigene Ehe, der untreue Mann bricht in die Ehe eines anderen Mannes ein. Es ist zweifellos zu kurz gegriffen, die Ehefrau als Besitzstück des Mannes zu sehen und zu sagen: Das Verbot des Ehebruchs ist nichts anderes als ein Spezialfall des (nächstfolgenden) Verbot des Diebstahls. Wie bei dem vorangegangenen Gebot wird auch hier ein grundlegendes Gut der menschlichen Gesellschaft angesprochen: die Ehe. Wie das Leben selbst, so ist auch die Ehe nicht aufs Spiel zu setzen und bedarf besonderen Schutzes. Geschützt wird hier letztlich die Ehe als Wiege und Hort
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neuen Lebens. Daher wird man das Verbot des Ehebruchs wohl eher mit dem vorangehenden Verbot des Mordens verbinden, also einer Bestimmung, die ebenfalls dem Lebensschutz dient. Diebstahl VIII Du sollst nicht stehlen. Dtn 5,19
Das Verbot ist generell, zielt aber ursprünglich wohl besonders auf Viehdiebstahl, das im alten Israel am häufigsten vorkommende Eigentumsdelikt. Die generell gehaltene Formulierung will natürlich alles Eigentum schützen. Manche Ausleger lenken den Blick auch auf ein besonderes Delikt: den Menschenraub, die Gefangennahme eines Menschen und dessen Verkauf in die Sklaverei. Will man diese Deutung zulassen, dann hätten die Söhne Jakobs, die ihren Bruder Josef gefangen nahmen und an Händler verkauften, gegen dieses Gebot verstoßen. Man könnte allgemein vom Verbrechen der Freiheitsberaubung sprechen. Jede Gesellschaft und jede Zeit kennt besonders wertvolles Eigentum, das zu schützen ist. Ein solches Stück Eigentum ist bei uns z.B. die Zeit; im Sinne des Dekalogs wäre dann zu sagen: Du sollst deinem Nächsten keine Zeit stehlen. /S. 34:/ Falschaussage IX Du sollst nicht Falsches gegen deinen Nächsten aussagen. Dtn 5,20
Nicht auf alltägliche Lügen oder auf Verleumdung bezieht sich das Verbot, sondern auf falsche Beschuldigung vor Gericht. Zu denken ist an eine falsche Beschuldigung, die dem Beschuldigten schwere Nachteile bringt, ihn vielleicht sogar das Leben kostet. Auch hier wird, wie bei mehreren vorstehenden Geboten, ein grundlegendes Gut der menschlichen Gemeinschaft geschützt: die Wahrheit. Begehren X Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen und du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren, nicht sein Feld, seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel, nichts, was deinem Nächsten gehört. Dtn 5,21
Das Verbot darf nicht aufgespalten werden in ein Verbot, die Frau des Nächsten zu verlangen, und ein zweites Gebot, das sich auf das Streben nach anderem Besitz bezieht. Es besteht vielmehr ursprüngliche Einheit. Mit „Begehren“ oder „Verlangen“ ist ein ganz bestimmtes Vergehen gemeint: die (widerrechtliche) Aneignung eines herrenlosen Gegenstandes. Der vorliegende Fall verbietet die Aneignung eines bäuerlichen Anwesens während längerer, etwa kriegsbedingter, Abwesenheit des Besitzers. Konkret: die zurückgebliebene Frau darf von einem anderen Mann nicht begehrt, d.h. geehelicht werden, denn dadurch verlöre der Abwesende seinen ganzen Besitz, einschließlich seiner Ehefrau. Dafür kennt die antike Literatur ein eindrückliches Beispiel: Obwohl Penelope von vielen Männern umworben wird, wartet sie geduldig auf Odysseus, der schließlich nach Hause kommt – nach zwanzig Jahren, nach zehnjährigem Krieg und sich daran schließender zehnjähriger Irrfahrt (Homer, Odyssee). Nach spätrömischem Recht darf eine Frau, deren Ehemann verschollen ist, erst nach fünf Jahren eine neue Ehe eingehen.8
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Rechtsgeschichtliches Material dazu bei B. Lang, „Du sollst nicht nach der Frau eines anderen verlangen“. Das 9. und 10. Gebot im Licht altorientalischer Rechtsgeschichte, in: ders., Buch der Kriege – Buch des Himmels, 109–117.
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5. Der Dekalog als Ganzes Die Einzelerläuterung des Dekalogtextes bliebe unvollständig ohne den Blick auf den Dekalog als ein Text, der als Einheit verstanden sein will, und nicht nur als Aneinanderreihung von zehn jeweils für sich stehenden Geboten. Um das Ganze in den Blick zu bekommen, scheinen mir vier Themen hilfreich: der Jahwename, die implizierte Geschichte dreier Generationen des Volkes Israel, vollständiges Bauernglück, die Unterscheidung zwischen religiösen und nichtreligiösen Geboten. Der Jahwename Der Gottesname Jahwe wird im Dekalog zehnmal verwendet; um dies leicht nachprüfbar zu machen, haben wir bei der Übersetzung des Dekalogs (oben, Kapitel 3) den Namen Jahwe fett gedruckt. Zwar ist der Jahwename über den Dekalog ungleichmäßig verteilt, doch scheint mir die zehnmalige Verwendung ein bewusster stilistischer Kunstgriff zu sein. Der Redaktor des Textes will die Zehn Gebote zehnmal mit dem Gottesnamen versiegeln. /S. 35:/ Der Jahwename wird nicht nur zehnmal verwendet, er steht auch genau im Mittelpunkt des Dekalogs. Um das zu sehen, müssen wir die Wörter des hebräischen Textes zählen. Vom Anfang („Ich bin Jahwe ...“) bis zum Ende („... was deinem Nächsten gehört.“) können wir 189 Wörter zählen. Das im Zentrum stehende hebräische Wort (also jenes, dem 94 Wörter vorausgehen und 94 Wörter folgen) steht im Sabbatgebot und lautet le-Jahwäh, ein Ausdruck, der gewöhnlich „für Jahwe“ wiedergegeben wird. Dieser Ausdruck lässt verschiedene sinnvolle Deutungen zu, die einander nicht ausschließen: •
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„für Jahwe“: Nicht nur der Sabbat ist ein für Jahwe bestimmter Tag; alle Gebote und Verbote machen den angesprochenen Israeliten zu einem „für Jahwe“ bestimmten Menschen, einen durch und durch religiösen Menschen (homo religiosus). „von Jahwe (verfasst)“: Für sich genommen lässt sich le-Jahwäh auch als Hinweis auf Jahwe als Urheber und Sprecher des Dekalogs verstehen; dann bedeutet es „von Jahwe (verfasst)“. „von Jahwe (mit Siegel versehen)“. Ein Personenname mit davorgesetzter Präposition le ziert regelmäßig althebräische Siegel. Ein Beispiel: Das als Abbildung 1 beigefügte Siegel ist ein Doppelsiegel; auf der einen Seite ist Jahwe als thronender Gott dargestellt, auf der anderen (nicht abgebildeten) Seite steht der Name des Siegelbesitzers in der Form le-Aschjahu Maschmasch – „Aschjahu (Sohn des) Maschmasch“. Ein Siegel ist ein Stempel; so wie Aschjahu einer Sache seinen Stempel aufprägen kann, so hat Jahwe dem Dekalog seinen Stempel, sein Siegel aufgeprägt.
Die Annahme, der Gottesname Jahwe stehe rein zufällig genau in der Mitte des Dekalogs ist ausgeschlossen. Vielmehr ging der Schreiber, dem wir diesen Text verdanken, mit größter Sorgfalt vor. Wir können seine Arbeit nur bewundern. Die drei Generationen Den religiösen Geboten, die am Anfang des Dekalogs stehen, liegt eine implizite Erzählung zugrunde. Sie tritt an der Oberfläche des Textes nicht klar zutage, lässt sich jedoch als dessen
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Tiefenstruktur erkennen.9 Anders als im zweiten Teil des Dekalogs wird das religiöse Thema nicht rein aufzählend (enumerativ), sondern erzählend (narrativ) entfaltet, nämlich durch eine Geschichte, die von der Abfolge dreier Generationen handelt. Die mittlere, in der Gegenwart lebende Generation weiß sich den Geboten verpflichtet. Es ist eine fromme, gottesfürchtige Generation von jungen, gerade erwachsen gewordenen Männern und Frauen. Diese Generation blickt auf die ihrer Väter und Mütter zurück, um sich von ihr nach der Art einer Jugendbewegung energisch abzusetzen. Die Väter (und Mütter) haben eine große Sünde, einen schlimmen Frevel begangen – den Frevel des Abfalls von Jahwe (siehe oben, Kapitel 4, unter der Überschrift „Frevel der Väter“). Die neue, gottesfürchtige Generation – bildet eine Art verschworene Jugendbewegung. Sie verpflichtet sich nicht nur selbst auf die Alleinverehrung; sie will die Alleinverehrung auch dadurch sichern, dass sie diese ihren eigenen Kindern einschärft. Das geschieht durch das Elterngebot. Mit diesem will die Generation der Jugendbewegung nicht nur ihre Altersversorgung sicherstellen (das wohl auch, aber nicht in erster Linie), sondern gleichzeitig auch ihre Entscheidung für die treue Alleinverehrung des einen Gottes für die Zukunft sichern. Auf diese Weise erhält das Elterngebot eine doppelte Bedeutung: sie ist konventioneller Hinweis auf die Pflicht zur Versorgung der alten Eltern; gleichzeitig ist sie ein versteckter Hinweis auf die Pflicht der Kinder, die Entscheidung der Eltern für die kompromisslose Jahweverehrung zu übernehmen (und auch für die folgenden Generationen sicherzustellen). Aus diesem Grund wird das Elterngebot auch zur Reihe der religiösen Gebote des Dekalogs gerechnet; tatsächlich bildet es den Abschluss dieser Reihe. /S. 36:/ Hier noch einmal die „drei Generationen“ im Überblick: Erste Generation: Diese sündige Generation verursacht durch polytheistische Praxis den Untergang des judäischen Staates und wird durch Verschleppung nach Babylonien bestraft. Zweite Generation: Zur Alleinverehrung des einen Gottes zurückgekehrt, dürfen diese Kinder der Ersten Generation nach dem Ende des Exils wieder in der palästinischen Heimat leben (oder erwarten dies als bald bevorstehend). Dritte Generation: Die Kinder der Zweiten Generation ehren ihre Eltern dadurch, dass sie den Sabbat heilig halten und, allgemeiner, dem einen Gott die Treue halten. Zum Lohn dürfen sie im Land bleiben und müssen keine erneute Verschleppung befürchten. Vollständiges Bauernglück Wer ist eigentlich angeredet, wenn es im Dekalog heißt: „Ehre deinen Vater und deine Mutter“, „Achte auf den Sabbat“, „Du sollst nicht morden“ und so fort? Schon rein sprachlich handelt es sich im hebräischen Text immer um Imperative und verneinte Imperative, die sich an einen einzelnen männlichen Adressaten richten. Es ist also ein einzelner israelitischer Mann angeredet, oder, besser gesagt: jeder einzelne israelitische Mann. Über diesen Mann aber lässt sich mehr sagen. Der Dekalog ermöglicht es, das soziale Profil des Adressaten näher zu bestimmen, und zwar – vor allem aufgrund der Angaben im Sabbatgebot und im Begehrverbot – wie folgt: Geschlecht: männlich Alter: erwachsen Familienstand: verheiratet, mehrere Kinder – Söhne und Töchter Beruf: Bauer und Viehhalter 9
B. Lang, Dialog über den Dekalog. Menschliche Schuld und göttliche Strafe nach Auffassung der Zehn Gebote, Theologisch-praktische Quartalschrift 155 (2007) 339–345.
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Wohnort: eine Stadt im jüdischen Palästina Besitz: landwirtschaftlich genutztes Anwesen mit Haus, Eseln und Vieh, Knechten und Mägden Soziale Verpflichtungen und Möglichkeiten: Versorgung der alten Eltern; Möglichkeit, ortsansässige Fremde zu Arbeitsdiensten heranzuziehen Vor unseren Augen entsteht das Bild eines Großbauern handeln, der neben ansehnlichem Vermögen auch über beträchtlichen sozialen Einfluss verfügt. Seine Gattin bleibt in seinem Schatten. Sie leitet innere Hauswesen, während er, von Gesinde und Kindern unterstützt, für die Land- und Viehwirtschaft zuständig ist. Ein Porträt der Frau eines solchen Mannes steht im letzten Kapitel des Buchs der Sprichwörter (Spr 31). Wenn wir das Porträt des Adressaten in dieser Weise herausstellen, soll damit nicht gesagt sein, die Bestimmungen des Dekalogs könnten nur von einem wohlhabenden Menschen verwirklicht werden. Im Hintergrund steht die Vorstellung von einer Gesellschaft, die sich an Gottes Gebot hält und dafür mit Wohlstand gesegnet wird. Genau das sagt ja der Dekalog: „Dies gebietet dir Jahwe, dein Gott, damit du lange lebst und es dir gut geht in dem Land, das Jahwe, dein Gott, dir gibt.“ Religiöse und nichtreligiöse Gebote Innerhalb der Zehn Gebote lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: religiöse und gesellschaftliche (zivile) Gebote. Die vier rein religiösen Gebote (I, II, III, IV) zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit sehr spezifischen religionsgeschichtlichen Entwicklungen des alten Israel verknüpft sind. Von diesen Geboten sind zwei in der christlichen Welt außerordentlich stark /S. 37:/ rezipiert worden: das Alleinverehrungsgebot (I) und das Sabbatgebot (IV). Das Alleinverehrungsgebot hat zum Monotheismus geführt und zum Gebrauch des Wortes „Gott“ als Eigenname. In der westlichen Welt wird Gott auch von Ungläubigen im Singular gedacht – eben als der eine Gott. Der Sabbat als wöchentlicher Ruhetag hat sich heute über die ganze Welt verbreitet und reguliert das Leben fast aller Menschen auf der Erde. Die nichtreligiösen Verbote schützen vier lebensnotwendige Güter: das Leben selbst (daher Verbot des Mordes VI und der Schutz der Alten V), die Ehe als Wiege des Lebens (VII), das Eigentum (VIII, X) und die Wahrheit (IX).10 Der bedingungslose Schutz dieser Werte bildet die Grundlage des universalen, von allen bekannten Gesellschaften der Welt unterstützten Ethos. Wer Leben, Ehe, Eigentum und Wahrheit antastet, stellt sich gegen die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens überhaupt. Anders als die religiösen Gebote, die uns eher als zeitbedingt erscheinen, lassen sich die nichtreligiösen Verbote als lokale, kulturspezifische Ausprägung einer universalen menschlichen Ethik begreifen, als Bestandteile dessen, was heute oder „Weltethos“ oder global ethics (Hans Küng) genannt wird. 6. Eine Biographie des Dekalogs Sitz im Leben Der Dekalog ist nicht als rein schriftstellerisches Erzeugnis zu verstehen, als Text, der ein Buchkapitel füllen sollte. Vermutlich wurde er von levitischen Priestern verfasst, die ihn für die Unterweisung von Laien eingesetzt haben. Als Gelegenheit der Laienbelehrung sind 10
Ohne Bezugnahme auf den Dekalog schreibt Küng: „In verschiedenen kulturellen Lebenswelten tauchen immer wieder ähnliche Lebenswerte auf: vor allem der Schutz des Lebens, des Eigentums, der Wahrheit (Wahrhaftigkeit), der Geschlechtlichkeit.“ H. Küng, Handbuch Weltethos, München 2012, 34f.
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Besuche von Bauern zu denken, die, begleitet von Mitgliedern ihrer Familie, zum um 500 v. Chr. neu errichteten Jerusalemer Tempel zogen. Der Hauptanlass der Wallfahrt zum Tempel aber war das im Herbst gefeierte Erntedankfest, das Laubhüttenfest. Vielleicht ist der Dekalog sogar speziell für die an diesem Fest erfolgende Laienbelehrung geschaffen worden.11 Ein solcher „Sitz im Leben“ würde auch erklären, warum wir es beim Dekalog mit einem mehrfach erweiterten Text zu tun haben. Die für die Laienbelehrung Zuständigen haben sich sehr wohl überlegt, welche Gebote sie den Laien nahezubringen suchten. Mehrfach wurde neu überlegt. Deutliche Spuren davon sind im Text des Dekalogs zu finden. Drei Befunde verweisen auf mehrfache textliche Bearbeitung des Dekalogs: • Während die religiösen Gebote, die am Beginn des Dekalogs stehen, ausführlich formuliert sind, sind die nichtreligiösen, sittlichen Gebote alle – bis auf das allerletzte Gebot – ganz knapp formuliert. Von einem stilistisch ausgewogenen Text würde man ungefähr gleiche Wortzahl für jedes der zehn Gebote erwarten. Haben wir es vielleicht mit zwei ganz verschiedenen Gebotsreihen zu tun, die zum Dekalog zusammengestellt wurden? • Der Dekalog hat einen Prolog – „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat, aus dem Sklavenhaus.“ Am Ende des Dekalogs fehlt ein Epilog. Ein solcher findet sich jedoch mitten im Dekalog: „Dies gebietet dir Jahwe, dein Gott, damit du lange lebst und es dir gut geht in dem Land, das Jahwe, dein Gott, dir gibt.“ Diese Formulierung bildet eine gute Entsprechung zum Prolog – auf die Hinausführung aus Ägypten folgt die Gabe des Landes an die Israeliten, die sich im Augenblick der Proklamation des Dekalogs heimatlos in der Wüste befinden. Hat an dieser Stelle der Dekalog einmal aufgehört, so dass das, was folgt, nachträglich angefügt wurde? /S. 38:/ • Das Sabbatgebot hat mehr Wörter als alle anderen Dekaloggebote (im hebräischen Text 64 Wörter). Schon dadurch ist dieses Gebot auffällig. Es stellt nicht nur formal, durch die Länge, sondern auch inhaltlich einen Fremdkörper im Dekalog dar. Der Dekalog ist die Sprache und den Themen des Buches Deuteronomium verpflichtet, besonders deutlich zu erkennen im Insistieren auf der Alleinverehrung Jahwes, dem zentralen Anliegen dieses Buches. Dagegen ist das Sabbatgebot im ganzen Buch Deuteronomium – mit Ausnahme des Dekalogs – nicht belegt. Wurde das Sabbatgebot nachträglich in den Dekalog eingefügt? Aufgrund dieser (und weiterer) Befunde lässt sich eine mehrstufige Entstehungsgeschichte des Dekalogs rekonstruieren.12 Ein Fünfgebot als Vorform des Dekalogs (Stufe 1) Am Anfang stand ein kurzer Text, dessen Gebote sich als fünf zählen lassen. Im Wortlaut: Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. 1 Du sollst neben mir keine weiteren Götter haben. 2 Du sollst dir kein Gottesbildnis machen, das irgendetwas darstellt am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. 3 Du sollst dich nicht vor ihnen [Göttern oder Götterbildern] niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, Jahwe, dein Gott, bin ein leidenschaftlicher Gott: Bei denen, die mir feind sind, verfolge ich den Frevel der Väter an den Söhnen und an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben und
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B. Lang, Die Leviten, 65. B. Lang, Die Zahl Zehn und der Frevel der Väter. Eine Interpretation des Dekalogs, in: ders., Buch der Kriege – Buch des Himmels, 83–107.
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auf meine Gebote achten, erweise ich der (ganzen) Gemeinde meine Huld. 4 Du sollst den Namen Jahwes, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn Jahwe lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht. 5 Ehre deinen Vater und deine Mutter. Dies gebietet dir Jahwe, dein Gott, damit du lange lebst und es dir gut geht in dem Land, das Jahwe, dein Gott, dir gibt.
Das sind die ersten Sätze des Dekalogs (ohne das Sabbatgebot). Ein schöner, abgerundeter Text, gerahmt von Prolog („Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten hinausgeführt hat“) und Epilog („Dies gebietet dir Jahwe, dein Gott, damit du lange lebst und es dir gut geht in dem Land, das Jahwe, dein Gott, dir gibt.“). Ein Text mit einheitlichen religiösem Thema. Wie bereits ausgeführt (S. 35) hat auch das Elterngebot hier eine religiöse Sinnspitze. Die Geburt de Dekalogs (Stufe 2) Das „Fünfgebot“, der „Pentalog“, wie wir den Text nennen können, hat offenbar nicht alle seiner ersten Leser voll befriedigt. Einer der Schriftgelehrten schätzte zwar die religiöse Qualität der Gebotsliste, aber er vermisste einige Themen, die ihm für das Miteinander der Menschen von großer Bedeutung erschienen: der Schutz von Leben, Eigentum und Wahrheit. Dieses Themen formulierte er in der Gestalt von fünf Verboten, die er dem religiösen „Fünfgebot“ anfügte. Die Anfügung hat folgenden Wortlaut: /S. 39:/ VI Du sollst nicht morden, VII du sollst nicht die Ehe brechen, VIII du sollst nicht stehlen, IX du sollst nicht Falsches gegen deinen Nächsten aussagen, X du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen und du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren, nicht sein Feld, seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel, nichts, was deinem Nächsten gehört.
Die Gebote VI, VII, VIII und IX sind sehr knapp formuliert. Nur das X., abschließende Gebot ist etwas ausführlicher formuliert; im hebräischen Wortlaut hat es 16 Wörter. Ebenso viele hebräische Wörter – nämlich 16 – zählen wir am Anfang des Pentalogs: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine weiteren Götter haben.“ Offenbar hat der Gelehrte, der die Reihe der fünf nichtreligiösen Gebote hinzugefügt hat, den Prolog und das 1. religiöse Gebot als Einheit betrachtet (so auch bis heute die jüdische Tradition). Dadurch erhält der nunmehr zehn Gebote und Verbote umfassende Text einen schönen Rahmen: Am Anfang und am Ende des Zehngebots (Dekalogs) steht nun ein Stück, das jeweils 16 hebräische Wörter umfasst. Eigentlich könnte die Textgeschichte des Dekalogs an dieser Stelle enden, haben wir doch nun eine Reihe aus fünf religiösen und fünf nichtreligiösen Geboten vor uns, die das gesamte Leben der israelitischen Religionsgemeinschaft zu regeln vermag. Jedoch gab es Kreise im 5. oder 4. Jahrhundert, die mit dem Text noch nicht voll zufrieden waren. So kam es zu einer erneuten Erweiterung des Textes: Die letzte Zufügung: der Sabbat (Stufe 3) Im perserzeitlichen Judentum gab es Gruppen, die an einem von ihnen als Sabbat bezeichneten wöchentlichen Tag die Arbeit niederlegten; diese Sitte versuchten sie im Judentum zu verbreiten – wie wir wissen, mit Erfolg. Es ist den Verfechtern der Neuerung gelungen, die Hüter des Dekalogtextes (vermutlich levitische Priester am Jerusalemer Tempel) von ihrem Anliegen zu überzeugen und sie dazu zu bewegen, ein Sabbatgebot zu
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formulieren und in den Dekalog einzustellen. Wann genau dies geschah, wissen wir nicht; man wird vielleicht an das 4. Jahrhundert denken. Der mit dem Sabbatgebot versehene Dekalog weist den Wortlaut auf, der heute in jeder Bibel steht. Aus dem Bild, das sich nun dem Leser bietet, ist die zentrale Stellung des Sabbatgebots ohne weiteres deutlich. Als Hauptgebot beherrscht es den Dekalog. Der ganze Text erscheint als ein Sabbatgebot, das von weiteren Geboten umrahmt ist. In Zahlen ausgedrückt: Im Dekalogtext umfasst das Sabbatgebot 64 hebräische Wörter; vor diesem Block stehen 76 Wörter, danach 49. Von der gesamten Wortzahl des Dekalogs (184 Wörter) entfallen 34,78% auf das Sabbatgebot. Grob gerechnet: Der Dekalogtext zerfällt in drei etwa gleichlange Teile – Gebote am Anfang – Sabbatgebot – weitere Gebote. In dieser Gestalt ist der Dekalog ins Buch Deuteronomium gelangt und, in nur leicht abgewandelter Form, auch in das Buch Exodus. Diese Bücher wurden in viele, fast möchte man sagen: alle, Sprachen übersetzt. Mit ihnen hat der Dekalog seinen bis heute andauernden Siegeszug in die Welt angetreten. /S. 40:/ Zeittafel 1200 v. Chr.
Auszug von Israeliten aus Ägypten, Mose
1000–586
Königszeit, Zeit der Propheten Israels
586
Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch babylonisches Militär, Ende des Königreichs Juda, Verschleppung von Judäern nach Babylonien („babylonisches Exil“)
539
König Kyrus erobert Babylonien und begründet das Persische Reich; Ende des babylonischen Exils der Judäer, Beginn des Frühjudentums
500
um diese Zeit entstehen die Bücher Exodus und Deuteronomium sowie der Dekalog
330
Eroberung des Persischen Reichs durch Alexander den Großen; Ende der Perserzeit
Bildnachweis Abb. 1: Othmar Keel und Christoph Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole, Freiburg 1992, 351. Mit freundlicher Genehmigung von O. Keel. Abb. 2: Bernhard Lang, Die 101 wichtigsten Fragen: Die Bibel, München 2013, 76.
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Report "\"Der Dekalog (Dtn 5,6-21): Eine Sachanalyse.\" In: Volker Garske und Bernhard Lang, Die Zehn Gebote (EinFach Religion; Paderborn: Schöningh 2015), S. 18–40. "