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Josef H. Röll
Münchener Studien zur Sprachwissenschaft
2015
M ünchener S tudien S prachwissenschaft
ISSN 0077-1910
Heft 69/2 2015
Münchener Studien zur Sprachwissenschaft Heft 69/2
Münchener Studien zur Sprachwissenschaft
Im Auftrage des Münchener Sprachwissenschaftlichen Studienkreises herausgegeben von Norbert Oettinger, Thomas Steer und Eva Tichy
Heft 69/2 – 2015 J.H. Röll
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über: http://dnb.d-nb.de abrufbar
© 2015 Verlag J.H. Röll GmbH, Dettelbach Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigungen aller Art, auch auszugsweise, bedürfen der Zustimmung des Verlages. Gedruckt auf chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier. Gesamtherstellung: Verlag J.H. Röll GmbH Printed in Germany ISSN 0077-1910
Inhalt Emmanuel Dupraz Randbemerkungen zu den umbrischen Formen benuso und couortuso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Stefan Höfler Denominale Sekundärderivation im Indogermanischen: Eine Ochsentour . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Roland Mittmann Automatisierte Zeit- und Dialektzuordnung althochdeutscher Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Alexander Nikolaev Hittite wattaēš ‘birds’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Norbert Oettinger „Hethitisch“ partipartiske- ‚laufen‘ (*sperdh-) und mutmutali- ‚Schweinewühlplatz‘ . . . . . . . . . . . . 269 David Sasseville Anatolische verbale Stammbildung: das Faktitivsuffix *-eh2- . . 281
STEFAN HÖFLER Denominale Sekundärderivation im Indogermanischen: Eine Ochsentour1 Abstract: The aim of this paper is to establish a particular type of denominal derivative, namely possessive thematic adjectives from neuter s-stem bases with a double zero grade in the root and the s-suffix of the underlying stem (viz. “russus-adjectives” after the prime example *h1reu̯ dh-es- ‘redness’ → *h1rudh-s-ó- ‘having redness’ > Latin russus ‘ruddy’; §§ 1–3). These adjectives will then serve as illustrative material to demonstrate different strategies for substantivizing thematic adjectives (viz. “simple” substantivization, substantivization via accent retraction, i-substantivization, u-substantivization, and n-substantivization; §§ 4–8), in the course of which a new etymological and morphological account of Proto-Indo-European *(H)uksé/ón- ‘bull, ox’ will be put forth (§ 9).
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Der vorliegende Text fußt auf den Arbeiten zu meiner im Entstehen befindlichen Dissertation über denominale Sekundärableitungen und Substantivierungsmechanismen. Man verzeihe mir deshalb allfällige Verweise auf zum Teil noch unveröffentlichte Arbeiten meinerseits, sowie den aus Platzgründen teilweise telegrammatisch gehaltenen Stil. Ich danke allen TeilnehmerInnen des 1. Indogermanistischen Forschungskolloquiums in Erlangen für die anregenden Diskussionen, sowie Melanie Malzahn, Martin Peters, Georges-Jean Pinault und Thomas Steer, sowie einer/m anonymen GutachterIn für allerlei wertvolle Ratschläge und Kritik, bin aber natürlich allein verantwortlich für alle hier gezogenen Schlüsse und für jegliche Fehler, was Fakten oder deren Beurteilung betrifft. Ein titelgleicher Vortrag wurde auch im Rahmen der Österreichischen Linguistik-Tagung am 8.12.2014 in Wien präsentiert. Die Arbeit an meiner Dissertation wird durch ein DOC-Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften möglich gemacht.
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I. Ableitungen des Typs lat. russus ‚rot‘ 1. Das Possessivsuffix *-ó1.1. Die possessive Funktion des ó-Suffixes ist durch eine Reihe von Beispielen gut zu belegen (vgl. Schindler 1984; Peters 1999:453; Widmer 2004:32ff.; Meier-Brügger 2006:120; Nussbaum 2014c:245): • *gu̯ i̯ eH- ‚Bogensehne‘ (ved. jyā́- f. ‚id.‘, av. jiiā- f. ‚Sehne‘) → *gu̯ iH-ó- ‚eine Bogensehne habend‘ (→ gr. βιός m. ‚Bogen‘); vgl. Schindler (1972:19f.); • *rot-eh2- ‚Rad‘ (lat. rota f. ‚id.‘) → *rot-h2-ó- ‚Räder habend‘ (→ ved. rátha-, av. raϑa- m. ‚Wagen‘); vgl. EWAia II:429f. Dass es sich dabei nicht um einfache Thematisierungen der athematischen Grundwörter handelt, wird einerseits durch das exozentrische, nämlich: possessive Bedeutungsverhältnis zwischen Grundwort und Ableitung vorausgesetzt, andererseits auch durch parallele Verhältnisse bei thematischen Grundwörtern quasi erwiesen: • gr. ὗβος m. ‚Buckel‘ → gr. ὑβός ‚einen Buckel habend‘ = ‚buckelig‘. 1.2. Auch wenn die exakten Mechanismen des urindogermanischen Ablauts umstritten sind, so ist doch einigermaßen nachvollziehbar, dass in der besten aller grundsprachlichen Welten unakzentuierte Elemente nullstufig auftreten sollten. Wenn wir also annehmen, dass das Possessivsuffix betont war, dann können wir für die archaischste Stufe der Bildungen eine Doppelnullstufe in Wurzel und Suffix des Basiswortes annehmen, weitgehend unabhängig davon, wie das Wort sonst flektierte2. Formal: R(z)-S(z)-ó-.
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Zur Deutung dieser Possessivadjektive als Instrumentalhypostasen, die von dieser Behauptung nur bezüglich ihrer Ursache, nicht in Hinblick auf ihr Ergebnis abweicht, siehe unten § 9.9 mit Fn. 42.
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• *terh2-men- ‚Grenze‘ (gr. τέρµα, lat. termen) → *tr̥ h2-mn-ó- ‚eine Grenze habend‘ (gr. τρᾱνός* >> τρᾱνής ‚deutlich, dēfīnītus‘); vgl. Nussbaum (2012); • *neḱ-u- ‚Tod‘ → *n̥ ḱ-u̯ ó- ‚Tod habend, sterblich‘ (→ toch. A oṅk, B eṅkwe ‚Mann‘; vgl. Widmer 2004:73, Pinault 2008:479). 1.3. Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sollen Possessivableitungen zu neutralen s-Stämmen (zu diesen vgl. grundlegend Schindler 1975, Stüber 2002) sein. Laut AiGr II/2:136f. finden sich innerhalb des Vedischen drei morphologisch unterschiedliche Gruppen derartiger Bildungen3: • R(e)-S(e)-ó-: rabhasá- ‚ungestüm‘ (rábhas- ‚Ungestüm‘) etc.; • R(e)-S(z)-ó-: vatsá- m. ‚Kalb‘ (*u̯ et-es-4 ‚Jahr‘); • R(z)-S(z)-ó-: útsa- m. ‚Quelle, Brunnen‘ (*u̯ ed-es- ‚Wasser‘). Morphologisch als Possessivadjektiv durchsichtig ist auf synchroner Ebene nur Typ 1 mit einigen weiteren Beispielen (nabhasá- ‚dunstig‘, vacasá- ‚wortkundig‘, arśasá- ‚mit Hämorrhoiden behaftet‘ etc.). Typ 2 vatsá- ‚Kalb‘ als Ableitung zum s-Stamm *u̯ et-es- ‚Jahr‘ (gr. ἔτος, myk. we-to) zeigt R(e), während das Suffix in der Schwundstufe erscheint. Die Bedeutung ist als ‚ein Jahr habend, Jährling‘ anzusetzen. Man beachte, dass der s-Stamm selbst im Altindischen nicht vorhanden ist, es sich also um eine opake Bildung handelt. Dasselbe gilt für den Typ 3 ved. útsa- ‚Quelle, Brunnen‘, das als Possessivableitung zu einem Neutrum *u̯ ed-es- ‚Wasser‘ (gr. ὕδος, arm. get) mit zweifacher Nullstufe in Wurzel und Suffix zu deuten ist. Wie sich zeigen wird, können wir derartige Bildungen grundsätzlich in allen indogermanischen Tochtersprachen erwarten.
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Dazu auch Widmer 2004:100. Die rekonstruierten neutralen s-Stämme werden in weiterer Folge immer nach dem Schema *CeC-es- notiert.
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2. Verschiedene Ansätze 2.1. Das Paradebeispiel für thematische Possessivadjektive zu s-stämmigen Basiswörtern ist lat. russus 3 ‚rot(-haarig)‘ (Enn.+): • *h1reu̯ dh-es- n. ‚Röte‘ (gr. ἔρευϑος n. ‚Röte‘ [Hp. etc.], lat. rōbur n. ‚(rotes) Kernholz‘ [Cato+]) → *h1rudh-s-ó- ‚Röte habend‘ > lat. russus ‚rot(-haarig)‘ Anhand dieses Beispiels soll nun kurz auf die Forschungsgeschichte zu diesen Bildungen eingegangen werden. Diese Deutung von lat. russus geht schon zumindest auf das Jahr 1893 zurück. Sie wurde von Schmidt (1893:387)5 präsentiert und im selben Jahr in ähnlicher Weise von Persson (1893:270)6 in elaborierterer Form7 wiederholt, wobei Persson die Urheberschaft dieser Erklärung freilich für sich beanspruchte. In der zweiten Auflage von Brugmanns Grundriss über die Nominalsuffixe findet sich sodann eine eigene Sektion für die Formantia -so-, -eso- usw., die in der ersten Auflage von 1889 noch gefehlt hatte, wobei natürlich der Zusammenhang mit den s-Stämmen betont wird. Diese Deutung wurde dann auch bereitwillig von Walde/Hofmann s.v. russus und von Pokorny (IEW:872) übernommen, und findet sich auch prominent in rezenter Literatur (vgl. Nussbaum 1999: 412 Anm. 76; Weiss 2013:345 Fn. 56; NIL:581). 2.2. Eine konkurrierende Herleitung ist die Rekonstruktion als *h1rudh-tó-, die lautlich zum selben Ergebnis geführt hätte. Hill (2003: 224) etwa deutet sie als to-Ableitung zum Wurzelnomen ‚Röte‘, da, wie er behauptet, eine Ableitung vom s-Stamm, „wie r.-ksl., s.-ksl. 5 6
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„Von diesem *pilos oder *peilos harmenge [sic], filz ward ein adj. *pilsós filzen gebildet wie von ἔρευϑος = rubor das adj. *rudhsó-s = lat. russus.“ „russus kann aus *rutsos, *rudhsos entstanden sein (…), d.h. russus enthält eine ableitung mit suff. o aus dem in ἔρευϑος, lat. rubor steckenden es- osstamm reu̯ dhos- rudhōs-.“ „War das ableitungssuffix ursprünglich betont, so musste vor demselben sowohl die wurzelsilbe als das es- os-suffix schwächung erfahren“ (Persson 1893:271).
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rusъ ‚dunkelblond, hellbraun‘ < *h1reu̯ dhsó- zeigt, in der Wurzel vollstufig sein und somit im Lateinischen †rūsus lauten müßte“. Dass dieses Argument durch die einzelsprachliche Evidenz nicht gestützt wird8, wird sich im Laufe dieser Ausführungen zeigen. Wahr ist vielmehr, dass, wie oben (§ 1.3) angesprochen, unterschiedliche Wurzelablautstufen in derartigen Derivaten auftreten können9, wobei die Schichtung durchaus chronologisch verstanden werden kann. Eine Herleitung russus < *h1rudh-tó- kann ich freilich kaum widerlegen, doch würde es zumindest überraschen, wenn zusätzlich zu ro- (ved. rudhirá-, gr. ἐρυθρός, lat. ruber, toch. rätre etc.) und no-Bildungen (→ air. rúan ‚rote Färberpflanze‘; vgl. Stifter 1998[2001]:208) auch eine, innerhalb des Caland-Systems a priori seltene (vgl. Rau 2009:71f.), to-Ableitung von dieser Wurzel respektive von diesem Wurzelnomen belegt wäre. 2.3. Abgesehen von lat. russus wurden auch für andere, offenkundig als Bildungen mit so-Suffix zu interpretierende Formationen alternative Erklärungen geboten. In der französischen Schule des letzten Jahrhunderts war besonders die Deutung als Desiderativbildungen mit s-Erweiterung beliebt10, die ihre Berechtigung aus (letzlich nicht vergleichbaren) Bildungen des Vedischen schöpft11. 8
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Es wird dennoch im rezenten etymologischen Wörterbuch des Lateinischen referiert (de Vaan 2008 s.v. ruber: „Hill […] explains russus from *rudh-to- to rubeo, because thematization of an s-stem is expected to yield *rūsus < *reudh-s-o-.“). Für ksl. rusъ ist zudem eine Herleitung aus o-stufigem *h1rou̯ dh-s-o- lautlich unbedenklicher. Man vergleiche lit. tamsùs ‚dunkel‘ > ῥαµψός ‚krumm‘16 3.3. Das Vedische liefert das Adjektiv ved. rukṣá- ‚glänzend, strahlend‘ (Hapax in RV 6.3.7), für das folgendes Szenario infrage kommt: • *leu̯ k-es- ‚Licht‘ (av. raocah- n. ‚Tag, Leuchte‘, ved. rókas- n. [RV 6.66.6]) → *luk-s-ó- ‚Licht habend‘ > rukṣá- ‚glänzend‘ → npers. ruxš ‚Glanz, Licht‘ (vgl. EWAia II:452) 3.4. Innerhalb des Keltischen kommt eine derartige Erklärung für kymr. gwlych ‚nass, feucht‘ infrage: • *u̯ lei̯ ku̯ -es- ‚±Flüssigkeit‘ (→ lat. lĭquor m. ‚Flüssigkeit‘) → *u̯ liku̯ -s-ó- ‚Flüssigkeit habend‘ > kymr. gwlych ‚nass‘ → lat. Lixus m. ‚Name eines Flusses‘17 → lat. lixa f. ‚Wasser, Lauge‘ 3.5. Das Lateinische kennt ein Adjektiv alsus 3 ‚erfrischend‘ (Cic.), das nur folgendermaßen gedeutet werden kann: • *h2elgh-es- ‚Kälte‘ (→ algor m. ‚Kälte‘, nisl. elgur m. ‚Schnee [-gestöber]‘) → *h2l̥ gh-s-ó- ‚Kälte habend‘ > lat. alsus 3 ‚kühl‘ (Cic.) → lat. Alsa f. ‚Fluss in Venetien‘ (heute Ausa) 14 15 16 17
Für die Grundbed. vgl. ῥάµφος n. ‚(krummer) Vogelschnabel‘ (Kom., Kall., Plu.), ῥαµφή f. ‚krummes Messer‘ (Plb., Hsch.). Vgl. ῥέµφος· τὸ στόµα. ἢ ῥίς (Hsch.). Mit Restitution des *-m- oder irregulärer Syllabifizierung *u̯ rm̥ bh-s-ó- >> *u̯ r̥ mbh-s-ó-. Der Fluss liegt im heutigen Marokko, Lixus könnte original lat. Namensgebung oder aber volksetymologisch umgestaltete Version eines einheimischen Namens gewesen sein und legt somit Existenz eines sprachwirklichen lat. Adj. *lixus 3 ‚nass, flüssig, klar o.ä.‘ nahe. Dafür spricht auch lixum· τὸ ἕψηµα (Gl.).
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In weiterer Folge sollen anhand dieser russus-Ableitungen einige prominente grund- und einzelsprachliche Möglichkeiten der Substantivierung eines thematischen Adjektivs aufgezeigt werden. II. Substantivierungen von „russus-Ableitungen“ 4. „Einfache“ Substantivierung 4.1. Als „einfach“ kann man Substantivierungen bezeichnen, die ohne overte morphologische Markierung nur durch Zuweisung eines fixen Genus vonstatten gehen. Dabei kann es sich um elliptische Verwendung (vgl. µουσική [sc. τέχνη]) handeln, um „Individualisierungen“ im Rahmen der Namensgebung (vgl. den Flussnamen Alsa ‚die Kühle‘ oder das Cognomen Rufus ‚der Rotschopf‘) oder nach prototypischen Eigenschaften (engl. green ‚Zielbereich beim Golf‘). Schon grundsprachlich ist die Verwendung des neutralen Singulars als sein eigenes Abstraktum/Konkretum18 (vgl. zuletzt Malzahn 2014:162). 4.2. Ein Beispiel aus s-stämmigem Kontext ist gr. πηλός (dor. πᾱλός) m. ‚Ton, Erde, Schlamm‘, das eine Gleichung mit arm. *šaɫ (in šaɫax ‚Lehm, Schlamm, Mörtel‘, šaɫem ‚Mörtel mischen‘; vgl. IEW:629 [ohne gr. πηλός]) bildet. Für die Einzelheiten vgl. Höfler (2015a): • *ḱu̯ el-es- ‚dunkle Farbe‘ (→ lat. color, -ōris m. ‚Farbe‘) → *ḱu̯ l̥ -s-ó- ‚dunkle Farbe habend; dunkel‘ → gr. πηλός, arm. *šaɫ *‚Dunkles‘ > ‚Erde, Schlamm etc.‘ 5. Substantivierung durch oppositive Akzentverschiebung19 5.1. Das Paradebeispiel für eine substantivierende Akzentverschiebung ist gr. λευκός ‚hell, klar, weiß‘ → λεῦκος m. ‚Name eines Fi18
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Ein Abstraktum ist notabene zugleich immer auch ein Konkretum. Vgl. Röte im Sinne von ‚Rotheit‘ (gr. ἔρευϑος n. ‚Rotheit‘ [A.R. 1.726]) und ‚etwas Rotes‘ (ἔρευϑος ‚Erröten der Wangen‘ [Hp.], lat. rōbur n. ‚(rotes) Kernholz‘). Lit.: Schaffner 2001:328ff.; Steer 2014a:397.
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sches‘ (*‚der Helle‘) bzw. λεύκη f. ‚Weißpappel‘ (*‚die Helle‘). Aus dem Germanischen kann man urgerm. *ƀarzá- ‚starr aufgerichtet‘ → *ƀársa- m. ‚Barsch‘ vergleichen (Schaffner 2001:340–342). 5.2. Das Paradebeispiel im s-stämmigen Kontext ist das schon erwähnte ved. útsa- m. ‚Quelle, Brunnen‘ (als VG auch in jav. usaδā‚Quellen gebend‘): • *u̯ ed-es- n. ‚Wasser‘ (gr. ὕδος n. [Kall.Fr.475], Dat. [Hes.Op. 61]20, arm. get ‚Fluss‘) → *ud-s-ó- ‚Wasser habend, spendend etc.‘ → ved. útsa- m. ‚der Wasser Habende‘ > ‚Quelle, Brunnen‘ 5.3. Auch aus dem Lateinischen, das ja grundsätzlich kaum ein Urteil über den idg. Akzentsitz zulässt21, lassen sich hierfür einige Beispiele anführen, da eine Sequenz *CR̥ HC zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt hat, je nachdem ob sie ursprünglich unbetont (*CR̥ HC > lat. CRāC) oder betont (*CR̥ ́ HC > lat. CaR(a)C nach der palma-Regel22) war. In unserem Fall betrifft das alle Ableitungen zu s-Stämmen von Wurzeln auf *RH, die tatsächlich die vorausgesagte Unterscheidung in adjektivischer (*CR̥ H-s-ó- > lat. CRāro- und teilweise CRăsso-; vgl. clārus, *glārus, crăssus, lăssus etc.) bzw. substantivischer Form (*CR̥ ́ H-s-o- > *CaRaso- > CaRRo-; vgl. parra f. ‚ein Vogel‘, palla f. ‚Frauengewand, Vorhang‘, gallus m. ‚Hahn‘ etc.) reflektieren. Für Einzelheiten muss aus Platzgründen auf Höfler (2015b) verwiesen werden. Lediglich ein Beispiel sei herausgegriffen:
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Vgl. jedoch auch Nussbaum 1986:203 Fn. 16 (ὕδει als umgestalteter Dat. *ὑδεί eines Wurzelnomens?). Vgl. jedoch Vine 2012 mit Szenarien, wo dies doch der Fall ist (mit Erwähnung der palma-Regel auf p. 546). Vgl. Höfler 2015b mit Literatur.
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• *(s)perH-es- n. ‚Feder, Flügel‘ (slow. perọ̑ n., Gen.Sg. perę̑sa ‚Feder‘) → *(s)pr̥ H-s-ó- ‚gefiedert, geflügelt‘ → *(s)pr̥ ́ H-s-eh2 ‚die Geflügelte, Gefiederte‘ > *parasā > lat. parra, umbr. parfa6. i-Substantivierungen23 6.1. Nach Nussbaum apud Vine (2006:151) und Nussbaum (2014b: 304f.) wurden durch den Prozess them. Adj. → i-Stamm (mit Tilgung des Themavokals) einerseits feminine Abstrakta (lat. rauus 3 ‚heiser‘ → rauis f. ‚Heiserkeit‘) und andererseits maskuline Substantivierungen (av. tiγra- ‚spitz‘ → tiγri- m. ‚der Pfeil‘ [*‚der Spitze‘]) gebildet, wobei letztere zur Readjektivisierung neigten. 6.2. Ein s-stämmiges Beispiel ist toch. B laks, Pl. läkṣi ‚Fisch‘ in der Deutung Pinaults (2009:241): • *leu̯ k-es- n. ‚Licht‘ (siehe § 3.3) → *luk-s-ó- ‚hell‘ (ved. rukṣá- ‚glänzend‘) → *luk-s-i- ‚der Helle‘ > toch. B laks pl. läkṣi ‚Fisch‘24 7. u-Substantivierungen25 7.1. Bei den idg. u-Substantivierungen ist die Sache bislang weniger klar. Die Derivation maskuliner Abstrakt-/Konkret-Bildungen26 scheint allerdings zweifelsfrei belegt: 23 24 25 26
Lit.: Schindler 1980:390; Nussbaum 1999:399; Weiss 2009:314f.; Nussbaum 2014b:304f. Zum Benennungsmotiv vgl. λεῦκος m. ‚Name eines Fisches‘ (s.o. § 5.1). Lit.: Nussbaum 1998a:527f.; Nussbaum 2014c:235f.; Neri 2003:346; Rau 2009:131; Rieken 2013:276ff. Daneben scheinen in der Grundsprache auch u-Neutra abgeleitet worden zu sein, die in ihrem Ablautverhalten unabhängig vom thematischen Basisadjektiv, nämlich akrostatisch flektierten. Vgl. *pl̥ h1-nó- ‚voll‘ (ved. pūrṇá-, air. lán etc.) → *pléh1-n-u- ‚Fülle; etwas Volles‘ (air. lín u, n./m. ‚full number, complement‘) nach Nussbaum 1998a:527 (mit Fn. 21) und 2014c:235f. Als neues Beispiel: *dm̥ -s-ó- ‚dicht‘ (lat. dēnsus) → *dóm-s-u/*dém-s-u-
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• *bheh2no- (air. bán ‚weiß‘) → *bheh2nu- (ved. bhānú-, av. bānu- m. ‚Lichtstrahl‘) 7.2. Innerhalb der russus-Adjektive war just das Adjektiv *h1rudh-s-óBasis für eine u-Substantivierung: • *h1reu̯ dh-es- n. ‚Röte, etwas Rotes‘ (gr. ἔρευϑος, lat. rōbur) → *h1rudh-s-ó- (lat. russus 3 ‚rot‘) → *h1rudh-s-u- ‚Röte‘ (air. rus, Gen. rosa m. ‚Schamesröte; Wangen, Gesicht; Scham‘; vgl. Stifter 1998 [2001]:210) 8. n-Substantivierungen27 8.1. Die letzte zu besprechende Möglichkeit der Substantivierung eines thematischen Adjektivs ist der Catō-Typ, d.h. sogenannte „Individualisierungen“ vermittels eines n-haltigen Suffixes. Auch bei diesem Suffix ist eine parallele Funktion, d.h. die Bildung femininer Abstrakta zu erkennen (wofür vgl. Nussbaum 2014b:314). Beispiele für (maskuline) Substantivierungen sind etwa: • gr. στραβός ‚schielend‘ → Στράβων *‚der Schieler‘ (als Name); • lat. catus 3 ‚schlau‘ → Catō, -ōnis *‚der Schlaue‘ (als Name); • av. marəta- ‚sterblich‘ → marətān- ‚Sterblicher‘. 8.2. Nach Hoffmann (1955) reflektiert das letzte Beispiel av. marətān‚Sterblicher‘ die ursprüngliche Flexion dieser Substantivierungen. Das Substantiv (auch in der Wendung Gaiia- Marətan- ‚Sterbliches Leben, Gayomard [der erste Mensch]‘) flektiert nach Hoffmann/Forssman (2004:142ff.) folgendermaßen:
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‚Dichtheit, etwas Dichtes‘ (air. dus u, m.? [< *n.] ‚Dickicht, Gebüsch‘) → *dém-s-u-/*dm̥ -s-éu̯ - ‚Dichte habend‘ (gr. δασύς ‚dicht behaart, dicht belaubt‘); vgl. Höfler 2015c. Lit.: Nussbaum 1986:250; Weiss 2009:309; Nussbaum 2014b:305.
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Nom.Sg. Abl.Sg. Gen.Sg. Nom.Pl.
jav. (Gaiiō) +Marəta jav. (Gaiiāt̰) Marəϑnat̰ jav. (Gaiiehe) Marəϑnō aav. marətānō
Für das Suffix scheint offenkundig eine amphikinetische Flexion zu gelten (Nom. *°ōn, Akk. *°on-m̥ , Gen. *°n-es), während der Stamm keinen Ablaut zeigt. Man kann also vermuten, dass der Themavokal bei dieser Ableitung wie bei i- und u-Substantivierungen getilgt wurde. Einzelsprachlich scheint sich allerdings eine paradigmatisch ausgeglichene Flexion (womöglich parallel zu den Bildungen mit Hoffmann-Suffix; vgl. Hoffmann 1955; Peters 1980:160, 165) durchgesetzt zu haben (siehe auch unten). 8.3. Aus s-stämmigem Kontext bietet der Fischname gr. µύξων ein anschauliches Beispiel. Das ihm zugrundeliegende Possessivadjektiv *muk-s-ó- ‚schleimig‘ war zudem auch Basis für andere Substantivierungen: • *meu̯ k-es- n. ‚Schleim, Rotz‘ [→ *meu̯ k-ōs > lat. mūcor m. ‚Schimmel, Feuchtigkeit‘] → *muk-s-ó- ‚schleimig‘ (Solmsen 1909:238f.) → *múk-s-o- m. ‚der Schleimige‘ > µύξος m. ‚Meeräsche‘ (Ath.) mit Substantivierungsakzent → *muk-s-eh2 > *µύξη >> µύξα f. ‚Schleim, Rotz‘ (Hes.Sc.267) als h2-Ableitung mit kollektiver bzw. delibativer28 Semantik29 → *muk-s-on- ‚der Schleimige‘ > µύξων m. ‚Meeräsche‘ (Arist.)
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Vgl. Nussbaum 2014b:278ff. für den Begriff und pp. 291ff. für die Art der denominalen Ableitung. Zur Semantik vgl. lixa (s.o. § 3.4); zur Umbildung °η → °α vgl. Solmsen 1909:238f.
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9. Die Etymologie des ‚Ochsen‘-Wortes 9.1. Ebenso darf jetzt vielleicht auch das grundsprachliche ‚Ochsen‘Wort gedeutet werden, nämlich *(H)uksé/ón- ‚Stier, Ochse, männliches (Jung)Rind‘. Bislang verdient keine vorgeschlagene Etymologie das Prädikat „befriedigend“ (vgl. NIL:368–370 mit Lit.). Die vorherrschende Auffassung als hysterokinetischer n-Stamm qua Nomen agentis zu einer Wurzel ai. 1ukṣ/vakṣ ‚wachsen‘ oder 2ukṣ ‚spritzen‘ ist semantisch fragwürdig. Zudem gibt es für hysterokinetische n-Stämme als Nomina agentis keine sichere Evidenz, hauptsächlich flektieren so Tiere und Körperteile (vgl. Balles 2002), siehe außerdem unten. Andererseits finden sich auch unmissverständliche Hinweise auf amphikinetische Flexion (mit *-on-), die einer Erklärung bedürfen. 9.2. Die einzelsprachlichen Formen lauten wie folgt: • ved. ukṣán- (Akk. ukṣánam, Gen. ukṣnás etc.; RV 1.164.43 und später auch ukṣā́n-); • av. uxšān- (Akk. jav. uxšānǝm, Gen. jav. uxšnō, Nom.Pl. aav. uxšānō); • mkymr. ych, Pl. ychen < *°ō(n), *°en-es; • urgerm. *uhsan- > got. Gen.Pl. auhsne, an. oxi, nhd. Ochse; • toch. B okso (< *°ōn), A Nom.Pl. opsi (vgl. Pinault 2008:432f.). 9.3. Eine neue morphologische Deutung ergibt sich ausgehend von einem Possessivadjektiv zum s-Stamm *h2eu̯ g-es- ‚Kraft, Stärke‘, fortgeführt in ved. ójas-, av. aojah- ‚Kraft, Lebenskraft‘, verbaut in lat. augustus 3 ‚erhaben‘ (wozu anders kürzlich Albino 2013), lit. augestis ‚Wachstum‘ bzw. möglicherweise auch in áukštas, lett. aûgsts ‚hoch‘. Die Derivationskette kann folgendermaßen angesetzt werden: • *h2eu̯ g-es- n. ‚Kraft, Stärke‘ → *h2ug-s-ó- ‚Kraft, Stärke habend‘ → *h2ug-s-on- ‚der Kräftige, der Starke‘
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Diese Analyse erklärt den fehlenden Wurzelablaut, der bei amphikinetischen Stämmen zumindest in Resten vorhanden sein sollte. Die hysterokinetischen Flexionsspuren andererseits könnten durch Analogie erklärt werden (ved. ukṣán- nach vr̥ ́ ṣan- ‚männlich, männliches Tier‘; vgl. Peters 1993:394). Av. uxšān-, dessen Flexion genau derjenigen von marətān- ‚Sterblicher‘ entspricht, könnte dagegen den ererbten Zustand bewahrt haben, da sich nur so schlüssig erklären lässt, dass es seinerseits Grundlage für die analogische Flexion von ursprünglich hysterokinetischem *h1r̥ sén- (gr. dial. ἐρσήν) → jav. aršān- ‚Mann, Männchen‘ gewesen sein konnte (vgl. Peters 1993:393f. mit Lit.)30. Ein Problem bleibt allerdings der kymr. Pl. ychen < *uχsenes (gegenüber dem Sg. ych < *uχsī < *°ū < *°ō)31, weil das Kymrische sonst keinen Plural auf *-en- kennt, eine analogische Übertragung demzufolge kaum möglich war. 9.4. Die interne Rekonstruktion führt daher mit den wenigsten Zusatzannahmen auf ein ursprüngliches Paradigma mit amphikinetischem Nom.Sg., hysterokinetischem starken Stamm und amphi- oder hysterokinetischem schwachen Stamm. Diese dreifache Alternanz entspricht keinem gängigen Flexionsschema. Eine alternative Deutung der gleichsam amphi-/hysterokinetischen Formen ergibt sich vielleicht jedoch durch folgende Beobachtung zu einigen flexivischen Besonderheiten scheinbar denominaler, substantivierender n-Ableitungen. 9.5. Eine dreifache Alternation von Nom.Sg. *-ōn, Akk.Sg. *-en-m̥ , Gen.Sg. *-n-ós ist nämlich tatsächlich nicht singulär, sondern just bei offenkundigen n-Individualisierungen von zugrundeliegenden thematischen Formationen im Althethitischen beobachtbar: 30
31
Frei nach dem Motto „Le témoignage védique vaut par sa richesse, le témoignage avestique par sa fidélité“ (Benveniste apud Mayrhofer 2005:118 Fn. 80). Ein hysterokinetischer Nom.Sg. hätte über *°en >> *°en+s > *°ēs im Kymrischen keine „i-affection“ verursacht (vgl. Stüber 1998:171) und †wch ergeben.
Denominale Sekundärderivation im Indogermanischen: Eine Ochsentour233
• *pes-es- n. ‚Penis‘ (gr. πέος, ved. pásas-) → *pes(-s)-ó- ‚einen Penis habend‘ → *pes-e/o-n- ‚der mit dem Penis‘32 > ‚Mann‘33 > heth. Nom.Sg. LÚ-aš (OS) wenn /pesas/ < *°ōn+s, Nom.Pl. pí-še-ni-eš (OS) < *°en-es, Gen.Sg. pé-ešna-aš (OH/NS)34 < *°n-os • *ku̯ tu̯ r̥ -ó- ‚vierter‘ (Bildung wie *septm-ó- > gr. *ἕβδµος, aksl. sedmъ etc.) >> *ku̯ tru(u̯ )-ó- (wie lat. quadru°, av. caϑru°) → *ku̯ tru(u̯ )-e/o-n- ‚der Vierte‘ > heth. Nom.Sg. ku-utru-u̯ a-aš (MH/MS) ‚Zeuge‘ < *°ōn+s, Nom.Pl. kuut-ru-e-ni-eš (MH/MS)35 < *°en-es Füglich is es a priori schwieriger, ein derartig unregelmäßiges Paradigma als sekundär entstanden zu betrachten; wie auch das Hethitische zeigt (s. Fn. 40), tendiert es zum Ausgleich in eine regelmäßige Richtung. Allerdings entfällt diese Evidenz natürlich, wenn man *-ḗn+s > heth. -aš ansetzen will (vgl. Kloekhorst 2008:97); eine ehedem postulierte Entwicklung *-ḗn+s > heth. -anza(-) wird heute nicht mehr widerspruchslos angesetzt36.
32
33
34 35 36
Eine ähnliche Grundform wurde auch toch. B paṣe ‚Hase‘ als *pes-ē+s zugrundegelegt (vgl. Balles 2002:3 mit Lit.), für das Adams 2013 s.v. eine Bedeutung „possessed of a pesos“ ansetzt. Mit Pinault 2004:454 ist der Anschluss lautlich allerdings unmöglich. Anders u.a. Balles 2002:3 (gefolgt von Oettinger 2005:148) als ‚Rammler‘. Die Evidenz für *pes ‚rammeln‘ < *‚reiben‘ beschränkt sich allerdings auf heth. pé-eš-zi ‚to rub, scrub (with soap)‘ (Kloekhorst 2008 s.v.), für das m.W. keine sexuelle Konnotation belegt ist und eine Zugehörigkeit zu *bhes ‚kauen‘ < *‚zerreiben‘ nicht ausgeschlossen werden kann. Vgl. Kloekhorst 2008 s.v. mit denselben Grundformen. Vgl. Kloekhorst 2008 s.v. auch zur Semantik ‚der Vierte‘ > ‚Zeuge‘. Siehe auch Fn. 40. Vgl. Melchert 2003.
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9.6. Aber selbst wenn man den hethitischen Befund nicht vermittels einer dreifachen Alternanz erklären will, so fallen diese Beispiele immerhin unter die folgende Gruppe von offenkundig hysterokinetischen Nom.Sg.-Formen auf *°ēn, die gleichsam neben gleichbedeutenden thematischen Stämmen stehen und als n-Individualisierungen von diesen gedeutet werden könnten (somit aber laut communis opinio einen Nom.Sg. *°ōn nach dem Catō-Typ aufweisen sollten). Durch Analogie lassen sich die Bildungen nur schwer erklären, da ein Muster zu fehlen scheint. Ebenso ist eine deverbale Deutung in den meisten Fällen unmöglich, da eine zugrundeliegende Verbalwurzel fehlt, oder sie semantisch nicht als Grundlage infrage kommt. • ved. yóṣā- f. ‚Mädchen‘ (RV+) vs. yóṣan- f. ‚id.‘ (RV [°aṇas]; vgl. EWAia II s.v.); • ved. śaśá- m. ‚Hase‘ < *ḱas-ó- ‚grau‘ vs. apr. sasins < *ḱas-ēn+s ‚der Graue‘ (vgl. Balles 2002:3), evtl. auch germ. Obliquus *χazen- (vgl. Schaffner 2001:544ff.); • gr. πῡρός m. ‚Weizenkorn‘, Lith. pũras m. ‚Einzelkorn von Winterweizen‘ < *puHró- vs. πυρήν, -ῆνος m. ‚Obst-, Fruchtkern‘ (Ion., Arist., Hell.) < *puHrēn-; • der Typ lit. rùdas ‚rotbraun‘ < *h1rudh-o- vs. ruduõ m. ‚Herbst‘, Gen.Sg. rudeñs etc.; • air. lorc f. ‚club, stick‘, MW llory ‚id.‘, akorn. lorch ‚rod‘ < *lurg-eh2 (vgl. an. lurkr m. [a/i?] ‚stick‘) vs. mir. *lurgae ‚Schienbein‘ (Nom.Pl. lúirgne, Dat.Pl. luirgnib) < *lurg-ēn- (vgl. Stüber 1998:174); • lat. līmus 3 ‚schief‘ vs. līmen, -inis n. [< *m.?] ‚Schwelle, Türbalken‘ (vgl. Steer 2014b:338; Steer 2015:131); • *gol-o- ‚nackt‘ (aksl. golъ) vs. *gol-en- ‚das Nackte‘ (>> aksl. golěnь f. ‚Schienbein, Wade‘, toch. A kolye, B kolyi ‚unterer Teil des Beins [beim Tier]‘ (vgl. Steer 2014b:338; Steer 2015:130f. mit Lit.).
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9.7. Dabei erklärt sich diese „hysterokinetische“ Flexion bzw. ein Suffix *-en- (= *-e-n-) vielleicht problemlos aus der Verknüpfung zweier simpler communes opiniones37: • bei Ableitung von thematischen Grundwörtern tritt das sekundäre n-Suffix an den Themavokal an, ohne dass dieser getilgt wird (vgl. Catō < *°o-on); vgl. Nussbaum (1986:250ff.); Weiss (2009: 309); • bei sekundärer Anfügung athematischer Suffixe an thematische Grundwörter erscheint der Themavokal als *-e- (vgl. *-e-h2(-), *-e-(o/e)t(-), *-e-u̯ (-) etc.); vgl. Schindler (1976); Nussbaum (1999:414 Anm. 101). Wir könnten demnach mit einem starken Stamm: *-e-e/on- > *-ēn- gegenüber einem schwachen Stamm *-e-n- > *-en- rechnen. Alternativ kommt auch ein Szenario starker Stamm *-e/o-e/on- > *-ōn- gegenüber schwachem Stamm *-e-n- > *-en- infrage. Die eben erwähnten „hysterokinetischen“ denominalen Bildungen hätten dann den schwachen Stamm verallgemeinert, während der Catō-Typ das Paradigma zugunsten des starken Stammes ausgeglichen hätte. Eine nicht unwesentliche Verlegenheit in dieser Frage stellt das unsichere Ergebnis grundsprachlicher Vokalkontraktionen dar. Immerhin könnten scheinbare „hysterokinetische“ Nomina agentis dann als individualisierte *temós-Adjektive38 gedeutet werden: • *lei̯ ǵh-ó- ‚leckend‘ → *lei̯ ǵh-e-(e/o)n- ‚der Lecker‘ > λειχήν, -ῆνος m. ‚Flechte, Ausschlag‘ (Aesch., Hp.) Das nullstufige Suffix im schwachen Stamm bei manchen Bildungen, etwa dem Ochsen oder av. marətān-, bleibt allerdings weiterhin unge37 38
Vgl. für diese Bildungen auch Steer 2015:130ff., der den Akzentsitz für den Ablaut des Themavokals verantwortlich macht. Nach der Lehre Nussbaums, vgl. Malzahn 2012; Nussbaum 2014c:236 mit Fn. 38.
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klärt und müsste dann der Analogie zu primären amphi- und hysterokinetischen Stämmen zugeschrieben werden. Ähnliche Ideen zum Zusammenhang von thematischen Grundwörtern und davon abgeleiteten hysterokinetischen n-Stämmen qua Substantivierungen bzw. Individualisierungen finden sich bei Peters (1980:166) und Oettinger (2005:148 mit Fn. 12). Die Details bleiben freilich noch zu klären, ein Fazit kann allerdings insofern getroffen werden, als dass die flexivischen Sonderheiten des ‚Ochsen‘-Wortes eine denominale Herkunft keineswegs ausschließen, sondern vielleicht sogar plausibler machen als einen primären, deradikalen Ursprung. 9.8. Zurück zur Semantik des Ochsen: Ein Benennungsmotiv ‚der Starke, der Kräftige‘ ist durchaus plausibel, oder zumindest plausibler als andere Herleitungen, die von einer Ursprungsbedeutung ‚der Bespritzer‘, ‚der Besamer‘ etc. ausgehen. Dies gilt insbesondere, wenn man bedenkt, dass das Wort wohl ursprünglich dem einfachen agrikulturellen Vokabular entstammte, wo der Ochse innerhalb des domestizierten Hausviehs das durch seine Stärke charakterisierte Tier war und für Lastwagen, Pflug etc. eingesetzt wurde. Sein Pendant, das sich aufgrund seiner Schnelligkeit auszeichnende Tier, war das Pferd. In der Deutung Schindlers (1984)39 haben wir mit folgender Derivationskette zu rechnen: • *h1óḱ-u/*h1éḱ-u- ‚Schnelligkeit‘ → *h1(e)ḱ-u̯ -ó- ‚Schnelligkeit habend‘ → *h1éḱ-u̯ -o- ‚der Schnelle‘ > ‚Pferd‘ (ved. áśva-, lat. equus etc.)40 39
40
Ich danke Martin Peters für die Zurverfügungstellung des Handouts. Vgl. auch Balles 1997:221 Fn. 8 (mit Referenz auf Schindlers Unterricht); Hackstein 2013. Vielleicht unabhängig von diesen Formen, die Substantivierungs-Vr̥ ddhi (vgl. Schindler apud Mayrhofer, EWAia II:269f.) aufweisen, liegt, durch einfache Akzentrückziehung auf den aus dem in dieser Stellung regulär auftretenden (vgl. Vine 1999) Schwa secundum entstandenen Vokal ι, ein *h1ǝ́ḱu̯ o- in gr. ἵππος vor (zum Lautlichen vgl. zuletzt Bozzone 2013:9f.).
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9.9. Eine ähnliche Ableitungskette kann nun auch für ein weiteres Haustier angesetzt werden, wie im Kern schon Osthoff (1901:199ff., besonders 219) postuliert hat: • *péḱ-u- n. ‚Kleinvieh‘ (ved. páśu-, got. faihu, lat. pecū etc.) → *pḱ-u̯ -ó- ‚mit dem Kleinvieh seiend‘ → *pḱ-u̯ -on- ‚der beim Kleinvieh ist‘ > ‚Hund‘ (ved. śvā́, gr. κύων etc.) Man beachte wiederum den fehlenden „Wurzelablaut“, die Flexion, sowie die auffällige Lautsequenz *(-)ḱu̯ -41. In dieser archaischen Bildung ist entgegen allen oben besprochenen Formen die „Possessivableitung“ wohl noch à la Schindler in ihrer ursprünglichsten Funktion
41
Besteht ein Zusammenhang mit dem offenkundig generellen Fehlen des Phänomens Vr̥ ddhi im Griechischen? Der u-Stamm heth. *ekku- ‚Pferd‘ ist (pace Kloekhorst 2008:237ff.) nicht zwingend ursprünglich, sondern wohl aus älterem *ekkuu̯ a- synkopiert (vgl. Starke 1995:120), wofür durchaus Vergleichsbeispiele angeführt werden können, vgl. kutruu̯ an- c. ‚Zeuge‘ mit viererlei Nom.Pl.: n-stämmig °truu̯ eneš (MH/MS), geneuert °truu̯ aš (OH/NS), °trūš (OH/NS), daneben u-stämmig °truēš (MH/NS) [auch Dat.Lok. ku-ut-ru-i (NH)] (vgl. Kloekhorst 2008 s.v.; Oettinger 1982:164f.; Weitenberg 1984:270, 273). Zur Synkope, die auch im Inlaut auftritt, vgl. Melchert 1984:52f. Jav. fšū° (fšūmaṇt- ‚Vieh haltend‘ etc.) ist wohl (pace Mayrhofer 1986:118) nicht als augenscheinliche Evidenz dafür verwertbar, dass anlautendes *pḱin irgendeiner Form im Avestischen hätte erhalten werden müssen (wo *pḱu̯ ōn- > spā, Gen. sūnō etc.), da zumindest in den „starken“ Kasus ein anlautender Kontext *CCR- (wobei C = Okklusiv) vorlag, der eine Vereinfachung qua Eliminierung des ersten Konsonanten quasi regulär erforderte (vgl. ved. turī́ ya-, túrya-, av. tūiriia- ‚viert-‘ aus *ku̯ tur° trotz Analogiedrucks vonseiten des Grundzahlworts). Eine alternative Auflösung mit Insertion eines Schwa secundum (*pǝḱu̯ o° bzw. *pǝḱu°) könnte allerdings tatsächlich Grundlage für aksl. pьsъ ‚Hund‘ etc. gewesen sein (vgl. Hamp 1980 mit idiosynkratischen Rekonstruktionen).
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und Bedeutung als Instrumentalhypostase42 in soziativer Lesart ‚der mit dem Kleinvieh ist‘ zu deuten.
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Stefan Höfler Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien Sensengasse 3a 1090 Wien
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