Stefan Kristensen Das Zugrundegehen des Bildes Die folgenden Überlegungen sind der Erscheinungsart des triebhaften Lebens im Bild gewidmet. Dieses Problem ist sowohl ästhetischer als auch existentieller Natur. Unter dem ästhetischen Gesichtspunkt handelt es sich um die Sichtbarkeit des Bildes: Die Sichtbarkeit gründet auf dem Verhältnis von Figur und Hintergrund, und es fragt sich, woraus der Hintergrund des Bildes selbst eigentlich besteht. Die Fragestellung ist bereits u.a. bei Maurice Merleau-Ponty in seinem Aufsatz zum Kino formuliert, dann von Jean-François Lyotard radikalisiert worden. Lyotard benutzt in seinem Buch Discours, figure psychoanalytische Begriffe, um eine Theorie des (Hinter-)Grunds als Raum der Triebregungen zu skizzieren. Der Schriftsteller und Erzieher Fernand Deligny macht diesen Ansatz in seinen Schriften zum Wesen des Bildes und in seiner Praxis mit autistischen Kindern fruchtbar. Am Ende meiner Reflexion sollte die Frage, ob eine Erfahrung des rein Bildlichen möglich sei, plausibel gemacht werden.
1. Einleitung Es gibt ein wenig diskutiertes Kapitel in der französischen Philosophie, nämlich das Problem des gestalterischen Ausdrucks von dem, was sich als solches nicht zeigen kann. Dieses Problem ist ein Schlüsselproblem in der zeitgenössischen Ästhetik und Bildtheorie: Das Bild ist nicht nur ein Fenster, das auf eine sichtbare Realität öffnet, sondern zugleich auch eine Fläche, die ein Unsichtbares durchscheinen lässt. Wir stoßen bei Merleau-Ponty auf eine nicht ganz erklärte Spannung, die er selber in seinem Spätwerk »das Paradox des Ausdrucks« nennt. Dieses Paradox benennt die Tatsache, dass die Aufgabe der Philosophie darin besteht, das Schweigen auszudrücken. Diese Aufgabe teilt sie mit den bildenden Künsten, indem sie sich beide mit dem Sein als sinnlichem Grund aller Existenz befassen. Dieses Paradox wird bei Lyotard in Discours, figure im Rahmen einer Philosophie des Triebes verschärft und zugespitzt. Anknüpfend an die Philosophie des späten Merleau-Ponty zeigt Lyotard, dass der Phänomenologe das Phänomen des Begehrens verpasst, verstanden als die Kraft, die sich ihrem Wesen gemäß dem Blick entzieht. In den Bildern vieler schizophrenen Patienten geht es darum, den Grund zu vermeiden, und so zu verdecken; ein Umstand, den Maldiney etwa in der selben Zeit ,aber unabhängig von Lyotard bemerkt. Deligny entwickelt, ohne irgendeine enge Verknüpfung zu seinen Zeitgenossen, ein Denken 113
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des Bildes, das sich denselben Fragen nähert. Bei diesen vier Autoren, so verschieden ihre Denkprojekte auch gewesen sein mögen, tritt doch eine ähnliche Fragestellung zutage: Wie wird das Unsichtbare, die reine Kraft des Triebes, das Fließen des nackten Lebens, im Bild sichtbar? Und wie können wir diesem rein Gestalterischen im Diskurs Rechnung tragen? Ist es überhaupt möglich, das Bild zu seinem Grunde zu tragen? Indem diese Fragestellung verfolgt wird, wird das phänomenologische Denken auf seine Grenzen geprüft. Zugleich wird auch eine phänomenologische Fragestellung bei Autoren verfolgt, die außerhalb dieser Tradition stehen, deren eigene Fragestellungen aber dennoch in enger Verbindung mit der Phänomenologie als Denkrichtung gesetzt werden kann.
2. Der Sinn des Visuellen bei Merleau-Ponty Den Hintergrund sehen Merleau-Ponty behauptet in seinem Aufsatz von 1945, »Das Kino und die neue Psychologie«, dass das Erscheinen der Welt für uns völlig anders aussehen würde, wenn wir die Figur und den Hintergrund austauschen könnten: »Das Aussehen der Welt würde für uns erschüttert, wenn es uns gelänge, die Zwischenräume zwischen den Dingen als Dinge zu sehen – zum Beispiel den Raum zwischen den Bäumen auf der Strasse – und umgekehrt die Dinge selbst – die Strassenbäume – als Hintergrund.«1
Im Merleau-Pontys Philosophie des Bildes gilt es nicht nur darum, zu beschreiben, wie ein Bild etwas von der Realität zeigt, sondern auch, und viel mehr, wie das Unsichtbare im Bild durchscheint. Das Unsichtbare bei Merleau-Ponty ist nicht etwas, was im Prinzip sichtbar sein könnte, das aber nicht erscheint; vielmehr ist es das im Bild, was der Sichtbarkeit des Sichtbaren zugrunde liegt und zugleich als solches unsichtbar bleibt. Kurz gesagt, es ist der Grund im Bild, der Grund der Sichtbarkeit des Bildes. Eine der Aufgaben einer Phänomenologie der Bildlichkeit besteht darin, diesen unsichtbaren Grund zu beschreiben2.
1 Maurice Merleau-Ponty, »Das Kino und die neue Psychologie«, in Sinn und Nicht-Sinn, München, Wilhelm Fink Verlag, 2000, S. 66. 2 Zu dieser Problematik, vgl. Mauro Carbone, La visibilité de l’invisible. Merleau-Ponty entre Cézanne et Proust, Hildesheim: G. Olms Verlag 2001.
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Aufgabe der Philosophie / Aufgabe der Kunst Die Aufgabe der Philosophie ist nach Merleau-Ponty ähnlich der Aufgabe des Künstlers, der immer wieder dazu geführt ist, den Grund des Bildes auszudrücken. Der Philosoph nennt diese Situation das Paradox des Ausdrucks, das vielleicht nirgends so eindringlich erklärt wird, wie in der Passage von Das Sichtbare und das Unsichtbare, wo er schreibt, dass der Philosoph dazu berufen ist, zu schweigen, »schweigend einszuwerden« [»coïncider en silence«]. Seine Rede sei eine »unerklärliche Schwäche«, und er sollte eher »im Sein eine Philosophie wiederfinden, die schon fertig vorliegt.« Aber der Philosoph sei freilich nicht imstande, dieser Aufforderung zu folgen, da seine Arbeit darin bestehe, das »in Worte zu setzen«, was ihm durch eben dieses Schweigen erscheint. Merleau-Ponty schließt, dass »sein ganzes ›Werk‹ in dieser absurden Bemühung besteht« 3 ; absurd, weil es darin besteht, das Schweigen zu brechen, um den Sinn desselben Schweigens auszudrücken. Eine ähnliche These ist in einer Arbeitsnotiz von Juni 1960, mit dem Titel »Fleisch – Geist« zu finden: Die Philosophie soll sich nicht mit schon abgefertigten und sedimentierten Bedeutungen begnügen, sondern ist »die Suche nach einer Invariante des Schweigens«, und besteht daher darin, zu zeigen, »wie die Welt sich aus einem Nullpunkt des Seins heraus artikuliert, der nicht nichts ist«4. Die visuellen Künstler sind imstande, genau dieses »Invariante des Schweigens« zu fassen und ihm Form zu geben. Merleau-Ponty spricht in den letzten Seiten von Das Auge und der Geist, indem er Da Vinci und Rilke erwähnt, von der »verschwiegene[n] Wissenschaft« der Maler, einem Wissen, das der Sprache fremd bleibt, aber das »in Werken, die im Sichtbaren existieren, genauso wie Dinge der Natur«5, spricht. Nach dem Abschnitt zum Problem der Zeit und der Bewegung in der Malerei ist die folgende Konklusion zum Sinn des Wortes »Sehen« zu lesen: »Das Sehen ist kein bestimmter Modus des Denkens oder eine Selbstgegenwart; es ist mein Mittel, von mir selbst abwesend zu sein, von innen her der Spaltung des Seins beizuwohnen, durch die allein ich meiner selbst innwerde.« 6 Dieses Geheimnis des Sehens haben die Maler immer gekannt, fährt er fort. Dieses verschwiegene Wissen handelt von der Erfahrung des Seins als solchem, oder wie er es etwas weiter unten ausdrückt, von »einer
3 Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München, Wilhelm Fink Verlag, S. 166. 4 A.a.O., S. 327. 5 Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1984, S. 39. 6 A.a.O.
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universellen Sichtbarkeit, einem einzigen Raum, der trennt und vereinigt, der allen Zusammenhang trägt«7. Die Maler haben, so Merleau-Ponty, mit allen Dimensionen des Sichtbaren zu tun aufgrund ihrer besonderen Fähigkeit zu sehen und sich zu bewegen. Indem er diese enge Beziehung zwischen den Malern und dem Sichtbaren zu beschreiben versucht, deutet er auf den berühmten Satz von Husserl aus dem § 16 der Cartesianischen Meditationen: »In diesem Kreislauf gibt es keinen Bruch, unmöglich zu sagen, dass an einer bestimmten Stelle die Natur ende und der Mensch oder der Ausdruck beginne. So ist es das stumme Sein, das selber dazu kommt, seinen eigenen Sinn zu manifestieren.«8 Das stille Sein kommt dank der Handlungen des Malers9 zum Vorschein und manifestiert seinen eigenen Sinn. Bei Merleau-Ponty ist der Begriff des Seins als solches nur im Bereich der Sinnlichkeit zu erfahren. Die ontologische Differenz ist bei ihm eine Verallgemeinerung des Gegensatzes von Gestalt und Grund: Eine Gestalt im Wahrnehmungsfeld ist deshalb sichtbar, weil sie sich von ihrem Grund abhebt; das Wahrnehmungsfeld ist deshalb selbst wahrnehmbar, weil es sich von einem allgemeineren Grund abhebt, und zwar auf dem Grund des Seins selbst.10 Dieser allgemeinere Grund ist es, den die visuelle Kunst, treffender als die Philosophie, zur Aufgabe hat durchscheinen zu lassen. Worin besteht das Unsichtbare? Nun ist aber die Frage, wie dieses Unsichtbare des Seins als solches überhaupt zum Vorschein kommt. Zu dieser Frage ist Merleau-Pontys Ansatz auch von dem heideggerschen zu unterscheiden: Es geht um die Thematisierung des Präreflexiven, und in diesem Bereich sind Affektivität und Leiblichkeit die Schlüsselbegriffe, das heißt, dass die Perspektive der Wahrnehmung im kognitiven Sinne überschritten werden muss. In Merleau-Pontys Spätwerk gibt es zu einer solchen Überschreitung mehrere Hinweise, z.B. im letzten Kapitel von Das Sichtbare und 7 A.a.O., S. 40. 8 A.a.O., S. 41. 9 Merleau-Ponty spricht von der Malerei, aber sein Diskurs trifft auf die gestaltende Künste im Allgemeinen zu. Zur Frage der künstlerischen Disziplinen aus der Perspektive von Merleau-Ponty, vgl. Meinen Aufsatz »Le primat du performatif«, in: Du sensible à l’œuvre. Esthétiques de Merleau-Ponty, hg. von E. Alloa und A. Jede, Brüssel: La Lettre Volée 2012, 297–315. 10 Diese flüchtige Beschreibung der ontologischen Problematik bei MerleauPonty kann auch als Einleitung zum Begriff des Fleisches (la chair) gelesen werden.
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das Unsichtbare. Hier wird klar, dass das Präreflexive nicht nur mit der Wahrnehmung als Identifizierung einer Gestalt im Raum zu tun hat, sondern ihm auch eine Dimension des Begehrens (désir) innewohnt. Begehren ist hier als eine Kraft zu verstehen, die dem Subjekt innewohnt, aber die zugleich dem Willen und dem Bewusstsein des Subjekts fremd bleibt. Wie es Jean-François Lyotard im ersten Kapitel von Discours, figure (1971) formuliert, ist Begehren wie die Mitte eines Tornados: selbst unbeweglich, aber notwendigerweise anwesend in der Struktur des Tornados. »Das Schweigen ist das Gegenteil des Diskurses, es ist zugleich Gewalt und Schönheit; aber es ist seine Bedingung, da es auf der Seite der Dinge steht, von denen zu sprechen und die auszudrücken sind.«11 Wie wir es im nächsten Abschnitt sehen werden, ist die Stille bei Lyotard der paradoxale Ausdruck des Begehrens. Merleau-Ponty hat diese Dimension des begehrenden Schweigens als Bedingung des Sinnes auch erkannt, aber nur etwa flüchtig am Ende des Sichtbaren und Unsichtbaren erwähnt, wenn er den Prozess der Wahrnehmung im Moment der Begegnung mit einer anderen Subjektivität beschreibt: »Sobald wir andere Sehende sehen, […], sind wir uns fortan durch fremde Augen voll sichtbar«12. Das Auftauchen von Anderen im Leben des Subjekts wird als die Bedingung der eigenen Sichtbarkeit für sich selbst dargestellt. Und dieses Bewusstwerden seiner eigenen Sichtbarkeit (für sich selbst und für die Anderen) geschieht nicht nur aufgrund der bloßen Anwesenheit von Anderen, sondern auch aufgrund dessen, was Merleau-Ponty hier »die stille und geduldige Arbeit des Begehrens« nennt: »Zum ersten Mal verkuppelt sich der Leib nicht mehr mit der Welt, er umschlingt einen anderen Leib, indem er sich sorgfältig und gänzlich auf ihn einlässt und mit seinen Händen unablässig die seltsame Gestalt nachzeichnet, ihrerseits alles gibt, was sie empfängt, ganz verloren für die Welt und ihre Ziele, fasziniert durch die einzige Beschäftigung, sich mit einem anderen Leben im Sinn treiben zu lassen und sich zum Außen seines Innern und zum Innern seines Außen zu machen. Indem Bewegen, Berühren und Sehen sich fortan auf den Anderen und auf sich selbst einlassen, gehen sie zu ihrer Quelle zurück, und mit der geduldigen und schweigsamen Arbeit des Begehrens beginnt das Paradox des Ausdrucks.«13
11 Jean-François Lyotard, Discours, figure, Paris: Klincksieck 1971, S. 14: »Le silence est le contraire du discours, il est la violence en même temps que la beauté : mais il en est la condition puisqu’il est du côté des choses dont il y a à parler et qu’il faut exprimer.« Da es noch keine deutsche Fassung dieses Buches gibt, sind die Zitate von mir übersetzt. 12 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, a.a.O., S. 188. 13 A.a.O., S. 188–189.
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Ich möchte hier nur folgendes hervorheben: Merleau-Ponty erkennt, dass Sinnlichkeit, ebenso wie die Fähigkeit, überhaupt wahrzunehmen, in der Existenz der Anderen wurzelt. Die Existenz der Anderen ist mehr als ein bloßes Mit-Sein; es ist eine Anwesenheit, die Bewegungen in mir bewirkt, die mich entweder anzieht oder abstößt, und die also zuallererst die Verbindung zwischen Bewegung, Berührung und Sicht verursacht. Darum wird hier das Begehren als eine grundsätzliche Bedingung der Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit dargestellt. Aber es gibt dazu bei Merleau-Ponty keine weiteren Ausführungen; es bleibt bei diesem Hinweis, dass das Paradox des Ausdrucks auf der Kraft und Arbeit des Begehrens beruht, ohne weitere Begründungen.
3. Lyotards Bildphänomenologie des Triebes Lyotards Dialektik des Sinnes und des Triebes Der Titel dieses Abschnitts ist etwas provokativ. Lyotard hat sich mehrmals gegen die Phänomenologie ausgesprochen, obwohl er sich auch, besonders in Discours, figure, als einen Erben von Merleau-Ponty darstellt. Seine Kritik an der Phänomenologie (von Husserl und Merleau-Ponty) wird in einem Satz formuliert: »Die Phänomenologie kann die Gegebenheit nicht erreichen, weil sie, treu der philosophischen Tradition des Abendlandes, immer eine Reflexion über die Erkenntnis ist, und weil eine solche Reflexion zur Funktion hat, das Ereignis zu beseitigen«14, und ein bisschen weiter im Text zu Merleau-Ponty im Besonderen: »Sein Heidentum bleibt in der Problematik des Wissens stecken; dies ergibt eine glückliche Philosophie des wissenden Fleisches, die den Entzug verkennt.«15 Dieser Kritik zum Trotz muss Lyotards Philosophie des Bildes und des Begehrens (der Komplex, den er das Figurale nennt) im Umfeld der Phänomenologie von Merleau-Ponty angesehen werden. Discours, figure beginnt mit der Behauptung, dass das Sichtbare nicht auf das Diskursive reduzierbar ist, dass das Sichtbare sich als eine konstitutive Differenz innerhalb der sprachlichen Bedeutung enthüllt. Während Merleau-Ponty eine Kontinuität zwischen Sicht und Diskurs anzunehmen pflegte, besteht Lyotard auf einer radikalen Differenz. Lyotard bezieht sich explizit 14 Lyotard, Discours, Figure, a.a.O., S. 21. »La phénoménologie ne peut pas atteindre la donation parce que, fidèle à la tradition philosophique de l’Occident, elle est encore une réflexion sur la connaissance, et qu’une telle réflexion a pour fonction de résorber l’événement«. 15 A.a.O., S. 22: »Mais son paganisme reste coincé dans la problématique du savoir; cela fait une philosophie de la chair savante, qui est heureuse, et méconnaît le dessasissement.«
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auf Merleau-Pontys Phänomenologie des Sichtbaren16 und weicht von ihr ab, wenn er das Wesen des Sichtbaren durch den Begriff des Begehrens tiefer hinterfragt: »Dass der Berg Sainte Victoire aufhört, einen Gegenstand des Sehens zu sein, um ein Ereignis im Wahrnehmungsfeld zu werden, das ist, was Cézanne begehrt [désire], das ist, was der Phänomenologe hofft zu verstehen, und was, so denke ich, er nicht verstehen kann.«17
Der Unterschied zwischen den Bereichen des Begehrens und des Sinnes kann vielleicht wie folgt charakterisiert werden: Der Sinn, wahrnehmungsmäßig oder sprachlich, ist wesentlich als eine expressive Struktur zu beschreiben: Alles, was erscheint, erscheint, indem es auf etwas anderes hinweist oder hindeutet. Die Struktur kennzeichnet jedes Ausdrucksphänomen, wie Merleau-Ponty es in seiner ersten Vorlesung am Collège de France im Frühling 1953 zeigt. Der Ausdruck wird dort definiert als »die Eigenschaft, die ein Phänomen durch seinen inneren Zusammenhang hat, ein anderes Phänomen zu erkennen zu geben«18. In dieser ersten Vorlesung betont Merleau-Ponty auch, dass im Gegensatz dazu das Begehren die Sinnstrukturen und Figuren stört, ohne auf irgendetwas hinzuweisen; es ist unvorsehbar, konstituiert eine reine Kraft und keinen bedeutsamen Zusammenhang im soeben definierten Sinne. Lyotard hebt zudem hervor, dass das Begehren eine Intensität ist. Als MerleauPonty jedoch am Ende der 1950er Jahre das Motiv der »Arbeit des Begehrens« an der Wurzel meines Verhältnisses zur Welt und zu den Anderen einführt, bringt er ipso facto ein Element der Diskontinuität zum Bereich des Sinnes ein. Der Begriff des Figuralen Diese Problematik ist genau der Ausgangspunkt von Lyotards Discours, figure. Er postuliert zugleich die Fremdheit des Begehrens im Verhältnis zum Sinn und die Verflechtung der beiden im real existierenden Bild. Anstatt so zu tun, als würde Lyotard aus der Stille der Dinge selbst 16 Vgl. A.a.O., S. 20 17 A.a.O., S. 21 : »Que la Montagne Sainte Victoire cesse d’être un objet de vue pour devenir un événement dans le champ visuel, c’est cela que Cézanne désire, c’est cela que le phénoménologue espère comprendre, et que je crois qu’il ne peut pas comprendre.« 18 Maurice Merleau-Ponty, Le monde sensible et le monde de l’expression. Cours au Collège de France. Notes, 1953, hg. von E. de Saint Aubert und S. Kristensen, Genf: MetisPresses 2011, S. 48: »On entendra ici par expression ou expressivité la propriété qu’a un phénomène, par son agencement interne, d’en faire connaître un autre qui n’est pas ou même n’a jamais été donné.«
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sprechen, platziert er sich im Diskurs und versucht, die Manifestierungen des Begehrens »vom Innern der Worte«19 als Störung der Sinnstrukturen zu entdecken. Ein solches Vorgehen beinhaltet eine doppelte Bewegung: Er beschreibt die Kluft zwischen dem Sprachlichen und dem Bildlichen und zugleich ihre Verflechtung. In der Einleitung erklärt Lyotard, dass er »sich auf Merleau-Pontys Phänomenologie des Sichtbaren verlässt«20, aber er bemerkt auch, dass diese Phänomenologie die für ihn grundsätzliche Tatsache verkennt, dass die Sicht eine begehrende, libidinöse Dimension erweist. Anders ausgedrückt sind die Aufmerksamkeit für eine Figur im Wahrnehmungsfeld und der Rhythmus der wahrnehmenden Erforschung einer Landschaft oder eines Kunstwerks von den Intensitäten des Begehrens bestimmt. Diese Intensitäten sind als solche nicht thematisierbar. In diesem Sinne ist Lyotard gewiss radikaler als Merleau-Ponty in seinem Gebrauch des Wortes »Stille/Schweigen« (silence). Während Merleau-Ponty eine Kontinuität zwischen den Bereichen des Visuellen und des Diskursiven beibehalten will, postuliert Lyotard einen scharfen Bruch zwischen den beiden. Er weigert sich konsistent dagegen, den Sinn des Visuellen mit dem philosophischen Diskurs zu substituieren. Es gibt nach Lyotard ein »radikales Einverständnis [connivence] zwischen der Figur und dem Begehren«21, das dafür zuständig ist, wie sich das Sichtbare durch die Bewegungen des Begehrens immer wieder formiert und deformiert. Unbewusste Prozesse formen die Bilder, weil sie die Bilder produzieren22, aber sie deformieren gleichsam auch die Bilder, weil sie nicht den Regeln der Sinnbildung folgen. Ausgehend von der freudschen Konzeption des Bildes zeigt Lyotard, dass der Raum des Sinnes (bildlich oder sprachlich) von den unbewussten Prozessen umgeformt wird, und dass diese Mischung von Sinnhaftem und Triebhaftem einen neuen Raum erscheinen lässt, einen sich bewegenden und wandelbaren Raum. Das Wesentliche in diesem Argument ist, dass die unbewussten Prozesse die sinnhaften Strukturen stören und sogar entstellen können. Die sinnhaften Strukturen sind zweierlei: diakritische Systeme, wo jedes Zeichen in Beziehung zu allen anderen im selben System Sinn hat, und Systeme des Hinweises [référence], wo jedes Zeichen auf etwas außerhalb des Systems, in der Welt, hinweist. Die Haupteigenschaft der unbewussten, triebhaften Prozesse besteht darin, diese Strukturen/Systeme zu stören, ohne dafür andere Strukturen an ihre Stelle zu setzen. Das heißt, dass diese Prozesse ereignishaft, überraschend und unvorhersehbar sind. Das Schweigen des Begehrens besteht gerade darin: Übertretung, Auflösung,
19 Lyotard, Discours, figure, a.a.O., S. 11. 20 A.a.O., S. 20. 21 A.a.O., 268. 22 Ein Prozess, den Freud die »Darstellbarkeit« nennt.
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Zerstörung der Regeln der Sinnbildung durch die unvorhersehbaren Bewegungen des Begehrens. Lyotard behauptet, dass die moderne und zeitgenössische Kunst wesentlich darin besteht, verschiedene Weisen der Auflösung des Sinnes zu durchforschen. Durch eine solche Dialektik entstehen neue Sinnstrukturen: Wenn ein Künstler in einem Werk die die Wirklichkeit bezeichnenden Sinnstrukturen stört, können entweder die geerbten Strukturen sich verändern oder neue Strukturen können auftauchen. Der wesentliche Aspekt hier ist die Kraft der Übertretung im Prozess der Stiftung von neuen Sinnstrukturen. Die Bewegungen des Begehrens werden bei Lyotard analog der Bewegung der Güter und des Kapitals im marktökonomischen System, d.h. als Verkehr von bloßen Intensitäten. Diese Bewegung ist also, als solche, gleichgültig: Sie kann jedes mögliche Ergebnis haben. Das, was ihr eine bestimmte Form gibt, ist der »dispositif« , durch den sie fließt, z.B. eine bestimmte Form von Malerei, oder das Video, aber als solche ist dieser Verkehr der Intensitäten neutral. Das Triebhafte als Hintergrund Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Lyotard einen schwachen Punkt im Denken von Merleau-Ponty gesehen hat, und ihn darum kritisiert, weil er das Begehren, verstanden als triebhafte Kraft, besonders im Bereich der visuellen Wahrnehmung verkannt habe. Dabei radikalisiert Lyotard das phänomenologische Problem des Verhältnisses zwischen Gestalt und Diskurs, zwischen der unmittelbaren Erfahrung der Umwelt und der begrifflichen Sprache. Deshalb gibt es bei ihm trotz der Kritik an der Phänomenologie eine Art der Epoché, der Ausschaltung der Wahrnehmungsgewohnheiten, die zum Zweck hat, den begehrenden Hintergrund des Gestalthaften zum Erscheinen zu bringen: »Eine beinahe unendliche Bemühung wird gefordert, damit das Auge sich von der Gestalt einfangen lässt, damit die der Gestalt innewohnende Energie mitgeteilt werden kann. Eine Arbeit ist hier zu leisten, um die Voraussetzungen, die Interpretationen, die Gewohnheiten […] fernzuhalten.«23
Lyotard spricht hier von einer Ausschaltung unserer gewöhnlichen Wahrnehmung des Visuellen. Aber diese lyotardsche Epoché ist auf einer tieferen Ebene als die von Husserl ursprünglich formulierte 23 A.a.O., S. 218. »Un effort presque sans fin est exigé pour que l’œil se laisse capter par la forme, se laisse communiquer l’énergie qu’elle détient. Il y a ici un travail à faire pour tenir à l’écart tous les présupposés, les interprétations, les habitudes de lecture, que nous contractons avec l’usage prédominant du discours.«
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phänomenologische Epoché. Es geht bei ihm nicht darum, primär die Erscheinungsweise des Sichtbaren zum Vorschein zu bringen, sondern vielmehr die hintergründigen Energieflüsse sichtbar zu machen. In seinem 1971 geschriebenen Aufsatz »Freud nach Cézanne« betont Lyotard die Fähigkeit des Künstlers, zu »erhalten ohne zu beherrschen«, »die Energieflüsse im psychischen Apparat fliessen zu lassen, ohne stark strukturierten Systemen zu begegnen«, und er deutet Cézannes Starrheit als die »Einklammerung der Wirkung von schon gekannten Gestalten oder schon ausgedrückten Fantasievorstellungen«24. Durch den Gebrauch des Wortes »mise en suspens« (Einklammerung) wird klar, dass es sich um eine Epoché handelt, aber eine solche, die die Sinnstrukturen einklammert, um das Affektive und Triebhafte zum Vorschein zu bringen. Etwas später im selben Text, in dem er den freudschen Zugang zum Kunstwerk kritisiert, bemerkt Lyotard diesen »merkwürdigen Wunsch« des Malers, dass »das Gemälde […] als absoluter Gegenstand gelte, von der Übertragungsbeziehung befreit, der Beziehungswelt gleichgültig, aktiv nur in der energetischen Ordnung, im Schweigen des Körpers«25. Es ist darum notwendig, die symbolische Dimension der Malerei auszuschalten, damit das Gemälde selbst außerhalb jedweder ausdrücklicher Beziehung sichtbar wird.26 Das Residuum dieser eigentümlichen Epoché ist kein im Verhältnis zum intentionalen Subjekt stehender Gegenstand oder gar die Totalität des Wahrnehmungsfeldes; jede ausdrückliche Beziehung wird ausgeschaltet, damit die Gestalten sichtbar werden, um die die Affekte »gemäss des ›freien‹ Sprudelns der psychischen Energie«27 herumfließen. Aber diese Affekte und Triebe, dieses Fließen der psychischen Energie sind nur als Störung der Sinnstrukturen sichtbar, nicht als solche. Das Triebhafte als solches ist Lyotard zufolge dem Bereich des Sinnes völlig fremd; es gibt zwischen diesen Bereichen weder Kontinuität noch Übergang, aber es ist trotzdem in den Sinnstrukturen anwesend, zugleich als ihr Zentrum und ihr Rand. Als solches spielt es die Rolle des Hintergrunds, der die sichtbaren Gestalten und Sinnstrukturen wahrnehmbar macht. Der Unterschied zu Merleau-Ponty besteht darin, dass der Phänomenologe eine Kontinuität zwischen Figur und Hintergrund sah, während Lyotard die beiden als diskontinuierlich sieht. Dieser Unterschied 24 Jean-François Lyotard, Des dispositifs pulsionnels, Paris: Galilée 1994, S. 85: »recevoir sans maîtriser«; »laisser les flux d’énergie circuler dans l’appareil psychique sans rencontrer des systèmes fortement charpentés«; »La mise en suspens de l’action des formes déjà connues ou des fantasmes déjà exprimés«. 25 A.a.O., S. 87: »Désir étrange« du peintre »que le tableau […] vaille comme un objet absolu, délivré de la relation transférentielle, indifférent à l’ordre relationnel, actif seulement dans l’ordre énergétique, dans le silence du corps«. 26 A.a.O., S. 88. 27 A.a.O., S. 76: »L’effervescence ›libre‹ de l’énergie psychique«.
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ist ähnlich dem Unterschied in der Konzeption des Unbewussten im psychoanalytischen Sinne: Merleau-Ponty sah das Unbewusste als das, was im subjektiven Leben noch nicht bewusst geworden ist28 und das also bewusst werden kann, während Lyotard, treu der psychoanalytischen Konzeption, das Unbewusste als dem Bewussten völlig fremd sieht. Aber die Idee, dass das Triebhafte indirekt als Störung im Bild sichtbar wird, ist mit der Beziehung zwischen dem Hintergrund und der Gestalt im Bild nicht identisch. Inwiefern können die Bewegungen des Triebes als Hintergrund und damit als Bedingung der Sichtbarkeit des Bildes gelten? Mit dieser Frage kehren wir zum Problem des Wesens des Hintergrundes und des Bildlichen als solchem zurück. Bezüglich Lyotards Konzeption lässt sich sagen, dass die bildlichen Störungen der triebhaften Energie zur Funktion haben, Abweichungen in das Bild einzuführen. Eine Abweichung kann z.B. bewirken, dass eine Landschaft auf einer Photographie unheimlich erscheint, weil das Licht besonders bearbeitet ist, oder dass ein Porträt verzerrt erschein, damit ein besonderer Aspekt der Persönlichkeit erscheint. Es ist dafür nicht notwendig, dass eine »normale«, angeblich objektive Fassung des Bildes im Vorhinein vorhanden sei; im Gegenteil, die Abweichung erscheint als solche, indem das Bild erscheint. Das Ganze ist gleichzeitig: Das Erscheinen des Bildes, das Bewusstwerden einer (oder mehrerer) Abweichungen, und schließlich das potentielle Bild, von dem das vorhandene Bild als abweichend erscheint – diese drei Momente sind gleichzeitige Aspekte desselben Prozesses. Insofern die Ursache dieser Abweichungserfahrung bei den Bewegungen des Begehrens liegt, ist es möglich, zu behaupten, dass diese Bewegungen den eigentlichen Hintergrund des Bildes selbst ausmachen. Nun ist die Frage bei Lyotard und anderen Denkern der siebziger Jahre, wie dieser Hintergrund selbst sichtbar gemacht werden kann. Lyotard versucht dies in seinem Buch Economie libidinale (1974), wo er selber die Störungen der Bedeutungen so weit treibt, dass das Buch kaum noch lesbar ist. Er hat sich von diesem Buch übrigens später distanziert und es als eine Sackgasse bezeichnet.29
28 Vgl. dazu etwa die Zusammenfassung zur Vorlesung »Natur und Logos. Der menschliche Leib«, in Maurice Merleau-Ponty, Vorlesungen I, Berlin: de Gruyter 1972, 124–129. 29 Vgl. den Gesprächsband Jean-François Lyotard und Jean-Loup Thébaud, Au juste [1979], Paris: Christian Bourgois 2006.
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4. Exkurs: Das stille Schrei von Thierry Fontaine Ich öffne hier einen Exkurs zum französischen Künstler Thierry Fontaine (geb. 1969). In einer Reihe von Werken aus den Jahren 1998–2002, die alle das Wort »cri« (Schrei) in ihrem Titel tragen, erforscht der Künstler einen Bereich, den ich als das rein Visuelle bezeichnen möchte. Die Bilder zeigen einen Mann, dessen Gesicht von einer dicken Schicht Lehm bedeckt ist. Es sind Porträts, dessen Motiv verdeckt ist; es ist aber nicht maskiert, denn der Mann auf dem Bild hat keine andere Identität. Sein Gesicht ist sozusagen neutralisiert und durch die Dicke und das Gewicht des Lehms gehemmt. Das Wort »Schrei« in fast allen Titeln der Reihe mag verschiedentlich interpretiert werden: Entweder ist der Ruf des Schreis ein visueller Ruf, der mit den Augen gehört werden soll, oder das Geräusch des Schreis ist tatsächlich ein Schweigen und soll als Schweigen gehört werden. Im ersten Fall würde dieser bildliche Schrei zum sprachlichen Bereich gehören, er wäre ein bildliches Äquivalent zum Verbalen. Eine solche intersensorische Übertragung des Verbalen ins Visuelle würde im Falle von Thierry Fontaine dazu führen, dass seine Bilder als eine visuelle Version eines Protestes, also als ein ungeschriebener Text gesehen werden sollten. Aber es scheint mir doch einleuchtend, dass der Ruf in diesem Fall nicht auf einen Text oder einen Diskurs reduzierbar ist. Was sollte das Motiv in einem solchen Fall bedeuten, was für eine Handlung sollte der Betrachter unternehmen? Ich bevorzuge ganz entschieden die zweite Interpretation.[Abb. 1 und 2: Thierry Fontaine, «Cri froid«, 2000, + »Cri vieux«, 2000 / courtesy of the artist] Versuchen wir nun, diese Bilder zu beschreiben. Zum ersten ist ihre formale Struktur komplex: Der Künstler nennt sie »Skulpturen«; sie tragen alle in ihrem Titel das Wort »Schrei«, und dennoch sind sie eigentlich Photographien. Sie sind auch keine Kombination von diesen drei Aspekten, die daraus ein multimediales Werk machen würden. Die Struktur ist eigentümlich im Sinne dessen, was Merleau-Ponty ein »Teilganzes« nannte, oder eine »Dimension«. Jedes Medium (Skulptur, Photographie, Tonwerk) drückt das ganze Werk aus, indem es mit den zwei anderen kompatibel bleibt.30 Dieser Umstand impliziert gleichsam, dass keine von den drei Medienaspekten die ganze Bedeutung des Werkes ausdrücken 30 In einer Arbeitsnotiz des Sichtbaren und Unsichtbaren von November 1959 spricht Merleau-Ponty von den verschiedenen Sinnen (sehen, berühren, hören, usw.) als »Teilganzes«, insofern als jeder Sinn auf die ganze Welt öffnet: »Jeder Sinn verkörpert eine ›Welt‹, d.h. er ist für die anderen Sinne absolut unkommunizierbar, und dennoch konstituiert er ein Etwas, das aufgrund seiner Struktur von vornherein offen ist für die Welt der anderen Sinne und mit ihnen ein einziges Sein bildet.« (S. 277)
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Abb. 1
Abb. 2
mag, aber dass sie zusammen in Richtung einer Kraft hindeuten, die über die Möglichkeiten der Sprache und der Repräsentation hinausgeht. Mein Vorschlag ist hier, den Ansätzen von Lyotard zu folgen und anzunehmen, dass die Kraft der Bilder von Thierry Fontaine mit der Energie zusammenhängt, die unter dem Lehm versteckt bleibt. Wenn man das Bild lange anschaut, tritt eine Zweideutigkeit zutage: Der Lehm erscheint nicht mehr als der fremde Stoff im Bild und droht, seinen Platz mit der menschlichen Figur auszutauschen. Diese Zweideutigkeit schafft eine Spannung in der Wahrnehmung des Bildes zwischen dem ausdruckslosen Wesen des Lehms und der leiblichen Präsenz, in der das Verhältnis von Figur und Hintergrund droht sich umzukehren. Die Stille der vom Lehm totgeschwiegenen Figur wird somit als solche ausgedrückt. Die Kunstkritikerin Anne Dressen drückt es treffend auf der Webseite des Künstlers aus: »Der Künstler macht die Stille hörbar, und dies kann sehr bedeutsam sein, wie ein Seufzer. Der Schrei und das Flüstern manifestieren sowohl Uneinigkeit, Verärgerung und Verdrossenheit, als dass sie ein Reflex des Widerstandes, des Überlebens und der Hoffnung darstellen.«31
31 Der Text ist auf der Webseite des Künstlers lesbar: (letzter Zugriff am 23.03.2015).
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5. Deligny und die Suche nach dem autistischen Bild Der dritte Protagonist meiner Untersuchung zur Bildtheorie in der französischen Philosophie ist kein Philosoph. Fernand Deligny (1913– 1996),32 war ein Erzieher, Schriftsteller und Aktivist. Nach verschiedenen Erfahrungen in Sonderschulen in seiner Heimatregion und nach einem kurzen Aufenthalt an der Klinik La Borde, wo er von Félix Guattari und Jean Oury angestellt wurde, gründet Deligny in einem Landsitz von Guattari im Süden Frankreichs in den Cévennes (in der Nähe des Dorfes Graniers) einen Ort, wo er autistische Kinder aufnimmt. Die meistens Psychiatern wie Maud Mannoni oder Françoise Dolto anvertrauten Kinder wurden von ihm und seinen Mitarbeitern in den Sommermonaten aufgenommen; sie lebten teilweise im Haus von Graniers, teilweise an anderen Orten in den Bergen der Cévennes in einem Umkreis von etwa fünfzehn Kilometern. Das Leben mit diesen zum Teil sehr ausgeprägt autistischen Kindern war für Deligny die Gelegenheit, über das Wesen des Bildes und der menschlichen Existenz nachzudenken, indem er die Bewegungen der Kinder, ihr Wandern durch die Landschaft, ihre Gesten usw. zu beschreiben versuchte, ohne sie verstehen zu wollen. Worum es ihm dabei eigentlich ging, war die Form und die Kraft des Verhaltens und der zwischenmenschlichen Beziehungen so zu beschreiben, dass ihre vorsprachliche Wirklichkeit zutage tritt. Dieses Problem war für Deligny umso wichtiger, als er mit Kindern zu tun hatte, die nicht zur Sprache gelangen. Delignys diagnostische Epochè Die Strategie von Deligny kann insofern als phänomenologisch bezeichnet werden, als sie ausschließlich beschreibend vorgeht, und versucht, konsistent jegliche Voraussetzung zu vermeiden, insbesondere die psychiatrische Diagnose der betreuten Kinder betreffend. Im Gegensatz zum Psychoanalytiker Bruno Bettelheim, der den Autismus explizit im Kontext der schizophrenen Psychosen verortet und versucht, die sozialen und familiären Ursachen der autistischen Symptome zu definieren33, enthält sich Deligny eines solchen Urteils, in dem er zu keinem Zeitpunkt die Entstehung der Symptome zu erklären versucht, sondern das Kind 32 Eine Chronologie seines Lebens findet sich Fernand Deligny, Œuvres, hg. von Sandra Alvarez de Toledo, Paris, L’Arachnéen, 2007, 1821–31. 33 Vgl. Bruno Bettelheim: Die Geburt des Selbst. Erfolgreiche Therapie autistischer Kinder, auf deutsch von Edwin Ortmann, München, Kindler Verlag, 1977.
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so annimmt, wie es sich ihm präsentiert, ohne sich für die medizinische Diagnose zu interessieren und auch ohne ihm bestimmte soziale, schulische oder therapeutische Ziele vorzugeben. Deligny drückt diese Art von therapeutischer Epochè im Off-Text zum Film Ce gamin-là, einem Portrait Janmaris, eines der Kinder,34 folgendermaßen aus: »Alles was ich sagen kann / alles was ich sagen muss / ist, dass wir in keiner Weise / versucht haben herauszufinden / was SIE haben / an was SIE erkrankt sind«35. Die Beschreibung von Janmari kommt ganz ohne medizinische oder psychologische Aspekte aus. Deligny verweist häufig auf die psychiatrische Diagnose, mit der der Junge zu ihm kam – »schwere Enzephalopathie« (encéphalopathe profond) – um deren Absurdität und Gewalt zu denunzieren. Der Junge ist »Unerträglich, das stimmt / wegen der Beschädigungen / wegen der Nachbarn / wegen allem und jedem / und machen dagegen kann man nichts / sie haben es treffend formuliert / unheilbar / unhaltbar / unerträglich«36. In seinen Notizen und im Film Ce gamin-là von Renaud Victor schlägt Deligny eine Beschreibung vor, die man insofern als phänomenologisch definieren kann, als die Kamera und das Wort sich damit begnügen, die Phänomene als solche anzunehmen und sie in ihrer Erscheinung aufzuzeichnen. Deligny reiht sich dabei in keine philosophische Tradition ein; man muss also von einer eigentlich wilden Phänomenologie sprechen, weil er alle ihre Voraussetzungen von sich weist. Deligny spricht sehr präzise vom Blick dieser Kinder, von dem man im Film Ce gamin-là einen klaren Eindruck bekommt: »Ihr schweifender Blick ohne Brennpunkt, unter dem die Dinge sind, wie sie waren, bevor die Sprache sie unerlässlich verfolgt.«37 Es handelt sich um einen Blick, der nicht unbestimmt ist, aber dennoch keine determinierten Objekte anvisiert, der also den Grund der Dinge auftauchen lässt. Der sprachlose Blick Delignys Kinder scheinen sich an einem Ort und einer Zeit vor jeglicher Sprache und somit ausserhalb einer intersubjektiven Welt zu befinden. Vor diesem Befund entwickelt Deligny seine Reflexionen über die Natur des Bildes, das sich sowohl von der Sprache als auch von jeglicher Symbolik unterscheidet. Um diese nonverbale, nicht-symbolische Existenz 34 Vgl. die DVD Le Cinéma de Fernand Deligny, Paris, Editions Montparnasse, 2007. Die Genese des Films beschreibt Sandra Alvarez de Toledo in Deligny, Œuvres, a.a.O., S. 1033–1038. 35 Fernand Deligny, »Cahiers de l’immuable« 2, Dez. 1975, S. 10–11; wiederabgedruckt in: Œuvres, a.a.O., S. 878–879. 36 A.a.O., S. 6 / Œuvres, a.a.O., S. 874. 37 Œuvres, a.a.O., S. 699.
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der Kinder zu beschreiben, bemüht sich Deligny mit seinen Mitarbeitern, sowohl alle ihre Bewegungen in der unmittelbaren Umgebung des Hauses als auch draußen aufzuzeichnen. Er nennt die so entstandenen Zeichnungen, von denen einige in der Publikation Œuvres (S. 1060–1083) abgebildet sind »cartes d’erres« [Karten des Umherstreifens].
Abb. 3: ein Beispiel der Cartes d’erres Janmari war ein vollständig gehörloser, in zwischenmenschlichen Beziehungen scheinbar gänzlich teilnahmsloser Junge, zumindest was die Mittel der Sprache betraf. Er stand nicht gänzlich außerhalb jeder Interaktion, aber das Medium der Sprache war ihm unzugänglich. Zur bildlichen Darstellung hingegen fand er Zugang. Seit der Zeit seiner Kindheit bei Deligny bis ans Ende seines Lebens zeichnete er Kreise und Striche auf Papier38; auch verfügte er über ein spezifisches Repertoire an Gesten, die im Film Ce gamin-là zu beobachten sind. Er dreht sich, hin und her schwankend, um die eigene Achse und schreitet die immer gleichen Schrittmuster ab, Muster, die von Delignys Team auf den »cartes d’erre« gewissenhaft aufgezeichnet wurden. Dieser Kontrast zwischen der Absenz der Sprache und der Prägnanz des Bildlichen, im Sinne eines Bildes, das auf nichts anderes verweist als auf sich selber, war es, der Deligny erlaubte, eine Analogie zwischen autistischen Kindern und dem Bild zu entwickeln: »Es verwundert nicht, dass eine Untersuchung autistischer Kinder, das heisst Kinder, die keinen Zugang zu Sprache haben, mit der Frage nach den Möglichkeiten des Bildes einhergeht. Oder sogar damit zusammenfällt, das Bild […] ist autistisch. Damit will ich sagen, es bedient sich nicht der Sprache. Ein Bild spricht nicht, und zwar im Zusammenhang mit autistischen Kindern, vielmehr aber noch, weil alle Welt ihm 38 Siehe dazu: Journal de Janmari (2013).
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unterstellt, wer weiß was auszusagen. Der Autist, das ist augenscheinlich, sagt nichts. So ist es nicht erstaunlich, dass sich deshalb die Identitäten dieser beiden Untersuchungsfelder aufeinander abbilden lassen.«39
Es stellt sich hier die Frage nach dem Status des Bildes, das sich der Sphäre der Sprache vollständig entzieht. Delignys Argument basiert dabei auf der Annahme, dass die Gesten, die Bewegungsmuster und die Zeichnungen der Autisten buchstäblich keinen Sinn haben und zwar deshalb, weil sie sich an niemanden richten und auf nichts verweisen. Es stellt sich nun die Frage nach dem Status eines solchen, sich vom Bild als Repräsentation von etwas anderem abgrenzenden, Bildbegriffs. Lässt sich das Konzept eines reinen Bildes rechtfertigen, eines Bildes, das man unsinnig oder maschinell nennen könnte und das einem respektvolleren Umgang der Menschen miteinander zugrunde liegen könnte als die symbolische Ordnung, die durch die Sprache gekennzeichnet ist?40 Deligny geht in seinen radikalen Überlegungen von einem Bild aus, das nicht leer und nicht abstrakt ist, das wiedererkennbare Formen zeigt, das aber in keiner Weise auf irgendetwas anderes hinweist oder deutet und auch keine psychiatrische Diagnose ist/sein soll. Unterwegs zum Bild 1982, 15 Jahre nach dem Beginn seiner Arbeit in den Cévennes, schreibt Deligny den Text Acheminement vers l’image, in eindeutiger Anlehnung an Heideggers Text Unterwegs zur Sprache (auf Französisch übersetzt mit Acheminement vers le langage). Er beginnt seine Ausführungen mit einer Analogie zwischen dem Bild und der Gans: Wie für die Gans gibt es auch für das Bild zwei Existenzordnungen, eine domestizierte Form und eine wilde. Die domestizierten Gänse fliegen nicht mehr, und doch »schlagen sie mit den Flügeln und recken die Hälse wenn Wildgänse vorbei ziehen«, vergleichbar der sich an der Symbolik festklammernden Menschen, »vollgestopft, durchtränkt und überfüllt mit Sprache«41, die aufschrecken und sich bezaubern lassen vom reinen Bild. Diese Geste der domestizierten Gänse, die vorüberziehenden Wildgänse zu »grüßen«, gründe nicht auf einem bewussten Erinnern, ebenso wenig wie unser Staunen gegenüber Bildern nicht durch bewusste und explizite Gründe 39 Diese Passage stammt aus dem filmischen Porträt A propos d’un film à faire, das 1989, der gegen Ende von Delignys Leben von Renaud Victor realisiert wurde. (Œuvres, a.a.O., S. 1758). 40 Selbstverständlich muss auch die Natur der repräsentierenden Bilder bezüglich ihres Unterschieds zu Sprache hinterfragt werden; das würde aber den Rahmen dieses Artikels sprengen. 41 Œuvres, a.a.O., S. 1669.
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erklärbar sind. Die Bilder fügen sich zusammen wie die Wildgänse in ihrer Flugformation, so wie die Konstellationen, von denen die domestizierten Gänse heimgesucht werden. So unterstreicht Deligny: »Das Bild kann existieren und existiert sehr wohl auch ausserhalb jeder Intention und Sprache«42. Aus Sicht der Sprache offenbart sich diese Existenz jedoch nur in Form von Spuk [hantise]. Etwas weiter im Text kommt Deligny auf Janmari zurück, um konkreter zu erklären, um was es sich bei dem Bild genau handelt. Eines Nachts schreckt das Kind panisch aus dem Schlaf hoch, schlägt mit seinem Kopf gegen die Wand und führt einen Erwachsenen zu jener Stelle, wo während des Tages Holz geschlagen wurde. Dort hatte man aus einer kleinen Mauer in der Nähe einen Stein entfernt, um das Gerüst zu stabilisieren, auf dem der Erwachsene das Holz gehackt hat, und Janmari hat nun gespürt, dass dieser besagte Stein nicht an seinem angestammten Platz war. Das hat ihm solche Schmerzen bereitet, dass man den Stein an seinen Platz im Mäuerchen zurücklegen musste, damit er in Ruhe den Rest der Nacht verbringen konnte. Deligny kommentiert diese Episode: »Das ist der offensichtliche Beweis für die Existenz des Bildes. Und es zeigt sich, dass Wissen und Glaube Indiens in der Hinsicht mit anderen übereinstimmt, als dass der menschliche Körper den selben Hauch einatmet wie die Natur; die Pfade des Leibes und die Pfade der Umgebung; merkwürdige Akupunktur; den sensiblen Punkt finden; der Schmerz rührt von diesem Hohlraum des Steins her, und wo befindet sich dieser? Im Bild.«43
Das Bild ist von der gleichen Art wie das, was den Menschen und die Natur verbindet, eine im Wesentlichen vorsprachliche Einheit, die aber immer auf der Bewegung des Körpers in seiner Interaktion mit seinem Umfeld gründet, einer Einheit, bei der die sichtbare Form immer eine Folge körperlicher Gesten ist, und oft mit den Gesten gleichzusetzen ist. Es ist dieser für seine wilde Dimension konstitutive, performative Charakter des Bildes, den Deligny in Bezug auf die Kunst in einem Text von 1978 unterstreicht: Er bedient sich dabei desselben Vergleichs von Bild und Verhaltensweise von wildlebenden Tieren im Unterschied zur menschlichen Welt, diesmal ist es aber der fliegende Fisch in seinem Verhältnis zum Schiffsrumpf. Und Deligny spricht weiter von den zirkulären Linien (»un tracer«), die Janmari zeichnet, bei dem die Geste des Zeichnens untrennbar ist von der gezeichneten Linie. Er schreibt: »Ja es handelt sich um ein Zeichnen (un tracer), das aber nie etwas bedeutet, «44 und bemerkt, dass die ähnlich aussehenden Formen, die er »cernes« (Augenringe) nennt, oft von unterschiedlichen Kindern gezeichnet wurden und 42 Œuvres, a.a.O., S. 1675. 43 Œuvres, a.a.O., S. 1689. 44 Œuvres, a.a.O., S. 129–132.
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nur in Nuancen voneinander abweichen, so dass man meinen könnte, dass die Linien (»tracés«) verschiedener Kinder ein und demselben Autor entstammen. Das reine Bild existiert aber nicht als vorgängiges Motiv, das ins Blickfeld rückt, sondern entsteht vielmehr aus einer Geste des Zeichnens, einer Linie, unter Aufbietung des ganzen Körpers in Relation zu dem ihn umgebenden Raum. Das Triebhafte im Bild Die Idee eines reinen Bildes ist gewiss eine Abstraktion, genauso wie der Begriff eines absoluten Autisten. Der absolute Autist wäre eine vollständig in sich geschlossene Existenz, stumm und gänzlich unbeteiligt gegenüber jeglicher Interaktion mit anderen. Ein solches Wesen wäre unfähig zu imitieren, weil es unfähig wäre, einen Andern als solchen wahrzunehmen und nachweislich ein Minimum an Empathie aufzubringen, um die gleichen Gesten auszuführen, wie es der Andere ihm gegenüber tut. Janmari ist diesem Begriff am nächsten, aber er, so unterstreicht es Deligny, nimmt doch Kontakt zu anderen Erwachsenen auf. Nur basiert diese Kontaktaufnahme weder auf einer sprachlichen Kommunikation, noch auf Reziprozität, von der man annimmt, sie sei konstitutiv für jegliche intersubjektive Beziehung. Wie es in einem Brief an den Philosophen Isaac Joseph von 1975 heißt: »Ich beschäftige mich kaum mit der »reziproken Beziehung«. Ich sehe nicht ein, weshalb ich mich darauf beschränken soll, ich meine die Reziprozität, die sich zu oft als kläglich illusorisch herausstellt. […] Genau darüber geben uns autistische Kinder Aufschluss. Da er nicht Einer ist, kümmert ihn auch nicht der Andere.«45
Aber wie man sieht, gibt es eine autistische Bildproduktion. Linien werden gezeichnet, sei es in Form von durch Bewegungsabläufe in den Raum eingeschriebenen Linien oder in Form von Zeichnungen auf einem Blatt Papier, und sie sind immer ein Anlass von Gruppierungen. Wie man anhand der Anekdote von Janmari sieht, der den Stein an seinen Platz zurücklegen musste, um ruhig weiterzuschlafen, ist die Zeichnung auch Anlass des Zusammenseins. So war es für ihn zwingend, beim Zurücklegen des Steins einen Erwachsenen dabei zu haben, ebenso wollte er die Tätigkeit des Zeichnens zusammen mit einem Erwachsenen ausführen. Dies ist vergleichbar mit den Tieren, die sich in Gruppen fortbewegen, und mit dem Gesang der Vögel, der die Funktion hat, mit den Artgenossen zu kommunizieren. Das produzierte Bild vermag es somit, etwas Drittes zu schaffen, nämlich die Möglichkeit und die Form eines 45 Œuvres, a.a.O., S. 925.
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gemeinsamen Raumes, in dem die autistischen Kinder und die sie begleitenden Erwachsenen sich eingliedern können und sich so eine fundamentale Freiheit eröffnen. Von einem psychoanalytischen Standpunkt aus ist die Intersubjektivität nur im Raum der Sprache zu denken. Im Gegensatz dazu steht Delignys Argument, nach dem die Sprache einen Raum absteckt, in dem der Autist nicht bei sich ist und in dem der Therapeut (der Erwachsene, der Gesunde) von Vorhinein dominant ist, weil er über etwas verfügt, das dem Autisten nicht zugänglich ist. Um eine gleichberechtigte Beziehung herzustellen, die dem Wesen des Kindes wirklich Rechnung trägt, ist es notwendig, sich in eine Situation zu begeben, in der die Beziehung nicht auf zwei gut strukturierten Subjekten basiert, die sich aktiv zu ihr entscheiden, sondern darauf, dass zwei Existenzen sich einander ständig neu anpassen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Deligny einen gemeinsamen, nicht intersubjektiven, sondern infrasubjektiven Raum entwirft. Dabei ist der Begriff des Raumes zentral. Deligny und seine Mitarbeiter zeichnen unablässig Karten, um die Bewegungen der autistischen Kinder zu visualisieren. Diese Linien des Umherstreifens können als (lauter) Formen der Vermessung des Raums interpretiert werden, ohne je darin zu wohnen, ohne einer Anwesenheit-an-diesem-Ort, und ohne dass sich die Anwesenheit des Subjekts in den Raum einschreiben würde.46 Der Raum selbst ist dabei nichts anderes als der allgemeine Hintergrund, der die Wanderwege der Kinder erfahrbar macht, aber als solcher erscheint er allererst als affektiver Raum. Unsere Fähigkeit, diesen Raum zu erblicken, ist die Erfüllung der Einladung von Merleau-Ponty in seinem Aufsatz zum Kino, den Hintergrund und die Figuren umzukehren.
46 Damit zu vergleichen sind auch die Ausführungen Maldineys zum Begriff der Form in seinem Aufsatz »La dimension du contact au regard du vivant et de l’existant« in: Henry Maldiney, Penser l’homme et la folie, Grenoble: J. Millon 2007, S. 137–181, bes. S. 157.