Im Auftrag des Vorstandes der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft herausgegeben von Günter Blamberger (verantwortlich für Abhandlungen, Beiträge der Jahrestagung 2000), Sabine Doering und Klaus Müller-Salget (verantwortlich für Rezensionen)
VERLAG J.B.METZLER STUTTGART
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WEIMAR
JOHANNES
HARNISCHFEGER
DAS VERSPRECHEN ROMANTISCHER LIEBE Zu Kleists >Verlobung in St. Domingo<
Der Beginn von Kleists Liebesgeschichte ist ähnlich befremdlich wie das abrupte, gewaltsame Ende. Gustav und Toni haben sich nie zuvor gesehen, doch schon we nige Augenblicke nach ihrem zufälligen Zusammentreffen gesteht der weiße Offi zier dem farbigen Mädchen seine Liebe: »Hätte ich dir[...] ins Auge sehen können, so wie ich es jetzt kann: so hätte ich, auch wenn alles Übrige an dir schwarz gewe sen wäre, aus einem vergifteten Becher mit dir trinken wollen« (SW3 II, 168). Und es bleibt auch nicht bei solchen Bekenntnissen. Scheinbar beiläufig, in einen Neben satz eingeflochten, erwähnt der Erzähler, daß der »Fremde[...] den Arm sanft um ihren Leib schlug«; und gleich danach, wieder in einem Nebensatz, heißt es, daß er die Fünfzehnjährige im Beisein der Mutter »lebhaft an seine Brust drückte« (SW3 II, 168). Es scheint, als hätten die meisten Literaturwissenschaftler über dieses befremdli che, beinahe anstößige Verhalten hinweggelesen. Unter den älteren von ihnen war nur Hermann J. Weigand bemüht, für das »Ungestüm« des fremden Offiziers eine Erklärung zu finden: Gustav - »das Urbild männlicher Keuschheit« - habe gleich zu Beginn, beim Blick in Tonis Augen »in dem Kern ihrer Seele gelesen; daher sein, rational betrachtet, wahnwitzig vorschnelles[Liebes-] Bekenntnis«.1 Spätere Inter preten mochten, soweit sie das irritierende Verhalten des Helden überhaupt kom mentierten, nicht mehr mit so viel Verständnis urteilen: Der weiße Offizier be trachte das »gemischtrassige Mädchen« offenbar als »leichte Beute«,2 so daß er es nicht für nötig hält, ihr gegenüber »Takt« zu zeigen.3 Das Überhastete der Annähe rung wird also nach einem konventionellen Schema gedeutet: als leichtfertiges oder rücksichtsloses Verhalten eines adligen Offiziers, der es als sein Recht ansieht, die Tochter einer Domestikin zu verführen. Doch in Kleists Novelle geht es nicht um 1
Hermann J. Weigand, Das Vertrauen in Kleists Erzählungen. >Die Verlobung in St. Do
mingoDie Verlobung in St. Do
mingoAnstößige< (SW3 II, 172) von Tonis Hautfarbe hinweg und bindet sich an eine fremde Person, wie sie fremder kaum sein könnte - fern von der Heimat, auf einem dunklen Kontinent. Das Objekt seiner Liebe gehört nicht nur einer anderen sozialen Kaste an, sondern auch einer anderen >Rasse< und Kultur. Im Unterschied zur Gruppe der Europäer, die als Familienverband auftreten (mit dem alten Strömli als Patriarchen, gefolgt von Frau und Kindern, Knechten und Mägden), werden die Schwarzen um Congo Hoango mit Attributen der Primitivität ausgezeichnet, wo durch sie wie eine Art Sippe oder Horde erscheinen. Die sexuellen Beziehungen zwischen ihnen sind offenbar nicht rechtlich geregelt, so daß keines der Kinder mit einem der anderen Vater und Mutter teilt.14 So wie Seppy und Nanky ist auch Toni 13 Ursprünglich- so meinen einige Autoren -war die Novellenhandlung in der Schweiz an gesiedelt. Das exotische »Negermilieu« sei erst »sekundär hinzugetret[en]« und im übrigen auch »schlecht ausgeführt«. Hans M. Wolff, Heinrich von Kleist. Die Geschichte seines Schaf
fens, Bern 1954, S. 49; zitiert nach Peter Horn, Heinrich von Kleists Erzählungen. Eine Einfüh rung, Königstein/Ts. 1978, S. 142. 14 Sigrid Weigel, Der Körper am Kreuzpunkt von Liebesgeschichte und Rassendiskurs in Heinrich von Kleists Erzählung >Die Verlobung in St. Domingobei legen< kann (SW3 II, 160). Das romantische Ideal, sich um der Liebe willen über alle äußeren Widerstände hinwegzusetzen, gilt nicht nur für den Schweizer Offizier und Landedelmann. Auch die fünfzehnjährige Toni ist bereit, alles zu opfern, was ihr bislang lieb und teuer war. Sie trennt sich nicht nur von ihren Angehörigen, sondern verrät auch den Befreiungskampf der Schwarzen; dabei greift sie selbst zu den Waffen (vgl. SW3
189), führt die Weißen heimlich ins Haus und liefert die eigene Mutter den Todfein den aus. Und all das aus Liebe zu einem Mann, den sie erst wenige Stunden zuvor kennengelernt hat. Ihre Mutter, die einst von einem reichen französischen Liebha ber betrogen worden war, hatte sie stets davor gewarnt, einem weißen Mann zu ver trauen. Als illegitime Tochter eines Pariser Kaufmanns ist sich Toni bewußt, daß sie selbst das Produkt einer verratenen Liebe ist; trotzdem will sie die Erfahrungen der Mutter nicht für sich gelten lassen. Denn warum sollte der eine Mann sich so ver halten wie der andere? Toni sieht in dem Geliebten nicht einen Vertreter seiner >Rasse< oder seines >GeschlechtsRassenäußerlichen< Rituale freilich obsolet. Entscheidend war allein, daß Mann und Frau sich im Gefühl wechselseiti ger Liebe verbunden wissen. Demgegenüber können Verlöbnis und Hochzeit den bereits geschlossenen Bund allenfalls bekräftigen. Das öffentliche Bekenntnis gilt damit als etwas Akzidentielles, das auch wegfallen kann. Es wird nicht benötigt, um
15 Roswitha Burwick, Issues of Language and Communication: Kleist's >Die Verlobung in St. DomingoDie Verlobung in St. Domingo< - eine Einführung in Kleists Erzählen. In: Berliner Kleist-Blätter 1 (1988), S. 3-45, hier S. 7. 17 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen
Mundart, Leipzig rningo< (wie Anm.
282
1793-1801, 16), S. 6.
Bd.
IV,
Sp.
1087;
zitiert nach Reuß, >Die Verlobung in St. Do
Das Versprechen romantischer Liebe
der »Seelenbindung«18 zwischen den Eheleuten Legitimität und Dauerhaftigkeit zu geben, sondern es wirkt eher als etwas Störendes, weil es in die freie Gemeinschaft der Liebenden die Idee eines äußeren Zwangs hineinträgt. Romantiker wie Fried rich Schlegel haben es daher vorgezogen, die »verhaßte Ceremonie«19 der Ehe schließung nicht über sich ergehen zu lassen und statt dessen in einer gesetzlosen Verbindung mit der Geliebten zusammenzuleben. In Kleists Erzählung sind die Elemente des Verlobungsritus auf beinahe spieleri sche Weise in den Text eingeflochten: Gustav nennt Toni »seine liebe Braut, drück[t] einen Kuß auf ihre Wangen«, überreicht ihr ein »Brautgeschenk« und ver spricht ihr ewige Treue (SW3 II, 17Sf.). Doch diese rituellen Elemente finden sich wie Zitate in eine fremde Umgebung versetzt - eingebettet in eine nächtliche Ver führungsszene, und damit entstellt. Statt sich öffentlich zueinander zu bekennen, begeht das Paar seine >Verlobung< in der Finsternis einer nächtlichen Schlafkammer und betrügt dabei die schlafende Mutter. Als der Fremde schließlich der Fünfzehn jährigen verspricht, um ihre Hand anzuhalten, hat sie sich ihm bereits hingegeben, und deshalb antwortet sie nicht auf das Brautgeschenk und den Verlobungskuß, sondern hält »ihr Haupt stilljammernd, ohne sich zu rühren, in ihre Arme ge drückt« (SW3 II, 176) und zerfließt in Tränen. Gustav erklärt später, Toni habe sich ihm verlobt, »obschon wir keine Worte darüber gewechselt hatten« (SW3 II, 193). Das Verlöbnis geschieht also formlos, ohne die Bekräftigung durch ein >äußerliches< Zeremoniell. Als ein Versprechen, das nie gegenseitig ausgesprochen wurde, gilt es allein durch das Faktum der Liebe. Alles Förmliche ist entfallen, so daß nichts wei ter bleibt als die Innerlichkeit des Gefühls. Es stellt sich allerdings die Frage, was dieser spontanen, unreglementierten Beziehung über den Moment hinaus Dauer verleihen soll. Gustav schwört dem fremden Mädchen, »daß die Liebe für sie nie aus seinem Herzen weichen würde« (SW3 II, 175); doch was sollte ihn verpflichten, sein Gelübde zu halten? Indem Kleist die >Verlobten< in ein feindseliges Milieu ver setzt, in dem sie ganz auf sich allein gestellt sind, unterwirft er das Modell der Lie besheirat einer Art Experiment: Was kann der romantischen Liebe Kontinuität ver leihen, wenn man alles wegnimmt, was die Verbindung von Mann und Frau traditionell sanktioniert? Das Ergebnis ist fatal. Durch eine extreme Belastung auf die Probe gestellt, hält der Liebesschwur nicht einmal einen Tag.
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Hans-Jürgen Becker, Adoption - Verlöbnis - Ehe. Die zivilrechtliche Einbindung des In
dividuums bei Kleist. In: KJb 1993, S. 75-88, hier S. 85. 19 Friedrich Schlegel am 27. Nov. 1798 in einem Brief an Caroline. In: Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler, München, Paderborn und Wien 1958ff., Bd. 24: [Brief
wechsel:] Die Periode des Athenäums , S. 202.
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Johannes Harnischfeger II. Zeichen der Liebe Nach dem Urteil einiger Interpreten ist der männliche Held für das Scheitern der Liebe verantwortlich. Gustav »versagt«,20 weil er nicht in der Lage ist, »unbeding tes Vertrauen«,21 Liebe22 und Aufrichtigkeit23 aufzubringen. Am Ende der Novelle klagt er sich selber an, der Geliebten gegenüber versagt zu haben: »Gewiß! [... ]ich hätte dir nicht mißtrauen sollen; denn du warst mir durch einen Eidschwur ver lobt« (SW3 II, 193). Seine Beteuerungen, dem Mädchen, das er verführt hat, für im mer treu zu sein, wären demnach nichts als leere Worte. Zu diesem Befund will es gut passen, daß die Versprechen der Liebenden, füreinander in den Tod zu gehen, klischeehaft klingen. Moderne Leser hatten zuweilen den Eindruck, daß der Schweizer Offizier mit seinem »unmöglichen, konventionellen Pathos« eine bei nahe »lächerliche Figur« abgibt24• Selbst der Erzähler greift - so wie die Figuren seiner Erzählung - auf stereotype Bilder und Symbole zurück, etwa wenn er be schreibt, wie Gustav »sein Gesicht sehr gerührt in ein Tuch drückte«, während Toni ihm um den Hals fiel und »ihre Tränen mit den seinigen« mischte (SW3 II, 175). Doch der Umstand, daß die Helden ihre Empfindungen füreinander im Idiom ro mantischer (und zum Teil auch sentimentaler)25 Liebe artikulieren, bedeutet keines0 2 Walter Müller-Seidel, Versehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist, 3. Auflage, Köln und Wien 1971, S . 42.-Becker, Adoption-Verlöbnis-Ehe (wie Anm. 18), S . 85. Helmut Koopmann, Das »rätselhafte Faktum« und seine Vorgeschichte. Zum analytischen Charakter der Novellen Heinrich von Kleists. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 84 (1965), H. 4, S. 508-550, hier S. 541.-Josef Kunz, Kleist->Die Verlobung in St. DomingoDie
Verlobung in St. Domingo< (wie Anm. 20), S. 24. -Richard Samuel, Heinrich von Kleists No vellen. In: Deutsche Weltliteratur. Von Goethe bis Ingeborg Bachmann, Festgabe für J. Alan
Pfeffer, hg. von Klaus W. Jonas, T übingen 1972, S. 72-88, hier S. 83. - Almut Wedekind, >Die Verlobung in St. DomingoNovelle< in Translation and as a Basis for Opera and
Drama. Bern, Frankfurt a.M. und New York 1983, S. 46. 22 Fischer, Zur politischen Dimension der Ethik (wie Anm. 2), S. 261. -Horn, Heinrich von Kleists Erzählungen (wie Anm. 13), S. 138. - Johannes Pfeiffer, Wege zur Erzählkunst. Über den Umgang mit dichterischer Prosa, Hamburg 1960, S. 19. 23 Herbert Uerlings, Preußen in Haiti? Zur interkulturellen Begegnung in Kleists >Verlo bung in St. DomingoVerlobung in St. Domingo
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