Das sprachbiographische Interview als Interaktion – Eine gesprächsanalytische Perspektive auf ein Forschungsinstrument (submitted)

June 24, 2017 | Author: Katharina König | Category: Qualitative methodology, Qualitative Interviews, Gesprächsanalyse, Language Biographies
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Katharina König (Münster)

Das sprachbiographische Interview als Interaktion. Eine gesprächsanalytische Perspektive auf ein Forschungsinstrument Abstract: Based on a corpus of 45 interviews with migration-induced multilinguals in Germany, the paper discusses methodological challenges in the analysis of language biographical interviews. The author argues that problems in dealing with the spoken modality, a social desirability bias or contradictions in the interviewees’ reconstruction of their language biographies can be resolved if the interviews are not treated as merely contentgenerating research instruments but as social interactions.

1  Ansätze sprachbiographischer Forschungsarbeiten Variation im Spracherwerb oder Sprachgebrauch lässt sich über verschiedene methodische Zugänge erfassen: Neben objektiven Daten spielen subjektive Sprachdaten1 in variationslinguistischen Arbeiten eine zunehmend wichtige Rolle; individuelle SprecherInnen und ihre sprachbezogenen Erfahrungen und Einstellungen stehen dabei im Fokus des Interesses.2 Im Rahmen der linguistischen Sprachbiographieforschung wird spezifisch die sprecherbezogene Refle­ xion des Zusammenhangs von Sprache und lebensgeschichtlicher Entwicklung in den Blick genommen.3 Der Gegenstand der Sprachbiographie kann dabei verschiedentlich konzeptualisiert werden:4 Als erlebte Geschichte stellt sie den tatsächlichen lebensgeschichtlichen Verlauf von Spracherwerb und Sprachgebrauch dar, wie ihn eine Sprecherin/ein Sprecher durchlaufen hat. Der Zugriff auf diese „objektive“ Ebene ist dem Individuum jedoch nicht ohne Weiteres möglich; eine 1 Vgl. Mattheier 1994. 2 Vgl. etwa die Arbeiten zur Wahrnehmungsdialektologie oder Laiendialektologie (Anders 2010; Niedzielski/Preston 2000; Hundt/Anders/Lasch 2010; Wirrer 2014). 3 Zahlreiche sprachbiographische Arbeiten stehen im Kontext von Mehrsprachigkeit und Interkulturalität bzw. Identität (Franceschini 2002; Franceschini/Miecznikowski 2004; Werlen 1986; Betten 2010; Meng 2001; Thüne 2011; Treichel 2004); aber auch im Bereich der Dialektologie bedienen sich viele Arbeiten eines sprachbiographischen Zugangs (Fix/Barth 2000; Jürgens 2015; Macha 1991; Riehl 2000; Tophinke/Ziegler 2006). 4 Vgl. Tophinke 2002.

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Sprachbiographie ist kognitiv lediglich als Erinnerung repräsentiert; als solche kann sie fragmentarisch oder sogar widersprüchlich sein. SprecherInnen ist die eigene Sprachbiographie also lediglich als erinnerte Geschichte zugänglich. Soll diese erinnerte Sprachbiographie zum Gegenstand einer linguistischen Analyse gemacht werden, so ist dies einzig über sprachlich-erzählerische Rekonstruktionen, also als erzählte Geschichte möglich. Dabei stellt nicht nur die Tatsache, dass fragmentarische Erinnerungen kohärent versprachlicht werden müssen, eine Einflussgröße dar, sondern auch die jeweilige Erhebungssituation. Die Erzählung über die eigene sprachliche Entwicklung wird für ein spezifisches Gegenüber in einer bestimmten kommunikativen Konstellation hervorgebracht. Dies gilt es sowohl bei der Aufbereitung des Materials als auch bei den anschließenden Analysen zu reflektieren. In einer weiten Definition werden Sprachbiographien als „systematisch gesammelte Dokumente, in denen sich Personen in freier narrativer Form über ihr Verhältnis zu Sprachen äußern“5, gefasst. Als Datengrundlage können verschiedene Dokumenttypen dienen: In sprachbiographischen Untersuchungen werden sowohl schriftliche (z. B. Tagebuchaufzeichnungen, Romane)6 als auch mündliche (z. B. spontane sprachbiographische Äußerungen im Gespräch),7 mithin sogar bildliche Verarbeitungen8 einer Sprachbiographie untersucht. Auch wenn also verschiedenste Datentypen als Grundlage sprachbiographischer Untersuchungen dienen können, so stellt doch das qualitative Interview, bei dem i. d. R. ein Explorator/eine Exploratorin eine interessierende Person zur möglichst freien Erzählung über ihren Spracherwerb sowie Änderungen und Entwicklung des Sprachgebrauchs anhält, die am weitesten verbreitete Erhebungsmethode in diesem Forschungsfeld dar. Im Folgenden sollen zentrale Problemfelder skizziert werden, die sich bei der Analyse sprachbiographischer Interviewinteraktionen ergeben.

5 6 7 8

Franceschini 2001, S. 112–113. Vgl. etwa Pavlenko 2001; 2007. Vgl. Androutsopoulos 2001. Siehe Busch 2012 und Krumm/Jenkins 2001 zu sogenannten Sprachenporträts.



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2 Probleme bei der Auswertung sprachbiographischer Interviews Um das Interview als Instrument der Datengewinnung möglichst freizuhalten von einer Beeinflussung durch die ExploratorInnen, gilt für diese das „Prinzip der Zurückhaltung“:9 „Er [der Interviewer] gibt keine Stellungnahmen und Äußerungen ab und hält sich mit Kritik an den Ausführungen des Befragten zurück. Er stellt im Wesentlichen nur Fragen bzw. macht Bemerkungen, die dem Befragten zeigen, dass seine Antworten verstanden wurden und dass Interesse an den Äußerungen des Befragten besteht.“10

Primäres Ziel der interviewenden Person ist es also, den Erzählfluss aufrechtzuerhalten bzw. den Rahmen für weitere Erzählungen herzustellen. Diese methodische Grundannahme führt jedoch häufig dazu, dass die Bedeutung der interviewenden Person unterschätzt wird, was sich u. a. darin widerspiegelt, dass Redebeiträge der ExploratorInnen nur teils oder auch gar nicht in den Transkriptionen repräsentiert werden.11 Wenn also Ausschnitte aus sprachbiographischen Interviews in transkribierter Form wiedergegeben werden, erfolgt dies meist in einer „monologischen“ Repräsentation. Zudem wird das Gesagte meist orthographisch oder zumindest orthographienah transkribiert.12 Eine solche „typische“ Aufbereitung sprachbiographischer Erzähldaten soll anhand des folgenden Ausschnitts aus einem sprachbiographischen Interview mit der aus China stammenden 49-jährigen Lien Zhang13 exemplifiziert werden: Ausschnitt 1: Lehrkorpus #03 [0:06:45–0:07:45] Lien Zhang Und daraufhin hab ich dann die Möglichkeit gehabt (-), mit einer

deutschen Professorin Deutsch zu lernen. Und so haben wir uns gegenseitig – also ich hab ihr bisschen Chinesisch beigebracht und

9 10 11 12

Schütze 1984, S. 79. Lamnek 2005, S. 399. Siehe auch König i.V. Vgl. etwa Mayring 2010, S. 55, für ein solches Transkriptionsverfahren für qualitative Interviews. Dort heißt es etwa: „‚[Ä]h‘ und Ähnliches kann weggelassen werden; Dialektfärbungen werden eingedeutscht […].“ 13 Der Ausschnitt stammt aus dem Lehrkorpus Sprachbiographien, das 2014–2015 am Germanistischen Institut der WWU Münster erhoben wurde (weiterführende Informationen unter: URL: http://www.uni-muenster.de/Germanistik/Lehrende/koenig_k/ Lehrkorpus_Sprachbiographien.html [zuletzt aufgerufen: 03.10.2016]). Siehe Kap. 2 für eine Korpusbeschreibung.

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sie mir bisschen Deutsch. Aber wirklich nur ein bisschen, weil das

meiste unserer Unterrichtszeit ham wa auf Englisch gesprochen, weil das einfacher ist. Man schlägt dann automatisch auf die Sprache

zurück, also greift die Sprache zurück, die man kann. Auch beim Sprachenlernen ist das so. Ja und so war mein Deutsch nach vier Jahren immer noch auf einem Level geblieben, das – also bei den zwei

Sätzen, die würd ich bis heute nicht vergessen: Das heißt „Ich leg das Buch auf den Tisch.“ und „Das Buch liegt auf dem Tisch.“ Es ging

um Akkusativ, Dativ, Akkusativ und dass man das unterscheiden – und danach hab ich gesagt „Heute ist der Unterricht beendet.“ „Hast du

noch nen leckeren Wein?“ (lachen) So kann man dann natürlich auch Sprachen lernen. Weil ich auch nicht wusste und auch nicht geplant

hatte, später die Sprache, also Deutsch (-), sag ich mal, als meine quasi zweite Muttersprache zu zu benutzen.

Auch wenn sich die Transkription dieses Ausschnitts grundlegend an orthographischen Normen orientiert (Groß- und Kleinschreibung; Interpunktion), so ist doch auch klar zu erkennen, dass sie Spuren der Mündlichkeit trägt. Neben der Verschriftlichung von Reduktionsformen (habe  hab; wir  wa) fallen auch parenthetische Einschübe („später die Sprache, also Deutsch, sag ich mal“) und Neuansätze sowie Reparaturen des Gesagten („Und so haben wir uns gegenseitig – also ich hab ihr bisschen Chinesisch beigebracht“) auf, die nicht normiert wurden. Ebenso finden sich Ansätze der Notation von Pausen und paraverbalen Merkmalen (hier: Lachen). Aber auch wenn erkennbar markiert wird, dass es sich um mündliche Äußerungen einer Gewährsperson handelt, erfolgt die anschließende Analyse häufig nicht unter interaktionalen, sondern allein unter inhaltsanalytischen Gesichtspunkten;14 Phänomene der Mündlichkeit wie die Formulierungsdynamik eines Gesprächsbeitrags sowie prosodische Besonderheiten werden nicht systematisch ausgewertet. Merkmale der Interaktion mit der interviewenden Person werden meist gänzlich ausgeblendet. In dem oben angeführten Ausschnitt werden etwa Rückmeldesignale oder Zwischenkommentare der interviewenden Person genauso wenig wiedergegeben wie der vorhergehende Gesprächskontext, auf den die interviewte Person in ihrem Beitrag Bezug nimmt. Die Interaktion mit einem Gesprächspartner/einer Gesprächspartnerin ist jedoch eine grundlegende Bedingung für die Konstitution von Gesprächen und den darin enthaltenen Erzählformaten. Bereits das Anzeigen und Herstellen von Verstehen (oder auch Nicht-Verstehen) einer Erzählaufforderung ist als gemeinsame Hervorbringung von interviewender und inter14 Zu einer Kritik inhaltsanalytischer Ansätze in der Sprachbiographieforschung siehe Pavlenko 2007.



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viewter Person zu konzeptualisieren.15 Wie Arbeiten der Konversations- und Gesprächsanalyse gezeigt haben,16 sind darüber hinaus weitere Aspekte wie die Rederechtszuweisung oder der Aufbau und Ablauf von Erzählungen als interaktive Koordinationsleistung zwischen den am Gespräch beteiligten SprecherInnen zu verstehen – auch oder sogar gerade wenn sich eine der Personen durch die Erhebungsmethode bedingt zurückhält. Solche Aspekte der Mündlichkeit und der Interaktivität können jedoch zu Problemen bei der Aufbereitung und der Auswertung sprachbiographischer Interviews führen: (1) Problem der Modalität des Gesprochenen: Für die Arbeit mit sprachbiographischen Interviews ist zu klären, welche Merkmale des Mündlichen für die jeweilige Fragestellung relevant sein können. Diese Merkmale müssen bei der Aufbereitung des Materials systematisch transkribiert und anschließend in die Auswertung einbezogen werden. (2) Problem der Beeinflussung durch die InterviewerInnen: Aus der Sozialpsychologie ist ein „social desirablity bias“17 bekannt; ProbandInnen geben mitunter die Antworten, von denen sie meinen, dass sie die ExploratorInnen hören wollen. Entsprechend muss auch bei der Auswertung sprachbiographischer Interviews gefragt werden, wie Reaktionen und Bewertungen der Interviewenden die Äußerungen der interviewten Person beeinflussen. (3) Problem der intrapersonellen Variation: Im Verlauf eines sprachbiographischen Interviews kann es zu Widersprüchen in der sprachbiographischen Rekonstruktion und in den sprachbezogenen Bewertungen der interviewten Personen kommen. Diese gilt es aufzuzeigen und kontextuell zu reflektieren. Der vorliegende Beitrag setzt sich zum Ziel, die benannten Problemfelder anhand verschiedener Auszüge aus sprachbiographischen Interviews darzustellen und für eine gesprächsanalytische Auswertung der Interviewdaten zu argumentieren.18 Die Daten entstammen drei verschiedenen Korpora von leitfadengestützten, teilnarrativen Interviews aus dem thematischen Kontext der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit in Deutschland. Das erste Korpus umfasst 15 Interviews mit 15 16 17 18

Siehe etwa Uhmann 1989; Lucius-Hoene/Deppermann 2002, S. 267–268. Vgl. etwa Quasthoff 2001. Vgl. Coupland/Garrett/Williams 2003, S. 28; siehe auch Tophinke/Ziegler 2006, S. 208. Vgl. Talmy 2010 zur Unterscheidung von qualitativen Interviews als Erhebungsinstrument und Forschungsgegenstand. Siehe ebenso Arendt 2011; Cuonz 2014; Deppermann 2013; König 2014; Liebscher/Dailey-O’Cain 2009; Uhmann 1989; Wooffitt/ Widdicombe 2006.

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SprecherInnen der ersten und zweiten Migrationsgeneration (u. a. aus Großbritannien, Iran, Korea, Russland, Schweiz, Serbien, Türkei), die 2009 bis 2013 von Studierenden im Rahmen von universitären Lehrveranstaltungen erhoben wurden und in der linguistischen Audio-Datenbank (lAuDa) am Centrum Sprache und Interaktion der WWU Münster aufbereitet sind. Das zweite Korpus besteht aus 16 Interviews, die im Rahmen des Projekts „Lehrkorpus Sprachbiographien“ videographiert wurden. Das dritte Korpus setzt sich aus 14 Interviews mit SprecherInnen der ersten und zweiten Generation aus dem Herkunftsland Vietnam zusammen, die zwischen 2009 und 2011 im Rahmen meines Dissertationsprojekts geführt wurden.19 Die Daten umfassen insgesamt etwa 35 Stunden Interviewmaterial, das vollständig anonymisiert und nach GAT 220 transkribiert wurde. In den folgenden Abschnitten stehen jedoch nicht Überlegungen zu sprachbiographischen Rekonstruktionen im Kontext der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit im Vordergrund; vielmehr soll anhand dieses Materials exemplarisch aufgezeigt werden, dass und wie Interviews grundlegend als Interaktionen zu konzeptualisieren sind und wie ein gesprächsanalytischer Zugang das Verständnis der Daten vertiefen kann.

2.1  Das Problem der Modalität des Gesprochenen Das einleitende Beispiel hat illustriert, dass die Transkription sprachbiographischer Interviews typischerweise Spuren der spontanen Mündlichkeit trägt. Prosodische Aspekte sowie die Gesprächsbeiträge der interviewenden Personen werden jedoch häufig nicht verschriftlicht. Welchen Einfluss diese und weitere Dimensionen für die Auswertung eines sprachbiographischen Interviews haben können, soll anhand einer detaillierteren Aufbereitung des Eingangsbeispiels deutlich gemacht werden. Ausschnitt 2: Lehrkorpus #03 [0:06:45–0:07:45] Lien Zhang 001

LiZ:

002

INT:

003 004 005

und daraufhin hab [ich dann

] die MÖGlichkeit gehabt äh:-

[] (-)

LiZ:

mit einer (.) deutsche: (.) profesSOrin, (-)

19 Siehe König 2014. 20 Vgl. Selting [u.a.] 2009; im Anhang findet sich ein Überblick der wichtigsten Konventionen.



Das sprachbiographische Interview als Interaktion 006

INT:

[hm_HM,

007

LiZ:

[DEUTSCH zu lernen;]

008

205

]

und so [ham_wa uns] gegenseitig also ich hab ihr °h bisschen chiNEsisch beigebracht-

009

INT:

010

LiZ:

011

[hm_HM,

]

und sie mir °h bisschen DEUTSCH; aber (.) wirklich nur ein

012

INT:

hm_HM,

013

LiZ:

weil:: (.) die meisten unsere unterrichts (.) ZEIT haben_ wa dOch auf englisch gesprochen,

014

INT:

[hm_HM,

015

LiZ:

[weil das AN]facher is;

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INT:

[JA,

017

LiZ:

[man schlägt] (.) dann automatisch auf die SPRAche zurück,

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] ]

also [(be)grEIft die] sprache zurück die man KANN;

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[hm_HM; LiZ:

021

INT:

022

LiZ:

beim auch beim sprachen LERnen,

023

INT:

[ja_A, ]

024

LiZ:

[IS das] so;

025

°h [NE,

]

020

]

[hm_HM,]

(-)

026

INT:

[hm_HM;

027

LiZ:

[ äh] so war das nach h° vier jahre mein_äh mein deutsch immer noch auf ein level geBLIEben-

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]

das äh [also (.)] bei den ZWEI sätzen die würd_ich bis hEUte nich vergessen;

029

INT

[hm_HM;

030

LiZ:

das HEISST äh:-

031

]

ich leg das BUCH auf den TISCH?>

032

INT:

ja_A?

033

LiZ:

und das buch LIEGT auf dem tisch.

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