Hausarbeit zur Erlangung des Akademischen Grades "Magister Artium" an der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften Department I - Germanistik, Komparatistik, Nordistik, Deutsch als Fremdsprache der Ludwig-Maximilians-Universität München
Das Heimatmotiv in Joseph Roths Hiob
Zum Verlust der ostjüdischen Heimat
Eingereicht von: Kianoosh Sadigh Echingerstr. 10e, 80805 München
[email protected] Erstgutachter: PD Dr. Waldemar Fromm Zweitgutachter: Professor Dr. Michael Brenner
München 2009
An diese Heimat, zu der es keine wirkliche Rückkehr geben konnte, war er durch Sehnsucht und Ablehnung, Liebe und Hass, Stolz und verschämte Verlegenheit gebunden. Er der sie früh verließ, suchte die verlorene Heimat in den vielen Stationen seiner Irrfahrten durch die fernsten Länder Westeuropas. Wiedergefunden hat er sie nur in der literarischen Gestaltung der östlichen Welt. David Bronsen Joseph Roth. Eine Biographie
Wo Gutes getan wird, dort ist meine Heimat. Joseph Roth Antichrist
2
Inhalt EINLEITUNG ....................................................................................................................................... 4 I
HISTORISCHER KONTEXT ............................................................................................................... 8 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6
DAS OSTJUDENTUM .......................................................................................................................... 8 Polen: Die neue Heimat .......................................................................................................... 8 Pogrome: das Ende eines Traumes....................................................................................... 12 Chassidismus: Die spirituelle Stütze ..................................................................................... 14 Die Identität der Ostjuden .................................................................................................... 16 Das Schtetl ............................................................................................................................ 18 Die wichtigste kulturelle Bewegung im Judentum ............................................................... 22 1.6.1 1.6.2 1.6.3
1.7
Die Habsburgermonarchie und die Juden............................................................................. 30 1.7.1 1.7.2 1.7.3
II
Haskala .................................................................................................................................... 22 Haskala in Osteuropa .............................................................................................................. 24 Die Ostjüdische Assimilationsbewegung ................................................................................. 27 Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts................................................................................... 30 Erster Weltkrieg und der Untergang der Donaumonarchie .................................................... 33 Die Entstehung einer literarischen Heimat: Mythos Galizien.................................................. 34
JOSEPH ROTH ......................................................................................................................... 39 1 2
III
BIOGRAPHIE .................................................................................................................................. 39 DIE HEIMATEN DES JOSEPH ROTH ...................................................................................................... 46 Die Habsburger-Monarchie und das Ostjudentum............................................................... 46 2.1 DER ROMAN HIOB .................................................................................................................. 52
1 2
DER WENDEPUNKT IN JOSEPH ROTHS WERK ........................................................................................ 52 DIE MOTIVE DER HEIMAT IM HIOB-ROMAN ........................................................................................ 57 Das Schtetl: der Ort der Verfremdung .................................................................................. 57 2.1 Landschaft und Natur ........................................................................................................... 60 2.2 Familie .................................................................................................................................. 64 2.3 2.3.1 Mendel und Deborah .............................................................................................................. 65 Die Kinder Mendel Singers ...................................................................................................... 69 2.3.2 2.3.2.1 Jonas und Schemarjah....................................................................................................... 69 2.3.2.2 Mirjam............................................................................................................................... 71 2.3.2.3 Menuchim ......................................................................................................................... 73
2.4
Die heimatlichen Bindungen ................................................................................................ 76 2.4.1 2.4.2
2.5 IV
Die Bauern............................................................................................................................... 76 Die Kosaken ............................................................................................................................. 77
Der Glaube............................................................................................................................ 80
DAS EXIL: AMERIKA................................................................................................................. 84 1 2 3
DER EXODUS NACH AMERIKA ............................................................................................................ 84 DAS AMERIKA-BILD IN ROTHS HIOB ................................................................................................... 85 AUSBRUCH DER KATASTROPHE .......................................................................................................... 91 Verlust der Familie ............................................................................................................... 91 3.1 Verlust des Glaubens ............................................................................................................ 92 3.2 DIE MYTHISIERUNG DER HEIMAT ....................................................................................................... 95 4 ERLÖSUNG DURCH DIE WIEDERBEGEGNUNG DES VATERS MIT DEM SOHN .................................................. 98 5
ZUSAMMENFASSUNG ..................................................................................................................... 103 LITERATURVERZEICHNIS .................................................................................................................. 105 ERKLÄRUNG .................................................................................................................................... 111 LEBENSLAUF.................................................................................................................................... 112
3
Einleitung Der Begriff „Heimat“ hat eine lange Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte. Er weist verschiedene Inhaltsebenen auf und entsprechend dieser vielen Inhaltsebenen gibt es für diesen Begriff auch verschiedene Inhaltselemente. In den letzten Jahrzehnten, insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg, wurde „Heimat“ zum Objekt einer Vielzahl von
Diskussionen
in
verschiedenen
Fachgebieten,
darunter
auch
die
Literaturwissenschaft. Dieser Begriff ist heutzutage ein salonfähiger Begriff geworden, nachdem er Anfang der siebziger Jahre von den prominenten Autoren jener Jahre wie Heinrich Böll, Max Frisch, Günther Grass und Martin Walser wieder an die Öffentlichkeit gebracht wurde. Heute kann man von der „rehabilitierten Heimat“ 1 sprechen und sich frei mit diesem Thema auseinandersetzen. Das in der vorliegenden Arbeit zur Debatte stehende Thema ist die Bedeutung der Heimat in Hiob. Roman eines einfachen Mannes, einem der wichtigsten Romane Joseph Roths.. Heimat wird in dieser Arbeit nicht als eine ahistorische Kategorie verstanden, sondern als eine, die sich in einer ganz bestimmten Epoche mythisch manifestierte. Diese Epoche, die sogennante „Nach - dem – ersten – Weltkrieg - Zeit“, oder die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, ist durch die größte Krise der Menschheit im 20. Jahrhundert gekennzeichnet; man könnte sie auch die Epoche der Sinnlosigkeit nennen. Die Heimatlosigkeit ist die Frucht der zwei großen Weltkriege. Man verlor den Sinn des Lebens, im Zeitalter des Herumwanderns, der Heimatlosigkeit und Nichtzugehörigkeit. Was ist Heimat? Es ist völlig irrelevant, wie man die Heimat definiert. Die Hauptsache ist, dass die Heimat Sinn gibt; Heimat gibt dem Leben und der Identität des Menschen einen Sinn, und wenn dieser Sinn in eine Krise gerät, fällt auch die Heimat, beziehungsweise das Heimatgefühl, in eine Krise. Man kann sagen: wenn man eine Heimatkrise hat, hat man auch eine Sinnkrise und umgekehrt. In der Tiefe dieser Krise befand sich Joseph Roth. Er, der für lange Zeit seine galizische Abstammung verleugnete und sie hasste, versöhnte sich mit dieser ostjüdisch geprägten Heimat, als sie nicht mehr existierte. Er verlor nicht nur die Heimat seiner Kindheit, sondern auch alle mit ihr verbundenen Werte, vor allem die aus dem Chaos der Identitäten und Nationalitäten Ordnung stiftende habsburgische Monarchie. Je mehr die Reliquie dieser Heimat zersetzt wurde, umso stärker manifestierte sich bei ihm Heimat als „Nostalgie nach Sinn“. Die Welt verkörperte für ihn das größte Chaos der Menschheit. Ihm war die 1
Bondy, Francois: Die rehabilitierte Heimat. In: Neue deutsche Hefte/22 = H. 145 - 148. 1975, S. 107112, hier S. 107.
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Absurdität der Zeit bewusst, und wahrscheinlich auch die Sinnlosigkeit seiner Versuche, in den letzten Jahren seines Lebens die Monarchie wiedererstehen zu lassen Deswegen, um mit Marcel Reich-Ranicki zu sprechen, musste er sich „um überhaupt existieren zu können, […] im Erfundenen verlieren. Um dem Leben standzuhalten, benötigte er eine Kontrastwelt“ 2. Das Chaos, aus dem er in der Märchenhaftigkeit des Wunders, in der heilen Welt der Vergangenheit Zuflucht suchte, war das Leben selbst. Die menschlichen Werte wurden in der Moderne so zerstört, dass es unmöglich war, sie wiederzugewinnen. Heimat wurde zu einer Unmöglichkeit. Joseph Roth war sich der Unmöglichkeit der Heimat bewusst, jedoch war er ein Nostalgiker, und als solcher flieht er vor der Gegenwart und Realität. Joseph Roth suchte sein Ithaka in der Literatur, quasi im Schreiben und Erzählen. Durch das Erzählen rekonstruierte er in Worten die Heimat. In Radetzkymarsch versuchte Roth, die Welt der Monarchie wiederauferstehen zu lassen und in Hiob die Welt und Werte der Ostjuden. Die Welt und Werte, die nie wieder zurückzugewinnen waren und die gerade deswegen zum Mythos wurden. Im Rahmen dieser Arbeit wird die Heimat als eben diese mythische Kategorie untersucht, und da der Mythos eine literarische Heimat ist, sollte man dieses Motiv im Hiob- Roman als ein literarisches betrachten, eine Utopie der Werte, die die Realität verklärt. Claudio Magris bringt das Gesagte auf den Punkt: Die Bedeutung von Hiob liegt gerade in der Auflösung des Realen, in der menschlichen und poetischen Notwendigkeit seiner ideologischen Irrtümer, die allein durch die Kohärenz der Fabel und des Gleichnisses gerechtfertigt sind, wo die inhaltlichen und realistischen Elemente (in diesem Fall die Zeichnung der ostjüdischen Welt) nur als der andere Ausdruck einer unbestimmten metaphysischen Ähnlichkeit, als bloßer Verweis auf ein sich dem Zugriff entziehendes Jenseits, Geltung haben. Hiob stellt eines der typischsten Beispiele für die Entdeckung des ostjüdischen Raumes als literarischen Ort und als Seelenlandschaft dar. Gerade auch in der deutlichen Verflechtung von Wirklichkeitstreue und Manier, epischen Zügen und dekorativen Stilisierungen, innerer Teilnahme und kontrolliertem Abstand ist es ein typisches Werk. Hiob ist der ironische Roman eines Intellektuellen, der gerade deshalb eine vollkommene Rekonstruktion der Welt und der Humanität des Ostjudentums unternimmt, weil er ihren Verlust und seine nicht wieder rückgängig zu machende Ferne von ihr fühlt. Mit Hiob versucht Roth in seiner Ratlosigkeit vor der europäischen Wirklichkeit seiner Zeit eine Stellungnahme, die sich auf die Archetypen einer Kultur stützt, nach der er sich, innerlich von seiner Entwurzelung überzeugt, aus ganzem Herzen sehnt. 3
Hiob hat eine märchenhafte Struktur. Schon vom ersten Satz an gerät man in eine zeitlose, freie Dimension: „Vor vielen Jahren lebte in Zuchnow ein Mann namens
2 3
Reich-Ranicki, Marcel: Kakanien als Wille und Vorstellung. In: Die Zeit. Nr. 50. 07.12.1973, S. 26. Magris, Claudio: Weit von wo. Verlorene Welt des Ostjudentums. Europaverlag. Wien 1974, S.112f.
5
Mendel Singer“ 4. Diese ahistorische Struktur mit einer mythischen Freiheit weist auf die Werte hin, nach denen sich Roth sehnte. 5 Die Chiffre dieser mythischen Heimat war das Judentum, das ihm einen festen Halt, eine Heimat gegeben hatte, in den Jahren, in denen er von der Unannehmlichkeit der geschichtlichen Gegenwart und ihrer Schwierigkeiten völlig betroffen war. 6 Ja, die Zeitlosigkeit der Heimat beruht auf dem Leben der Juden in der Diaspora. Magris verfolgt diese These wie folgt: Es ist vielleicht richtiger zu sagen, dass die Heimat der Juden in der Diaspora auf einer außerzeitlichen Grundlage ruht. Seit der Zerstörung des Tempels hat das israelitische Volk nicht im Werden gelebt, sondern in einem Buch, im Wort und in der Schrift, in der Tora, die las schon vor der Schöpfung existierend betrachtet wurde. Das Buch […] bedeutet Zeitlosigkeit; die jüdische Tradition erscheint durch die Jahrhunderte hindurch nach starren Archetypen und nach dem Modell der Wiederholung geformt. Im Judentum ist der jeder religiösen und transzendenten Weltanschauung eigene Antihistorizismus am stärksten ausgeprägt, weil der jüdischen Religion jede Möglichkeit genommen war, konkret auf die sie umgebende geschichtlichgesellschaftliche Wirklichkeit einzuwirken. Sehr früh ist jede Illusion über eine Macht oder über eine Auseinandersetzung mit der Logik des Säkulums gefallen, und alle Hoffnung ist nicht auf die Gegenwart oder Zukunft gerichtet, sondern auf ein messianisches Zeitenende, das ebenso metahistorisch ist wie die biblischen Parameter. […] Mythisiert und in Bezug auf seine wahre Entstehungsgeschichte deformiert, wird dieses ‚Judentum’ so jedoch eine ideale Alternative zur Inflation der Werte im Geschichtsablauf; als Alternative, Utopie, als Modell, das die Wirklichkeit in Frage stellt, gewinnt es eine unbestreitbare Gültigkeit und Wahrheit und nähert sich dadurch dem Dichtungsvorgang selbst an: Phantastische und utopische Landschaften werden gegen die Unmittelbarkeit des Wirklichen und seine horizontale Verflachung errichtet. 7
Die Vergangenheit ist jene Vertrautheit und Sicherheit des Bekannten, die Roth in seinem Hiob darzustellen versucht. Die einzige Erfahrung, die Sinn haben kann, ist die der schon erlebten Geschehnisse, nicht die der sich im Laufe der Geschichte abspielenden. Roth sucht sie nicht in der Chronik der Gegenwart, sondern in der Mythisierung, nicht in der Realität, sondern in der Literatur. 8 Die Vergangenheit ist für Roth eine Flucht aus dem Chaos und der Unordnung, eine Flucht aus der Sinnlosigkeit. Die Vergangenheit ist jene Zeitlosigkeit, jene Heimat, die, wie Ernst Bloch es ausdruckt, „allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“ 9. Doch Bloch sucht die Heimat, so Magris, „in einer zukünftigen Nicht-Zeit, während Roth sie gerade in der Nicht-Zeit der Kindheit sucht, das heißt im hinter uns Liegenden statt im vor uns Liegenden, auf Ithaka, wie der homerische Odysseus statt jenseits der
4
Roth, Joseph: Hiob. Roman eines einfachen Mannes. In: Hermann Kesten (Hrsg.): Joseph Roth. Werke in drei Bänden. Bd. II. Kiepenheuer & Witsch. Köln-Berlin 1956, S. 7. Weiter: Hiob. 5 Vgl. Magris: Weit von wo, S. 113. 6 Vgl. Magris: Weit von wo, S. 113. 7 Magris: Weit von wo, S. 114. 8 Vgl. Magris: Weit von wo, S. 117. 9 Bloch, Ernst: Das Prinzip der Hoffnung. Bd. III. Aufbau-Verlag. Berlin 1959, S. 489.
6
Säulen des Herkules wie der dantesche.“ 10 Roths Ithaka, seine „rückwärts gewandte Utopie“ 11 ist speziell vom Ostjudentum chassidischer Natur geprägt und daher abzugrenzen von anderen Formen des jüdisch-revolutionären Messianismus. 12 Insofern ist es wichtig in der vorliegenden Arbeit die Rothsche Heimat im ostjüdischen Kontext zu analysieren. Es ist bemerkenswert, dass die Heimat der Ostjuden in Wahrheit der Ort ihrer Entfremdung gewesen ist, was in den geschichtlichen Zusammenhängen begründet ist. Das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit versucht, einen Überblick über die Entwicklung des ostjüdischen Typus, die Entstehungsgeschichte der Ostjuden und ihre Vernichtung zu verschaffen. Dabei sollten die Heimatfindung und die Heimatlosigkeit der Ostjuden in kulturhistorischer Hinsicht berücksichtigt werden. Das zweite Kapitel verschafft einen Überblick über Joseph Roths Leben und Werk. An dieser Stelle soll die Bedeutung der Heimat für Joseph Roth erörtert werden. Die Analyse des Motivs der Heimat im Roths Hiob ist die Aufgabe des dritten Kapitels. Dabei werden die wichtigsten Merkmale der Heimat analysiert. Der Kontrapunkt der Heimat wird im vierten Kapitel als das amerikanische Exil vorgestellt. Der Verlust der Heimat und deren Wiederfindung sind die Themen, die im erwähnten Kapitel erläutert werden.
10
Magris: Weit von wo, S. 116. Wörsching, Martha: Die rückwärts gewandte Utopie. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text + Kritik Sonderband. Joseph Roth. München 1995, S.90-100. 12 Vgl. Magris: Weit von wo, S. 116. 11
7
I
Historischer Kontext
1
Das Ostjudentum
In der Auseinandersetzung mit Joseph Roths Werk wird man unweigerlich immer der ostjüdischen Kultur und Spiritualität begegnen. Das Ostjudentum ist jener Ursprung, aus dem Joseph Roth selber stammt. Obwohl er in der Mitte seines Lebensweges zum Katholizismus konvertierte, riss die Verbindung mit seiner ostjüdischen Herkunft nie ab. Das Ostjudentum verkörperte für ihn die verlorengegangene Heimat, die Werte und die Kindheit, die nie mehr wiederzufinden waren. Seine Stimme ist wehmütig und sehnsüchtig, wann immer er von der ostjüdischen Welt schreibt. Seine Bilder sind dann voller Nostalgie und Melancholie. Aus diesem Grund halte ich es für sehr wichtig, dass im Rahmen dieser Arbeit über Hiob - das jüdischste Werk Joseph Roths 13 - zunächst die Anfänge und historische Kontexte der Entstehung des Ostjudentums und der ostjüdischen Heimat erklärt werden. Wenn man von ostjüdischer Heimat spricht, meint man meist Polen. Die Geschichte der Juden in Polen begann schon vor mehr als einem Jahrtausend. Polen war von einer starken religiösen Toleranz gekennzeichnet. Von der Gründung des Königreiches Polen im 10. Jahrhundert bis zur Schaffung des Doppelstaates Polen-Litauen im Jahr 1569 war Polen einer der tolerantesten Staaten Europas. Es wurde zur Heimat für eine der größten und lebhaftesten jüdischen Gemeinden Europas. Es ist erforderlich, dass die Geschichte der jüdischen Heimatfindung in Polen im Rahmen dieser Arbeit zusammenfassend untersucht wird.
1.1
Polen: Die neue Heimat
Bevor es zerfleischt wurde, war Polen der Ursprung des Ostjudentums. Da die meisten Geschichten Joseph Roths an polnischen Schauplätzen, nämlich im ostjüdischen Schtetl in Galizien, spielen - wobei in Hiob das Städtchen in Russland liegt - sollte zunächst die Geschichte dieser polnischen Heimat der Juden untersucht werden; dazu wird die Entstehung des ostjüdischen Typus geschildert. Auf diese Weise kann man vielleicht
13
Vgl. Shaked, Gershon: Wie jüdisch ist ein jüdisch-deutscher Roman? Über Joseph Roths „Hiob, Roman eines einfachen Mannes“. In: Stephane Moses & Albrecht Schöne (Hrsg.): Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion. Suhrkamp. Frankfurt a.M. 1986, S. 281- 292, hier S. 281.
8
die Bedeutung der Heimat in Roths Hiob-Roman und die Poetisierung dieses wichtigen Rothschen Motivs besser verstehen. Es sah Israel, wie die Leiden sich immer erneuerten, die Verhängungen sich mehrten, die Verfolgungen zunahmen, die Knechtschaft groß ward, die Herrschaft des Bösen Verhängnis an Verhängnis reihte und Vertreibung an Vertreibung häufte, dass er vor seinen Hassern nicht mehr bestehen konnte, - da trat es auf die Wege und schaute und fragte nach den Pfaden der Welt, welches der rechte Weg sei, den es betreten solle, um für sich Ruhe zu finden. Da fiel ein Zettel vom Himmel herab: Gehet nach Polen! Und es gibt welche, die glauben, dass auch der Name des Landes einer heiligen Quelle entspringt: der Sprache Israels. Denn so sprach Israel, als es dahin kam: Polin, das heißt: hier nächtige! Und meinten: hier wollen wir nächtigen, bis Gott die Zerstreuten Israels abermals sammeln lässt. 14
Die Quelle dieser Legende, die vom israelischen Schriftsteller Samuel Agnon 1916 geschrieben wurde, entspringt der großzügigen Aufnahme der jüdischen Flüchtlinge aus West- und Mitteleuropa im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit durch die polnischen Könige. Die ältesten und bedeutendsten Quellen jüdischer Siedlungen in Polen stammen aus dem 9. Jahrhundert und dann vor allem aus dem 10. und 11. Jahrhundert. Der später verstärkte Zustrom der Juden nach Polen war hauptsächlich bedingt durch die Verfolgungen in Westeuropa. Während die jüdische Bevölkerung aus Deutschland, Portugal und Spanien massenhaft vertrieben wurde, hat sie in Polen einen freundlichen Empfang erlebt. 15 Als Herzog Boleslaw V. von Großpolen im Statut von Kalisch (1264) 16 die Einwanderung der Juden erlaubt hatte und König Kasimir der Große (1310-1370) in den Jahren 1334 und 1385 amtlich umfassende Privilegien für die Juden in Klein- und Großpolen verordnete, floss der jüdische Einwandererstrom nach Polen. 17 Das Leben der Juden in Polen war vorteilhaft: sie waren vor dem Gericht gleichberechtigt, ihre Synagogen und Friedhöfe wurden vor Schaden geschützt und sie besaßen eine gewisse Autonomie innerhalb der Gemeinden. Es ging so weit, dass König Sigismund I. (1467-1548), nach der Verbreitung der Lüge vom Ritualmord der Juden verordnete, die Juden müssten in seinem Reich keine markante Kleidung anziehen und keine spezifischen Auszeichen tragen; die Ritualmordgerüchte wurden strafbar. 18 Ein päpstlicher Legat meldete 1565:
14
Agnon, Samuel: Die Legende von der Ankunft. In: Das Buch von den polnischen Juden. Berlin 1916. Zitiert in: Haumann, Heiko: Geschichte der Ostjuden. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1999, S. 19f. 15 Vgl. Brenner, Michael: Kleine jüdische Geschichte. C.H.Beck. München 2008, S. 151. 16 Das Satut von Kalisch wurde zur Grundlage aller Schutzverordnungen zugunsten der Juden. Siehe: Haumann, Heiko: Geschichte der Ostjuden. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1999, S. 20. 17 Vgl. Brenner, S. 151-152. 18 Vgl. Brenner, S. 152.
9
In diesen Gebieten trifft man große Massen von Juden, die nicht so verachtet sind, wie dies anderswo der Fall ist. Sie leben nicht in einem Zustand der Erniedrigung, und sie sind auch nicht auf verächtliche Berufe beschränkt. Sie besitzen Land, sie beschäftigen sich mit dem Handel, und sie studieren Medizin und Astronomie…Sie tragen kein Unterscheidungszeichen, und man gestattet ihnen sogar das Tragen von Waffen. Kurz, sie verfügen über alle Bürgerrechte. 19
Die Toleranz den Juden gegenüber stieß von Anfang an auf den starken Widerstand der katholischen Kirche. In der Versammlung der Bischöfe in Breslau 1267 wurden die räumliche Abtrennung zwischen christlicher Bevölkerung und Juden, das Tragen besonderer Kleidung und das Benutzungsverbot der christlichen Bäder und Wirthäuser gefordert. 20 Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde der Konflikt zwischen christlichen Bürgern und Juden dadurch verschärft, dass das polnische Bürgertum einen sozialen Aufstieg gemacht hat und der Adel, der häufig bei den Juden verschuldet war, eine feindliche Stellung ihnen gegenüber einnahm. Somit setzte sich auch in Polen mit etwas Verspätung die Verdrängung der Juden aus Gewerbe und Handel ein und sie wurden aus den großen Städten wie Krakau und Warschau vertrieben. 21 Während des 16. Jahrhunderts gelang es den polnischen Königen, trotz starken antijüdischen Tendenzen, die Position der Juden zu schützen, aber die wachsende Macht der Adligen beschränkte mehr und mehr die Macht des Königshauses, sodass König Sigismund I. den Adligen das Recht geben musste, über die Juden in ihrem Territorium selber die Entscheidung zu treffen. Auch die Macht der Städte wurde größer und die größeren Städte wie Warschau und Danzig nahmen keine Juden mehr auf. 22 Trotz der zunehmenden Feindseligkeiten des Adels und der Christen gegenüber den Juden, erfuhr die Situation der Juden im Inneren eine Umwandlung. Die Lubliner Union von 1569, die auch Weißrussland, die Ukraine, Wolhynien, Podlachien und Podolien umfasste, brachte gewisse soziale und finanzielle Sicherheit für die Juden. 23 Man sprach sogar vom „Paradies der Juden“. 24 Es entstand ein Staat aus vielen unterschiedlichen Nationen, Sprachen und Religionen. Das polnisch-litauische Großreich hatte neben Ukrainern und Weißrussen auch größere Immigrantengemeinden aus Italien und Deutschland angezogen. Es gab neben Katholiken in Polen auch
19
Haumann, S. 24-26. Vgl. Brenner, S. 152. 21 Vgl. Brenner, S. 153. 22 Vgl. Brenner, S. 153. 23 Vgl. Raffel, Eva: Vertraute Fremde. Das östliche Judentum im Werk von Joseph Roth und Arnold Zweig. Gunter Narr Verlag. Tübingen 2002, S. 10. 24 Döblin, Alfred: Reise in Polen. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 2000, S.73. 20
10
Orthodoxe, Protestanten, muslimische Tataren und Juden, die in der Mitte des 17. Jahrhunderts 3-5 Prozent der gesamten Bevölkerung und 20 Prozent der städtischen Bevölkerung ausmachten, das heißt viel mehr als in anderen europäischen Ländern, wo die Juden weniger als 1 Prozent der gesamten Bevölkerung stellten. Man schätzt zur Mitte des 17. Jahrhunderts eine Anzahl von 300,000 Juden in Polen-Litauen, das heißt es war die größte jüdische Gemeinde in ganz Europa. 25 Politisch hatte sich im 18. Jahrhundert eine Aufteilung Polens (die erste 1772, die zweite 1793 und die dritte 1795) vollzogen, in der nun der bis dahin gewissermaßen homogene jüdische Bereich in drei Teile geteilt wurde, und dessen weitere Entwicklung sehr unterschiedlich verlief: in Preußen, Russland und Österreich. Mit der dritten Aufteilung verschwand Polen für 123 Jahre von der politischen Karte Europas. Die polnischen Juden kamen unter die Herrschaft von drei verschiedenen Staaten, sodass sich ihre Situation in jedem Teil des ehemaligen Polens anders gestaltete. Die Gebiete, in denen sich unzählige Schtetlech (jüdische Städtchen) befanden, nämlich Galizien und die Bukowina, fielen dem habsburgischen Österreich zu, und der Großteil der polnischen Juden, bei denen auch die typische Schtetlwelt zu finden war, die wir aus zahlreichen Erzählungen kennen, fiel an das Zarenreich. In beiden Teilungsgebieten herrschte düstere Armut und es gab Einschränkungen für die Juden im Bereich der Eheschließung und Berufszulassung. 26 Während die christliche Bevölkerung größtenteils aus Bauern bestand und ein ländliches Leben führte, bildeten die Juden mehr die städtische Bevölkerung und waren in verschiedenen Bereichen des Handels tätig. Sie waren Pächter, Kreditgeber, Händler, Hausierer, betrieben Geldgeschäfte, Schankwirtschaften und Pfandleihhäuser. 27 Die jüdischen Pächter spielten die Rolle des Vermittlers zwischen zwei Fronten: zwischen Bauern und Adeligen, zwischen Polen und Ukrainern. 28 Jedoch war die jüdische Gemeinschaft in Polen eine „Parallelgesellschaft“ 29 neben der christlichen Bevölkerung. Nicht nur in Tracht und Tätigkeit waren die Juden anders als die umgebende Gesellschaft, sondern auch in der Sprache. Sie bewahrten das Mittelhochdeutsche und mischten es mit hebräischen und slawischen Elementen. Aus dieser Mischung entstand das Jiddische, das zur Muttersprache der Juden in Osteuropa, 25
Vgl. Brenner, S. 153f. Vgl. Klanska, Maria: Aus dem Schtetl in die Welt 1772 bis 1938. Ostjüdische Autobiographien in deutscher Sprache. Böhlau Verlag. Wien 1994, S. 48, und Chaim, Frank: Die Welt des Ostjudentums. Polen. Auf: http://www.hagalil.com/galluth/polen/polen6.htm. 27 Vgl. Brenner, S.154. 28 Vgl. Brenner, S. 156. 29 Brenner, S. 154. 26
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der so genannten Ostjuden, wurde. 30 Darüberhinaus hatten die Juden ihre eigenen Rituale, ihre eigenen Feiertage, ihren eigenen Kalender und ihre eigenen Speisen. Im Laufe der Zeit erlangten die Juden eine
gewisse Autonomie und regelten
die
Angelegenheiten des Alltagslebens und der Religionsgesetze selbst. 31 Neben allen diesen Trennungsfaktoren gab es viele Verbindungen zwischen Juden und Christen in Polen. Sie teilten miteinander einen großen Teil der alltäglichen Lebensweise: Kleidungsformen, Essen, Architektur und Baustil, Melodien der Volkslieder und vor allem die Volksaberglauben. 32 Die polnischen Juden waren ein Teil dieses Landes. Sie fühlten sich der Landschaft Polens wie auch ihrem König verbunden; sie waren in vielen alltäglichen Bereichen mit ihrem christlichen Umfeld mehr verbunden als mit den Juden in anderen Ländern. Diese Verbundenheit darf jedoch nicht idealisiert werden, weil es, nach Michael Brenner in seinem neu veröffentlichten Buch Kleine jüdische Geschichte, eine Tatsache ist, dass Juden und Christen in Polen sich nicht immer besonders mochten und die religiösen Unterschiede immer die Grundlage der ständigen Spannungen zwischen beiden blieben 33.
1.2
Pogrome: das Ende eines Traumes
Die ersten Vertreibungen waren schon in Gang; die erste Heimatlosigkeit der polnischen Juden, die in Polen einen Ersatz für die Urheimat gefunden hatten. Das goldene Zeitalter der polnischen Juden fand sein Ende erst, als der Kosakenaufstand im Jahr 1648 ausgelöst wurde, in dem die russisch-orthodoxen Kosaken, die aus den ukrainischen Gebieten stammten, unter der Führung von Hetman Bogdan Chmielnicki gegen die polnischen katholischen adligen Grundbesitzer kämpften. Von diesem blutigen Krieg waren die Juden am Meisten betroffen, weil die Bauern sie als willfährige Arbeiter der adligen Oberschicht betrachteten. 34 Heiko Haumann schätzt die Zahl der ermordeten Juden auf mindestens 100,000 bis 125,000. 35 Michael Brenner zählt die wichtigsten Gründe für diesen Aufstand, der ungeheuere dramatische Folgen für die Juden Osteuropas als Folge hatte, in folgenden Punkten auf: 30
Vgl. Brenner, S. 154f. Vgl. Brenner, S. 154f. 32 Vgl. Brenner, S. 154f. 33 Vgl. Brenner, S. 156. 34 Vgl. Hilbrenner, Anke: Jüdische Geschichte. Digitales Handbuch zur Geschichte und Kultur Russlands und Osteuropas. Universität Bonn 2007, S. 19. Auf: epub.ub.unimuenchen.de/2055/1/Hilbrenner_JuedGeschichte.pdf. 35 Vgl. Haumann, S. 40. 31
12
Auf nationaler Ebene bedeutete er die Erhebung gegen das polnische Großreich, auf sozialer den Kampf der Bauern gegen die Großgrundbesitzer und auf religiöser den Widerstand der griechisch- orthodoxen Kirche gegen die Dominanz der römischkatholischen. Die Juden waren nicht nur aufgrund ihrer religiösen und ethnischen Außenseiterposition als Zielscheibe in diesen Kampf miteinbezogen, sondern auch als wirtschaftliche Sündenböcke. Die ukrainischen Bauern kannten zumeist gar nicht die eigentlichen Landbesitzer, sondern hatten es nur mit ihren jüdischen Mittelsmännern zu tun, gegen die sich ihr ganzer Hass richtete. 36
Es handelte sich um die blutigsten antijüdischen Pogrome vor dem 20. Jahrhundert; die zeitgenössischen Berichte bezeichnen sie als „die Dritte Zerstörung“ 37 (nach den Zerstörungen beider Tempel in Jerusalem). Ab diesem Zeitpunkt hat sich die traditionelle Richtung der jüdischen Wanderung, die bisher von Westen in den Osten gewesen war, umgekehrt. 38 Sie flüchteten aus Polen in die deutschen Städte, nach Amsterdam und ins Osmanische Reich. 39 Das Leben der Ostjuden war nach diesen Gewalttaten in Unsicherheit und feindliche Konflikte geraten, und obwohl die Wunden, die durch dieses Massaker verursacht wurden, erstaunlicherweise sehr schnell heilten und die Juden sich in Polen langsam wieder vermehrten, fingen dennoch die schlimmsten Ausplünderungen und Ermordungen des Jahrhunderts erst nach diesem Geschehnis an. 40 Von großer Bedeutung für die ostjüdische Geschichte in der Moderne waren die russischen Pogrome von 1881-1884, in denen die Ermordung des Zaren Alexander II. als Vorwand benutzt und die Schuld daran auf die Juden übertragen wurde; sie machten den Juden die Unmöglichkeit eines Weiterlebens im Zarenreich klar. Das war der Höhepunkt der Flucht der Ostjuden nach Westen. 41 Die „Sündenböcke“ und „Parasiten“, die nach Haumann „mit ihrem religiösen Fanatismus und ihrer wucherisch-verschlagenen Ausbeutungen der nichtjüdischen Bevölkerung“ diese Reaktion provoziert hätten, sollten aus dem Weg geschafft werden. 42 Die Welle von Pogromen dieser Jahre waren die Anfänge eines Pogromzeitalters in Osteuropa: der Kišinever Pogrom im Jahr 1903; 1904 wurden die Juden von Gomel zu Opfern und die jüdische Bevölkerung wurde misshandelt und ihre ganze Habe geplündert; die Oktoberpogrome im Jahr 1905 und schließlich hat der erste Weltkrieg die Katastrophe für die Ostjuden ausgelöst; letztlich besiegelte das Jahr 1918 36
Brenner , S. 156f. Brenner, S. 156f. 38 Vgl. Netzer, Schlomo: Wanderungen der Juden und Neusiedlungen in Osteuuropa. In: Michael Brocke (Hrsg.): Beter und Rebellen. 1000 Jahre Judentum in Polen. Deutscher Koordinierungsrat der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Frankfurt a.M. 1983, S.48. 39 Vgl. Brenner, S. 157. 40 Vgl. Haumann, S. 40-88. 41 Vgl. Klanska: Aus dem Schtetl, S. 50. 42 Vgl. Haumann, S. 85-86. 37
13
das Ende der Existenz des Ostjudentums als eine Realität, das Ende der ostjüdischen Bevölkerung und Kultur. 43
1.3
Chassidismus: Die spirituelle Stütze
Diese mystische Strömung, deren Prägung im Großteil der Romane Joseph Roths spürbar ist, beeinflusst den Geist seines Hiob-Romans am stärksten. Hiob ist voll von chassidischen Lehren. Die innerliche Heimat des Protagonisten, sein Glaube, beruht auf diesen Lehren. Die Spiritualität des Buches ist chassidisch. Daher sollte der Chassidismus an dieser Stelle als Folge der Pogrome näher untersucht werden. Politische Unsicherheit und tiefverwurzelter Antisemitismus nahmen mit der Zeit zu und erschwerten zunehmend Leben und den Handel für die jüdische Bevölkerung. 44 In dieser Atmosphäre der Unsicherheit und Verelendung wandten sich die Juden verstärkt - in ihrem Streben nach einem religiösen Sinn für die ganzen
grauenvollen
Geschehnisse - den mystischen Strömungen zu und erwarteten, dass nun die richtige Zeit gekommen sei, dass Gott ihnen den Messias entsende. 45 Die Erwartung des Erscheinens des Messias auf der Erde steigerte sich so stark, dass Gerüchte aufkamen, dass ER schon auf der Erde weile. 46 Gestalten wie Sabbatai Zwi und Jakob Frank 47 konnten kurzfristig einen großen Kreis von Anhängern anziehen, aber keine dieser Strömungen erreichte die starke Anziehungskraft und Ausstrahlung des Chassidismus. 48 Von Israel ben Elieser, der den Ehrennamen Baal Schem Tow, abgekürzt Bescht, erhielt - das heißt Meister des guten Namens, des Namens Gottes - ins Leben gerufen, eroberte der Chassidismus, der sich durch ihn und seine Anhängerschaft in Polen
43
Vgl. Karady, Victor: Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne. Fischer. Frankfurt a.M. 1999, S. 98-107. 44 Vgl. Raffel, S. 10. 45 Vgl. Raffel, S. 10. 46 Vgl. Haumann, S. 49. 47 Sabbatai Zwi (1626-1676) erklärte sich selbst zu Messias, ernannte zwölf Apostel und bestimmte den 18. Juni 1666 zum Tag der Erlösung. In Konstantinopel wurde er von den osmanischen Behörden verhaftet und vor die Wahl gestellt, entweder zum Islam überzutreten oder hingerichtet zu werden. Er wählte den Wechsel der Religion, um seine Anhängerschaft zu schützen. Von Smyrna (heute Izmir) aus griff das messianische Fieber auf Europa über. Jakub Lejbowicz Frank (1726-1791) ernannte sich zum Messias und Nachfolger des Sabbatai Zwi. Er wirkte hauptsächlich in Podolien und Galizien. Im Juli 1756 wurde in Brody über ihn der Bann verhängt. Er konvertierte mit seinen Anhängern 1759 zum Christentum. ( Zu Sabbatai Zewi und Jakob Frank: Gershom Scholem: Sabbatianismus und mystische Häresie. In: Die jüdische Mystik. Suhrkamp. Frankfurt a. M. 1980. S. 315-355). 48 Chassidim sind die „Frommen“, Siehe: Brenner, S. 159.
14
entfaltete, große Teile des russisch- polnischen Judentums. 49 Er schuf mit dem Chassidismus eine Massenbewegung, die eine große Herausforderung für die Orthodoxen Juden war, die nur auf den Talmud fixiert waren. 50 Nach Eliesers Überzeugung, deren Grundprinzipien von Haumann hervorgehoben werden, „gab es keinen Raum für das Böse; es sei lediglich eine falsche Erkenntnis oder eine Nichterkenntnis der Gottheit. […] Wer auch im Bösen die Gottheit erkenne, bringe es doch noch zum Guten“ 51. Damit konnte jedermann Hoffnung haben auf persönliche Läuterung. Man sollte sich bemühen, nur Gutes zu tun. Auf irgendeine mystische Weise ist der Mensch in Liebe zu Gott immer mit ihm verbunden, auch und gerade im Alltag. Deshalb sollte man das Vergnügen an Gott im Diesseits finden und nicht in der Abwendung von der Welt. 52 Daher kann man von einer lebensbejahenden Frömmigkeit im Chassidismus Beschets sprechen, zu der Tanzen, Singen, Fröhlichkeit und Ekstase gehören. 53 Maria Klanska schreibt: Die chassidische Lehre wandte sich gegen die Selbstgefälligkeit der Rabbiner, indem das bescheidene, reine und Gott freudig dienende Herz viel höher als Gelehrsamkeit eingeschätzt wurde, und es betont wurde, dass der Gottesdienst das ganze menschliche Leben umfassen und heiligen soll. 54
Nach Haumann sei im Chassidismus großer Wert „auf die Selbstfindung und Selbsterkenntnis des Einzelnen“ gelegt worden, „in Übereinstimmung mit Umwelt, Geschichte und Gott“. 55 Es ist sehr beachtenswert, dass die Grundprinzipien des Chassidismus wie eine Brise über die Atmosphäre des Hiob-Romans wehen und dem Protagonisten einen innerlichen Halt im Leben, eine innerliche Heimat bieten; und das ist genau, was die ursprünglichen Chassidim beabsichtigten: den heimatlosen Ostjuden einen Heimatersatz auf der spirituellen Ebene zu schenken.
Die Lehre des
Chassidismus wurde nach dem Tod Beschets von seinem Nachfolger weiter entwickelt, aber sie löste heftigen Widerstand in den traditionellen jüdischen Kreisen bzw. unter den Talmudisten aus, und die größten rabbinischen Autoritäten waren in vorderster Front gegen den charismatischen Einfluss der chassidischen Rabbiner in den Gemeinden. 56 Es ging bei diesem Konflikt um die Macht und Vorherrschaft in den jüdischen Gemeinden. Brenner meint, dass dieser Kampf eine geographische 49
Vgl. Raffel, S. 10f. Vgl. Brenner, S. 160. 51 Haumann, S. 54. 52 Vgl. Haumann, S. 54. 53 Vgl. Brenner, S. 160. 54 Klanska: Aus dem Schtetl in die Welt, S. 46f. 55 Haumann, S. 54. 56 Vgl. Brenner, S. 160f. 50
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Aufteilung mit sich brachte: „Die Chassidim behielten in den ärmeren und weniger durch Gelehrsamkeit geprägten Gegenden des Ostens (Podolien, Wolhynien) und Südens (Galizien, Ungarn) die Oberhand, die ‚Mitnagdim’ 57 dagegen in den Hochburgen der Gelehrsamkeit, in Wilna und den übrigen nördlichen Gegenden in Litauen und Weißrussland“. 58 Der Chassidismus stieß auf starke Resonanz, weil er sich auf die Lebenswelt des Menschen bezog. Klanska beschreibt es folgendermaßen: „Der Chassidimus sagte den Bedürfnissen des unterdrückten Volkes zu, in dem er den Frommen zwar keine Veränderung der bestehenden Verhältnisse anbot, jedoch durch seine psychologische Wirkung sie ihr Elend vergessen ließ“ 59. Er forderte weder Traurigkeit noch Askese, weder Sühne noch persönliche Erniedrigung. Er basierte auf Fröhlichkeit und Frömmigkeit, Liebe und Brüderlichkeit. 60 In der damaligen schwierigen Lage der Juden, in der Krise des Judeseins, in der die alten Werte nicht mehr gültig waren, hatte der Chassidismus eine außerordentlich wichtige Bedeutung. „Das Wunder bestand darin, dass der Jude plötzlich die Lust und die Kraft zum Singen hatte, während der Himmel sich mit blutroten Wolken bedeckte, die Gefahr sich immer deutlicher zeigte, immer rascher heranzog“. 61
1.4
Die Identität der Ostjuden
Eva Raffel definiert die Ostjuden folgendermaßen: „Zwischen messianischer Endzeiterwartung und frommer, lebensbejahender Einrichtung in einer Welt, die nicht zu ändern war, formte sich im 18. Jahrhundert der Typus des ‚Ostjuden’ als ein ‚in sich abgeschloßene Kulturpersönlichkeit’“. 62 Der Begriff Ostjude entstand allerdings viel später, im 19. Jahrhundert und setzte sich erst im 20. Jahrhundert durch. Der Begriff wurde von Nathan Birnbaum 63 zum ersten Mal 1897 auf dem ersten Zionistenkongress in Basel 64 verwendet; daher gilt er als Schöpfer dieses Begriffs. 65 Ost und West sind in
57
Hebräisches Wort für Gegner, Siehe: Brenner, S. 161. Vgl. Brenner, S. 160- 162. 59 Klanska, Ma: Aus dem Schtetl, S. 46. 60 Vgl. Haumann, S. 57. 61 Wiesel, Elie: Chassidische Feier. Geschichte und Legende. Herder Verlag. Freiburg 1988, S. 190. 62 Raffel, S. 12. 63 Nathan Birnbaum (1864-1937), der Erfinder des Begrifees „Zionismus“ und ein Nationaljude, der vor der Gefahr der Assimilation warnte und das jüdische Problem politisch lösen wollte; ein Kulturzionist, der das Leben der Juden in Diaspora durch Erziehung und Bildung verbessern wollte. Siehe: Raffel, S. 12 Fußnote 10. 64 Er fand vom 29. bis 31. August 1897 statt. Siehe: Haumann, S. 58 Fußnote 21. 58
16
diesem Zusammenhang keine rein geographischen Begriffe. Es handelt sich vielmehr, wie Anke Hilbrenner es in ihrem Artikel über die Ostjuden präzise ausdrückt, um „dichotomische Metaphern, normative Wahrnehmungskategorien, in denen den historischen Subjekten durch Abgrenzung von jeweils anderen eine Selbstdefinition ermöglicht wird“. 66 Dies gilt für beide Begriffe Ostjude und Westjude. Während die Bezeichnung Ostjude in unserer Sprache Eingang gefunden hat, wurde die Bezeichnung Westjude sehr selten verwendet. Erst nach der Migration der Juden aus Osteuropa in den Westen und dem damit verbundenen westlichen Blick wurde Ostjude zur Bezeichnung für osteuropäische Juden. 67 Der westliche Blick auf die Ostjuden, der vom Fortschrittsgedanken
geprägt
war,
schrieb
diesen
modernisierungstheoretischer Perspektive eine Rückständigkeit zu. ‚Ostjuden’
wurde
aus
westlichem
Blick
bezüglich
eines
häufig 68
aus
Der Fall der
zivilisatorischen
Entwicklungsprozesses als „spezifische eigene Form mit eigenen Charakteristika wahrgenommen“. 69
Die
abwertende
Bezeichnung
Ostjude
gehört
zum
Fortschrittsdenken der westlichen Moderne: die den Ostjuden Zugeordneten hatten ihre eigene Kultur, aber diese Kultur, wie Nathan Birnbaum es in einer seiner Schriften beschreibt, war keine fortschreitende Kultur; sie hat keine Entwicklung durchgemacht. Die Ostjuden waren in religiösem Fanatismus verhaftet, konnten sich nicht aus dem Zwang der Tradition
lösen. 70 In diesem Sinne können wir uns auf Haumanns
Beschreibung der Ostjuden beziehen: Bei einem Ostjuden handelt es sich um einen Menschen, der sich bewusst zum Judentum bekennt, dessen Verständnis sich ihm in schweren Konflikten erschlossen hat. Tradition und Erinnerung üben dabei prägende Wirkung aus, ohne dass der Ostjude deshalb unbedingt konservativ eingestellt sein muss. Zwar kleidet sich der Ostjude in der Regel in eigener Tracht und lebt nach streng befolgten religiösen Gesetzen, überlieferten Sitten und Ritualen, doch Ausnahmen bilden keineswegs nur eine Randerscheinung. 71
Die Vorstellung von Rückständigkeit der Ostjuden aus dem Blickwinkel der westeuropäischen Juden wurde mit großer Selbstverständlichkeit auf russische, polnische, galizische und rumänische Juden übertragen, bis auch diese sich selbst auf
65
Vgl. Haumann, S. 58. Hilbrenner, S. 3. 67 Vgl. Hilbrenner, S. 4. 68 Vgl. Hilbrenner, S. 4. 69 Hilbrenner, S. 4. 70 Vgl. Birnbaum, Nathan: Der Zionismus als Kulturbewegung (1897). In: Die jüdische Moderne. ÖlBaum- Verlag. Augsburg 1989, S. 86. 71 Haumann, S. 58. 66
17
einer niedrigeren Stufe in der Fortschrittshierarchie wahrnahmen. 72 Somit ist die Betonung Haumanns richtig, wenn er schreibt, der Begriff Ostjude sei aus dem innerjüdischen Sprachgebrauch entstanden. 73 An dieser Stelle muss man hervorheben, dass die Ostjuden praktisch zum Objekt einer Wahrnehmung aus westlicher Perspektive wurden. Die Lebenswelten der Ostjuden wurden in den ethnologischen Studien und der Literatur im nostalgischen Sinne, wie es von Dan Miron in seinem Artikel „The literary Image of the Shtetl“ ausgedrückt wurde, „romantisierend kolonialisiert“. 74 Hilbrenner ist der Auffassung, dass erst „aus der pejorativen Bezeichnung heraus […] die Umdeutung des Begriffs Ostjuden durch die osteuropäischen Juden selbst [entstand], die sich damit ihrerseits von Westjuden abzugrenzen suchten“. 75 Jedenfalls gehörten zu dieser Kategorisierung verschiedene Elemente - neben der äußerlichen Erscheinung - die bei der Herausbildung dieses Begriffes geholfen haben, von denen das wichtigste die Mittlerfunktion der Juden in Osteuropa
ist. Die
Herausbildung der ostjüdischen Kategorie wurde sozial und wirtschaftlich stark erleichtert dadurch, dass die traditionelle Rolle der Juden in sozialen und ökonomischen Verhältnissen einen Höhepunkt erreicht hatte: die Mittlerfunktion zwischen Land und Stadt. 76 Gerade in der Aufbauphase nach den Kriegen, Ausplünderungen und Verwüstungen waren die polnischen Juden, nach Haumann, „unersetzlich als Händler zwischen Adel, Bauern und Städtern, als ‚Dorfgeher’ - also Hausierer-, als Geldgeber, als Geschäftsabwickler für Adlige wie für Bauern, als Pächter und Verwalter der Adelsgüter, als Pächter der adligen Schankwirtschaften“. 77 Der Lebensraum dieser Vermittler war das abgesonderte Kleinstädtchen in Osteuropa, nämlich das Schtetl.
1.5
Das Schtetl
Häufige Schauplätze der Rothschen Romane sind die in Galizien und Russland von Ostjuden bewohnten Schtetlech. Wenn man von ‚Heimat’ in Joseph Roths Werk spricht, meint man oft diesen Ort, das Schtetl, wo die menschlichen und emotionalen Begegnungen stattfinden, nach denen sich die Protagonisten immer sehnen. Auch 72
Vgl. Hilbrenner, S. 4. Vgl. Haumann, 58. 74 Miron, Dan: The Literary Image of the Schtetl. In: jewish social studies. Nr. 1 (1995), Heft 3, S. 1-43. Zitiert in Hilbrenner, S. 4. 75 Hilbrenner, S. 4. 76 Vgl. Haumann, S. 59. 77 Haumann, S. 59. 73
18
Mendel Singer, der moderne Hiob, ist ein Ostjude aus einem kleinen russischen Schtetl. Um ein Bild von der Rothschen Heimat erlangen zu können, muss man zunächst wissen, was für ein Ort diese Schtetlech waren. Wenn man an Schtetl denkt, erscheint ein Bild vor dem inneren Auge, ein Bild, dem man in der Chagallschen Malerei oft begegnet: kleine, krumme Gässchen, baufällige Häuser und schwarz gekleidete Juden mit schwarzen Mützen und schwarzem Bart. Das Wort Schtetl - in Deutschland meistens auch noch ‚Städtl’ ausgesprochen - ist die Verkleinerungsform des jiddischen Wortes Schtot‚ Stadt’. 78 Joseph Roths Schilderung des ostjüdischen Schtetl in seinem Essay Juden auf Wanderschaft gibt dem Leser ein literarisches Bild von diesem Phänomen: Die kleine Stadt liegt mitten im Flachland, von keinem Berg, von keinem Wald, keinem Fluß begrenzt. Sie läuft in die Ebene aus. Sie fängt mit kleinen Hütten an und hört mit ihnen auf. Die Häuser lösen die Hütten ab. Da beginnen die Straßen. Eine läuft von Süden nach Norden, die andere von Osten nach Westen. Im Kreuzungspunkt liegt der Marktplatz. Am äußersten Ende der Nord-Süd-Straße liegt der Bahnhof. Einmal im Tag kommt ein Personenzug. Einmal im Tag fährt ein Personenzug ab. Dennoch haben viele Leute den ganzen Tag am Bahnhof zu tun. […] Die Stadt hat 18000 Einwohner, von denen 15000 Juden sind. […] Die Stadt hat zwei Kirchen, eine Synagoge und etwa 40 kleine Bethäuser. Die Juden beten täglich dreimal. Sie müssten sechsmal den Weg zur Synagoge und nach Hause oder in den Laden zurücklegen, wenn sie nicht so viele Bethäuser hätten, in denen man übrigens nicht nur betet, sondern auch jüdische Wissenschaft lernt. 79
Maria Klanska beschreibt das Schtetl folgendermaßen: Die jüdischen Schtetlech befanden sich inmitten slawischer Länderstriche. Ringsum lebten in den Dörfern polnische, ukrainische, weißrussische, litauische oder russische Bauern, je nachdem, wo das Schtetl lag. Auch die Schtetlech waren nicht ausschließlich von Juden bewohnt. In manchen von ihnen bildeten die Juden die Bevölkerungsmehrheit, in anderen waren sie nur eine starke Minorität. In großen Städten lebten sie meistens in eigenen Ghettos, besonderen Stadtvierteln oder Gassen, die ihnen im Mittelalter zugewiesen worden waren. 80
Also die Schtetlech sind - im wahren Sinne - die jüdischen Zentren in einer nichtjüdischen, oft bäuerlichen Umgebung in Osteuropa, wo das Vielvölkerexperiment im engsten Sinne des Wortes vergleichsweise harmonisch ablief. 81 Wie es von Frank Golczewski in seinem Artikel „Jüdische Welten in Osteuropa?“ ausgedrückt wurde, ist das Schtetl „eine scheinbar irgendwie heimelige kleine Oase gläubiger Frömmigkeiten
78
Vgl. Hoffman, Eva: Im Schtetl. Die Welt der polnischen Juden. Zsolnay-Verlag. Wien 2000, S. 24. Roth, Joseph: Juden auf Wanderschaft. In: Hermann Kesten (Hrsg.): Joseph Roth. Werke in drei Bänden. Bd. III. Kiepenheuer & Witsch. Köln-Berlin 1956, S. 639f. Weiter: Juden. 80 Klanska: Aus dem Schtetl in die Welt, S. 200. 81 Vgl. Klanska: Aus dem Schtetl in die Welt, S. 200. 79
19
in einem Umland von rohen Bauern und in Nachbarschaft von üblen Antisemiten“ 82. Wladimir Oks schildert das Leben im Schtetl in der Ukraine und im Russland folgendermaßen: „ […] das Städtl, ist nicht nur einfach eine Kleinstadt mit größtenteils jüdischer Bevölkerung: sie ist mehr als ein Wohnort, sie ist eine Lebensform“ 83. Der Topos des Schtetls umfasst das typische osteuropäische Milieu und basiert auf der Einheit verschiedener Gruppierungen. Schon sehr früh kannte man die jüdischen Händler, Hausierer, Kaufleute, Handwerker, Vermittler, höfischen Ratgeber und vor allem „Luftmenschen“ 84, was für viele den Hauch von „Lebenskünstler“ hat. Das geistige Leben spielte in diesem Milieu die zentrale Rolle: es gab Chassiden, Orthodoxjuden und Freidenker, reiche Industrielle, assimilierte Künstler, jiddisch schreibende Schriftsteller und Dichter. 85 Die Wichtigkeit des geistigen Lebens äußert sich z.B. in den Bildungsinstitutionen: Tora, Talmud, Cheder und Jeshiva. 86 Weise Rabbiner leiten diese Gemeinschaft, geben für alle möglichen Gelegenheiten Ratschläge und sprechen Recht. 87 Simon Dubnow (1860-1941), der große Historiker des Judentums, der selber aus der ostjüdischen Tradition stammt, schildert diese Form von einseitiger religiöser Bildung mit treffenden Worten: „In diesem Jahrhundert lebte im russischen Reich ein drei Millionen starkes Volk, in dem sämtliche Kinder männlichen Geschlechts zu Theologen erzogen wurden“. 88 Eingewurzelt in das osteuropäische Bauernland hatte das Schtetl bis zum Ende seiner Existenz (1918) seinen stark traditionellen und religiösen Charakter bewahrt. Das Wichtigste für die Ordnungsbestimmung der alltäglichen Rituale war die Frömmigkeit und an diesen täglichen Ritualen beteiligte sich jeder. 89 Man kann im wahrsten Sinne von einer realen Gemeinschaft sprechen, die die Hauptcharakteristika einer Gemeinschaft beinhaltete, wie Hofmann es formulierte: „klein, eng verknüpft,
82
Golczewski, Frank: Jüdische Welten in Osteuropa? In: Annelore Engel-Braunschmidt & Eckhard Hübner (Hrsg.): Jüdische Welten in Osteuropa. Lang. Frankfurt a. M. 2005, S. 13-28, hier S. 13. 83 Oks, Wladimir: Die Welt des jüdischen Städtls. In: Rita Ostrowkaja (Hrsg.): Juden in der Ukraine. Ostfildern 1996, S. 162-170. Zitiert in: Hilbrenner, S.13. 84 Menschen, die aus Armut von Luft leben. Siehe: Schwara, Desanka: Luftmenschen – ein Leben in Armut. In: Heiko Haumann (Hrsg.): Luftmenschen und rebellische Töchter. Zum Wandel ostjüdischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert. Böhlau. Wien 2003, S. 91. 85 Vgl. Hofmann, Eva, S. 24. 86 Vgl. Hilbrenner, S. 13. 87 Vgl. Golczewski, S. 13. 88 Dubnow, Simon: Buch des Lebens. Materialien zu einer Geschichte meiner Zeit. Erinnerungen und Gedanken. Zitiert in: Hilbrenner, S. 13. 89 Vgl. Hoffman, S. 25.
20
beruhigend vertraut. In diesen ländlichen Enklaven brauchte niemand unter dem modernen Unbehagen zu leiden, sich unsicher und nicht zugehörig zu fühlen“. 90 Es herrschte in den osteuropäischen Schtetlech ungeheure Armut, die sich Tag für Tag vermehrte und ausbreitete. Die wohlhabenden Juden lebten in den großen Städten und blickten auf die in den Schtetlech verarmenden Juden verachtend herab. Die SchtetlJuden waren, ihrer Meinung nach, die „Draußigen“, die mit den Bauern verbunden waren. 91 Die Armut wurde im Laufe der Zeit größer, weil, nach Haumann, „der Austausch zwischen Stadt und Land im Zuge der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung immer weniger Gewinn abwarf“. 92 Das Einzige, was den Juden in den Schtetlech, trotz ihrer maßlosen Armut, bewusst war, war ihr Jüdischsein, sodass sie zwar kaum etwas zum Anziehen hatten, aber Stolz auf ihr Judentum waren und sich glücklich und wohl fühlten, an jedem Ort, wo sie lebten. 93 Erst nach der Vernichtung dieser Welt wurde sie zu einem wichtigen Motiv in der Literatur und im Gedächtnis der Menschen. In der Nachkriegszeit assoziiert man mit dem Schtetl einen verloren gegangenen Ort; es ist zum Inbegriff des Verlustes geworden, wie es in Joseph Roths Hiob der Fall ist. 94 Für manche, die das Leben im Schtetl nicht erlebt hatten, bedeutet das Schtetl den einzigen Ort jüdischer Authentizität, die sich entweder in Leid oder in Geistigkeit verkörperte; für manche spiegelt das Wort Schtetl „herzwärmende“ Bilder von herumlaufenden Menschen im schwarzen Gewand, oder enge krumme Gässchen, wie in Gemälden von Chagall, wieder, und letztendlich ist das Schtetl für manche Anderen eine bittere Assoziation mit den Pogromen und Ausplünderungen. 95 Für Roth, der selber in seiner Kindheit das Leben im Schtetl erlebt hatte, und es in seiner Jugendzeit verleugnete, war das ostjüdische Städtchen - ab einem gewissen Zeitpunkt - die Verkörperung seiner Sehsüchte, der vergangenen Welt mit ihren verlorengegangenen menschlichen Werten. Jedenfalls muss man darauf achten, dass das Schtetl in Wahrheit weder eine Utopie noch eine Dystopie darstellt. Es war, wie Eva Hoffman lakonisch feststellt, ein „kohärentes, sonderbares und überraschend widerstandsfähiges soziales Gebilde“. 96
90
Hoffman, S. 25. Vgl. Haumann, S. 61. 92 Haumann, S. 61. 93 Vgl. Haumann, S. 61. 94 Vgl. Haumann, S. 24. 95 Vgl. Haumann, S. 24. 96 Hofmann, S. 25. 91
21
Die Schtetlech wurden nach ihrer Vernichtung, durch die Literatur und in ihr, oft stark idealisiert. In den Darstellungen der Autoren - gleichermaßen Jiddischschreibenden und Nicht-Jiddischschreibenden - wie Mendele Moicher Sforim, Scholem Aleichem, Manés Sperber, Alexander Garnach, Joseph Roth oder die Dichterin Rose Ausländer, wird ein idealisiertes Bild von den osteuropäischen Schtetlech wiedergegeben. Die Schauplätze vieler Romane und Erzählungen sind russische, polnische und ukrainische Schtetlech. Das Schtetl war zu einer Sehnsucht geworden nach allen Werten und Schönheiten, Gebundenheiten und Geborgenheiten, die verloren gegangen und nicht mehr wiederbringbar waren: „Märchen und Mythen lagen in der Luft, man atmete sie ein“ 97; nach einem vollkommenen Verständnis, einer Einheit, trotz aller Verschiedenheiten: „[…] Vier Sprachen/ Vier Sprachenlieder/ Menschen/ die sich verstehen“ 98; Sehnsucht nach einer Heimat, nach der unschuldigen, geborgenen Welt der Kindheit, die nicht mehr zu finden war.
1.6
Die wichtigste kulturelle Bewegung im Judentum
1.6.1 Haskala Es soll an dieser Stelle im Rahmen der vorliegenden Arbeit die Haskala-Bewegung, die als wesentlichste kulturelle Strömung innerhalb des Judentums wahrgenommen wird, kurz untersucht werden. Denn die spätere Assimilationsbewegung, die eine zentrale Rolle in Roths Hiob-Roman spielt, und die vom Autor selbst als Hauptgrund für den Zerfall der jüdischen Tradition und ostjüdischen Heimat betrachtet wurde, nimmt ihre Grundlagen aus dieser früheren jüdischen Bewegung, nämlich Haskala. Haskala (
) entstammt der hebräischen Wortwurzel
(Sakal), woraus unter
anderem das Wort Sechel (Verstand) abgeleitet wird. 99 Haskala bedeutet Bildung, 98F
Aufklärung und bezeichnet insbesondere die jüdische Aufklärung in der Zeit von 1770 bis 1880. 100 Die Haskalaströmung ist zum Verständnis der ostjüdischen Situation im 19. 9F
Jahrhundert von großer Bedeutung. Die jüdische Aufklärungsbewegung begann unter dem Einfluss der europäischen Aufklärung innerhalb der deutschen Juden. Die 97
Ausländer, Rose: Czernowitz. In: Ulf Diedrerichs (Hrsg.): Dein aschenes Haar Sulamith. Ostjüdischen Geschichten. Germania Judaica. München 1988, S. 33. 98 Ausländer, Rose: Bukowina III. In: Cilly Helfrich: Rose Ausländer. Biographie. Pendo Pocket. Zürich 1998, S. 16. 99 Vgl. Gesenius, Wilhelm: Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch. Springer-Verlag. Berlin/Göttingen/Heidelberg 1962, S.786. 100 Vgl. Ben- Sasson, Haim Hillel: Geschichte des jüdischen Volkes. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. C.H.Beck. München 2007, S. 957.
22
Besonderheit der jüdischen Aufklärung bestand darin, dass sie sich parallel zu der kulturellen und sozialen Integration der Juden in ihrer Umgebung entwickelte. 101 Dank der allmählichen Aufhebung der besonderen Judengesetze konnte die Integration der Juden in die christliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert große Fortschritte machen. Diese Entwicklung wäre nicht zustande gekommen, wenn die Juden selbst keinen Beitrag dazu geleistet hätten. Das Ende des 18. Jahrhunderts zeichnete sich durch die Aufklärung des europäischen Judentums aus, die sich die Verbesserung der bürgerlichen Gesetze für die Juden zum Ziel setzte. 102 Die Haskalavertreter, „Maskilim“ (Verständige, Unterweiser) waren der Auffassung, dass die weltliche (säkulare) Bildung, das Erlernen der europäischen Sprachen, insbesondere des Deutschen, der Verzicht auf das traditionelle Erscheinungsbild in der Gesellschaft, besonders auf die Gewänder und andere Äußerlichkeiten, die die Merkmale des Judenseins bedeuteten, den Weg der Juden in die christliche Gesellschaft öffnen können und die christliche Bevölkerung sie akzeptieren wird. 103 Der geistige Vater der Maskilim war der große, angesehene Philosoph Moses Mendelssohn (1729-86). Er war der Sohn eines Torarollenschreibers aus Dessau und schon früh zeigte sich seine außergewöhnliche Begabung für die mittelalterliche jüdische Philosophie. Als er nach Berlin übersiedelte, widmete er sich vollkommen der deutschen Literatur und dem Erlernen der lateinischen und anderer europäischen Sprachen. 104 Mitte der fünfziger Jahre des 18. Jahrhunderts lernte er Lessing kennen und unter dessen starkem Einfluss fand er seinen Weg zum Kreis der deutschen Aufklärer. 105 Mendelssohn wollte im Judentum unter dem Einfluss der Aufklärung die treue Einhaltung der religiösen Gesetze mit religiöser Toleranz und Meinungsfreiheit verbinden. 106 Mendelssohn war der Auffassung, dass die deutschen Juden ein Teil der deutschen Gesellschaft und Kultur werden müssten und zu diesem Zweck die deutsche Sprache beherrschen sollten. Die jiddische Sprache betrachtete er als Jargon und lehnte sie ab. 107 1778 begann er, das Pentateuch und andere Teile der hebräischen Bibel ins Hochdeutsche mit hebräischem Kommentar auf rationalistischer Basis zu übersetzen
101
Vgl. Ben-Sasson, S. 957. Vgl. Bogojavlenska, Svetlana: Jüdische Aufklärung und Integration der Juden in die Gessellschaft. In: Annelore Engel- Braunschmidt & Eckhard Hübner (Hrsg.): Jüdische Welten in Osteuropa. Lang. Frankfurt a. M. 2005, S. 127. 103 Vgl. Bogojavlenska, S. 127. 104 Vgl. Ben-Sasson, S. 958. 105 Vgl. Ben-Sasson, S. 958. 106 Vgl. Ben-Sasson, S. 958. 107 Vgl. Brenner, S. 180. 102
23
(Biur). 108 Da dieses Projekt für viele junge Juden zu einem Schnellkurs in deutscher Sprache wurde, warfen die Konservativen Mendelssohn vor, er habe die heilige Schrift als Lehrbuch für die deutsche Sprache entweiht. 109 Es gab nun zum ersten Mal eine Bewegung innerhalb des Judentums, die sich dafür engagiert hat die jüdische Gesellschaft zu modernisieren und im Rahmen der Gesetze zu integrieren. Um das zu erreichen, mussten Erziehungsinstitutionen und Presseorgane geschaffen
werden. 110
Der
Hauptzweck
war,
den
weltlichen
Studien
und
Wissenschaften ebensoviel Bedeutung zuzumessen wie der Bibellehre, ja sogar den ersteren größeren Wert beizulegen. 111 Andererseits nahmen einige Maskilim die christliche Religion an und gaben ihr Judentum auf. Das war die vollkommene Säkularisierung. Die anderen engagierten sich für ein reformiertes Judentum, in dem sie sich an die europäische Gesellschaft angepasst haben. Diese Anpassung zeigte sich in den Lebensformen und im Verzicht auf die religiösen Gebote und Verbote: in den Speisegeboten, die keine große Rolle mehr spielten; in der Aufhebung des Mischeheverbots; in der Beschränkung der Autorität der Rabbiner auf geistige Funktionen und Benutzung der deutschen Sprache im Gottesdienst neben dem Hebräischen als sakrale Sprache des Judentums. 112 In Deutschland verbreitete sich diese Reformbewegung innerhalb der jüdischen Gesellschaft schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts und kam dann mit den Anhängern der jüdischen Aufklärung nach Osteuropa. 113
1.6.2 Haskala in Osteuropa Im Osten kommt die Haskala wesentlich langsamer voran. Dort war nicht nur die starke Orthodoxie, sondern auch der ausgesprochen lebhafte Chassidismus in viellen Gruppen und Schulen gegen die Aufklärungsbewegung. 114 Es gab zwischen West und Ost, in diesem Zusammenhang, eine lange Sprach- und Religionsmauer. Was die beiden
108
Vgl. Brenner, S. 180. Vgl. Ben-Sasson, S. 959. 110 Vgl. Brenner, S. 182. 111 Vgl. Ben-Sasson, S. 962. 112 Vgl. Bogojavlenska, S. 128. 113 Vgl. Bogojavlenska, S. 128. 114 Vgl. Bayerdörfer, Hans- Peter: Das Bild des Ostjuden in der Literatur. In: Herbert A. Strauss und Christhard Hoffmann (Hrsg.): Juden und Judentum in der Literatur. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1985, S.211-236, hier S. 217. 109
24
trennte, war der Unterschied zwischen reformfreudigen liberalen Westjuden und religiös-konservativen Ostjuden. 115 Die Haskala in Galizien entstand vor allem durch die Versuche Kaiser Josephs II. (1741-1790), anhand einiger staatlicher Maßnahmen die Lebensweise der Juden im osteuropäischen Raum zu ändern. Er errichtete zum Beispiel staatliche Schulen, in denen die jüdischen Knaben Kenntnisse der deutschen Sprache erwerben mussten. 116 In Galizien begannen die Aktivitäten der Maskilim erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts. 117 Die Aufforderungen der Maskilim - repräsentiert durch Isaak Bär Levinsohn (17881860), den „Mendelssohn der osteuropäischen Juden“ 118- sich vollkommen an die bestehende Gesellschaft anzupassen, sich die weltliche Wissenschaft und die europäischen Sprachen anzueignen, die Lebensweise zu ändern und so zu einer neuen, modernen jüdischen Identität zu gelangen - unterschieden sich nicht von denen seiner Glaubensbrüder im Westen, aber die Entwicklung der Bewegung in beiden Gebieten war dennoch völlig verschieden. 119 Es gab in Osteuropa im Gegensatz zum Westen keine einflussreiche jüdische Schicht in der Gesellschaft, die engere Verbindungen mit der nichtjüdischen Bevölkerung hatte. Die jüdische Gemeinschaft in Osteuropa wehrte sich gegen jede Abweichung von der Tradition und die Annäherung an die modernen Denk- und Verhaltensmuster. Daher fand die Haskala unter den Ostjuden kaum ein Echo und diejenigen, die sich von dieser Bewegung angezogen fühlten, vermieden es, sie in der Öffentlichkeit zu vertreten. Nur diejenigen, die finanziell unabhängig waren und in einer guten wirtschaftlichen Situation lebten, konnten über ihre Neigung zur Aufklärung in der Öffentlichkeit sprechen. 120 In Osteuropa sich zur Haskala zu bekennen, brachte sehr häufig die Ablösung von der jüdischen Gemeinschaft mit sich. Sie war ein Werkzeug zur Abschaffung der jüdischen Gemeinden und daher kann man selbstverständlich nachvollziehen, warum die Haskalabewegung weder der Seite der Orthodoxjuden noch der Chassidim Willkommen war. 121 Für sie war die Aufklärung keine Antwort auf die „Judenfrage“ und keine Lösung für den herrschenden Antisemitismus in ganz Europa. Anscheinend boten der Chassidismus und selbst die 115
Vgl. Bayerdörfer, S. 217. Vgl. Ben-Sasson, S. 1030. 117 Vgl. Ben-Sasson, S. 1030. 118 Vgl. Blank, Inge: Haskala und Emanzipation. Die russisch-jüdische Intelligenz und die „jüdische Frage“ am Vorabend der Epoche der „Großen Reformen“. In: Gotthold Rhode (Hrsg.): Juden in Ostmitteleuropa. Von der Emanzipation bis zum ersten Weltkrieg. J. -G.-Herder-Institut. Marburg 1989, S. 197-231, hier S. 213. 119 Vgl. Haumann, S. 112 120 Vgl. Ben-Sasson, S. 1031. 121 Vgl. Ben-Sasson, S. 1031. 116
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jüdische Orthodoxie bessere Antworten und Lösungen! 122 Aus diesem Grund konnten die Ideen, die mit religiösen Reformen zusammenhingen in Osteuropa nicht Fuß fassen. 123 Im Gegensatz zu Westeuropa fühlte sich der Ostjude in seiner Umgebung bildungsmäßig nicht unterlegen. Das Bildungsniveau der Bauern, wie auch der Stadtbewohner war so niedrig, dass es keine Herausforderung war, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Einige Städte wie Lemberg, Brody in Galizien und Warschau bildeten die Ausnahmen; die erste war deutsch und die zweite polnisch geprägt. 124 Die aufklärerischen Einflüsse in Osteuropa kamen vom Westen, aus Berlin. Daher muss man hervorheben, dass das Deutschsprechen das Gefühl der Einheit innerhalb der Haskalabewegung in ganz Europa ausmachte, und wie Ben-Sasson schreibt, tatsächlich war die deutsche Sprache bis in die sechziger Jahre die Kultursprache der meisten osteuropäischen Maskilim. 125 Aus der ständigen Auseinandersetzung zwischen Chassidim und Maskilim formte sich eine besondere Art von Ostjudentum mit neuem Nationalbewusstsein heraus. Eine neue Generation von jüdischen Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erkannte, dass die Aufklärung und Emanzipation keine Bewegungen sein darf, die zwangsweise von Außen nach Innen importiert wird, sondern aus der kulturellen und historischen Identität eines Volkes von innen heraus entstehen muss. 126 Zu dieser Identität gehörte selbstverständlich die jiddische Sprache: eine Generation von ostjüdischen Schriftstellern begann, ihre Literatur nur auf jiddisch zu schreiben, und dies führte zu einem Aufblühen der jiddischen Sprache und Literatur ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, dessen Höhepunkt die Werke von Scholem Alejchem (1859-1916), Mendele Moicher Sforim (1836-1917), Isaak Lejb Perez (1852-1915) und später auch Schalom Asch (1881-1957) bilden. 127 Die Nachkommen der Haskala in Osteuropa stammten größtenteils aus ärmeren Schichten, die den Streit zwischen Chassidim und Maskilim miterlebt hatten. Darüberhinaus kannten sie die russischen „kritisch-realistischen“ Kreise jener Zeit, die die Zarengesellschaft heftig kritisierten; sie selbst gehörten zu den so genannten ‚Luftmenschen’, die durch die gesellschaftlichen Umstände an den Rand der Existenz
122
Vgl. Ben-Sasson, S. 1031. Vgl. Ben-Sasson, S. 1032. 124 Vgl. Ben-Sasson, S. 1031. 125 Vgl. Ben-Sasson, S. 1031. 126 Vgl. Haumann, S. 112. 127 Vgl. Ben- Sasson, S. 1031. 123
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gedrückt worden waren; die Außenseiter der Gesellschaft, denen sich kaum „die Möglichkeit eines sozialen Aufstieges bot“. 128 Die liberale Epoche Alexanders II. in Russland hat den Aufklärern die Möglichkeit gegeben, aktiver zu sein und half der Bewegung, sich zu entfalten. Das Zentrum der Haskala war die Stadt Odessa, wo bald russischsprachige jüdische Zeitungen herauskamen. 129 In anderen Städten wie Warschau gab es eine ähnliche Entwicklung, diesmal in polnischer Sprache. 130 Der polnische Aufstand von 1863 bereitete ihnen jedoch gewisse Probleme und Hindernisse und mit der Ermordung Alexanders II. im Jahr 1881 war die Haskalabewegung in ihrer neuen Form endgültig zum Scheitern verurteilt. Obwohl die jüdische Aufklärung einen großen Misserfolg erleiden musste, wurde sie aber zur Motivation für andere kulturelle und politische Bewegungen wie die nationalistischen, zionistischen, liberalen, assimilatorischen und sozialistischen jüdischen Strömungen; jedenfalls für eine neue jüdische Identität. 131
1.6.3 Die Ostjüdische Assimilationsbewegung Es gibt biographische Anhaltspunkte, die zeigen, dass sich Joseph Roth gegen die Assimilation der Ostjuden positionierte. In Hiob stellte er seinen Widerstand in der Gestalt zweier assimilierter Kinder Mendel Singers dar, die ihre ostjüdische Identität wegwerfen und die neue amerikanische bzw. russische Identität annehmen. Damit verknüpfte er den Verlust der ostjüdischen Identität mit dem der Heimat. Auch in Juden auf Wanderschaft schrieb er: Es gibt Ostjuden, welche sich an die Länder ihrer Wahl assimilieren und die Vorstellungen der einheimischen Bevölkerung von ‚Vaterland‘, ‚Pflicht‘, ‚Heldentod‘ und ‚Kriegsanleihe‘ vollkommen aufgenommen haben. Sie sind Westjuden, Westeuropäer geworden. 132
Wie gesagt ist die Assimilation ein zentrales Motiv in Roths Hiob. Der Weg der Assimilation führt zum Verlust der Werte, Traditionen und Heimat. Assimilation ist nach Joseph Roth eine Selbstauflösung in Nichts, in Bodenlosigkeit. Daher ist eine
128
Strauss, Herbert A.: Akkulturation als Schicksal. Einleitende Bemerkungen zum Verhältnis von Juden und Umwelt. In: Herbert A. Strauss & Christhard Hoffmann (Hrsg.): Juden und Judentum in der Literatur. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1985, S. 12. 129 Vgl. Haumann, S. 113. 130 Vgl. Haumann, S. 113. 131 Vgl. Haumann, S. 113. 132 Roth: Juden, S.638.
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Erklärung dieser Bewegung innerhalb des Ostjudentums zum besseren Verständnis von Roths Hiob erforderlich. Der große sozial-ökonomische Bruch im 19. Jahrhundert neben der massiv zunehmenden antisemitischen Atmosphäre in Europa rief bei den Ostjuden unterschiedliche Reaktionen hervor: eine kleine Gruppe der Ostjuden sah, genau wie die Mehrheit der Juden in Westeuropa, den einzigen Ausweg aus Verfolgung und Verelendung und die Lösung der ‚Judenfrage‘ in der Assimilation, indem man sich gezwungenermaßen oder freiwillig die Kultur und Lebensweise, die Werte und Gesellschaftssysteme der Aufnahmegesellschaft aneignet. 133 Andere wiederum sahen den Ausweg in der Akkulturation, einer Art Anpassung 134, in der man seine eigene Kultur völlig aufgibt und sich vollkommen an die andere Kultur angleicht oder durch die Begegnung mit einer anderen Kultur, wie Haumann es beschreibt, auf eine neue Synthese wartet 135. Die assimilierten Juden waren hauptsächlich die begüterten Juden oder die, die mit der Haskalabewegung in Berührung gekommen waren. 136 Sie emanzipierten sich von der Orthodoxie im Judentum; sie waren, nach Stefan Zweig, „leidenschaftliche Anhänger der Zeitreligion des ‚Fortschritts’“ 137. In Osteuropa erstreckte sich die Assimilationsbewegung von dem Optimismus, dass die vollkommene Vereinigung mit den anderen Kulturen und Gesellschaften, wie den russischen und polnischen, auf Dauer möglich sei, über eine mögliche kulturelle Anpassung, für die sich vorher eine Beseitigung der diskriminierenden Faktoren ereignen müsse, bis hin zu einer Strömung, die die Assimilation anstrebte aber unter der Bedingung, dass die jüdische Identität bewahrt werden müsse. 138 Die von Assimilierten geleitete jüdische Gemeinde versuchte, die kurz zuvor von den Ausschreitungen betroffene jüdische Bevölkerung zu veranlassen, sich für irgendeine Nationalität und Sprache (polnisch, russich, romänisch...) zu entscheiden. Es gab nur eine Minderheit, die sich für die polnische Nationalität und Sprache ausgesprochen hat. Immerhin kann man dies als eine Zuwendung zur Assimilationsbewegung werten. 139 Darüberhinaus sieht man unter dieser Minderheit andere Gruppierungen, die sich von der Tradition und der religiösen Gemeinschaft lösten und „weltlichen“, kultur-politischen Bewegungen 133
Vgl. Karady, S. 145. Stefan Zweig schreibt darüber in Welt von Gestern: „Wenn sie aus iherer Heimat nach Wien übersiedelten, passten sie sich organisch dem allgemeinen Aufschwung der Zeit“, S. 17. 135 Vgl. Haumann, S. 114. 136 Vgl. Haumann, S. 114. 137 Zweig, Stephan: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Fischer-Verlag. Frankfurt a.M. 2007, S. 17. 138 Vgl. Haumann, S. 114. 139 Vgl. Haumann, S. 114. 134
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wie Zionismus oder Sozialismus anschlossen, aber viele von diesen Juden, obwohl vom Glauben abgewandt, identifizierten sich trotzdem mit dem Judentum und fühlten sich als Juden. 140 Stefan Zweig schildert diesen Prozess in seinen Erinnerungen Die Welt von Gestern bezüglich des Lebens seiner eigenen Familie und Generation: Längst haben wir für unsere eigene Existenz der Religion unserer Väter, ihrem Glauben an einen raschen und ausdauernden Aufstieg der Humanität abgesagt. Banal scheint uns grausam Belehrten jener voreilige Optimismus angesichts einer Katastrophe, die mit einem einzigen Stoß uns um tausend Jahre humaner Bemühungen zurückgeworfen hat. Aber wenn auch nur Wahn, so war es doch ein wundervoller und edler Wahn, dem unsere Väter dienten, menschlicher und fruchtbarer als die Parolen von heute. Und etwas in mir kann sich geheimnisvollerweise trotz aller Erkenntnis und Enttäuschung nicht ganz von ihm loslösen. Was ein Mensch in seiner Kindheit aus der Luft der Zeit in sein Blut genommen, bleibt unausscheidbar. 141
In der ersten Phase der Assimilation versuchten die Juden, sich ganz in ihr nicht jüdisches Ambiente zu integrieren. Diese Phase ist von zahlreichen Konversionen gekennzeichnet. 142 Dies war bestimmt die Suche nach Anerkennung in der nichtjüdischen Umwelt. Dafür hatten die konvertierten Juden die Verbindung zur jüdischen Gesellschaft und Identität lösen und sich der christlichen Mehrheit anschließen müssen. 143 Ohne Zweifel kann man diesen Schritt im 19. Jahrhundert als einen Versuch betrachten, die rechtlichen und sozialen Verhältnisse in den Ländern, in denen die Juden verstreut waren, zu verbessern. 144 Von der Mitte des 19. Jahrhunderts an verlor der Glaubenswechsel seinen ersten Platz als ein Katalysator für jüdische Integration in der christlichen Umwelt; nur noch wenige entschieden sich für diesen Weg. 145 Die kulturelle Assimilation und die Identifizierung mit dem Staat und der Aufnahmegesellschaft traten an seine Stelle. 146 Die kulturelle Assimilation in den Ländern des Habsburgerreiches aber schien nicht unproblematisch zu sein, denn der Staat war gänzlich in Provinzen zersplittert. 147 Victor Karady erwähnt die wichtigsten Gründe für die Assimilationsproblematik unter den Ostjuden: die Assimilation war in den habsburgischen Ländern nur auf elitäre Juden ausgerichtet und der Hauptgrund für das Scheitern der Assimilation in diesem Gebiet war die unschlüssige und halbherzige Vorgehensweise im Prozesses der kulturellen 140
Vgl. Haumann, S. 114. Zweig, S. 16. 142 Vgl. Ben- Sasson, S. 1013. 143 Vgl. Ben- Sasson, S. 1013. 144 Vgl. Ben- Sasson, S. 1013. 145 Vgl. Ben-Sasson, S. 1015. 146 Vgl. Ben-Sasson, S. 1015. 147 Vgl. Karady, S. 90. 141
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Veränderung, da die „Assimilierten“ über mehrere Generationen hinweg die wichtigsten Merkmale ihrer ursprünglichen Kultur bewahrten: die jiddische Sprache ist ein wichtiges Beispiel dafür. 148 Die habsburgischen Juden waren bis ins 20. Jahrhundert fast alle mehrsprachig und konnten jederzeit entsprechend jedem Umstand für ihre kulturelle Zugehörigkeit neue Entscheidungen treffen und die vergangenen Situationen rückgängig machen. Auswanderung ist das beste Beispiel dafür. 149
1.7
Die Habsburgermonarchie und die Juden
1.7.1 Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts Das jüdische Schicksal in Osteuropa war in der Neuzeit ganz eng mit dem des habsburgischen Vielvölkerstaates verbunden, der seit 1273 bis zu seinem Verschwinden von der Weltkarte (1918) von den Habsburger-Monarchen beherrscht wurde. Der historische Kern des Reiches war Österreich, obwohl es die Länder wie Ungarn, Böhmen und Mähren mit einer großen Anzahl an jüdischer Bevölkerung erst nach 1526 umfasste. 150 Nach der Teilung Polens und der Einnahme Galiziens (1772) und der Bukowina (1775) lagen die meisten jüdischen Gemeinden Europas innerhalb des Habsburgerreiches, westlich des russischen Imperiums. 151 In diesem riesigen Land wurde 1867 eine Doppelmonarchie errichtet, die man als österreichisch-ungarische Monarchie bezeichnete und die aus zwei verschiedenen Staaten unter der Herrschaft eines Kaisers, nämlich des Kaisers (und Königs) Franz Joseph I., bestand. 152 Die Geschichte des habsburgischen Österreichs ist mehr die Geschichte eines Staates als die eines Volkes, eines Staates vieler Völker, die unter einem Dach namens Donaumonarchie zusammen lebten; trotz dieser Einheit blieb die ‚Nationale Frage’ im Reich weiterhin aktuell und wurde erst gelöst, als die Monarchie und mit ihr der Vielvölkerstaat verschwand. 153 Das Habsburgerreich barg am Ende des 19. Jahrhunderts mit ungefähr zwei Millionen Juden die zweitgrößte jüdische Gemeinde der Welt in sich. 154 In Galizien, wie Brenner 148
Vgl. Karady, S. 91. Vgl. Karady, S. 91. 150 Vgl. Wistrich, Robert S.: Die Juden Wiens. Im Zeitalter Kaiser Franz Josephs. Böhlau. Wien 1999, S. 9. 151 Vgl. Wistrich, S. 9. 152 Vgl. Wistrich, S. 9. 153 Vgl. Lohmann, Hans-Martin (Hrsg.): Freud- Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Metzler. Stuttgart 2006, S. 1(Vorwort). 154 Vgl. Brenner, S. 223. 149
30
erwähnt, stieg die Anzahl der Juden von 200,000 zur Zeit der polnischen Teilungen auf über 800,000 am Ende des 19. Jahrhunderts und in manchen Städten wie Brody oder Lemberg machten die Juden bis zu 90 Prozent der Einwohner aus (in Lemberg über ein Drittel der Bevölkerung). 155 Das Habsburgerreich war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich in einer Turbulenz und im Vergleich zur westeuropäischen Entwicklung ein zurückgebliebenes Reich. 156 In dieser Situation des Stillstandes bekamen die verschiedenen Gruppierungen und gesellschaftlichen Kräfte Auftrieb und setzten an, die Verhältnisse zu reformieren. Diese Kräfte wandten sich gegen „Klerikalismus“ und die „Privilegien des Adels“, in dem sie im Interesse des wirtschaftlichen Fortschritts und der geistigen Freiheit dynamisch auf Reformen drängten. 157
Es
kam zu
einigen Verbesserungen
der Gesetze, bspw.: der
„Rechtsprechungsverfahren, Aufhebung von Gesetzen zur Einschränkung der Rechte von Juden sowie Militärreformen und Maßnahmen zur Förderung des ökonomischen Wachstums“. 158 Die stark klerikal-konservative Einstellung des Kaisers verbunden mit dem Einfluss der liberalistischen Ideen brachte dem Kaiser eine Art Sympathie für die orthodoxen Elemente des Judentums. Die jüdische Orthodoxie brachte auch dem Kaiser Sympathie und Treue entgegen. 159 Der israelische Schriftsteller Journalist und Maler Yoram Kaniuk beschreibt diese Situation in folgenden Worten: Dieses zeitliche Gebilde [die Habsburgermonarchie], das die Juden aus Galizien von ganzer Seele als etwas Ewiges angesehen hatten, war ein Ersatz für das Ewige der Vergangenheit: dass nämlich den Juden stets nur ein kurzer Übergang von einem Buch der Tränen zum nächsten gewährt wurde“. 160
Diese Veränderungen, die den Juden ihre volle bürgerliche Gleichberechtigung brachten, verbesserten ihre Lage schlagartig, denn, folgt man dem Hinweis Hanna Arendts 161, waren die Juden das eigentliche „Staatsvolk“ der Donaumonarchie, da sie weder einer eigenen gesellschaftlichen Klasse wie Adel, Bourgeoisie oder Arbeiterschaft zugehörten, noch einer eigenen Nationalität wie Polen, Deutsche, Tschechen oder Ukrainer, die jeweils ihren eigenen Interessen folgten; sie standen 155
Vgl. Brenner, S. 223. Vgl. Lohmann, S. 1. 157 Vgl. Lohmann, S. 2. 158 Vgl. Lohmann, S. 2. 159 Vgl. Maner, Hans- Christian: Galizien. Eine Grenzregion im Kalkül der Donaumonarchie im 18. und 19. Jahrhundert. IKGS Verlag. München 2007, S. 245. 160 Kaniuk, Yoram: Galizien in Wien. In: Gabriele Kohlbauer- Fritz (Hrsg.): Zwischen Ost und West. Galizische Juden und Wien. Judisches Museum. Wien 2000, S. 8-20, hier S. 11. 161 Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. I. Antisemitismus, II. Imperialismus, III. Totale Herrschaft. Piper. München 1993, S. 89f. 156
31
unmittelbar zum staatlichen Machtzentrum und deshalb war ihre besondere Stellung sehr deutlich: „Die Anomalie des jüdischen Verhältnisses zum Staat lag in der Tatsache, dass hier ein Volk in eine politische Rolle gedrängt wurde, das selbst keine politische Repräsentanz hatte“ 162. Maria Klanska definiert diese Situation folgenderweise: Nach dem Zusammenbruch des Habsburgerstaates im Jahre 1918 fürchteten sich viele Juden in dessen Nachfolgestaaten vor den jungen Nationalismen der neuen ‚Staatsvölker’. Nicht ohne Grund waren die meisten von ihnen Anhänger der Habsburgermonarchie gewesen – sie waren sich dessen bewusst, dass sie, die Nation ohne eigenes Land, in einem vielnationalen und multikulturellen Staat wie im Österreich der Verfassungsära bessere Lebens- und Akzeptierungsbedingungen als in einem homogenen Staatsorganismus gefunden hatten. 163 Nun war die bürgerliche Existenz der Juden nicht von der Teilhabe an irgendeiner sozialen Klasse oder nationalen Gemeinschaft abhängig, sondern nur vom Maß der versprochenen Freizügigkeit eines liberalen Staates: Der Kaiser und das liberale System boten den Juden einen Status ohne eine Nationalität zu fordern; sie wurden zum übernationalen Volk des Vielvölkerstaates und in der Tat zu dem Volk, das in die Fußstapfen der früheren Aristokratie trat. Ihr Glück stand und fiel mit dem des liberalen kosmopolitischen Staates. 164
Der Liberalismus brachte den Juden Vorteile, die man sich noch kurz vorher nicht vorstellen konnte: Karrieren in verschiedenen Bereichen wurden möglich - in der Politik, im Wirtschaftsleben, im akademischen und wissenschaftlichen Bereich. 165 Aber schon in den 1870er Jahren stürzte der Liberalismus in eine große Krise. Der Börsenkrach des Jahres 1873, der nicht nur große Firmen und Unternehmen in den Bankrott führte, sondern auch die Existenz der kleinen Handwerker und Geschäftsleute ruinierte, zeigte, wie tief der traditionelle Antisemitismus in der Habsburgermonarchie verwurzelt ist. Obwohl die jüdischen Geschäftsleute selbst von dem Börsenkrach betroffen waren, ereigneten sich in der Gesellschaft starke antisemitische Gewalttaten und die Juden wurden wiederum zum „Sündenbock“ gestempelt. 166 Das Scheitern des Liberalismus zwang die Juden des Vielvölkerstaates zu der Erkenntnis, dass trotz aller Assimilationsversuche für sie kein Aufstieg zu vollwertigen und gleichberechtigten Bürgern der Monarchie möglich war. 167 In dieser Atmosphäre 162
Arendt, S. 58. Vgl. Klanska: Aus dem Schtetl, S. 68. 164 Schorske, Carl E.: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle. Fischer. Frankfurt a. M. 1982, S.123. 165 Vgl. Lohmann, S. 2. 166 Vgl. Lohmann, S. 3. 167 Vgl. Lohmann, S. 4. 163
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der antisemitischen Gewalttaten nahm die Idee des Judenstaates als Lösung der Judenfrage in der Moderne bei Theodor Herzl (1860-1904) Gestalt an. Anscheinend war seine Idee, einen jüdischen Staat zu gründen, die entschiedenste Antwort auf die Herausforderung, die der Antijudaismus für die Juden in ganz Europa darstellte. 168 Die Wirtschaftskrise und die Industrialisierung bescherten den Juden des Vielvölkerstaates ungeheuere Armut und unbeschreibbare Verschlechterung ihrer sozialen Lage. 169 Der Industrialisierungsschub machte eine große Anzahl von Juden arm und schuf so ein jüdisches Proletariat in Galizien. 170 Der geringe Lebensstandard, die erbärmlichen Arbeitsbedingungen 171 der „Luftmenschen“ und „Seh-Händler“ 172 ließen keinen anderen Ausweg als die Emigration. Daraus folgte eine Massenemigration unter den galizischen Juden. Zwar waren die Gründe der Auswanderungswelle auch ökonomisch-sozialer Natur 173, aber entscheidend waren an erster Stelle die obengenannten Pogrome in Russland in der Folge der Ermordung Zar Alexanders II. 174 ebenso wie die Erwartungen und Hoffnungen
auf
bessere
Lebensverhältnis
in
der
Ferne 175.
So
führte
der
Auswanderungsprozess die Juden Galiziens zunächst nach Frankreich, Wien, England und als ferneres Ziel in die USA. 176 Ganz Europa und Galizien mehr als andere Gebiete - „von den jüdischen Emigranten in der Zeit zwischen 1881-1910 stammten 85% aus Galizien“ 177, wurde von dieser Aufbruchsstimmung erfasst.
1.7.2 Erster Weltkrieg und der Untergang der Donaumonarchie Um die Jahrhundertwende stellte die Donaumonarchie ein Riesenstandbild auf „tönernen Füßen“ 178 dar. In Wien herrschte ständige Untergangsstimmung trotz des
168
Vgl. Lohmann, S. 5. Vgl. Hödl, Klaus: Vom Schtetl an die Lower East Side. Galizische Juden in New York. Böhlau. Wien 1991, S. 42. 170 Vgl. Magnus, Naama: Die Juden. In: das Zeitalter Kaiser Franz Joseph. Von der Revolution zur Gründerzeit. Katalog zur Ausstellung. Teil 1. Wien 1984, S. 85-87. 171 Vgl. Hödl, S. 42f. 172 Riedl, Joachim: Heimat der Mühsal, Heimat der Gelehrsamkeit. In: Rachel Salamander (Hrsg.): Die jüdische Welt von gestern- text und Bildzeugnisse aus Mitteleuropa 1860-1938. Brandstätter. Wien 1990, S. 57-59, hier S. 57f. 173 Vgl. Hödl, S. 51. 174 Vgl. Hödl, S. 72. 175 Vgl. Hoffmann, S. 172. 176 Vgl. Hödl, S. 75. 177 Häusler, Wolfgang: Toleranz, Emanzipation und Antisemitismus. Das österreichische Judentum des bürgerlichen Zeitalters (1782-1918). In: Anna Drabek, Wolfgang Häusler (Hrsg.): Das österreichische Judentum. Voraussetzungen und Geschichte. Jugend u. Volk. München/Wien 1974, S. 125. 178 Lohmann, S. 5. 169
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Trugbildes einer gewissen „Leichtlebigkeit und Sorglosigkeit“. 179 Während sich die europäischen Großmächte, vor allem Deutschland, in einem Konkurrenzkampf um Kolonien und Einflussgebiete befanden, machte man in Wien weiter wie bisher. 180 Das Land war durch die ungelösten Nationalitätenprobleme gelähmt und in seiner wirtschaftlichen Entwicklung zurückgeblieben und gebremst. Industriell und militärisch rangierte Österreich hinter allen anderen europäischen Ländern; es war immer noch ein Agrarstaat mit vollkommen zurückgebliebenen Gebieten. Die wirtschaftliche und finanzpolitische Situation Österreichs war unreformierbar und „bewegungsunfähig“. 181 Musil beschreibt diese Situation folgendermaßen: „Es war der Staat, der sich selbst irgendwie nur noch mitmachte, man war negativ frei darin, ständig im Gefühl der unzureichenden Gründe der eigenen Existenz“. 182 Der Ausbruch des ersten Weltkrieges im Jahr 1914 beendete den trügerischen Stillstand, in dem die Monarchie lange Zeit verharrt war, und die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ 183 nahm ihren Lauf. Im November 1916 starb der alte Kaiser Franz Joseph I., der das riesige Staatsgebilde bis dahin in seiner Person zusammenhielt. Nach seinem Tod gewannen die „zentrifugalen“ Tendenzen die Oberhand. 184 Mit dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten auf der Seite Frankreichs, Englands und Italiens im Jahr 1917 verloren die „Mittelmächte“ immer mehr ihre Hoffnungen. Österreich war am Ende seiner Kraft und als 1918 der Krieg vorbei war, war mit ihm auch die Habsburgermonarchie für immer vorbei. 185
1.7.3
Die Entstehung einer literarischen Heimat: Mythos Galizien
Das seit 1772 bestehende Kronland Galizien, das Königreich Galizien und Lodomerien, hat mit dem Zerfall der Donaumonarchie Ende 1918 aufgehört zu existieren. Es dauerte dann noch zwei Jahrzehnte bis auch die bunte Vielfalt der in dieser historischen europäischen Region lebenden Bevölkerung durch die Katastrophen des zweiten Weltkrieges verloren ging. Bevölkerungsgruppen wurden auseinandergerissen, die 179
Lohmann, S. 5. Vgl. Scheuch, Manfred: Österreich im 20. Jahrhundert. Von der Monarchie zur zweiten RepublikBrandstätter. Wien/München 2000, S. 8. 181 Lohmann, S. 6. 182 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Rowohlt. Hamburg 1952, S. 35. 183 Lohmann, S.7. 184 Vgl. Lohmann, S. 7. 185 Vgl. Lohmann, S. 7. 180
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Menschen fanden massenhaft den Tod. Seit dieser Zeit bildet Ostgalizien einen Teil der Ukraine. 186 Für die Geschichtsschreibung ist Galizien zwar ein abgeschlossenes Kapitel eines Landes der Donaumonarchie, das nur von 1772 bis 1918 existierte und über das man schon genug geschrieben und geforscht hat, aber im literarischen Bereich wird dieses Land immer mehr an Interesse gewinnen und lebt weiter in seinem mythischen Bild durch die Literatur. Lange nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie leuchtet Galizien immer noch und besitzt eine starke Anziehungskraft. Aber was macht die Attraktivität dieses Landes aus; ist es seine komplizierte Geschichte, in der soziale, religiöse und nationale Konflikte die zwischenmenschlichen Verhältnisse und ihr Denken bestimmten? Ist es die Idee eines aus Armut und Not entstandenen Vielvölkerstaates? Es ist vielleicht auch nur der Mythos, eine nostalgische Erinnerung an die Vergangenheit, die dieses Land so Attraktiv darstellt. Dietlind Hüchteker beschreibt in ihrem ausführlichen Artikel „Mythos Galizien“ die wichtigsten Charakterzüge Galiziens, die nach dem Zerfall der Region zu Stereotypen seines Mythos wurden: „die agrarisch geprägte Armut und eine Art Multikulturalität, mithin Mehrsprachigkeit, Multireligiosität und/oder Polyethnizität“. 187 Man sprach in Galizien polnisch, ukrainisch, ruthenisch, jiddisch und deutsch; verschiedene religiöse Richtungen wurden in Galizien praktiziert, nämlich römisch-katholische, griechischkatholische, jüdische, protestantische, armenisch-katholische und griechisch-orthodoxe Konfessionen. Die Struktur der Gesellschaft wurde klischeehaft wahrgenommen: adelige Großgrundbesitzer, arme polnisch- oder ukrainischsprachige Bauern und jüdische Dorfhandwerker, Pächter von Schenken und Hausierer. 188 Alles, was von Galizien zurückgeblieben ist, außer ein paar verblassten Aufnahmen, ist die aus und über Galizien geschriebene Literatur als geistiger Nachlass dieses Landes. Sie fasziniert den Leser nicht nur durch bunte exotische Folklore, sondern eher durch ihre besondere Art der Ästhetik, die beispielsweise ein schmutziges galizisches Schtetl in einen himmlischen Raum verwandeln vermag, und ebenso durch die Intensität ihrer Sprache. 189 Diese Besonderheit macht die galizische Literatur zu einem Phänomen, das man nicht durch die Methoden, die uns die Literaturwissenschaft zur Verfügung stellt, bewältigen kann. Man weiß scheinbar, wo die Heimat der galizischen Literatur ist, aber 186
Vgl. Hüchteker, Dietlind: Der Mythos Galizien.Versuch einer Historisierung. In: Michael G. Müller und Rolf Petri (Hrsg.): Die Nationalisierung von grenzen. Zur Konstruktion nationaler Identität in sprachlich gemischten Grenzregionen. Herder. Marburg 2002, S. 81-107, hier S. 81. 187 Hüchteker, S. 81. 188 Vgl. Hüchteker, S. 81. 189 Vgl. Kasznski, Stefan (Hrsg.): Galizien- eine literarische Heimat. Wydawnictwo Naukowe Uniwersytetu Im. Adama Mickiewicza. Poznan 1987, S. 7.
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auch das weiß man nicht genau, denn wie kann man eine Heimat kennen, die nur in der Literatur existiert; was ist überhaupt eine literarische Heimat, ein Mythos, Trugbild, eine seelische Landschaft, gestaltlose Erinnerung? In der Literaturwissenschaft benutzt man den Begriff Mythos „für das Gemeinsame einer ‚literarischen Heimat’“ 190. Das Mythische, wie Kasznski es beschreibt, wird in der besonderen Präsenz undefinierbarer Gefühle gesehen, die aus einer Gleichzeitigkeit von „reale[r] Wirklichkeit“ und „transreale[m] Mythos“ 191 resultieren. Eleazar Mietletinski ist der Auffassung, dass die ästhetische Konsequenz solcher Erzählhaltung die Mythisierung der Wirklichkeit als eine bewusste erzählerische Entscheidung ist. 192 Der „Mythos Galizien“ steht für die Irrealität, als Gegenbild zur realen Welt und auch als Ausdruck für eine „Ästhetik der Seltsamkeit“ 193. Magris schreibt in seinem Vorwort zu Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur über das Dingfestmachen des habsburgischen Mythos: […] mit anderen Worten, die Art und Weise, wie eine Kultur sich bemüht, die Vielheit der Wirklichkeit auf eine Einheit zurückzuführen, das Chaos der Welt auf eine Ordnung, die fragmentarische Zufälligkeit der Existenz auf die Essenz, die historischpolitischen Gegensätze auf eine Harmonie, die sie versöhnen, wenn schon nicht aufheben kann. 194
Oft wird die Galizienliteratur dem Habsburgermythos oder der Grenzlandliteratur zugeordnet. Zweifelsohne sind Galizien- und Habsburgermythos miteinander eng verbunden und man kann die eine ohne den anderen nicht verstehen. Mit dem Habsburgermythos wurde versucht bei den Völkern der Monarchie ein kollektives und übernationales
Gefühl
der
Zusammengehörigkeit
zu
erzeugen 195
und
mit
Grenzlandliteratur waren jene östlichen Länder des polnisch-litauischen Unionsstaates, die 1945 Teil der ukrainischen, weißrussischen und litauischen Sowjetrepubliken wurden, gemeint. 196 In beiden Aspekten sieht man im Bezug auf eine traditionelle Welt eigentlich eine Utopie, um das Weltkriegstrauma und die Verlusterfahrungen der Moderne verarbeiten
190
Hüchteker, S. 84. Kasznski, Stefan: Identität, Mythisierung, Poetik. Beiträge zur österreichischen Literatur im 20. Jahrhundert. Wydawnictwo Naukowe Uniwersytetu Im. Adama Mickiewicza. Poznan 1991, S. 61. 192 Mieletinski, Eleazar: Poetyka mitu. PIW. Warzawa 1981, S. 456. Zitiert in: Kasznski: Identität, S. 61. 193 Kasznski, Stefan: Der jüdische Anteil der Literatur in und über Galizien. In: Mark H. Gelber, Hans Otto Horch, Sigurd Paul Scheichl (Hrsg.): Von Franzos zu Canetti. Jüdische Autoren aus Österreich.Niemeyer. Tübingen 1996, S. 129-140, hier S. 134. 194 Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Zsolnay. Wien 2000, S. 10. 195 Vgl. Magris: Habsburgische Mythos, S. 196 Vgl. Hüchtker, S. 84-85. 191
36
zu können. 197 Man nimmt in beiden Aspekten die Grenzgebiete als Orte harmonischer Koexistenz von Natur und Kultur, von verschiedenen Ethnien, Nationen, Sprachen und Religionen wahr, als Ort des Zusammenlebens, wo sich Heimat und Familie vereinigen. 198 Der Mythos Galizien entstand erst nach dem ersten Weltkrieg, als die so benannte Region verschwand. Es entstand in jener Literatur, deren spezifische Eigenschaft die Verschiebung der Wirklichkeit in den Mythos, oft Habsburgermythos, und die Positionierung als Grenzregion zwischen Ost und West gewesen ist. 199 Mit dem Ende des ersten Weltkrieges und der Auflösung der Habsburgermonarchie wurde die galizische Region Teil des wiedergegründeten polnischen Staates. Es kam im Jahr 1918 zu einer militärischen Auseinandersetzung, welchem Staat eigentlich Lemberg und Ostgalizien zugehören; diese endete mit der polnischen Militärbesetzung. Die Gründung der neuen Nationalstaaten zwang zu einer Zuordnung, und aus polyethnischen Gesellschaften wurden Gesellschaften mit Mehr- und Minderheiten. 200 Von diesem Zeitpunkt an befasste sich die galizische Literatur mit einer Region, die als eine politische Einheit nicht mehr existierte. 201 Der Gegensatz Realität - Mythos wurde in der Literatur explizit und er wurde dadurch gestützt, dass man viele Werke als Erinnerungen an die Vergangenheit und Kindheit schrieb. 202 Ein auffallendes gemeinsames Merkmal dieser Literatur ist die Idealisierung des Kaisers Franz Joseph als „guter Vater seiner Völkerkinder, positive Herrscherfigur und Garant eines friedlichen Zusammenlebens“ 203. Diese besondere Kaiserliebe wird als ein Zeichen für die Idealisierung der vergangenen Übernationalität gegen die neu entstandenen Nationalstaaten und Nationalismen interpretiert. 204 Die Figur des Kaisers verkörpert das alte habsburgische Österreich als der Ort der Harmonie und der glücklichen Zeit; die geborgene Welt von gestern; die Erinnerung an diese Welt ist mit „dem Heimweh nach der Kindheit“ 205 verbunden.
197
Vgl. Hüchtker, S. 84-85. Vgl. Rinner, Fridrun: Galizien als gemeinsame Literaturlandschaft. In: Lenau-Forum. Jahrbuch für vergleichende Literaturforschung 15 (1989), S. 117-128, hier S. 125. 199 Vgl. Rinner, S. 121. 200 Vgl. Diner, Dan: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung. Luchterhand. Frankfurt a.M. 2000, S. 60-64. 201 Vgl. Roth, Joseph: Radetzkymarsch. In: Hermann Kesten (Hrsg.): Joseph Roth. Werke in drei Bde. Bd. I. Kiepenheuer & Witsch. Köln 1975. 202 Vgl. Hüchteker, S. 99. 203 Hüchteker, S. 99. 204 Vgl. Hüchteker, S. 99. 205 Magris: Habsburgischer Mythos, S. 19-20. 198
37
Joseph Roth stellt in seiner Erzählung „Die Büste des Kaisers“ den habsburgischen Vielvölkerstaat metaphorisch als „großes Haus mit vielen Türen und vielen Fenstern, für alle Arten von Menschen“ 206 dar, und indem er es schreibt, verfestigt er den dargestellten Mythos in der Ewigkeit. Galizien wurde auch durch das Schreiben, durch die Literatur verewigt; es wurde zur utopischen Heimat derjenigen, die sie verloren hatten, die Heimat, wie sie sein sollte, nicht wie sie in der Wirklichkeit gewesen ist. Lunzer schreibt: Schreiben bedeutet unter anderem auch, am Ufer entlanggehen, stromaufwärts fahren, schiffbrüchige Existenzen auffischen und Strandgut wiederauffinden, das sich an den Ufern verfangen hat, um es zeitweilig auf einer Arche Noah aus Papier unterzubringen. Dieser Rettungsversuch ist utopisch, und die Arche wird vielleicht untergehen. Aber die Utopie gibt dem Leben Sinn, weil sie ganz gegen jede Wahrscheinlichkeit fordert, dass das Leben einen Sinn habe. 207
Zum Schluss dieses Kapitels und um eine Brücke zum folgenden zu schlagen, soll hervorgehoben werden, dass der große deutschsprachige Schriftsteller, dem diese Arbeit gewidmet ist, Joseph Roth, einer der wichtigsten Schöpfer des galizischen Mythos gewesen ist. Er, der selber galizischer Abstammung war, versuchte durch die Mythisierung
seiner
ostjüdischen
Heimat,
die
verlorengegangene
Welt
der
Vergangenheit und ihrer menschlichen Werte wiederzubeleben und die Unmöglichkeit des Wiederfindens dieser Welt in der Realität durch das Schreiben, durch das Erzählen im Gedächtnis der Menschheit möglich zu machen. Seiner Person und seinem ostjüdischsten Werk Hiob sind die nächsten Kapitel gewidmet.
206
Roth, Joseph: Die Büste des Kaisers. Novelle. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Bd. 5. Romane und Erzählungen 1930- 1936. Fritz Hackert (Hrsg.). Köln 1990, S. 655- 676, hier, S. 675. Zitiert in: Hüchteker, S. 82. 207 Lunzer, Renate: Utopie und Entzauberung. In: Claudio Magris (Hrsg.): Utopie und Entzauberung. Geschichten, Hoffnungen und Illusionen der Moderne. Hanser. München 2002, S. 5- 18, hier S. 12.
38
II
Joseph Roth
Joseph Roths Leben ist „im Nebel des mythischen, der selbst inszenierten, biographischen Erzählungen“ 208 versteckt. Roth dichtete sein Leben und erzählte es wie ein Märchen, immer wenn es um seine Kindheit, Mutter, Ostjuden, Religion und seinen Vater ging. 209 Er hielt sich nicht an die Fakten und gerade deshalb war es ihm möglich, in der Phantasie seiner Sprache und ihrer Fiktion zu schweben und durch dieses Phantasma die Welt des alten Österreichs, der Monarchie und der versinkenden Ostjuden wieder zu beleben. 210 Die Grunderfahrung der Unsicherheit von Existenz und Identität, die Roth in seinem Leben durchgemacht hat, führten ihn zum Treiben dieses Spieles, das am Anfang bewusst begonnen wurde und dann eine Eigendynamik entfaltete. 211 Im Rahmen dieser Arbeit soll Joseph Roth nicht anhand der psychologischen Theorien behandelt werden, die - wie Müller-Funk es ausdrückt - „dem Menschen eine feste Identität und einen fixen Bezug zur Realität des Über-Ich“ verordnen. Joseph Roth und seine ‚Identitäten’ können von Literaturwissenschaftlern nur vermutet werden, denn „wer so sehr in die Fallstricke des Erzählens gerät, für den verwischen sich die Grenzen von Schwindel und Wahrheit, von Dichtung und Lebenswirklichkeit“ 212. Die vorliegende Arbeit versucht, einen Überblick über das Leben und Werk Joseph Roths zu vermitteln.
1
Biographie
Als siebenunddreißigjähriger Mann beschrieb Roth unter dem Titel „Wiege“ das früheste Kindheitserlebnis, woran er sich immer noch erinnern konnte. Es handelte sich um eine Erinnerung aus dem dritten Lebensjahr, als das machtlose Kind der zeuge einer „Beraubung“ sein musste, während die Mutter vor seinen Augen seine Wiege einem Fremden gab. Roth sah in diesem Ereignis schon einen unwiederbringlichen Verlust, und das war für Wesen und Werk des späteren heimatlosen Roths sehr bedeutend bzw.
208
Müller- Funk, Wolfgang: Joseph Roth. Beck. München. 1989, S. 7. Vgl. Müller-Funk, S. 7. 210 Vgl. Müller-Funk, S. 7. 211 Vgl. Müller-Funk, S. 10. 212 Müller-Funk, S. 11. 209
39
vorausdeutend. Seine Wiege stand am östlichen Rande der einstigen österreichischungarischen Monarchie, im ehemaligen Kronland Galizien. Moses Joseph Roth, nach der polnischen Tradition „Muniu“ gerufen, einer der hervorragendsten deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, wurde am zweiten September 1894 in der ostgalizischen Stadt Brody, die circa 90 km nordöstlich von Lemberg (Lwów) lag, geboren. Das Städtchen hatte vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs 18 000 Einwohner, von denen 85% Juden waren und es ist nicht zu wundern, dass man diesen Ort als „das galizische Jerusalem“ bezeichnete. 213 Diese Landschaft, unweit der russischen Grenze, hinterließ mit ihren ethnischen und topographischen Besonderheiten einen tiefen Eindruck in der Phantasie des kleinen Josephs. „In einer dünnbesiedelten, windigen Ebene lag Brody, die Heimatstadt, umgeben von Wäldern und Sümpfen mit Störchen und quakenden Fröschen“ 214. Der kleine Joseph wuchs im Haus seines Großvaters, Jechiel Grübel, eines orthodox jüdischen Kaufmannes, unter der Fürsorge seiner Mutter Maria (Miriam) auf. 215 Die Vormundschaft wurde dem Onkel Sigmund Grübel übertragen, der in Lemberg lebte. 216 Roths Vater, der westgalizische Jude Nachum Roth, hatte sich nach etwa eineinhalbjähriger Ehe auf eine Geschäftreise nach Kattowitz begeben, geriet aber infolge eines anscheinend misslungenen Geschäfts in den Wahnsinn und lebte bis 1910 bei einem chassidischen Wunderrabbi bei Rzeszów (Westgalizien); er galt als verschollen und der kleine Muniu wuchs mit dem Glauben auf,dass sein Vater nicht mehr am Leben sei; in Wahrheit starb Nachum drei Jahre [?]nach dem Tod des Jechiel Grübels im Hof des Wunderrabbis in geistiger Umnachtung, ohne jemals seinen eigenen Sohn, von dessen Existenz er überhaupt nichts wusste, gesehen zu haben. 217 Im Haus seines Großvaters wurde, wie bei vielen wohlhabenden assimilierten österreichisch-jüdischen Familien Deutsch gesprochen. 218 Roth besuchte in den Jahren
213
Klanska, Maria: Die galizische Heimat im Werk Joseph Roths. In: Michael Kessler/ Fritz Hackert (Hrsg.): Joseph Roth. Interpretation- Kritik- Rezeption. Stauffenburg-Verlag. Tübingen 1990, S. 143156, hier S. 143. 214 Koester, Rudolf: Joseph Roth. Colloquium-Verlag. Berlin 1982, S. 5. 215 Klanska: Galizische Heimat, S. 143. 216 Vgl. Hackert, Fritz: Joseph Roth. In: Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max (Hrsg.): Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Reclam. Stuttgart 1995, S. 678. 217 Vgl. Bronsen, David: Joseph Roth. Eine Biographie. Deutscher Taschen Verlag. München 1981, S. 4042. 218 Klanska, Galizische Heimat, 143
40
1901-1905 die Baron-Hirsch-Volksschule 219 in Brody 220 und 1905-1913 das K.u.K. Kronprinz-Rudolph-Gymnasium, das einzige staatliche Gymnasium neben der Lemberger Anstalt, wo Deutsch die Unterrichtssprache war und die Schülerschaft wiederum vorwiegend aus Juden bestand. 221 Er begeisterte sich am meisten für das Unterrichtfach Deutsch und die Literatur. Zu seinen Lieblingsdichtern zählten Lessing, Goethe, Schiller, Shakespeare und Hölderlin. Vor allem aber begeisterte sich Roth für Heinrich Heine, mit dessen Wesen und Werk er sich schon früh identifizierte. 222 Bei den Jugendwerken aus der Gymnasialzeit und danach handelt es sich um Erzählungen und Gedichte, von denen ein Teil im zweiten Weltkrieg verloren ging. 223 Roth hat Galizien während seiner Kindheit und Jugend nie verlassen, obwohl er große Sehnsucht nach der großen Welt außerhalb der Schtetlech hatte; in Brody fühlte sich Roth gelangweilt und unzufrieden. 224 Er sehnte sich nach einer größeren Stadt (wie Schemarjah, der Sohn Mendel Singers in Hiob), wo er vor der Enge der Provinz und der Sorgfalt der Mutter hin fliehen, einer größeren Welt, in der er Geltung erlangen konnte; somit entschloss die Familie, dass er in Lemberg studieren und bei seinem Oheim und Vormund Siegmund Grübel leben sollte, aber es war eine große Enttäuschung für den jungen Joseph, als er erfuhr, dass die Unterrichtsprache der Lemberger Universität statt Deutsch Polnisch war. 225 Er, der die deutsche Sprache liebte, für die deutsche Literatur schwärmte und in dieser Sprache Gedichte und Erzählungen schrieb, sehnte sich nicht nach der kleinen aber glänzenden Metropole Galiziens, die man „Klein-Wien“ nannte, er hatte Sehnsucht nach dem großen Wien, der Hauptstadt der Habsburgermonarchie. 226 So zog er im Herbst 1913 nach Wien. 227 Das in Lemberg abgebrochene Studium wurde 1914 an der K.u.K. Universität Wien wiederaufgenommen und er verbrachte fünf Semester als Student für Germanistik in Wien. 228 Bald nach dem Ausbruch des ersten Weltkrieges sollte sein Leben eine andere Richtung bekommen; 1916 brach Roth sein Studium ab und meldete sich am 31. Mai 1916
219
1891 errichtete der geadelte jüdische Philantrop Baron Moritz Hirsch (1831-1896) für die Kinder Galiziens und der Bukowina Baron-Hirsch-Volksschulen, wo die Schüler nicht nur religiöse, sondern auch profane Fächer, die deutsche Sprache erlernen konnten. Siehe in: Bronsen: Biographie, S. 63f. 220 Bronsen: Biographie, S. 64. 221 Bronsen: Biographie, 79-81. 222 Vgl. Koester, S. 10. 223 Vgl. Koester, S. 10. 224 Vgl. Koester, S. 10. 225 Vgl. Koester, S. 13. 226 Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S. 143. 227 Vgl. Bronsen: Biographie, S. 124. 228 Vgl. Koester, S. 13.
41
freiwillig zum Militärdienst. Er sollte als Augenzeuge miterleben, wie Österreich, wie Karl Kraus es ausdrückte, die „Versuchsstation für Weltuntergang“ wurde. 229 Nach dem Kriegsende fing Roth an, eine Karriere als Journalist zu machen, ein Beruf, zu dem er Dank seiner Beobachtungsgabe und seines lebendigen Lebensstiles durchaus Begabung hatte. Er begann, 1919 in „Der neue Tag“ zu publizieren. 230 Er schrieb in dieser Zeit über hundert Beiträge, häufig unter dem Pseudonym „Josephus“. 231 Roth war damals linksorientiert und zeigte sich für sozialistische Ideen empfänglich; er stand aber jeder Theorie ablehnend gegenüber. Aufgrund des Nachkriegselends hatte seine Sympathie für den Sozialismus mehr die Form des Mitleids. 232 In der Zeit danach zog er nach Berlin und heiratete 1922 seine in Wien verbliebene jüdische Freundin Friedl Reichler, mit der er - von Natur aus ein „Kaffeehaus-Nomade“ und „Hotelbewohner“ - in Berlin zum ersten und letzten Mal in seinem Leben eine Wohnung bezog. 233 Der Zeitraum zwischen 1923 und 1925 ist von wichtiger Bedeutung für Roths Entwicklung als Journalist und Autor der Zeitromane, wie „Das Spinnennetz“ (1923), „Hotel Savoy“ (1924) und „Die Rebellion“ (1924). 234 1925 wurde Roth von der Frankfurter Zeitung, mit der er seit 1923 arbeitete, nach Frankreich geschickt, wo er seine zweite Heimat gefunden hat. 235 Seine erste Begegnung mit Frankreich hat in ihm eine flammende Begeisterung ausgelöst, die man in seinen Korrespondenzen aus diesen Jahren spüren kann. Roth bezeichnet Paris kurz nach seiner Ankunft als „Hauptstadt der Welt“ 236 und dort fühlt er sich befreit von der bedrückenden Enge Deutschlands. 237 Am Ende dieses Jahres wurde er als Korrespondent nach Sowjetrussland geschickt. 238 Noch vor seiner Abreise brachte er sein begonnenes Buch Juden auf Wanderschaft zu Ende, mit dem er eine bereichernde Darstellung der Ostjuden - ihrer Lage, Sitten und Gebräuche - der deutschsprachigen Literatur gewidmet hat; damit setzte er seinem eigenen ostjüdischen Erbe ein Denkmal. 239 Roth, der, wie viele jüdische Autoren der zwanziger Jahre, sich mit seinen
229
Vgl. Bronsen: Biographie, S. 153. Vgl. Bronsen: Biographie, S. 153. 231 Vgl. Koester, S. 18. 232 Vgl. Koester, S. 19. 233 Vgl. Hackert, S. 679. 234 Vgl. Hackert, S. 680. 235 Vgl. Bronsen: Biographie, S. 266. 236 Zitiert in: Koester, S. 43. 237 Vgl. Koester, S. 43. 238 Vgl. Koester, S. 45. 239 Vgl. Koester, S. 45. 230
42
ethnischen Wurzeln auseinandersetzte, beschrieb in diesem Buch die Situation der von Ost nach West gedrängten, um ihre Identität kämpfenden Ostjuden. 240 Voller Einfühlungsvermögen beschreibt Roth die „Odyssee“ der in den Westen ziehenden Juden und ihr Schicksal nach der Ankunft in den westlichen Großstädten (Wien, Berlin und Paris). Er zeigt in diesem Essay seine Abneigung der jüdischen Assimilation gegenüber und ihrer Auswanderung nach Westen. Aber genauso ablehnend steht er der Ersatzlösung, dem Zionismus und der von ihm propagierten Rückkehr in das heilige Land dar. Im letzten Kapitel dieses Buches schildert Roth die Situation der Ostjuden in Sowjetrussland vielleicht etwas zu optimistisch, wenn man den weiteren Verlauf der Geschichte bedenkt; dieses Kapitel wurde auf seiner Russlandsreise ausgearbeitet. 241 1926 begab er sich auf dem Weg nach Sowjetrussland. Trotz aller Achtung vor dem Fortschritt in Russland wurde er von den Folgen der Revolution völlig enttäuscht. Er hat schon bemerkt, dass sich der Proletarier in der Sowjetunion sehr leicht zum Kleinbürger erziehen lässt; überall sah Roth die kleine „Schreibtischbürgerlichkeit“, überall die Simplifizierung der Revolution in groben Geschmacklosigkeiten. Er begrüßte zwar die Gleichberechtigung der Frau, aber kritisierte stark die daraus entstandene Verwandlung ins Neutrum, ihre Degradierung „zum sexuell funktionierenden Säugetier“. 242 Die geistige Leere, öde Disziplin und achtlose Nivellierung war überall im Land zu sehen. Die Sowjetunion schien ihm zu beweisen, dass eine Veränderung in den ökonomischen Verhältnissen nicht unbedingt eine geistige Erneuerung zur Folge hat. Er schrieb an Bernard von Brentano: „das Problem…ist hier keineswegs ein politisches, sondern ein kulturelles, ein geistiges, ein religiöses, ein metaphysisches“. 243 . Das epische Resultat dieses Erlebnisses war der Roman Die Flucht ohne Ende, der 1927 herauskam und ein musterhaftes Beispiel der neuen Sachlichkeit ausstellte. 244 1928 war für Roth ein besonders schweres Jahr. Bei seiner Frau, Friederike Roth, die zu diesem Zeitpunkt kaum achtundzwanzig Jahre alt war, brach eine unheilbare Nervenkrankheit - Schizophrenie – aus. Joseph Roth machte sich deswegen Vorwürfe, weil er Friedl so oft - aufgrund seinen beruflichen Umstände – in Hotels allein gelassen hatte. Er wollte nicht akzeptieren, dass ihr Fall aussichtslos ist; er benahm sich gegenüber denjenigen, die vorschlugen, Friedl in eine Heilanstalt einzuliefern, sehr abweisend. Verzweifelt hoffte er auf ihre Besserung und behielt sie vorläufig bei sich 240
Vgl. Hackert, S. 681. Vgl. Koester, S. 46. 242 Koester, S. 47. 243 Zitiert in: Koester, S. 47. 244 Vgl. Hackert, S. 680. 241
43
und nahm sie mit nach Polen, das er beruflich bereisen musste. 245 Friedls Gesundheit verschlechterte sich aber mit der Zeit und ihre erhoffte Besserung blieb aus. 1929 wurde sie in die Berliner Nervenheilanstalt eingeliefert; doch holte sie Roth wieder heraus, um sie unter der Fürsorge einer Krankenschwester vorläufig in der Wohnung seines Freundes Stefan Fingal in Berlin unterzubringen. Die Krankheit seiner Frau war für ihn, der lebenslang in finanzieller Not lebte, nicht nur eine seelische, sondern auch zusätzlich eine finanzielle Belastung. Friedl verbrachte die dreißiger Jahre in den österreichischen Anstalten, bis sie 1940 der Nazimaßnahme zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ 246 zum Opfer fiel. In den späten zwanziger Jahren veröffentlichte Roth zwei Romane: Zipper und sein Vater (1928) und Rechts und Links (1929). Diese Romane thematisieren die Beziehungslosigkeit und geistige Anarchie der Zeit. 247 Im Mai 1930 ließ Roth seinen neuesten Roman Hiob in der Frankfurter Zeitung als Vorabdruck erscheinen. Roths geistigerZustand blieb nach wie vor tief gedrückt. Die Verschlechterung des Leidens seiner Frau und der finanziellen Probleme verschärften seine Trinksucht. Er versuchte, dieser Niedergeschlagenheit in seinem Hiob Ausdruck zu verleihen; das ist die Geschichte eines vom Leid heimgesuchten einfachen Menschen. Mit diesem Roman kehrte Roth der zeitkritischen Betrachtung der Nachkriegsgeneration und der Neusachlichkeit den Rücken. 248 1932 beschränkte sich seine journalistische Tätigkeit; der wichtigste Zeitungsbeitrag des Jahres war der Vorabdruck seines Romans Radetzkymarsch in der Frankfurter Zeitung. Im gleichen Jahr folgte die Buchausgabe im Kiepenheuer Verlag. Radetzkymarsch sollte neben Hiob das bedeutendste Werk Joseph Roths werden. Radetzkymarsch wird als der Roman seiner Generation und Geschichte bezeichnet. 249 Mit der Machtübernahme Hitlers 1933 verließ Roth Deutschland für immer. Zuerst ließ er sich in Paris nieder. Weil die Ortsveränderung zu seiner Sehnsucht geworden war, wechselte er als Emigrant mehrfach seine Adresse. Er kehrte aber nach Aufenthalten in Österreich, der Schweiz, Südfrankreich, den Niederlanden, Belgien und Polen immer nach Paris zurück.
245
Vgl. Koester, S. 52. Koester, S. 52. 247 Vgl. Koester, S. 57. 248 Vgl. Koester, S. 57. 249 Vgl. Hackert, S. 681. 246
44
1934 erschien Tarabas – Ein Gast auf dieser Erde, mit katholischen Tendenzen. Schon in diesem Jahr kam sein anderes Werk Antichrist heraus. 250 Gleichzeitig schrieb er für Exilzeitschriften, französische Literaturblätter und eine Pariser Tageszeitung für deutsche Emigranten Artikel und Erzählungen; schließlich kamen seine Plädoyers in der „Österreichischen Post“ für eine Restauration der Habsburgermonarchie heraus. 251 Im Exil flüchtete sich Roth in eine drastische Produktivität; der Grund war nicht nur seine finanzielle Not; das pausenlose Schreiben und sein extremer Alkoholkonsum ließen sein ganzes Wesen verfallen. 252 Ab 1935 schrieb Roth auch für den christlichen „Ständestaat“. Die Mitarbeit bei dieser konservativen österreichischen Zeitschrift entsprach seiner Austrophilie, die im Exil besonders neuerwachte. Sein Österreich war ein subjektives Land; eher ein poetisches, ein nostalgisch-erträumtes als ein reales. Er identifizierte sich mit einem Monarchismus habsburgischer Prägung. 253 Schon am Anfang seiner Exiljahre schrieb er an Stefan Zweig: Was mich persönlich betrifft: sehe ich mich genötigt, zu Folge meinen Instinkten und meiner Überzeugung absoluter Monarchist zu werden […] Ich liebe Österreich. Ich halte es für feige, jetzt nicht zu sagen, dass es Zeit ist, sich nach den Habsburgern zu sehnen. Ich will die Monarchie wieder haben und ich will es sagen. 254
Seine monarchistischen Bestrebungen führten ihn zur Kontaktaufnahme mit den österreichischen Legitimisten und dem Thronfolger Otto von Habsburg; neben diesen Bestrebungen wandte sich Roth dem Katholizismus zu, der vereinigenden Religion der Monarchie. 255 Sein Katholizismus war keine Flucht vor dem Judentum. Er trennte sich nie von seinem ostjüdischen Wurzeln. Er bezeichnet sich in einem Brief an seinen Freund Benno Reifenberg als einen „Katholik[en] mit jüdischem Gehirn“ 256. 1936 werden Beichte des Mörders und Hundert Tage veröffentlicht. In den letzten drei Jahren seines Lebens war Roths Stammtisch im Café Tournon des Hôtel de la Poste der Ort der verzweifelten Diskussionen über die Machtentwicklung des dritten Reiches. Die Hoffnungslosigkeit
dieser
Jahre,
besonders
der
Anschluss
Österreichs
an
Hitlerdeutschland beschleunigten den geistigen und körperlichen Verfall Roths; diese Situation reflektiert sich in seinen nächsten Werken Das falsche Gewicht (1937) und 250
Vgl. Koester, S. 69. Vgl. Hackert, S. 681. 252 Vgl. Koester, S. 69. 253 Vgl. Koester, S. 75. 254 Zitiert in: Koester, S. 75. 255 Vgl. Koester, S. 75. 256 Roth, Joseph: Briefe 1911-1939. In: Hermann Kesten (Hrsg.). Kiepenheuer & Witsch. Köln-Berlin 1970. S. 98. 251
45
„Kapuzinergruft“ (1938). 257 Müde von der Realität seines Lebens und seiner Welt suchte er am Ende seines tragischen Lebenslaufs ein Balsam im Märchen; 1939 schrieb Roth die Geschichte von „1002. Nacht“; im gleichen Jahr spiegelt er sich in einer Art Selbstironie im polnischen Habenichts seiner Legende vom heiligen Trinker (1939), die er mit dem Wunsch zu Ende bringt, Gott möge auch ihm „einen so leichten und so schönen Tod“ 258 geben. 259 Er starb aber nach Herzanfällen, Magenentzündung, Leberzirrhose und Delirium tremens am 27. Mai 1939 in einem Armenkrankenhaus in Paris und wurde auf dem katholischen Friedhof Thiais beerdigt. 260 Immerhin ist es ihm erspart geblieben, die Vernichtung des Ostjudentums mitzuerleben. In dieser Hinsicht ist sein Œuvre der Höhepunkt der galizischen deutsch-jüdischen Literatur vor dem Untergang des Ostjudentums. Roth war, wie viele Figuren seiner Romane, nirgends zu Hause. Er führte ein sprunghaftes, rastloses Leben und besaß keinen Wohnsitz; er wohnte – aufgrund seiner beruflichen Umstände - in Hotelzimmern und schrieb seine Werke an Kaffeehaus - und Bistrotischen in fast allen europäischen Städten 261; er war „ein Gast auf dieser Erde“ 262. Obwohl er sein ganzes Leben in Zerrissenheit zwischen seinen ostgalizischen Wurzeln und seiner österreichischen Identität verbrachte, thematisiert er aber in seinen Schriften eine mythische Heimat, die jenseits allen Grenzen liegt und die die Ordnung, Harmonie und die zwischenmenschlichen Werte beider Identitäten wiederspiegelt. Wo lag diese rothsche Heimat?
2
Die Heimaten des Joseph Roth
2.1
Die Habsburger-Monarchie und das Ostjudentum
Wenn man sich ein Wortverzeichnis für Roths Werke entwirft, so muss man einen großen Platz für „Heimat“ und „Fremde“ mit den dazugehörigen Wörtern vorsehen. Die
257
Vgl. Hackert, S. 682. Roth, Joseph: Die Legende vom heiligen Trinker. In: Hermann Kesten (Hrsg.): Joseph Roth. Werke in drei Bde. Bd. III. Kiepenheuer & Witsch. Köln 1975, S. 178. 259 Vgl. Hackert, S. 682. 260 Vgl. Hackert, S. 682. 261 Rosenfeld, Sidney: Erträumte Heimat. Der Schriftsteller Joseph Roth und Österreich. In: Tribühne (27), 1988, H. 105, S. 119-131, hier S. 119. 262 Der Untertitel von Tarabas. Vgl. Roth, Joseph: Tarabas. Ein Gast auf dieser Erde. In: Hermann Kesten (Hrsg.): Joseph Roth. Werke in drei Bänden. Bd. II. Kiepenheuer & Witsch. Köln-Berlin 1956. 258
46
Frage nach der Heimat, dem „Heimisch-Werden“ in der „Fremde“ und dem „FremdWerden“ in der „Heimat“ ist das Leitmotiv vieler Werke Roths. Roth schreibt: „Und weil meine Heimat nicht mehr vorhanden ist, bin ich nirgends zu Hause.“ 263 Dieses Zitat und ähnliche Worte Roths weisen auf einen Umstand hin, der Roths Leben in allen Phasen bestimmte, und sich in verschiedenen Formen in seinen Werken spiegelte. Heimatlosigkeit ist eine Chiffre, unter der man Roths Leben und Werk betrachten muss. Joseph
Roths
zerrissene
Identität
zeigt
in
beeindruckender
Weise
viele
Doppeldeutigkeiten der jüdischen Existenz in der Habsburgermonarchie auf. Roths Geburtsort Brody war, wie vorhin erwähnt, eine Stadt mit dem höchsten Prozentsatz an Juden in der österreichisch- ungarischen Monarchie. 264 Diese Stadt und ihre Atmosphäre, die in seinen Werken so voller Liebe beschrieben wird, war Roth verhasst. Seitdem er sich in den zwanziger Jahren in Berlin niederließ, suchte er einen anderen Namen für seine Heimat, um seinen galizischen Geburtsort zu verheimlichen; er erwähnte immer das Nachbardorf Szwaby (das wie Schwabendorf klang) oder die kleine Stadt Raziwiłłów jenseits der russischen Grenze. 265 Damit wollte er der Peinlichkeit der Zugehörigkeit zu den galizischen Ostjuden entfliehen und Brody war wohl ein Symbol dafür. 266 Er sollte in seinem ganzen Leben seine Heimat noch viermal besuchen; dreimal kam er im Auftrag der Frankfurter Zeitung nach Polen, um Reportagen von dem wiedererstandenen Staat zu schreiben. Er verfasste die Zyklen „Reise nach Galizien“ und aus keinem dieser Berichte ging hervor, dass er selber aus dieser Region stammte. Zum letzten Mal im Jahr 1937 kam er als Gast des polnischen PEN-Clubs nach Polen und Lemberg. 267 Aber gerade dieses verleugnete Galizien sollte die ganze Inspiration Roths befruchten. Seine wunderbarsten literarischen Schöpfungen verdankt Roth wohl der Landschaft, den Menschen und insgesamt der Atmosphäre Galiziens. 268 Helmuth Nürnberger beschreibt diesen Aspekt in Roths Leben folgendermaßen: Galizien hat Roth geprägt, vorgeprägt. Schwermut und Sehnsucht, Liebe und Trauer klingen aus jeder Beschreibung, Leidenschaft, die sich in Monotonie äußert, erfahrener Hass, vor allem Phantasie. Zwar war die Entwicklung Galiziens im neuen polnischen Staat Roth nur von gelegentlichen Besuchen bekannt. Aber es bleibt die Heimat des 263
Roth, Joseph: Heute früh kam ein Brief. In: Hermann Kesten (Hrsg.): Joseph Roth. Werke in vier Bände. Bd. III. Kiepenheuer & Witsch. Köln 1975-76, S. 257. 264 Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S. 143. 265 Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S. 144. 266 Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S. 144. 267 Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S. 144. 268 Vgl. Wistrich, S. 534.
47
Poeten. Auch wenn er, wie er lapidar erklärt, lediglich „Leute und Gegend“ beschreibt, findet er sogleich seinen ganz persönlichen Ton. 269
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, als die Welt der menschlichen Werte völlig vernichtet wurde, wurde Galizien für ihn zur „verlorenen Heimat“ 270 und zum Symbol des habsburgischen Vielvölkerstaates im Kleinen, in dem er, wie Maria Klanska es beschreibt, „im Gegensatz zur bestialischen Naziherrschaft einen humanen Staatsorganismus erblickte“ 271. Je mehr diese galizische Heimat sich als ein realer Ort, in dem er geboren wurde und aufwuchs, als ein Ort, wo er seine Kindheit verbracht und die mütterliche Geborgenheit erlebt hat, und als ein Teil der größeren Heimat, nämlich der Habsburgermonarchie, räumlich und zeitlich von ihm entfernte, umso mehr beschäftigte sie seine Phantasie. 272 Maria Klanska bringt es auf den Punkt, wenn sie schreibt: „In seiner Einbildungskraft entstand aus den Elementen der Erinnerung ein fiktives, von der Optik der Sehnsucht mythisch geprägtes Galizien“ 273 Der wichtigste Bestandteil dieses Mythos war das Schtetl, das – wie Magris es beschreibt: – trotz seiner objektiven Armut zum organischen und in sich harmonischen Mikrokosmos verklärte Schtetl, das, wenn auch auf niedrigster Stufe, eine schützende Präsenz universaler menschlicher Werte geleistet hatte, gültige Bezugspunkte für alle Menschen einer wenn auch begrenzten Gesellschaft. Diese Gegenwelt hatte so die Schaffung des Mythos eines häuslichen Universums erlaubt, in dem die klassischen Werte formuliert werden konnten, an welche das Entstehen einer Epik, die auch den Schmerz gestaltet und der Tragödie einen Sinn verleiht, gebunden ist. 274
Roth fing erst an, diese Heimat anzuerkennen und sie in seinen Werken zu thematisieren, als sie nicht mehr existierte; ja nach dem Zerfall einer „menschlichen und religiösen Choralität“ 275, wie es der Fall des Ostjudentums gewesen war. Er begann über diese Welt zu erzählen, als nichts mehr zu erzählen war; er begann, als sie zu ihrem Ende gekommen war, und gerade deswegen konnte er sie zum Objekt eines Mythos machen. Roth schuf aus dem ostjüdischen Galizien und dem galizischen Ostjudentum Literatur, weil er nur in der Welt der Literatur die Heimat finden konnte; er erzählte
269
Nürnberger, Helmuth: Die Welt des Joseph Roth. In: Evangelische Akademie (Hrsg.): Die Schwere des Glücks und die Größe der Wunder. Joseph Roth und seine Welt. Verlag evangelischer Presseverband. Karlsruhe 1994, S. 9-54, hier S. 35. 270 Klanska: Galizische Heimat, S. 143. 271 Klanska: Galizische Heimat, S. 143. 272 Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S. 143. 273 Klanska: Galizische Heimat, S. 143. 274 Magris: Weit von wo, S. 13. 275 Magris: Weit von wo, S. 13.
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über eine Vergangenheit, die einmal gewesen war, um zu sagen, wie die Zukunft sein sollte. 276 Hier muss man hinzufügen, dass Roths Galizien nicht immer das historische Galizien als Schauplatz umfasste. Normalerweise verwendet er den Begriff ‚Galizien’ als eine staatliche Zugehörigkeit der dargestellten Gebiete, wenn er ihn metonymisch für die Habsburgermonarchie benutzen möchte; sonst, wenn es sich um sein persönliches Heimatbild handelt, sind seine Schauplätze manchmal galizische Städte und manchmal auch russische. 277 Geographisch entsprechen die beiden Gebiete den alten Regionen Podolien und Wolhynien; während das ganze Wolhynien zu Russland gehörte, gehörte nur der westliche Teil Podoliens zu Österreich. 278 Fast immer beschreibt Roth in seinen Werken eine osteuropäische Randlandschaft mit ihrer typischen slawisch-jüdischen Bevölkerung, die einer von den beiden Regionen angehört. 279 Roths Protagonisten leiden oft unter Heimatlosigkeit, unter dem Verlust der geistigen Werte und, wie Armin Wallas es ausdrückt: […]unter dem Zerbrechen ihres geistig-kulturellen Bezugssystems. Sie sind Wandernde, Zerrissene, die in einer orientierungslos gewordenen Welt vergeblich nach Halt suchen. Was ihnen bleibt, ist der Rückzug in den Mythos. Das Ideal einer übernationalen Lebensform, das sie in der untergegangenen Welt der Habsburgermonarchie vermeinen, weist ins Utopische 280.
Dabei muss man hervorheben, dass Roth nicht vorhatte, die Geschichte zu verklären. Er verschiebt die Geschichte in den Mythos, weil er den Untergang der Monarchie als das Ende der Tradition und als Anfang der Auflösung und der als „Säkularisation verstandenen Moderne“ 281 erlebte. Roth stellt dieser Moderne, in der die vergangenen Werte vernichtet sind, keine Ordnung mehr vorhanden ist und die Tradition aufgelöst wird, die von Religion und monarchischer Autorität geprägte habsburgische Ordnung entgegen. 282 Roths Mythisierung der Habsburgermonarchie hat viel mit der krisenhaften Erfahrung der jüdischen Identität zutun. Roths jüdische Wurzeln saßen sehr tief, aber gerade diese
276
Vgl. Bohnen, Klaus: Flucht in die „Heimat“. Zu den Erzählungen Joseph Roths. In: Stefan H. Kaszynski (Hrsg.): Galizien- eine literarische Heimat. Poznan 1987, S. 139-149, hier S. 149 277 Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S. 143. 278 Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S.145. 279 Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S.145. 280 Wallas, Armin A.: Mythen der Übernationalität und revolutionäre Gegenmodell. ÖsterreichKonzeptionen jüdischer Schriftsteller zwischen Monarchie und Exil. In: Hanni Mittelmann und Armin A. Wallas (Hrsg): Österreich-Konzeptionen und jüdisches Selbstverständnis. Identitäts- Transfigurationen im 19. und 20. Jahrhunder. Tübingen 2001, S. 171-193, hier S. 177. 281 Magris: Weit von wo, S. 15. 282 Vgl. Wallas, S. 178.
49
Wurzeln waren ihm verhasst. Er suchte eben deswegen Zuflucht im Katholizismus, in dem er ein universales Prinzip, und wie es von Wallas beschrieben wird, „die einigende Kraft
der
übernationalen
Österreich-Idee
und
zugleich
die
Antithese
zum
protestantischen (deutschnationalen) Preußen“ 283 zu erkennen glaubte. In Die Büste des Kaisers schreibt Roth: Hätte man ihn zum Beispiel gefragt […], welcher ‚Nation’ oder welchem Volk er sich zugehörig fühle: der Graf wäre ziemlich verständnislos, sogar verblüfft vor dem Frager geblieben und wahrscheinlich auch gelangweilt und etwas indigniert. Nach welchen Anzeichen auch hätte er seine Zugehörigkeit zu dieser oder jener Nation bestimmen sollen? – Er sprach fast alle europäischen Sprachen gleich gut, er war fast in allen europäischen Ländern heimisch, seine Freunde und Verwandten lebten verstreut in der weiten und bunten Welt. Ein kleineres Abbild der bunten Welt war eben die kaiser- und königliche Monarchie, und deshalb war sie die einzige Heimat des Grafen. 284
Roth verleiht der Monarchie eine verklärte, übergeschichtliche Dimension, und gerade in diesem Akt, so bringt es Magris auf den Punkt: „identifiziert er [sie] bald bewusst, bald unbewusst mit der heilen, festen Einheit, die er auch in der Dauerverbindung der religiösen, humanen und moralischen Wertsysteme des ebenfalls von der Geschichte bedrängten und bedrohten Ostjudentums findet“ 285, ja, Österreich als Heimat Aller, das war der Gedanke, der Roth faszinierte. Für Roth zählte in erster Linie die Ganzheit der Monarchie. Und mit der Zeit begann er, sie aus dem Nichts zu beschwören. Aber weil sich die Monarchie nicht auf das Zentrum (Wien), sondern auf die Peripherie stützte, richtete Roth den Blick auf die Kronländer, unter denen das vertrauteste Galizien war. Und Roth machte Galizien zu seiner auserlesenen Heimat, wo ihm die furchtlosesten Träume verwirklicht wurden, die menschlichen, sozialen, persönlichen und literarischen Träume. 286 Roth unterscheidet sich in dieser Hinsicht von anderen jüdischen Verehrern des „felix Austria“ wie Stefan Zweig und Franz Werfel. Im Hintergrund seiner Werke steht die besondere Symbiose von „Austriazität und Ostjudentum“, von „Imperium und Schtetl“. 287 Er spricht manchmal von den Juden in seinen Werken so, als ob er von einer Übernation spreche; für ihn sind diese Juden das „Modell der zukünftigen Form der
283
Wallas, S. 179. Roth, Joseph: Die Büste des Kaisers, S. 655. 285 Magris: Weit von wo, S. 15. 286 Vgl. Zatons’kyj, Dmytro: Joseph Roth oder das Problem der literarischen Heimat. In: Wolfgang Kraus und Dmytro Zatons’kyj (Hrsg.): Von Taras Ševčenko bis Joseph Roth. Ukrainisch- Österreichische Literaturbeziehungen. Berlin- Frankfurt a.M. 1995, S. 115-125, hier S. 117. 287 Magris, S. 16. 284
50
Nation“ 288. In der Kapuzinergruft wird die alte kaiserlich-königliche Monarchie, nach Magris, als „Vaterland des Möglichen und des Verschiedenen, als vertraute Synthese einer harmonischen Vielfalt“ 289 gerühmt. Roth richtet sein besonderes Augenmerk jenseits dieser Gleichstellung der habsburgischen Übernationalität mit der jüdischen Übernationalität auf das Ostjudentum und nicht auf die weltbürgerlichen, gebildeten und assimilierten Juden des Westens, die er immer als negativ beurteilt hat; sein Essay Juden auf Wanderschaft ist gerade eben ein „Alarmschrei“ gegen jene Assimilation der Ostjuden, die nach Westen auswandern und auf dem besten Weg sind, ihre authentischjüdische Identität zu verlieren und alle Laster der westlich- liberalen Juden anzunehmen. 290 In fast allen seinen Werken richtet Roth den Blick, wie Magris behauptet, „auf die Mütter, auf eine in ihrem Liebesvermögen heile, unverletzte Menschheit, auf eine intakte, direkt vermittelte Choralität: auf all das, was er angesichts des verlorenen und unerreichbaren, angestammten Vaterlandes der Juden die Heimat nennt“ 291. Es gibt in der Trübseligkeit des Exils nur eine Zuflucht, Zuflucht in einer Heimat der verbundenen Gefühle und Zuneigungen: in einer ‚Mutterheimat’ 292, wie es von der jüdischen Dichterin Else Lasker-Schüler ausgedrückt wurde, der einzige Rückkehrort, Ithaka; Ithaka, die die Mutter ist, die Mutter, die das Vaterland ist, die Zuflucht, die Geborgenheit, die Erde, ja der verlorene Boden. Für Roth findet diese Heimat in der Habsburgermonarchie und im galizischen Schtetl – beide verloren- Gestalt 293, und er erschafft aus der Unmöglichkeit der Rückkehr, aus der Unwiederbringlichkeit der vergangenen Zeit eine utopische Heimat, ein literarisches Zuhause. Eine Heimat, die der Wirklichkeit nicht entspricht; sie ist jene Heimat, die sie sein sollte. Die galizische Heimat und deren Verlust sind Themen in vielen Werken Joseph Roths. In den folgenden Kapiteln wird das Thema ‚Heimat’ in einem seiner zentralen Werke Hiob. Der Roman eines einfachen Mannes – untersucht.
288
Roth, Joseph: Polemik. In: Hermann Kesten (Hrsg.): Joseph Roth. Werke in drei Bänden. Bd. III. Kiepenheuer & Witsch. Köln-Berlin 1956. S. 570. 289 Magris, S. 17. 290 Vgl. Magris, S. 17. 291 Magris, S. 17. 292 Zitiert in: Magris, Claudio: Der ostjüdische Odysseus – Roth zwischen Kaisertum und Golus. In: David Bronsen (Hrsg.): Joseph Roth und die Tradition. Aufsatz- und Materialiensammlung. Agora Verlag. Darstadt 1975, S. 181-226, hier S. 183. 293 Vgl. Magris: Weit von wo, S. 18.
51
III
1
Der Roman Hiob
Der Wendepunkt in Joseph Roths Werk
Als Hiob im Jahr 1930 erschien, war Joseph Roth bereits ein angesehener Autor. Mit Hiob trat ein anderer Joseph Roth vor die Öffentlichkeit als der, den man bisher kannte. Hiob war eine Zäsur zwischen zwei Perioden seines Lebens. Obwohl seine Wandlung sich ein paar Jahre zurückverfolgen lässt und oft mit seiner Reise in die Sowjetunion (1926) in Zusammenhang gebracht wird, nahm sie erst in Hiob eine literarische Gestalt an als sein Hiobroman erschien. Der Roman gilt bis heute als Wendepunkt Roths vom „sozialistischen“ Autor der „Neuen Sachlichkeit“ zum konservativen, teils reaktionären, sensiblen und legitimistischen Mythenschöpfer 294 Die erste Phase seines Schaffens als Journalist führte ihn in ein linksbürgerliches, sozialistisches Engagement, wobei Roth weder politisch aktiv war, noch eine besondere Vorstellung von sozialistischen und marxistischen Theorien hatte. Sein Sozialismus verkörpert sich nur in seiner scharfen Kritik am Bürgertum des 20. Jahrhunderts, das die humanistischen Werte verraten hat und durch seine Anbetung des technisch-zivilisatorischen Fortschritts die sozialen Verhältnisse und Bindungen und das menschenwürdige Leben zerstörte. Unter diesen Aspekten schrieb Roth seine Romane und journalistischen Arbeiten in der ersten Schaffensphase. 295 Die ersten Werke Roths, die sogenannten Zeitromane Das Spinnennetz, Die Rebellion, Hotel Savoy, Flucht ohne Ende, Zipper und sein Vater und Rechts und Links stellen seine politische Gedankenwelt vor; sie thematisieren die Kriegserfahrung, Heimkehr, Entfremdung und das politische Engagement seiner rebellischen Protagonisten. 296 Die „Neue Sachlichkeit“, zu deren Programm Roth einen kleinen Beitrag geliefert hat, bezeichnet
den
literarischen
Kontext
der
ästhetischen
Weltanschauung
und
Erzähltechnik dieser früheren Phase: „Reportage und Bericht statt Dichtung und Einbildung“ 297. Mit dieser zehn Jahre andauernden produktiven Phase bricht Roth am Ende der zwanziger Jahre, und sein Roman Hiob, der ihm großen Erfolg gebracht hat, 294
Vgl. Hüppauf, Bernd: Joseph Roth: Hiob. Der Mythos des Skeptikers. In: Bernd M. Kraske (Hrsg.): Joseph Roth. Werk und Wirkung, Bonn 1988, S. 25-51, hier S. 25. 295 Vgl.Hüppauf, S. 27. 296 Vgl. Steinmann, Esther: Von der Würde des Unscheinbaren. Sinnerfahrung bei Joseph Roth. Tübingen 1984, S. 27. 297 Hüppauf, S. 27.
52
zeigt eine radikale Wende in der Denkweise des neuen Joseph Roth. Hüppauf stellt das Neue in seinen wichtigsten Elementen dar und schreibt: Das Neue liegt vor allem im Bruch mit den Grundpositionen der Neuen Sachlichkeit und einer demonstrativen Rückwendung zum bewährten Alten: geschlossene Romanform, auktoriale Erzählperspektive, maßvolles Tempo, stilisierte „klassische“ Sprache, Betonung der normativen Bedeutung von Tradition und Überlieferung, statische Wertstruktur, exemplarische Bedeutung einer harmonischen Gesellschaftsordnung, Mythisierung von Geschichte. 298
Claudio Magris ist der Meinung, dass Roths Sozialismus „nur der vorübergehende Ausdruck seines Pessimismus und des Mangels an Anhaltspunkten und sein Legitimismus
die
Folge
einer
lyrischen,
phantastischen
Rückkehr
zur
Vorkriegswelt“ 299 sei. Jedenfalls hatte Roth bereits in der Zeit seiner Wende vom Berichterstatter zum Sagenerzähler eine Heimat gefunden. Diese Heimat war Galizien mit seinen ostjüdischen Erbschaften; diese Heimat war für ihn keine gewöhnliche, keine alltägliche Heimat; sie war etwas nicht mehr Existierendes, eben Vergangenes. Die Forschung erkennt verschiedene Ursachen für die Umorientierung Roths Anfang der dreißiger Jahre an. An erster Stelle waren die persönlichen Krisen, in die Roth schon seit Anfang 1927 geraten war. Bernd Hüppauf zählt diese Ursachen auf: eine mit der gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands und Österreichs sowie mit seiner Reise in die Sowjetunion verbundene Desillusionierung und der Orientierungsverlust im gesellschaftlichen Bezugsfeld; das Aufkommen des Nationalismus; berufliche Schwierigkeiten, besonders mit der Frankfurter Zeitung, bei der er seit 1923 tätig war; am schwerwiegendsten aber der Ausbruch von Schizophrenie bei seiner Frau (1928), ihre schließlich Einlieferung in eine geschlossene Anstalt, die dadurch verursachte ständige Geldnot und vor allem die mit dem Krankwerden seiner Frau verbundenen Schuldgefühle und Selbstvorwürfe, die ihn bis zum Ende seines Lebens nicht verlassen haben. 300 Aus diesen Krisen sucht Roth Zuflucht, wie Bronsen es beschreibt, in der Naivität und Wärme eines Märchens, bzw. eines Fabulierens, das ein aus der eigenen Leidenserfahrung geborenes neues Menschenbild entwirft. 301 Bronsen schreibt: Unter „Warmes“ versteht Roth wohl eine auktoriale Einstellung, die den Leser zur Anteilnahme anregt und sich die Ergriffenheit als höchstes Ziel setzt. Vom Standpunkt Roths aus heißt das, Verzicht auf das Rüstzeug, das er sich als vorübergehender Anhänger der Neuen Sachlichkeit zu eigen gemacht hat, nämlich 298
Hüppauf, S. 27. Magris: Habsburgischer Mythos, S. 307. 300 Vgl. Hüppauf, S. 28. 301 Vgl. Bronsen, S. 382. 299
53
Skepsis und Kritik sowie Abstand und Ironie. Es heißt auch, „naiv“ zu schreiben, das Gemüt und nicht den Geist anzusprechen und Einfachheit in der Erzählart wie in der Menschengestaltung zu handhaben. 302
Das tut er auch. Er schreibt warm und naiv über den Protagonisten Mendel Singer, einen einfachen Mann, wie es schon aus dem Untertitel hervorgeht: Roman eines einfachen Mannes. Bereits im zweiten Satz der Geschichte berichtet er über ihn: „Er war fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich, ein ganz alltäglicher Jude“ 303. Die Einfachheit Mendel Singers und seine Gewöhnlichkeit wird in den kurz darauf folgenden Sätzen bestätigt: „Hunderttausende vor ihm hatten wie er gelebt und unterrichtet. Unbedeutend wie sein Wesen war sein blasses Gesicht“ 304. Joseph Roths neue Position ist die Anschauung des „Konkret- Besonderen“ 305 jenseits aller politischen Systeme und Theorien. Er wendete sich von den großen Gedanken der sozialistischen Tradition ab und schenkt seine Achtung den „Außenseitern“ 306. Er, der selber politisch orientierungslos geworden war, der heimatlose Nomade ohne soziale Sicherheit, machte die Unangepassten und die Abweichenden zum Gegenstand seines Romans, als er mit Hiob das Leben des Außenseiters aller Außenseiter darbot: von Gott selbst ausgesondert, von der Welt verlassen, sich von Gott betrogen fühlend und desillusioniert sitzt der biblische Hiob auf einem Haufen Asche und der Hiob des 20. Jahrhunderts in einem New Yorker Hinterstübchen. Er stellt sich die Frage, was aus einem zum Außenseiter geborenen und gemachten Ostjuden in den Gesellschaften des Ostens und des Westens von 1930 wird. Der Kern des Romans ist die Zuwendung seines Schöpfers zum Schicksal des konkreten Einzelmenschen. 307 Über die Hiob-Analogie in diesem Werk gibt Bronsen die Erklärung, dass sich der Roman, um der Fabel Mustergültigkeit zu verleihen, im breiten Bogen seines Werdegangs an den biblischen Hiob anlehnt, und an einigen Stellen große Ähnlichkeiten im Wortgebrauch mit der „Vorlage“ zeigt. Aber anders als der biblische Hiob lebt Mendel Singer nicht im Überfluss und nichts an ihm zieht besondere Beachtung an. Er muss aber auch als ein auserwählter Heimgesuchter, als ein leidender Mensch die Schläge Gottes ertragen, ohne zu wissen, weshalb er sie erhält. Diese Schläge dauern solange an, bis er an Gott verzweifelt und sich ihm widersetzt. 308
302
Bronsen, S. 382. Hiob, S. 7. 304 Hiob, S. 7. 305 Hüppauf, S. 35. 306 Hüppauf, S. 35. 307 Vgl. Hüppauf, S. 36f. 308 Vgl. Bronsen, S. 382. 303
54
Thematik und Sprache des Romans Hiob beinhaltet die Geschichte eines wolhynischen Cheder-Lehrers namens Mendel Singer. Dieser „war fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich, ein ganz alltäglicher Jude“ 309. Mendel Singer ist der von Gott verlassene, leidende Mensch; herausgehoben einzig durch die Dichte des Unglücks in seinem Leben. Die Entfremdung in der eigenen Heimat, die Assimilation der Söhne an das Fremde, die Gefahr, die die Tochter Mirjam bedroht, weil sie sich den Kosaken hingibt, die Krankheit des jüngsten Kindes Menuchim, der als Epileptiker geboren ist, die Vereinsamung in der Ehe und die Lustlosigkeit zwischen Mendel und seiner Frau Deborah und letztendlich der Verlust der Heimat und infolgedessen der ganzen Familie zehren den Glauben Mendel Singers auf, der in seinem Glauben einen Heimatersatz gefunden hatte, und er sagt sich von Gott los. In der ganzen Geschichte spürt man eine Art Erwartung auf die Erfüllung der Prophezeiung eines Wunderrabbis, auf
dessen Mittlerschaft zwischen Gott und
Mensch Deborah vertraute. Sie pilgert zu ihm in das Nachbardorf, um ihn um Gesundheit für Menuchim zu bitten. Seine Prophezeiung sagte: Menuchim, Mendels Sohn, wird gesund werden. Seinesgleichen wird es nicht viele geben in Israel. Der Schmerz wird ihn weise machen, die Hässlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark. Seine Augen werden weit sein und tief, seine Ohren hell und voll widerhall. Sein Mund wird schweigen, aber wenn er die Lippen auftun wird, werden sie Gutes künden. Hab keine Furcht und geh nach Haus! 310
Am Ende des Romans geht diese Prophezeiung in Erfüllung, indem das Wunder in der Verkörperung des gesunden Menuchims zutage tritt, der den Vater gesucht und gefunden hat und ihn mit in die Heimat nehmen möchte. Die Schlichtheit der Fabel wurde in der Literaturwissenschaft oft als Simplizität verkannt.
Esther Steinmann meint: „die Schönheit der Sprache, die Grazie der
Darstellung, der ‚Charme der Unschuld’ 311 scheinen einem Urteil Vorschub zu leisten, das geradezu stereotyp die Hiob-Rezeption geprägt hat“ 312; stellvertretend dafür könnte man hier die Worte Hermann Levin Goldschmidts zitieren:„Das ist ein rührendes, sehr schönes, aber auch sehr harmloses Buch im Sinne der seit vielen 309
Hiob, S.7. Hiob, S. 14. 311 Reich-Ranicki, Marcel: Joseph Roths Flucht ins Märchen. In: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg): Nachprüfung. Aufsätze über deutsche Schriftsteller von gestern. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1977, S. 227. 312 Steinmann, S. 29. 310
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Jahrhunderten verbreiteten Hiobsgeschichten von einem vielversprechenden Anfang und dann niederschmetternden Lebenslauf, für den sich aber zuletzt alles zum Guten wendet“ 313.Aber diese Einfachheit verbirgt in sich eine andere Dimension, die von vielen sensibleren Lesern entdeckt worden ist. Stefan Zweig schreibt in einem Zeitungsartikel über Hiob: „Man schämt sich nicht […] sentimentalisch erschüttert zu sein. [man] erlebt, statt zu lesen“. 314 Das hängt im Grunde genommen von der literarischen Genialität Roths ab, den Stoff so zu gestalten, dass er dem Leser zu Herzen geht. Roth ist es gelungen in einem Stil und einer Sprache der Einfachheit diese Wirkung zu erzielen. Esther Steinmann schreibt zu diesem Punkt: Nur allzu bereitwillig ergibt man sich dem Zauber dieser Prosa, der Suggestion von Einfachheit und Transparenz, der Schwerkraft einer Leichtigkeit, die das Romangeschehen schließlich in die märchenhaften Fernen des Unglaubhaften zu entrücken scheint. […] Die Originalität des Roth’schen ›Hiob‹ gründet dann nicht länger nur in seinem ästhetischen Wert als ›sprachliches Kunstwerk‹, vielmehr werden sich überdies Besonderheiten der Struktur ausmachen lassen, die auch die Architektonik des Romans als kunstvoll, eigenwillig und durchaus nicht ›harmlos‹ erweisen. 315
Roth findet seine Heimat in der Sprache, wie er bei der Besprechung eines Buches von Hermann Kesten schreibt: „Das Vaterland des echten Schriftstellers ist seine Sprache“. 316 In dieser Heimat geht er frei und vertraut einher wie seine Bauern in den galizischen und russischen Dörfern. 317 Hermann Kesten äußert sich über die Sprache Roths in Hiob wie folgt: „[…] und er spricht in kleinen und kurzen Sätzen wie ein Kind, wie ein Neger, wie ein gutes Gesetz, wie ein Gebet“ 318, und nur diejenigen können in dieser Art sprechen, die der Sprache mächtig sind; Hermann Kesten schreibt: Joseph Roth hat die Klarheit eines klassischen Stils. Eine strikte Einfachheit, aber die Einfachheit der bedeutenden Rede, die einfache Bedeutendheit derer, die zu viel oder zu nachdrücklich zu sagen haben, […] es ist die Sprache der von der reinen Idee Besessenen, wobei man wissen muss, dass diejenigen, die anscheinend zu viel zu sagen haben, Menschen sind, die nur einer Sprache mächtig sind, […] Sein neuester, sechster Roman, Hiob, schien von der Gruppe seiner ersten Romane abzuweichen. Der bisher analysierende Stil ward malerisch, die einzelnen Szenen, früher wie Radierungen, waren
313
Goldschmidt, Hermann L.: Hiob im neuzeitlichen Judentum. In: Karl Kerényi(Hrsg.) Weltgespräch. Weltliche Vergegenwärtigungen Gottes: zum Problem der Entmythologisierung. Herder. Freiburg 1967, S. 41f. 314 Zweig, Stefan: Der Roman Hiob von Joseph Roth. In: Kölnische Zeitung, 26.10.1930. 315 Steinmann, S. 30. 316 Roth, Joseph: Panoptikum. In: Hermann Kesten (Hrsg.): Werke in drei Bänden. Bd. III. Kiepenheuer & Witsch. Köln-Berlin 1956. S. 383. 317 Vgl. Hiob, S. 27. 318 Kesten, Hermann: Der Schriftsteller Joseph Roth. In: Text + Kritik, München 1982, S. 7-10, hier S. 7.
56
hier farbig wie Gemälde. Die geschmeidige Präzision einer stählernen Prosa verwandelt sich in die farbenschimmernde Melodie einer legendenhaften Poesie. 319
Die Hiob-Analogie und die Nachahmung des biblischen Stils verstärken die Vermutung, dass „Das Buch Hiob“ des Alten Testaments Vorlage und sprachliche Anregung für Roth gewesen ist. Die feierliche, zum Teil poetische Ausdrucksweise der biblischen Quelle findet bei Roth im Satzbau und im sprachlichen Rhythmus ihren Widerhall. 320
2
Die Motive der Heimat im Hiob-Roman
Unter anderen kann man das untergehende Ostjudentum, das ostjüdische Schtetlleben, die ostjüdische Heimatlosigkeit und ihre Suche nach einer möglichen Heimat ebenfalls als Hauptthemen des Hiob hervorheben. Roth zeigt in seinem Buch das Leben der Ostjuden, die Auswanderung nach Amerika und deren Versuch, in diesem neuen Land eine Existenz aufzubauen. In Hiob wird aus der Existenzfrage eines einzelnen Menschen die Schicksalsfrage des ostjüdischen Volkes. Die nähere, genauere Analyse der Darstellung des Heimatmotivs im Hiob-Roman ist die Aufgabe dieses Kapitels. Es soll untersucht werden, wie die Heimat mythisiert wird; die Heimat, die nur im Traum verwirklicht werden konnte; die Sehnsucht nach einer heilen Welt, die nicht mehr existierte und nie mehr existieren konnte; eine Heimat, die es nie gab. Zum Schluss soll das Ergebnis erreicht werden, dass in Hiob nicht von einer Möglichkeit der ostjüdischen Heimat die Rede ist, sondern eher von deren Unmöglichkeit; und gerade deswegen wird in der vorliegenden Arbeit von der mythisierten Heimat gesprochen. Im Folgenden werden die wichtigsten Bestandteile analysiert, aus denen sich der Heimatbegriff in Hiob zusammensetzt.
2.1
Das Schtetl: der Ort der Verfremdung
Joseph Roth selbst wurde in der galizischen Stadt Brody, an der äußersten östlichen Grenze des Habsburgerreiches geboren. Diese Stadt war nur wenige Kilometer von der
319 320
Kesten, S. 7. Vgl. Eckhoff, Astrid: Joseph Roth: Hiob. Eine Interpretation. Staatsexamenarbeit. Bergen 1987, S. 51.
57
russischen Grenze entfernt. 321 Brody - ab einem gewissen Zeitpunkt an von Roth verhasst - lag also an der Peripherie des großen österreichischen Reiches und fern von der Hauptstadt der Monarchie, Wien. Die Völkermischung und Sprachenvielfalt seines Geburtsortes hat ihm das Milieu, die Atmosphäre und die Gestalten für viele seiner wichtigsten Romane geliefert. Wie oben erwähnt, verleugnete Roth seinen Geburtsort bereits bei seinem ersten Auslandsaufenthalt. Er veränderte den Namen und sagte, er sei in Szaby, Schwaby oder Schwabendorf geboren. 322 In den meisten Werken Joseph Roths sind die Schauplätze auf der österreichischen Seite der Grenze. In Hiob aber liegt das Städtchen auf der russischen Seite der Grenze, nämlich das wolhynische Schtetl Zuchnow bei Dubno in Russland. Astrid Eckhoff schreibt in ihrer Interpretation zum Hiob- Roman: Die geographische Entfernung zwischen Dubno und Brody beträgt etwa 50 Kilometer. Weil die Grenze sich nicht geographischen Abschnitten fügen kann, sondern mitten durch ein endloses Flachland verläuft, kann man das Land auf beiden Seiten als ein Ganzes betrachten. 323
Jedenfalls, ob Brody oder Swaby, ob Zloczow oder Zuchnow, ob österreichisch oder russisch, ob erfundene oder wirkliche geographische Namen, sie sind alle Beispiele für die ostjüdischen Schtetl in einer Gegend, die Joseph Roth sehr vertraut war. Genauso war Zuchnow Mendel Singer vertraut. Das Rothsche Schtetl sollte eine ideale Lebensform sein, jenseits allen technisch-zivilisatorischen Zerfalls, deren Werte erst nach ihrer Zerstörung geschätzt wurden. 324 Es handelt sich um ein winziges jüdisch-slawisches Städtchen, das von einer düsteren andauernden Armut gekennzeichnet ist: Das Leben verteuerte sich von Jahr zu Jahr. Die Ernten wurden ärmer und ärmer. Die Karotten verringerten sich, die Eier wurden hohl, die Kartoffeln erfroren, die Suppen wässerig, die Karpfen schmal und die Hechte kurz, die Enten mager, die Gänse hart und die Hühner ein Nichts. 325
In dieser bedrückenden Armut lebt Mendel Singer mit seiner Familie in einem kleinen Haus, das so zentral und entfremdet steht, als wäre es das einzige in ganz Zuchnow. Es gibt aber auch andere Menschen in diesem Schtetl, also „nicht weniger als hundertsechsundsiebzig“ 326 Juden. Sie leben alle in einer Gasse, die als „die Gasse der
321
Vgl. Eckhoff, S. 1f. Vgl. Bronsen, S. 32. 323 Eckhoff, S. 2. 324 Vgl. Hüppauf, S. 37. 325 Hiob, S. 8. 326 Hiob, S. 10. 322
58
Juden“ 327 bezeichnet wird. In dieser Gasse steht das Haus der Familie Singer in der Reihe der jüdischen Häuser als das letzte. 328 Die Lage des Hauses und die Erwähnung der Judengasse könnte die isolierte Situation der Familie Singer und im Allgemeinen die Absonderung der ostjüdischen Gesellschaft in den russisch-galizischen Städten zum Ausdruck bringen. Es wird in einer Szene beschrieben, wie die Gasse der Juden gegen Abend lebendig wird: Die schmale Gasse verdunkelte sich vollends und belebte sich gleichzeitig. Die dicke Frau des Glasermeisters Chaim und die neunzigjährige Großmutter des längst verstorbenen Schlossers Jossel Kopp brachten ihre Stühle aus den Häusern, um sich vor den Türen hinzusetzen und die frische Abendstunde zu genießen. 329
Mendel Singer und seine Familie nehmen an dieser Lebendigkeit nicht teil. Sie leben unter den Juden, aber isoliert und verfremdet. Es scheint so, dass sie keiner menschlichen Kontakte bedürfen. Ein wichtiger Bestandteil des Schtetls ist der Markt. Auf dem Markt finden Jahrmärkte statt, insbesondere Schweinemärkte: „[…]es ist Donnerstag und Schweinemarkt“ 330. Zu diesen Jahrmärkten kommen die Bauern aus der Umgebung, und dort finden die meisten Geschäfte zwischen ihnen und den Städtern statt. 331 Zwar leben die Bauern und die Juden in den Schtetlech zusammen, aber sie sind sich äußerlich fremd und innerlich fern. Die Juden sind für Bauern immer unter Verdacht. Zum Beispiel als die Söhne Mendel Singers aus Targi, wo sie als Soldaten aufgenommen wurden, nach Hause zurück fahren und eine Strecke zu Fuß wandern müssen, schauen die Bauern die zwei schwarz angezogenen Juden wie fremde Erscheinungen im Schneefeld an, obwohl sie mit diesen Menschen ihren Alltag verbringen: „Manchmal blieben sie stehen und sahen sich nach den zwei schwarzen Männern um, wie nach ungewohnten Erscheinungen, obwohl ihnen der Anblick von Juden nicht fremd war“ 332. Auch der kleine jüdische Friedhof ist ein wichtiges Merkmal des Schtetls. In Hotel Savoy lässt Roth den jüdischen Millionär Bloomfield sagen: „Ich bin ein Ostjude, und wir haben überall dort unsere Heimat, wo wir unsere Toten haben“ 333 Der Friedhof ist ein Ort, zu dem Deborah, die Frau von Mendel Singer „durch Regen und Sonne“
327
Hiob, S. 10. Hiob, S. 10. 329 Hiob, S. 46. 330 Hiob, S. 51. 331 Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S. 148. 332 Hiob, S. 27. 333 Roth, Joseph: Hotel Savoy. In: Hermann Kesten (Hrsg.): Joseph Roth. Werke in drei Bde. Bd. I. Kiepenheuer & Witsch. Köln 1975, 876. 328
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pilgert. 334 Sie sucht dort Hoffnung und Ruhe: „Sie schlug mit dem Kopf gegen die moosigen Sandsteine, die aus den Gebeinen ihrer Väter und Mütter wuchsen. Sie beschwor die Toten, deren stumme tröstende Antworten sie zu hören vermeinte“ 335. In diesem Städtchen lebt Mendel Singer ein entfremdetes Leben unter den jüdischen Nachbarn. Er verbringt seine Zeit entweder zu Hause bei seiner Familie, oder geht zum Bethaus. Im Bethaus verbringt er viel Zeit. Anscheinend ist das Bethaus der einzige Ort, wo er sich heimisch und Zuhause fühlt. Eigentlich ist er nur in der Welt seines Glaubens wirklich aufgenommen und kenn nur dort Heimat finden. 336 Das kleine russische Schtetl Zuchnow liegt in der flachen Landschaft Russlands, wo den Juden eigentlich eine Heimatstätte gegeben sein sollte, aber in der Tat ist es wiederum nur ein weiterer Aspekt für die Entfremdung dieser Menschen.
2.2
Landschaft und Natur
Die dargestellte Landschaft im Hiob ähnelt den Landschaften in anderen Geschichten Joseph Roths. 337 Das Land ist flach und agrarisch. Roth lässt den Erzähler in einer Szene, wo Mendels Söhne Schemarjah und Jonas aus der Kreisstadt nach Hause zurückfahren, wohin sie zur Kontrolle berufen wurden, die Verschiedenheit ihrer Weltanschauungen durch die Wahrnehmung der Landschaft äußern: „Ungeheuer weit erschien Schemarjah die Welt. Flach war sie in Jonas Augen, sie langweilte ihn. Der Zug fuhr glatt durch das flache Land, wie ein Schlitten über Schnee. Die Felder lagen in den Fenstern“ 338.Außerdem ist das Land ein sumpfiges Flachland: Millionen Grillen umzirpten es unaufhörlich, der wispernde Chor der Nacht. Sonst störte sie keine Stimme. Flach war das Land, der gestirnte Horizont zog einen vollendet runden tiefblauen Kreis darum, der nur im Nordosten durch einen hellen Streifen unterbrochen war. Man roch die ferne Feuchtigkeit der Sümpfe, die sich im Westen ausbreiteten, und den langsamen Wind, der sie herübertrug. 339
Diese Landschaft ist dem Ostjuden Mendel Singer fremd. Er führt sein Leben wie in einem Ghetto. Fremd ist ihm die Natur, fremd die Landschaft. Roth hat schon drei Jahre vor dem Erscheinen des Hiob in seinem Essay Juden auf Wanderschaft diese Fremdheit so formuliert: „Der Ostjude sieht die Schönheit des Ostens nicht. Man 334
Hiob, S. 11. Hiob, S. 11. 336 Vgl. Eckhoff, S. 22. 337 Vgl. Roth: Juden, S. 24. 338 Hiob, S. 23f. 339 Hiob, S. 37f. 335
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verbot ihm, in Dörfern zu leben, aber auch in großen Städten. In schmutzigen Straßen, in verfallenen Häusern leben die Juden“ 340. Und er bemerkt weiter: „Die große Mehrzahl kennt den Boden nicht, der sie ernährt“ 341. In Hiob läßt Roth den Fuhrmann Sameschkin diesen Aspekt der Entfremdung in einer direkten Frage an Mendel Singer aussprechen, als die beiden wegen eines Unfalls die Nacht unter freiem Himmel in der Natur verbringen: „Siehst du, wie schön das Land ist?“ 342. Diese Frage deutet auf die Lebenslage Mendel Singers hin. Er lebt sein Ghetto-Dasein im russischen Schtetl Zuchnow weiter. Die Natur und die Erde der Umgebung haben keine große Wirkung auf seinen Alltag, sie bleiben ihm fremd. Sidney Rosenfeld stellt diese Fremdheit folgendermaßen dar: „So wie er seinen kargen Unterhalt durch den Bibelunterricht verdient, so werden seine Tage und Nächte allein durch das Glaubensgebot bestimmt“ 343. Wolfgang Müller-Funk macht in seiner Roth-Biographie folgende Bemerkung: Was für Roth die Tragik des Ostjudentums ausmacht, ist, dass es die Schönheit seiner unmittelbaren Heimat nicht erkennt, wobei Heimat hier nicht im Sinne eines staatlichen Territoriums zu verstehen ist. Worauf Roth abzielt, ist eine Geborgenheit, die sich der Vielgesichtigkeit von Landschaft und Gesellschaft und der (scheinbar) vorgeschichtlichen Archaik des Lebens verdankt. 344
In den Darstellungen Roths wird ein starkes Gefühl für die Natur spürbar, aber auch eine ungeheuere Angst vor den in ihr verborgenen Gefahren. Historisch gesehen könnte schlussfolgern, dass dieses Gefühl des Fremdseins und Grauens des Ostjuden in der Landschaft das Resultat ihrer Heimatlosigkeit ist. 345 Besonders charakteristisch kommt an einer anderen Stelle des Romans die Entfremdung der Ostjuden von der Natur und Landschaft zum Ausdruck: in der Darstellung der Versammlung der Juden von Zuchnow auf einem freien Feld, wo sie nach Vorschrift die Geburt des Mondes, quasi den Neumond begrüßen: Und sie hasteten, stumm und schwarz, in regellosen Grüppchen, hinter die Häuser, sahen in der Ferne den Wald, der schwarz und schweigsam war wie sie, aber ewig in seinem verwurzelten Bestand, sahen die Schleier der Nacht über den weiten Feldern und blieben schließlich stehn. Sie blickten zum Himmel und suchten das gekrümmte Silber des neuen Gestirns, das heute noch geboren wurde, wie am Tag seiner Erschaffung. Sie schlossen sich zu einer dichten Gruppe, schlugen ihre Gebetbücher auf, weiß schimmerten die Seiten, schwarz starrten die eckigen Buchstaben vor ihren Augen in 340
Roth: Juden, S. 8. Roth: Juden, S. 8. 342 Hiob, S. 60. 343 Rosenfeld, Sidney: „Hiob“ - Glaube und Heimat im Bild des Raumes. In: David Bronsen (Hrsg.): Joseph Roth und Tradition. Darmstadt 1975, S. 227-240, hier S. 228. 344 Müller-Funk, S. 124. 345 Vgl. Nürnberger, S. 39. 341
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der nächtlichen bläulichen Klarheit, und sie begannen, den Gruß an den Mond zu murmeln und die Oberkörper hin und her zu wiegen, dass sie aussahen wie von einem unsichtbaren Sturm gerüttelt. Immer schneller wiegten sie sich, immer lauter beteten sie, mit kriegerischem Mut warfen sie zu dem fernen Himmel ihre unheimischen Worte. Fremd war ihnen die Erde, auf der sie standen, feindlich der Wald, der ihnen entgegenstarrte, gehässig das Kläffen der Hunde, deren misstrauisches Gehör sie geweckt hatten, und vertraut nur der Mond, der heute in dieser Welt geboren wurde wie im Lande der Väter, und der Herr, der überall wachte, daheim und in der Verbannung. 346
Roth versucht mittels der sinngebenden Landschaftsbeschreibung die Heimatlosigkeit der Ostjuden am genauesten zu verdeutlichen. Er vergleicht die Juden mit dem fernen Wald, der wie sie „schwarz und schweigsam“ ist, aber der russische Wald ist „ewig in seinem verwurzelten Bestand“ 347, und diese Kontrastierung gibt zu verstehen, dass die Juden dagegen entwurzelt sind und auf dieser fremden Erde nicht zuhause. Nach dieser Zeremonie und nachdem die anderen Juden weggegangen sind, fühlt sich Mendel matt und bekommt auf einmal Lust, „sich auf den Boden zu legen, und hatte Angst vor der unbekannten Erde und dem gefahrvollen Gewürm, das sie höchstwahrscheinlich beherbergte“ 348. Zum ersten Mal hat Mendel das Bedürfnis, sich mit der fremden Erde zu vereinigen, aber die Ängste sind viel größer als dieser Wunsch, vor allem heulten die Hunde „und erschreckten Mendel“ 349. Die heulenden Hunde „zerrissen den Frieden der Erde und vergrößerten Mendel Singers Unruhe“ 350. Er kommt sich unbeschreibbar einsam und fremd in dieser Gegend vor, und obwohl er nur fünf Minuten von den anderen jüdischen Häusern entfernt ist, fühlt er sich trotzdem bedroht von unbekannten Gefahren. 351 Er fühlt sich wie ein Gefangener der Natur, von allen Seiten bedroht: „er wandte sich nach Norden: da atmete finster der Wald. Rechts dehnten sich viele Werst weit die Sümpfe mit den vereinzelten silbernen Weiden. Links lagen die Felder unter opalenen Schleiern“ 352. Als er die Stimme zweier Liebenden hört, die durch das Getreide gingen, bekommt er eine Art instinktive Angst, weil die beiden bald aus dem Feld treten könnten. Da überwindet er „seinen furchtsamen Ekel vor dem Gewürm der Erde und legte sich sachte hin, den Blick auf das Getreide gerichtet“ 353. Diese Szene kann die Situation der
346
Hiob, S. 46f. Hiob, S. 46. 348 Hiob, S. 47. 349 Hiob, S. 47. 350 Hiob, S. 47. 351 Vgl. Hiob, S. 47. 352 Hiob, S. 47. 353 Hiob, S. 48. 347
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Ostjuden unter den unbekannten Gefahren der Pogrome in russischen Gebieten treffend verdeutlichen. Das Fremdsein der Ostjuden in der Landschaft ist die Folge ihrer Heimatlosigkeit. Dies wird ganz am Anfang des Romans, als die Söhne Mendel Singers aus der Kreisstadt Targi zurückkehren, bildhaft geschildert: Es schneite dichter und weicher, je weiter der Tag fortschritt, als käme der Schnee von der ansteigenden Sonne. Nach einigen Minuten war das ganze Land weiß. Auch die einzelnen Weiden am Weg und die verstreuten Birkengruppen zwischen den Feldern weiß, weiß, weiß. Nur die zwei jungen schreitenden Juden waren schwarz. Auch sie überschüttete der Schnee, aber auf ihren Rücken schien er schneller zu schmelzen. […] Je dichter es schneite, desto schneller gingen sie. 354
Die Landschaft versteckt sich hinter dem Schleier des Schnees und ist weiß. Sidney Rosenfeld meint, dass Roth das Adjektiv weiß wiederholt, um dessen Kontrastkraft mit den zwei schwarzen jungen Juden – schwarz sind ihre Gewänder - zu erhöhen. 355 In diesem Bild kommt die absonderliche Situation der Juden am deutlichsten zum Ausdruck. Die schwarzangezogenen Juden verhalten sich in dieser weißen Landschaft anders als die im Land beheimateten Bauern, die ihnen langsam entgegen kommen: „vertraut mit dem Schnee gingen sie in ihm einher, wie in einer Heimat. Manchmal blieben sie stehn und sahen sich nach den zwei schwarzen Männern um, wie nach ungewohnten Erscheinungen, obwohl ihnen der Anblick von Juden nicht fremd war“ 356.Den Bauern bedeutet diese Landschaft die vertraute Heimat und den Juden die Fremdheit, Absonderlichkeit. Dieses Bild manifestiert das Unbehaust-Sein der Juden sehr stark. Als wesentliche Merkmale der heimatlichen Landschaft, die Roth in den meisten seiner Werke als Leitmotiv verwendet, kann man die verschiedenen Varianten einer lyrischen Formel erwähnen, die zum Beispiel im Hiob den anbrechenden Morgen begleitet: „Ein fernes Trillern von Millionen Lerchen erhob sich draußen, über dem Haus, unter den Himmeln. Schon drang die anbrechende Hitze des jungen Tages in den morgendlich verdunkelten Raum“ 357; „Nur ein Sommermorgen brach an, nur Lerchen trillerten in unerreichbarer Ferne“ 358; „Millionen Lerchen trillerten über dem Haus, unter dem Himmel“ 359. Die unbestimmte, unerreichbare „Ferne“, die so oft mit der unvorstellbaren Höchstzahl – „Millionen“ Lerchen – verwendet wird, bezeichnet einen in seiner Tiefe 354
Hiob, S. 26 Vgl. Rosenfeld: Glaube und Heimat, S. 230. 356 Hiob, S. 27. 357 Hiob, S. 18f. 358 Hiob, S. 19. 359 Hiob, S. 50. 355
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abgegrenzten Raum „über dem Haus, unter den Himmeln“. Rosenfeld interpretiert die erwähnten Raumbestimmungen folgendermaßen: Die erste verankert das Leben des Hauses – in dem die Familie Singer wohnt – fest in dem Mittelpunkt des Geschehens. Es ist beinahe, als wäre es, da im Roman das Städtchen selbst kaum erwähnt wird, das einzige Haus. Die zweite Bestimmung („unter den Himmeln“), obwohl sie jedem Versuch einer Präzisierung sich entzieht, setzt dem Raum doch eine obere Grenze. Sie meint deutlich das Firmament selbst, das Weltall, welches sich durch das unermessliche Blau des Tages und der Nächte kundtut. Der Ostjude nun, auf dessen täglichem Leben die Enge des Ghettos bedrückend lastet, erstrebt das nur durch den tiefsten Glauben Mögliche, nämlich im Pathos des Gebets sowohl die Grenze des Ghettos als sogar auch des Weltalls zu durchbrechen, um seinen fern dahinter thronenden Gott zu erreichen. Ihm, „der überall wachte, daheim und in der Verbannung“, gilt der Mondsegen der Juden von Zuchnow. Der traditionelle Vorgang, wie aus der stark mitfühlenden Beschreibung klar hervorgeht, ist weit mehr als die Wiederholung einer altgewohnten Formel; durch die Inbrunst des Gottsuchens wird er zum gültigen Ausdruck einer Existenz, die von dem immer gegenwärtigen Bewusstsein der Heimatlosigkeit geformt wird. 360
Dieser unendliche Himmelsraum scheint die einzige Landschaft zu sein, in der die heimatlosen Ostjuden Trost finden, und deshalb ist sie auch die einzige von ihnen wahrgenommene.
2.3
Familie
Im Gegensatz zu den frühen Romanen Joseph Roths, in denen junge alleinstehende Männer, die Heimkehrer aus dem Krieg, entwurzelte und herumirrende Menschen, die Protagonisten gewesen waren, ist die Hauptfigur des Hiob- Romans, Mendel Singer, ein Ehemann und Vater, der in seiner russischen Heimat, Zuchnow, und in der jüdischen Tradition fest verankert ist: „eine Frau und drei Kinder musste er kleiden und nähren. (mit einem vierten ging sie schwanger)“ 361. Obwohl die Familie im traditionellen Sinne ein Symbol fürs „Zuhausesein“ ist 362, sollte es in der vorliegenden Arbeit geschildert werden, wie sich alle Familienmitglieder außer dem kranken Menuchim in ihrer eigenen Heimat und Familie, in ihrem eigenen Haus entfremdet fühlen.
360
Rosenfeld: Glaube und Heimat, S. 232. Hiob, S. 7. 362 Vgl. Eckhoff, S. 20f. 361
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2.3.1 Mendel und Deborah Mendel Singer ist ein einfacher, alltäglicher Jude. Von Beruf ist er Lehrer. „In seinem Haus, das nur aus einer geräumigen Küche bestand, vermittelte er Kindern die Kenntnis der Bibel. Er lehrte mit ehrlichem Eifer und ohne aufsehenerregenden Erfolg. Hunderttausende vor ihm hatten wie er gelebt und unterrichtet“ 363. Deborah, seine Frau, leidet unter dem sozialen Status ihres Mannes. Das kann man zum Beispiel aus einer Szene erfahren, in der sie ihn wegen seiner Ergebenheit gegenüber dem Schicksal tadelt und sagt: „Du bist so töricht geworden, weil du Kinder unterrichtest! Du gibst ihnen dein bisschen Verstand, und sie lassen bei dir ihre ganze Dummheit. Ein Lehrer bist du, Mendel, ein Lehrer!“ 364. Gershon Shaked schreibt in seinem Artikel: Das Wort ‚Lehrer’ ist hier eine ‚Übersetzung’ des jiddisch-hebräischen Wortes Melamed, was soviel wie Volksschullehrer bedeutet, also Lehrer der untersten Schulklassen. In der Soziologie der Juden ist dieser Beruf der schlechtest bezahlte und sozial niedrigste. Das Wort wird sehr oft als Synonym für Schlemasel (Unglücksrabe, Pechvogel) gebraucht. […] Mendel Singer ist also ein verachteter, sozial tiefstehender Melamed (nicht »Lehrer«) 365.
Deborah wendet sich nicht nur gegen Mendels Beruf, sondern auch gegen seine Traditionsverbundenheit. Mendel denkt: „Gewiss, er war ein Lehrer! Auch sein Vater war ein Lehrer gewesen, sein Großvater auch. Er selbst konnte eben nichts anders sein. Man griff also sein Dasein an, wenn man seinen Beruf tadelte, man versuchte ihn auszulöschen aus der Liste der Welt. Dagegen wehrte sich Mendel Singer“ 366. Mendel Singer ist hier, nach Claudio Magris, vor allem Vaterfigur, jedoch „nicht als Symbol einer bestimmten und folglich vergänglichen Generation, sondern als Symbol einer klassischen, per definitionem zur Dauer bestimmten Humanität“ 367. Ja, Vater im Sinne des patriarchalischen Prinzips. 368 In einer Szene, in der seine Kinder über den Korb von Menuchim, dem kranken Kind, herfallen, und ihn heftig pendeln lassen, ergreift Mendel mit beiden Händen seine Söhne und kneift sie in die Ohren 369; er schlägt sie mit seinem Hosengurt so heftig, als „gehörte das Leder noch zu seinem Körper, als wäre es die natürliche Fortsetzung seiner Hand, fühlte Mendel Singer jeden
363
Hiob, S. 7. Hiob, S. 30. 365 Shaked, S. 283f. 366 Hiob, S. 31. 367 Magris: Weit von wo, S. 154. 368 Vgl. Magris: Weit von wo, S. 159. 369 Vgl. Hiob, S 14. 364
65
klatschenden Schlag, der die Rücken seiner Söhne traf“ 370. Er ist ein typischer Tyrann, für dessen Rolle seine Gesellschaft keinen Raum mehr hat. Bernd Hüppauf meint: Aus diesem Anachronismus gewinnt der Roman einen entscheidenden Teil seiner ironischen Brechung. Erst nachdem das Ende der geschlossenen ostjüdischen Welt, in der das individualistische Ideal des frühbürgerlichen Humanismus sich länger unverzerrt erhalten hatte als im Westen, unausweichlich gekommen war, wurde die Überhöhung dieses Ideals zum Typus des Patriarchen möglich. Mendel Singer vertritt den in seiner eigenen Welt anachronistisch gewordenen Anspruch des autonomen Subjekts durch den Idealtyp des biblischen Patriarchen. 371
Esther Steinmann bezieht sich auf eine Dissertation über „Joseph Roth und das Judentum“ von Hansotto Ausserhofer und schreibt, dass seiner Auffassung nach die Personen des Romans verschiedene jüdische Existenzweisen repräsentieren: Vertritt Mendel Singer in seinem unbeirrbaren Festhalten an den göttlichen Weisungen der Tora und seinem unerschütterlichen religiösen Fatalismus die jüdische Orthodoxie, so Deborah Singer in ihrem Vertrauen auf die Mittlerschaft des Wunderrabbi und ihrer durchaus dem gesunden Menschenverstand entgegenkommenden Frömmigkeit den Chassidismus. 372
Nach
Eva
Raffel
auseinanderstrebendende
manifestieren Strömungen
Mendel des
Singer
gefährdeten
und
Deborah
Ostjudentums,
zwei nämlich
Orthodoxie und Assimilation. 373 Klaus Hödl ist der Auffassung, dass die Assimilation eines Volkes immer bei den Frauen beginnt: „Während der Vater sich in Sorgen um die ‚Jiddischkeit’ seiner Kinder erging und voller Gram deren Loslösung vom Judentum unter dem Einfluss der Schule beobachtete, war die Mutter hinter seinem Rücken der treibende Faktor einer solchen Entwicklung“ 374. Raffel meint, dass der Grund für diese Erscheinung an der unterschiedlichen Schulbildung der Jungen und Mädchen lag. Die Jungen sollten sich nur mit Tora beschäftigen, aber die Mädchen waren vom religiösen Studium befreit und besuchten in größerem Ausmaß als die Jungen die öffentlichen Schulen. 375 Die Entfremdung zwischen Mendel und Deborah verkörpert sich in der Geburt ihres kranken Kindes Menuchim. 376 Mark Zborowski und Elisabeth Herzog schreiben in Das
370
Hiob, S 14. Hüppauf, S. 43. 372 Steinmann, S.31. 373 Vgl. Eva Raffel, S. 208 . 374 Hödl, S. 224. 375 Vgl. Raffel, S 208. 376 Vgl. Raffel, S 208. 371
66
Schtetl: im Schtetl galt „ein Kind, das stumm, lahm, blind oder verunstaltet, also unnormal geboren wird, […] als Beweis der elterlichen Schuld“ 377. Die Schuld, die Mendel viel später erkannte, befindet sich von Anfang an in der Form einer nicht aufzulösende Disharmonie in der Familie. Die Sünde und die Schuld bestehen, wie Claudio Magris es zum Ausdruck bringt, „im langsamen fortschreitenden Dahinwelken der ehelichen Bindung, in der Ergebung in das Altern, das die Schönheit Deborahs abbröckeln lässt“ 378, und Mendel hat nicht gesehen: wie das Fleisch abbröckelte von den Wangen, schöngetünchter Mörtel von einer Wand, wie die Haut sich um die Nase spannte, um desto lockerer unter dem Kinn zu zerflattern, wie die Lider sich runzelten zu Netzen über den Augen und wie deren Schwärze ermattete zu einem kühlen und nüchternen Braun, kühl, verständig und hoffnungslos. 379
Es wird ihm erst bewusst, als die sinnliche Einheit zwischen ihm und seiner Frau in Verfall geriet, in einem entfremdenden Moment, als Deborah ihren gealterten Körper im Spiegel anschaut, und Mendel sie mit einem offenen Auge beobachtet; es wird plötzlich beiden bewusst, in welcher körperlichen Fremdheit sie zusammen leben. 380
Die
Erkenntnis, die plötzlich über Mendel kommt, dass Deborah ihm „untrennbar und auf ewig, aber unerträglich, quälend und ein bisschen auch gehasst“ 381 und seine Gebundenheit an sie wie die Gebundenheit an eine Krankheit ist 382, wird später als eine Sünde empfunden. Diese Sünde erkennt Mendel Singer erst im Exil nach dem Tode Deborahs. Er spricht mit seiner toten Frau: Du hast es gut, Deborah! […] Es ist nur schade, dass du keinen Sohn hinterlassen hast, ich selbst muss das Totengebet sagen, ich werde aber bald sterben, und niemand wird uns beweinen. Wie zwei kleine Stäubchen wurden wir verweht. Wie zwei kleine Fünkchen sind wir erloschen. Ich habe Kinder gezeugt, dein Schoß hat sie geboren, der Tod hat sie genommen. Voller Not und ohne Sinn war dein Leben. In jungen Jahren habe ich dein Fleisch genossen, in späteren Jahren habe ich es verschmäht. Vielleicht war das unsere Sünde. Weil nicht die Wärme der Liebe in uns war, sondern zwischen uns der Frost der Gewohnheit, starb alles rings um uns, verkümmerte alles und wurde verdorben. 383
Deborah verkörpert eine typische jüdische „Mamme“, den Urtyp der jüdischen Mutter, die nach Raffel, „sich um alles Irdische kümmern musste, während ihr Mann sich im
377
Zborowski, Mark & Herzog, Elisabeth: Das Schtetl. Die untergegangene Welt der osteuropäischen Juden. Beck. München 1992, S. 227. 378 Magris: Weit von wo, 131 379 Hiob, S. 30. 380 Vgl.Hiob, S. 18. 381 Hiob, S. 31. 382 Vgl. Hiob, S. 31. 383 Hiob, S. 98.
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Idealfall nur dem Torastudium widmete“ 384. Deborah wird von Roth folgendermaßen beschrieben: „Sie war ein Weib, manchmal ritt sie der Teufel. […] Viel zu gering war Mendel Singer in ihren Augen. Die Kinder warf sie ihm vor, die Schwangerschaft, die Teuerung, die niedrigen Honorare und oft sogar das schlechte Wetter“ 385. Ein ähnliches Gefühl hat auch Mendel. Er kann Deborahs Gesicht seit Jahren nicht mehr leiden und ihr Fleisch, das ihm einmal vertraut war, war ihm jetzt fremd. 386 Mendels Ergebenheit gegenüber Gott und seinem Willen gibt ihm einen starken Halt im irdischen Leben und ein inneres Zuhause, während Deborah diesen unmittelbaren Glauben an Gott nicht aufbringen kann; sie sucht Gott nicht in ihrem eigenen Innern und im Glauben, sondern in den Vermittlern des göttlichen Willen, und zwar nicht mit Ergebenheit, sondern mit Erwartung; sie erwartet die Einwilligung Gottes. Gott ist ihr fern und sie kann ihn nicht erreichen: Sie wagte nicht mehr Gott anzurufen, er schien ihr zu hoch, zu groß, zu weit, unendlich hinter unendlichen Himmeln, eine Leiter aus Millionen Gebeten hätte sie haben müssen, um einen Zipfel von Gott zu erreichen. Sie suchte nach toten Gönnern, rief die Eltern an, den Großvater Menuchims, nach dem der kleine hieß, dann die Erzväter der Juden, Abraham, Isaak und Jakob, die Gebeine Mosis und zum Schluss die Erzmütter. Wo immer eine Fürsprache möglich war, schickte sie einen Seufzer vor. Sie pochte an hundert Gräber, an hundert Türen des Paradieses. Vor Angst, dass sie morgen den Rabbi nicht erreichen würde, weil zuviel Bittende da waren, betete sie zuerst um das Glück, rechtzeitig vordringen zu können, als wäre die Gesundung ihres Sohnes dann schon ein Kinderspiel. 387
Eva Raffel meint, dass der Hauptgrund für die Entfremdung zwischen Mendel und Deborah gerade Deborahs innere Auflehnung gegen Mendels Orthodoxie und ihr eigener Wille zur Assimilierung sei. 388 Allein die Tatsache, dass Deborahs Mädchenname ‚Kossak’ ist, und Menuchim am Ende des Romans als ein völlig Assimilierter diesen Namen annimmt und nach Amerika kommt, so Raffel, „ruft unweigerlich Assoziationen an die Kosaken hervor. Wie die Kosaken seit der Katastrophe von 1648 389 physisch die größte Gefahr für das Ostjudentum darstellten, so bedeutet Assimilation in Roths Augen die größte seelische Bedrohung für den Fortbestand des ostjüdischen Volkes“ 390.
384
Raffel, S. 209. Hiob, S. 8. 386 Hiob, S. 46. 387 Hiob, S. 13. 388 Vgl. Raffel, 210 389 Siehe Kapitel „Historischer Kontext“ vorliegender Arbeit 390 Raffel, S. 210. 385
68
Am stärksten manifestiert sich die Gefahr der Assimilation und die darauf folgende Entfremdung in den Figuren von Mendel Singers Kindern, die sich von der jüdischen Tradition und Religion gänzlich losgesagt haben.
2.3.2 Die Kinder Mendel Singers
2.3.2.1 Jonas und Schemarjah
Die Zerstörung von Mendel Singers Familie und der Verlust der ostjüdischen Identität und Heimat kommen nicht von außen, nämlich durch die Auswanderung. Sie sind schon längst da, im Innern der Familie; in dem Weg der Kinder in die Assimilation; ja, der Zerfall der Familie setzt schon in der Kindergeneration ein. 391 Das zeigt sich schon am Anfang des Romans in einem Gespräch zwischen zwei Söhnen Mendel Singers, Jonas und Schemarjah, als sie im Zug aus Targi nach Hause zurückfahren. Da äußert Jonas, dass er Bauer und Soldat werden, betrunken sein und mit den Mädchen schlafen möchte. 392 Im Gegensatz zu ihm träumt Schemarjah vom Leben. Er will so sein, wie er ist, ein Jude wie sein Vater, nüchtern und kein Soldat. Auf die Frage seines Bruders, was das Leben sei, antwortet Schemarjah: Das Leben […] ist in großen Städten zu sehen. Die Bahnen fahren mitten durch die Straßen, alle Läden sind so groß wie bei uns die Gendarmeriekaserne, und die Schaufenster sind noch größer. Ich habe Ansichtskarten gesehen. Man braucht keine Tür, um in ein Geschäft zu treten, die Fenster reichen bis zu den Füßen. 393
Er will also auswandern, in die große Welt gehen und reich werden. Völlig anders als sein Bruder, der sich aus der jüdischen Tradition und Herkunft lösen möchte, hat Schemarjah noch Verbundenheit zu der Tradition seines Vaters. Nach der zu allem Unglück bestandenen Musterung beider durch die russische Militärkommission wandern die Brüder durch den schwarzen Tannenwald nach Hause. Von Zeit zu Zeit werden sie von einem „heimatlosen Windstoß“ begleitet, der aus „willkürlicher Himmelsrichtung“ 394 kommt. Eva Raffel meint: „Der drohende Militärdienst wird ihnen zwar äußerlich eine neue Heimat innerhalb der militärischen Ordnung bieten, aber ihre eigene Heimat, das Judentum, müssen sie verlassen“ 395. Ihre Verbindung mit
391
Vgl.Hüppauf, S. 42. Vgl. Hiob, S. 24. 393 Hiob, S. 24. 394 Hiob, S. 26. 395 Raffel, S. 211. 392
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dem Judentum ist der Vater. Mendel Singer scheint mit seinem eigenen Leben, das vor ihm auch seine Väter führten, zufrieden zu sein. Er ist die Verkörperung des Judentums und, so Raffel, vereint beides für die beiden Söhne: Judentum und Heimat. 396 Bernd Hüppauf meint, dass „westliche oder östliche Assimilation, schleichender oder rasanter sozialer Wandel, sozialistische oder kapitalistische Modernisierung […] gleichermaßen das Ende des Ostjudentums als Ideal einer geschlossenen Lebenswelt“ 397 bedeuteten, und Roth war sich dessen bewusst. Also verlassen die Söhne das Haus und die Eltern. Jonas geht gern zu den Zarensoldaten; er will nicht vom Militärdienst freikommen; er bleibt bei den Soldaten, und eines Vormittags verschwand Jonas. 398 Er arbeitet und lebt beim Führman Sameschkin bis zu seinem Militärdienstbeginn. Er lebt wie ein richtiger Bauer. „Er striegelte den Schimmel und den Braunen, schlief bei ihnen im Stall, sog mit offenen genießenden Nasenlöchern ihren beizenden Urinduft ein und den sauren Schweiß. Er […] trank Samogonka mit Sameschkin, war betrunken und befruchtete die Mägde“ 399 Jonas gibt seine Familie, ihre Tradition und das Judentum auf. „Man beweinte ihn zu Hause als einen Verlorenen, aber man vergaß ihn nicht. 400 Schemarjah verlässt das Land und floh nach Amerika. Die Entfremdung Schemarjahs von seiner Heimat wird in einer Szene deutlich, in der er sich anschickt, das Land zu verlassen. Er verlässt die Eltern, das Haus seiner Kindheit und die damit verbundenen Erinnerungen; „er versucht, in dem Augenblick, in dem er über die Schwelle tritt, das Haus und alle seine Angehörigen zu vergessen“ 401; man kann sagen, er trat über die Schwelle und überschritte damit eine Grenze, die zwischen Heimat und Heimatlosigkeit gezogen ist, zwischen Daheim und Fremde. Er wird von einem Schmuggler namens Kapturak geschmuggelt und der Bote Kapturaks zeigt ihm kurz vor seiner Abreise die Dörfer, die Landschaften und die Gehöfte; er deutet auf ferne Kirchtürme und nennt die Güter und die Gutsbesitzer. 402 „Er zweigte oft von der breiten Straße ab und fand sich auf schmalen Wegen in kürzerer Zeit zurecht. Es war, als wollte er Schemarjah noch schnell mit der Heimat vertraut machen, ehe der junge Mann auszog, eine neue zu suchen“ 403. Diese kurze Durchreise durch die Heimat säte das Heimweh für immer und 396
Vgl. Raffel, S. 212. Hüppauf, S. 42. 398 Vgl. Hiob, S. 35. 399 Hiob, S. 35. 400 Vgl. Hiob, S. 35. 401 Hiob, S. 37. 402 Vgl. Hiob, S. 37. 403 Hiob, S. 37. 397
70
ewig in das Herz Schemarjahs. Trotzdem gibt er seine ganze Identität auf, sobald er in Amerika ist, und wird zu einem echten pflichtbewussten Amerikaner, der nicht mehr Schemarjah, sondern Sam heißt. 404 Zur Namensänderung der Juden schreibt Roth in Juden auf Wanderschaft: Man wundere sich nicht über die Pietätlosigkeit der Juden gegen ihre Namen. Mit einer Leichtfertigkeit, die überraschend wirkt, wechseln sie ihre Namen, die Namen ihrer Väter, deren Klang doch immerhin für europäische Gemüter irgendeinen Gefühlswert hat. Für die Juden hat der Name deshalb keinen Wert, weil er gar nicht ihr Name ist. Juden, Ostjuden haben keinen Namen. Sie tragen aufgezwungene Pseudonyme. Ihr wirklicher Name ist der, mit dem sie am Sabbat oder am Feiertage zur Tora angerufen werden: ihr jüdischer Vorname und der jüdische Vorname ihres Vaters. Die Familiennamen aber von Goldberg bis Hescheles sind aufoktroyierte Namen. Die Regierungen haben den Juden befohlen, Namen anzunehmen. Sind es ihre eigenen? […] Der Jude schreibt in Amerika Greenboom statt Grünbaum. Er trauert nicht um die veränderten Vokale. 405
Und so begann Schemarjah, als Sam in Amerika eine völlig andere Existenz und Identität aufzubauen, und zwar eine moderne, säkulare und assimilierte.
2.3.2.2 Mirjam
Mirjam ist die einzige Tochter und das dritte Kind Mendels und Deborahs. Das Bild, das Roth von Mirjam malt, stellt ein zartes Mädchen dar, das „schlank und schmal“ 406 ist, mit einem „schimmernde[n] Schatten, eine[m] braunen Gesicht, eine[m] große[n] rote[n] Mund und [den] zwei alten Augen mitten in der braunen Jugend des Angesichts“ 407. Die Schönheit Mirjams kontrastiert scharf zu den Eltern, die zu verwelken anfangen: „Deborah in einem alten Schal, stand alt, hässlich, ängstlich vor der goldüberglänzten Mirjam, hielt am Rande des hölzernen Bürgersteigs, als befolgte sie ein altes Gesetz, das den hässlichen Müttern befahl, einen halben Werst tiefer zu stehen, als die schönen Töchter“ 408. Das graziös gebaute Mädchen wird mit einer Gazelle verglichen; kokett und gedankenlos wie dieses Tier ist Mirjam. 409 Dieser Vergleich spielt an auf die Gazelle als Beute, die den Raubtieren ausgeliefert ist und ihnen endlich zum Opfer fällt. Und so wirft sich Mirjam in die Arme der Kosaken und
404
Vgl. Hiob, S. 41f. Roth: Juden, ??? 406 Hiob, S. 21. 407 Hiob, S. 21 408 Hiob, S. 68. 409 Vgl. Hiob, S. 21. 405
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jungen Offiziere. Ihre starke Sehnsucht nach den Männern scheint eine Nymphomanie zu sein: Sie entkleidete sich und befühlte ihre Brüste. Sie taten ihr weh. Ihre Haut hatte ein eigenes Gedächtnis und erinnerte an jeder Stelle der großen, harten und heißen Hände der Männer. Ihr Geruch hatte ein eigenes Gedächtnis und behielt den Duft von Männerschweiß, Branntwein und Juchten unablässig, mit quälender Treue 410.
Für Mirjam hat die Sexualität keine Grenze und alle Männer sind ihr in dieser Hinsicht gleich; nur die körperliche Erfüllung sucht sie im männlichen Geschlecht: Sie musste nach Amerika. Eine vage Vorstellung von der Freiheit der Liebe in Amerika, zwischen den hohen Häusern, die noch besser verbargen als die Kornähren im Feld, tröstete sie über das Nahe der Ernte. Schon kam sie. Mirjam hatte keine Zeit zu verlieren. Sie liebte Stepan. […] sie liebte alle Männer, die Stürme brachen aus ihnen, ihre gewaltigen Hände zündeten dennoch sachte die Flammen im Herzen an. Stepan hießen die Männer, Iwan und Wsewolod. In Amerika gab es noch viel mehr Männer. 411
Religiöse Neigungen zeigt Mirjam nicht und Spuren der Zugehörigkeit zum Judentum kann man bei ihr nicht finden. Zu ihrem Vater, der die jüdische Religiosität verkörpert, hat sie keine besondere Beziehung. Sie verachtet ihn sogar. In einem Gespräch mit der Mutter spricht Mirjam von dem Vater wie von einer fremden Person und Deborah fühlt sich unsicher: Lass ihn böse sein“, erwiderte Mirjam, „deinen Mendel Singer“. Zum ersten Mal hörte Deborah den Namen des Vaters aus dem Mund eines ihrer Kinder. Einen Augenblick schien es ihr, dass hier eine Fremde sprach, nicht Mendels Kind. […] „Bleib hier Mutter!“ wiederholte Mirjam, „lass ihn allein, deinen Mann, fahr mit mir nach Amerika. Lass Mendel Singer und Menuchim, den Idioten, hier. 412
Mirjam ist die Ursache der Heimatlosigkeit der Familie. Sie führt die Familie in die Fremde, nach Amerika, wo sie als selbstständiger freier Mensch über ihr eigenes Leben entscheiden kann. Als Mendel Singer, selbst entfremdet in seiner eigenen Heimat, verhasst und einsam in seiner eigenen Familie, erfährt, dass Mirjam sich mit den Kosaken einlässt, beschließt er ins Exil zu ziehen, zu seinem Sohn Schemarjah/Sam nach Amerika, um die Tochter, die er als Kind so liebte und häufiger liebkoste 413, zu retten: „Wir werden nach Amerika fahren. Menuchim muss zurückbleiben. Wir müssen Mirjam mitnehmen. Ein Unglück schwebt über uns, wenn wir bleiben“ 414. Susanne Berg meint dazu, für die orthodoxen Juden breche damit ihre ganze Welt zusammen, die in erheblichem Maße durch absoluten Gewaltverzicht 410
Hiob, S. 55. Hiob, S. 54. 412 Hiob, S. 64. 413 Vgl. Hiob, S. 8. 414 Hiob, S. 50. 411
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bestimmt sei. Mirjams rücksichtslose Verletzung der jüdischen Tradition, durch ihre erotomanischen Beziehungen mit den Kosaken, sei symptomatisch für den inneren und äußeren Auflösungsprozess, den der Roman darstelle. 415
2.3.2.3 Menuchim
Menuchim ist das vierte und jüngste Kind Mendel Singers und Deborahs. Er ist eigentlich der Mittelpunkt der Familie. Die Geschichte von der Familie Singer beginnt mit der Geburt Menuchims und endet mit dem Wiederfinden Menuchims. Sein Name steht im ganzen Roman im Brennpunkt. Für Mendel und Deborah bedeutet Menuchims Geburt eine Störung in ihrem sehr regelmäßigen Dasein. Menuchims Krankheit symbolisiert die zerstörte Beziehung zwischen den Ehepartnern 416. Die Disharmonie zwischen Mann und Frau, Mendel und Deborah, verkörpert sich in der äußeren Gestalt des Kindes: Im dreizehnten Monat seines Lebens begann er Grimassen zu schneiden und wie ein Tier zu stöhnen, in jagender Hast zu atmen und auf eine noch nie dagewesene Art zu keuchen. Sein großer Schädel hing schwer wie ein Kürbis an seinem dünnen Hals. Seine breite Stirn fächelte und furchte sich kreuz und quer, wie ein zerknittertes Pergament. Seine Beine waren gekrümmt und ohne Leben wie zwei hölzerne Bögen. Seine dürren Ärmchen zappelten und zuckten. Lächerliche Laute stammelte sein Mund. 417
Für Menuchim gibt es in der kleinen Wohnung Mendel Singers keinen Platz: „Menuchim hatte keine Wiege. Er schwebte in einem Korb aus geflochtenen Weidenruten in der Mitte des Zimmers, mit vier Seilen an einem Haken im Plafond befestigt wie ein Kronleuchter“ 418. Astrid Eckhoff deutet an, dass diese Szene die erhabene und erhöhte Stelle Menuchims über die Umgebung beschreibt; er ist zwar im Zentrum der Familie aber nicht ganz dazugehörend. 419 Menuchim hat einen schwebenden Platz, und es kann, nach Eckhoff, als sein Schweben zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen Leben und Tod in seiner Kindheit gedeutet werden. 420 Man kann dieses Schweben auch mit Menuchims viel späterem Schweben zwischen Tradition und Moderne assiziieren, als er als der erfolgreiche Musiker Alexej Kossak in seiner sehr modernen Erscheinung in New York traditionelle jüdische 415
Vgl. Berg, Susanne: Archaik in der Moderne. Zu Joseph Roths „Hiob-Roman“. In: Der Deutschunterricht 37,3 (1985), S. 102-105, hier S. 104. 416 Vgl. Raffael, S. 208. 417 Hiob, S. 11. 418 Hiob, S. 10-11. 419 Vgl. Eckhoff, S. 76. 420 Vgl. Eckhoff, S. 76.
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Lieder komponiert. Astrid Eckhoff aber sieht in dem schon erwähnten Bild eine andere Assoziation, nämlich die mit dem kleinen Moses im alten Testament, der später die Israeliten gerettet hat; Menuchim hat auch seine Laufbahn in einem Korb begonnen. 421 Ja man könnte sagen, dass genau wie Menuchim am Anfang des Romans ein Unheilszeichen ist, wird er am Ende des Romans zum Retter, zur Verkörperung der Gnade Gottes. Für Mendel Singer ist Menuchim das einzige Mitglied der Familie, das seine Identität bewahrt hatte: „Nur Menuchim blieb, was er gewesen war, seit dem Tage seiner Geburt: ein Krüppel“ 422; genauso wie Mendel selbst. Auch Mendel bewahrt seine Identität im ganzen Roman und blieb das, was er immer gewesen war: ein Lehrer in der Heimat 423 und ein russischer Jude im Exil 424. Claudio Magris äußert: Mendel Singer ist in der Tat der Repräsentant des patriarchalischen Moments, das heißt der Forderung nach einer Wiedereinsetzung von Werten. Auch unter diesem Gesichtspunkt steht er in einer in der jiddischen Literatur oft behandelten Thematik. In der technologischen Gesellschaft unterliegen die Kinder und werden von ihr zermalmt: Schemarjah nennt sich Sam und fällt als Soldat im amerikanischen Heer, Mirjam erliegt den Verführungen und wird wahnsinnig. Einigermaßen von dieser Auflösung unberührt bleiben nur die in Osteuropa zurückgelassenen Kinder, der anormale Menuchim tritt schließlich sogar als Retter auf. einzig der Vater widerteht dieser Gesellschaft [Amerika], er erscheint daher nicht als Symbol einer bestimmten und folglich vergänglichen Generation, sondern als das Symbol einer klassischen, per definitionem zur Dauer bestimmten Humanität. 425
Man kann davon ausgehen, dass für die Eltern Menuchim die festeste Bindung zur Heimat bedeutet; im amerikanischen Exil ist ihre Sehnsucht nach ihm die Bedeutung der Heimat. Sie wissen, dass sie ihn zurücklassen müssen, als sie beschließen, nach Amerika auszuwandern, und ab diesem Zeitpunkt wird Menuchim zu ihrer Sehnsucht, Heimkehr und Heimat. Menuchims Heimat ist die Mutter. Das erste und einzige Wort, das er auszusprechen vermag, ist das Wort „Mama“: „Und dieses eine Wort der Missgeburt war erhaben wie eine Offenbarung, mächtig wie ein Donner, warm wie die Liebe, gnädig wie der Himmel, weit wie die Erde, fruchtbar wie ein Acker, süß wie eine süße Frucht“. 426 Deborahs Liebe zum kleinen Krüppel ist für ihn und sein Leben ausschlaggebend. Ohne sie wäre er nie geheilt worden, oder schon als ein kleines Kind zugrunde gegangen. 427 Deborah, die sich aus mütterlicher Liebe ganz und gar Menuchim widmet 421
Vgl. Eckhoff, S. 76. Hiob, S. 69. 423 Vgl. Hiob, S. 45. 424 Vgl. Hiob, S. 149. 425 Magris, S. 154. 426 Hiob, S. 28. 427 Vgl. Eckhoff, S. 79. 422
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und ihn selbstlos betreut, wird ohne ihn heimatlos. Im Exil, wo sie gehofft hatte, eine ganz fremde Welt zu finden, um „das alte Leben und Menuchim sofort zu vergessen“ 428, findet sie nichts Neues. Das Leben im New Yorker Judenviertel ist das gleiche wie in Zuchnow mit noch mehr Juden; aber es fehlt ihr etwas, was ihr das Leben schwer macht: Nein, sie wusste nicht genau, was ihr fehlte, Menuchim fehlte ihr. Oft, im Schlaf, im Wachen, beim Einkaufen, im Kino, beim Aufräumen, beim Backen hörte sie ihn rufen Mama! Mama! Rief er. Das einzige Wort, das er sprechen gelernt hatte, musste er jetzt schon vergessen haben. Fremde Kinder hörte sie Mama rufen, die Mütter meldeten sich, keine einzige Mutter ließ freiwillig von ihrem Kinde. Man hätte nicht nach Amerika fahren dürfen. Aber man konnte ja immer noch heimkehren. 429
Auch für Mendel Singer hat Menuchim eine zentrale Bedeutung. Man kann sagen, er hätte sich erhofft, dass Menuchim geheilt werden und anders als andere Kinder, die sich der Assimilation unterwerfen, die Werte und die Tradition der Väter weitertragen würde; daher lesen wir in einer entscheidenden Szene, in der er mit seinem Sohn allein ist, dass Mendel ihn auf den Tisch setzt, sich in sein Gesicht vertieft und durch die langsame Wiederholung seines Namen versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Der Sohn reagiert aber nicht. Daraufhin nimmt Mendel seinen Löffel, schlägt damit gegen das Teeglas und „sofort wandte Menuchim den Kopf“ 430.Mendel setzt das Klingeln fort und singt ein Lied. Die Schläge des Löffels und das Klingeln des Glases bringen Menuchim in Unruhe. Mendel versucht diesen Kontakt weiter durch das Sprechen und Zitieren aus der Bibel fortzusetzen, aber diese Art scheitert und Menuchim zeigt keine Reaktion auf Zitate aus der Bibel und Schöpfungsgeschichte. 431 Mendel wünscht sich manchmal, er wäre öfter mit ihm allein zu Hause geblieben: „Er liebte diese stillen Stunden. Er blieb gern allein mit seinem Sohn. Ja, manchmal überlegte er, ob es nicht besser wäre, wenn sie überhaupt zusammenblieben, ohne Mutter, ohne Geschwister“ 432. Auch Mendel fehlt im Exil etwas, nach dem er sich sehnt: die Heimat und Menuchim wieder zu sehen. Menuchims Motiv wiederholt sich in seinen Träumen in Amerika. Jedes Mal wenn er seine Augen schließt, träumt er von Menuchim: „Am Nachmittag, um die Stunde, in der zu Hause seine Schüler gekommen waren, legte er sich auf das
428
Hiob, S. 126. Hiob, S. 127. 430 Hiob, S. 46. 431 Vgl. Hiob, S. 46-47. 432 Hiob, S. 46. 429
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Rosshaarsofa, schlief ein bisschen und träumte von Menuchim“ 433. Diese Sehnsucht geht so weit, dass er an einem Tag im amerikanischen Exil einen halbwüchsigen Jungen, der ihm aus der Ferne bekannt erscheint, an der Ecke der Gasse mit Menuchim verwechselt: Der Junge lehnte in einem Haustor und weinte. Mendel hörte ein dünnes Wimmern, es drang, so leise es auch war, bis zu Mendel, auf die gegenüberliegende Seite der Straße. Wohlvertraut war dieser Laut. Er blieb stehen. […] Im Schatten des Abends und des Haustors, in dem der Junge kauerte, schien er Menuchims Umriss und Haltung zu bekommen. Ja, so, vor der Schwelle seines Hauses in Zuchnow, hatte Menuchim gekauert und gewimmert Mendel machte noch ein paar Schritte. Da huschte der Knabe ins Haus. Mendel trat bis zur Tür. Da hatte der finstere Hausflur den Jungen schon aufgenommen. 434
Für das Wiederauftauchen Menuchims im Roman als eine Realität und nicht nur als eine Erinnerung oder Sehnsucht wählt Joseph Roth ein wunderbares Wiedersehen des Vaters mit dem Sohn als heilendes, hoffnungsvolles Ende. Menuchim sollte als Retter und im Gewand eines Wunders für Mendel Singer erscheinen.
2.4
Die heimatlichen Bindungen
2.4.1 Die Bauern Bäuerlich-ostjüdische Begegnung ist ein Bild, das häufig in den Romanen Joseph Roths vorkommt. Im Hiob wird diese Begegnung als ein Aspekt der heimatlichen Atmosphäre prägnant gezeigt. Die Wechselbeziehungen zwischen Bauern und jüdischer Bevölkerung sind, wie Maria Klanska sie nennt, „alltäglich-leidlich“ 435, das heißt, dass man einander als Geschäftspartner braucht und sich aneinander in der langen Zeit des Zusammenlebens in der Heimat gewöhnt hat. 436 Trotz dieser Gewohnheit bleiben die Juden mit ihren Bräuchen, ihrem Denken und Tun für die Bauern unverständlich; irgendein Gefühl von Vertrautheit und gleichzeitig Fremdsein schwebt zwischen diesen zwei sozialen Gruppen. Maria Klanska schreibt: „Er ist ihm vertraut und fremd zugleich, wobei dieses Fremdartigkeitsgefühl in kritischen Augenblicken, besonders wenn religiöse Anlässe vorkommen, sogar in einen spontanen Hass ausarten kann, der zu Pogromen führt“ 437. Der Repräsentant der Bauernklasse im Hiob ist der Fuhrmann
433
Hiob, S. 130. Hiob, S. 131. 435 Klanska: Galizische Heimat, S. 151. 436 Vgl. Klanska: Galizische Heimat, S. 151. 437 Klanska: Galizische Heimat, S. 151. 434
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Sameschkin. Als Deborah zu ihm geht, um ihn zu fragen, ob er sie in der nächsten Zeit umsonst nach Kluczýsk mitnehmen kann, wird die Atmosphäre wie folgt beschrieben: Er saß auf der blanken Ofenbank, ohne sich zu rühren, die Füße in graugelben Säcken, mit Stricken umwickelt, und er duftete nach selbstgebrautem Schnaps. Deborah roch den Branntwein wie einen Feind. Es war der gefährliche Geruch der Bauern, der Verbote unbegreiflicher Leidenschaften und der Begleiter der Pogromstimmungen. 438
Die Zwiespältigkeit des Verhältnisses zwischen Bauern und Juden wird am stärksten in einer Szene ausgedrückt, in der Mendel Singer mit Sameschkin unterwegs ist und sie aufgrund eines Unfalls die Nacht gemeinsam in der Natur nebeneinander verbringen müssen. Sameschkin, der erfahren hat, dass Mendel und seine Familie nach Amerika auswandern, äußert sich: „Was fahrt ihr auch immer so viel in der Welt herum! Der Teufel schickt euch von einem Ort zum andern. Unsereins bleibt, wo er geboren ist, und nur wenn Krieg ist, zieht man nach Japan!“ 439. Mendel, der zum ersten Mal in seinem Leben auf der nackten Erde, mitten in der wilden Nacht und neben einem Bauern sitzt, fühlt sich zum ersten Mal vor allem frei von Vorurteilen und Sameschkin, der Bauer, ist ihm in diesem Moment wie ein Bruder vertraut. Mendel weint neben ihm vor Verzweiflung und Sameschkin wird von Mitleid mit dem weinenden Juden überwältigt. Dann legt er Mendel den Arm um die Schulter und sagt beruhigend: „Schlaf, lieber Jude, schlaf dich aus“ 440. Maria Klanska zieht den Schluss daraus, dass „das Mitleid des Erzählers dem herumgetriebenen Juden gilt, mit dem er sich vielleicht sogar identifiziert. Aber seine Bewunderung gilt der Sesshaftigkeit des Bauern“ 441. Mendel Singer repräsentiert in der Tat den ewigen Juden, der nie zur Ruhe kommt, und Sameschkin den sesshaften Menschen, der eigentlich angekommen ist.
2.4.2 Die Kosaken Die Kosaken sind eine Bedrohung für die Familie Singer. Jonas, der älteste Sohn, wird ein Soldat, und „Soldat“ bedeutet für Mendel Singer „Kosak“. Mirjam, die Tochter, ist auch in dieser Hinsicht dem Bruder ähnlich. Sie liebt die Kosaken. Sie geht durch die Gassen der Heimat „sorglos“ und „lustsüchtig“ 442. Ihre Art zu gehen fällt den Offizieren
438
Hiob, S. 46. Hiob, S. 92. 440 Hiob, S. 93. 441 Klanska: Galizische Heimat, S. 151. 442 Hiob, S. 30. 439
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der Garnison auf. Sie gehen ihr manchmal nach. Mirjam genießt diesen Augenblick des „Gejagtwerdens“: Nichts anderes nahm sie von ihren Jägern zur Kenntnis, als was sie durch die äußeren Tore der Sinne gerade nachschicken konnte: ein silbernes Klirren und Rasseln von Sporen und Wehr, einen verwehenden Duft von Pomade und Rasierseife, einen knalligen Schimmer von goldenen Knöpfen, silbernen Borten und blutroten Riemen aus Juchten. Es war wenig, es war genug 443
Mirjam zieht die Jäger hinter sich her, indem sie an jeder Straßenecke hält und ihre Blicke zurückwirft. 444 Letztendlich läßt sie sich mit den Kosaken ein und ruiniert dadurch das heimatliche Dasein der Familie. In der Geschichte der Juden in Osteuropa spielen die Kosaken die Rolle der Feinde und mit ihrem Namen assoziiert man immer die Pogrome. Sie waren die Vertreiber, die Verfolger und die Verführer der Ostjuden; durch sie verloren viele Ostjuden ihre Heimat. Ihren Namen verband man mit der Heimatlosigkeit. 445 Daher kann man sehr gut nachvollziehen, wenn Mendel Singer denkt: „Hier war mein Großvater Lehrer; hier war mein Vater Lehrer, hier war ich ein Lehrer. Jetzt fahre ich nach Amerika. Meinen Sohn Jonas haben die Kosaken genommen, Mirjam wollen sie mir auch nehmen“ 446. Es hat eine tiefere Bedeutung, eine historische. Gershon Shaked äußert: „Der Kosak ist das Symbol nicht nur der Verfolgenden, sondern auch der verführerischen Welt der Nichtjuden“ 447. Man kann sagen, dass in Hiob diese Gegenüberstellung der Tradition und des Kosakentums zum Audruckkommt. Tradition hat mit Gott zutun, Kosakentum mit Teufel und Verführung. Gershon Shaked schreibt: Kosak steht also für mehr als eine russische Volksgruppe, die einen großen Teil der russischen Armee stellt. Er ist ursprünglich das Sinnbild der Judenverfolger, was aus den historischen Erfahrungen der Juden heraus verständlich ist. Im weiteren Verlauf des Romans wird das Wort »Kosak« aber auch die Metapher für sexuelle Sünde und Ausdruck der Xenophobie. 448
In Amerika, dem Land der Nichtjuden, quasi dem Land der Kosaken, weiß Mendel, dass seine Tochter „mit Mac spazieren geht, tanzen geht, baden geht, turnen geht. Er weiß, Mendel Singer, dass Mac kein Jude ist, die Kosaken sind auch keine Juden, so weit ist es noch nicht“ 449 und später, als ein gewisser Mr. Glück auftaucht, denkt
443
Hiob, S. 30f. Vgl. Hiob, S. 31. 445 Siehe Kapitel „Historischer Kontext“ vorliegender Arbeit. 446 Hiob, S. 102. 447 Shaked, S. 285. 448 Shaked, S. 285. 449 Hiob, S. 125. 444
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Mendel Singer, „Ein neuer Kosak! […] Aber er sagte nichts“ 450. Hier ist „Kosak“ zur Metapher der sexuellen Sünde geworden. Ob Mr. Glück Jude ist oder nicht spielt keine große Rolle mehr. Er vertritt als „Kosak“ die Welt des Bösen, des Teufels. 451 Am Ende des Romans kommt Menuchim als ruhmreicher Komponist traditioneller jiddischer Lieder nach Amerika und stellt sich dem Vater zuerst als Alexej Kossak vor. Man kann das Vorkommen des Namens „Kossak“ als einen Hinweis auf die Assimilation und deren Beziehung zu der Tradition betrachten. Dass sich Menuchim diesen Namen ausgesucht hat, beruht auf seinem schon weiter oben erwähnten Schweben zwischen Tradition und Assimilation. 452
450
Hiob, S. 149. Vgl. Shaked, S. 285. 452 Siehe Kapitel „Menuchim“ vorliegender Arbeit. 451
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2.5
Der Glaube
Mit der literarischen Figur Mendel Singers und seiner Attribute entwirft Roth das Bild eines orthodoxen Juden, dessen Schicksal ihn und seine Familie ins Exil führt. Die Erschaffung dieser Figur könnte die Beziehung ihres Schöpfers zum Judentum implizieren. Da Roth selber, wie David Bronsen es andeutet, „aus seinem Lebenselement herausgerissen“ war und da er seinem „eigenen Volk nicht angehörte, war ihm sein Leben ein zwei- und dreifaches Exil“ 453. Aber sein Respekt für diejenigen Juden, die auch im westlichen Exil orthodox blieben, ihre Heimat im Reich des Inneren fanden, und seine enge und ernsthafte Freundschaft mit Joseph Gottfarstein, einem orthodoxen Juden mit immensem jüdischem Wissen, „der einzige, den Roth nie verhöhnte“, spricht dafür, dass Roth die Frömmigkeit liebte. 454 Man könnte daraus schließen, dass er die gläubigen Juden um diesen inneren Halt und die seelische Heimat beneidete. Roth reflektiert seine Liebe in der Person Mendel Singers, des einfachen gläubigen Juden. Mendel Singer entspricht dem Klischee, das man von einem frommen Ostjuden im Westen hatte. Sein Leben besteht nur aus Gebeten und religiösen Zeremonien. Die jüdische Tradition, Glauben und das Jiddischsein umfassen seine ganze Lebensform. Es scheint, dass der einzige Ort, wo sich Mendel Singer tatsächlich zu Hause fühlt, gerade die Welt seines Glaubens ist. Schon vom Anfang des Romans an lernt man ihn als „fromm“ und „gottesfürchtig“ 455 kennen. Seine äußerliche Erscheinung entspricht einem typischen orthodoxen Ostjuden: Ein Vollbart von einem gewöhnlichen Schwarz umrahmte es [sein Gesicht] ganz. Den Mund verdeckte der Bart. […] Auf dem Kopf saß eine Mütze aus schwarzem Seidenrips, einem Stoff, aus dem manchmal unmoderne und billige Krawatten gemacht werden. Der Körper steckte im halblangen landesüblichen jüdischen Kaftan 456
Sein Lebensrhythmus deutet auf einen reinen Glauben hin, der ihm in der Tat den Halt im Leben geschenkt hat. Die religiösen Gebote hält Mendel mit innerer Überzeugung ein: Jeden Morgen dankte Mendel Gott für den Schlaf, für das Erwachen und den anbrechenden Tag. Wenn die Sonne unterging, betete er noch einmal. Wenn die ersten Sterne aufsprühten, betete er zum dritten Mal. Und bevor er sich schlafen legte, flüsterte
453
Bronsen: Biographie, S. 550. Vgl. Bronsen, Biographie, S. 543ff. 455 Hiob, S. 7. 456 Hiob, S. 7. 454
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er ein eiliges Gebet mit müden, aber eifrigen Lippen. Sein Schlaf war traumlos. Sein Gewissen war rein. Seine Seele war keusch. 457
Er lebt trotz seiner Armut in einer friedvollen Harmonie mit sich selbst und mit Gott und nimmt alle Schicksalsschläge mit einer besonderen Gelassenheit hin, die man als Fatalismus verstehen kann: „Mendel Singer aber, der Gerechte, floh vor keiner Strafe Gottes“ 458. Mendels Gottvertrauen ist viel größer als sein Vertrauen zur modernen Wissenschaft. So lehnt er das Angebot eines Arztes ab, der Menuchim mit ins Krankenhaus nehmen will, wo er vielleicht geheilt werden könnte; er sagt zu seiner Frau, die sich freut und Menuchim dem Arzt überlassen will: „Sei still, Deborah! Gesund machen kann ihn kein Doktor, wenn Gott nicht will. Soll er unter russischen Kindern aufwachsen? Kein heiliges Wort hören? Milch und Fleisch essen, und Hühner auf Butter gebraten, wie man sie im Spital bekommt“ 459. Mendel Singers Fatalismus nimmt an manchen Stellen des Romans die Farbe der Naivität an, sodass er sich über die Einberufung seiner Söhne nicht ärgert und mit einer besonders gelassenen Ruhe sagt: Was willst du Deborah […] die Armen sind ohnmächtig, Gott wirft ihnen keine goldenen Steine vom Himmel, in der Lotterie gewinnen sie nicht, und ihr Los müssen sie in Ergebenheit tragen. Dem einen gibt er, dem anderen nimmt er… man soll sein Schicksal tragen! Lass die Söhne einrücken, sie werden nicht verkommen. Gegen den Willen des Himmels gibt es keine Gewalt. ‚Von ihm donnert es und blitzt es, er wölbt sich über die ganze Erde, vor ihm kann man nicht davonlaufen’ – so steht es geschrieben. 460
Nachdem Mendel Singer sieht, dass seine Kinder ihren Weg in die Assimilation gehen und das Band zu ihren Eltern abreißt, ahnt er, wie Eva Raffel es ausdrückt, dass er keinen Halt mehr in dieser irdischen Welt hat, weil die Werte, die er an seine Kinder vermittelt, nichts mehr wert sind; sie gehen doch durch die Generation der Kinder verloren, und in diesem Moment der Erkenntnis weiß er, dass für ihn die einzige Heimat noch sein unerschütterlicher Glaube ist. 461 Gottergebenheit heißt für Mendel, den Blick von den Mitmenschen abzuwenden hin zur religiösen Erfüllung. Daher kapselt er sich in der engen Gemeinschaft des Schtetls völlig von der Außenwelt ab und gibt sich vollkommen der Familie und seiner Glaubenswelt hin. 462 Sein Zuhause ist das Bethaus, wo er fünf Mal am Tag und bei
457
Hiob, S. 8. Hiob, S. 12. 459 Hiob, S. 13. 460 Hiob, S. 43f. 461 Vgl. Raffel, S. 219. 462 Vgl. Eckhoff, S. 22. 458
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jeder Gelegenheit, gut oder schlecht, Zuflucht findet. 463 David Bronsen deutet in seiner Roth Biographie an, dass Roth selber große Sehnsucht nach „jüdischer Frömmigkeit“ hatte, aber er meinte, Gott „ließe sich nicht im Tempel finden, sondern nur im Schteibl“, und das heißt im kleinen Gebetshaus der Ostjuden. 464 Diese liebevolle Sehnsucht widerspiegelt sich in der Beschreibung des Gebetshauses im Hiob-Roman. Das Bethaus wird im Gegensatz zu Mendels eigenem Haus, das ganz neutral und seelenlos geschildert wird 465, so liebevoll beschrieben, dass dem Leser kein Zweifel daran bleibt, dass dieser Ort die wahre Geborgenheit für Mendel bietet. Da er in seinem sozialen Makrokosmos: Zarismus, russisches Kosaken- und Bauerntum und Christentum nichts außer Bedrohung empfindet, sucht er sein Zuhause in dem Mikrokosmos Bethaus: Es konnten kaum drei Stunden verflossen sein, seitdem er das Bethaus verlassen hatte. Nun, da er es wieder betrat, war ihm, als kehre er nach vielen Wochen dahin zurück, und er strich mit einer zärtlichen Hand über den Deckel seines alten Gebetspultes und feierte mit ihm ein Wiedersehn. Er klappte es auf und langte nach seinem alten, schwarzen und schweren Buch, das in seinen Händen heimisch war und das er unter tausend gleichartigen Büchern ohne Zögern erkannt hätte. So vertraut war ihm die lederne Glätte des Einbands mit den erhabenen runden Inselchen aus Stearin, den verkrusteten Überresten unzähliger längst verbrannter Kerzen, und die unteren Ecken der Seiten, porös, gelblich, fett, dreimal gewellt durch das jahrzehntelange Umblättern mit angefeuchteten Fingern. Jedes Gebet, dessen er im Augenblick bedurfte, konnte er im Nu aufschlagen. Eingegraben war es in sein Gedächtnis mit den kleinsten Zügen der Physiognomie, die es in diesem Gebetbuch trug, der Zahl seiner Zeilen, der Art und Größe des Drucks und der genauen Farbtönung der Seiten. 466
Mann kann daraus schließen, dass das Bethaus, das ein Symbol für Religiosität ist, die Unmöglichkeit von Heimatbesitz für die Juden in der Wirklichkeit impliziert; das heißt, dass Mendel Singer in diesem Ort einen Heimatersatz findet, nämlich im Haus des Betens, wo der Glaube praktiziert wird, weil ihm exemplarisch als ein Jude seit Jahrtausenden unmöglich ist, die Heimat außerhalb der heiligen Schrift und Erinnerung wiederzufinden. 467 Dieser Ort des Glaubens, in dem man die heilige Schrift liest, mit Gott redet und zu ihm betet, gilt für einen frommen Juden als seine Heimat, sein Zuhause, gerade weil er dort immer wieder die Erinnerung an die wirkliche Heimat, an Palästina, wiederholen und beleben kann. Mendel Singers ganzes Dasein ist von einer unmittelbaren Liebe zu Gott erfüllt. Seine ekstatische Haltung beim Beten könnte man als einen mystischen Zustand beschreiben, in dem der Mystiker weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft lebt; er ist voller 463
Vgl. Hiob, S. 68. Vgl. Bronsen: Biographie, S. 549. 465 Vgl. Hiob, S. 60. 466 Hiob, S. 74. 467 Vgl. Magris: Weit von wo, S. 114. 464
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Gegenwart und erfüllt vom göttlichen Licht und göttlicher Liebe. Kein Schlag kann diesen Menschen erschüttern, kein Teufelspfeil ihn erreichen; gerade diese direkte Verbindung zwischen dem Menschen und Gott, ohne irgendeine Mittlerschaft macht die Faszination des Glaubens in der Figur Mendel Singers aus: Mendel Singer entzündete zwei Kerzen, klebte sie fest am nackten Holz des Pultes, schloß die Augen und begann zu beten. Mit geschlossenen Augen erkannte er, wo eine Seite zu Ende war, mechanisch blätterte er die neue auf. Allmählich glitt sein Oberkörper in das altgewohnte regelmäßige Schwanken, der ganze Körper betete mit, die Füße scharrten die Dielen, die Hände schlossen sich zu Fäusten und schlugen wie Hämmer auf das Pult, an die Brust, auf das Buch und in die Luft. Auf der Ofenbank schlief ein obdachloser Jude. Seine Atemzüge begleiteten und unterstützten Mendel Singers monotonen Gesang, der wie ein heißer Gesang in der gelben Wüste war, verloren und vertraut mit dem Tode. Die eigene Stimme und der Atem des Schlafenden betäubten Mendel, vertrieben jeden Gedanken aus seinem Herzen, nichts mehr war er als ein Beter, die Worte gingen durch ihn den Weg zum Himmel, ein hohles Gefäß war er, ein Trichter. So betete er dem Morgen entgegen. 468
Aus dieser beneidenswerten und harmonischen inneren Heimat fällt Mendel Singer erst heraus, als er ins Exil, nach Amerika zieht, und ihm alles Heimatliche verloren geht.
468
Hiob, S. 75f.
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IV
1
Das Exil: Amerika
Der Exodus nach Amerika
Um die Tochter Mirjam vor den Kosaken retten, beschließen Mendel und Deborah, ihrem in Amerika schon lange heimisch gewordenen Sohn Schemarjah, der sich in der neuen Welt Sam nennt zu folgen. Sie hegten die Hoffnung, dass es in Amerika keine Kosaken mehr gebe: „Mirjam geht mit einem Kosaken, in Russland kann sie es wohl, in Amerika gibt es keinen Kosaken“ 469 denkt sich Deborah. Das größte Problem ist der kranke Menuchim, der nicht mitreisen kann. Sie müssen ihn zurücklassen, wobei sie bis zuletzt auf ein Wunder, auf die Erfüllung der Prophezeiung des Wunderrabbis noch vor dem schon beschlossenen Exodus nach Amerika hoffen. Deborahs Unruhe steigert sich mit der Zeit, weil der Wunderrabbi riet, Menuchim nicht zu verlassen, da er nach langen Jahren gesunden werde: „Verlass deinen Sohn nicht, auch wenn er dir eine große Last ist, gib ihn nicht weg von dir, er kommt aus dir, wie ein gesundes Kind auch“ 470. Doch das Wunder bleibt aus, jedenfalls bis zum Tag der geplanten Auswanderung. Menuchim soll bei der befreundeten Familie Billes zurückbleiben, und „es wurde ausgemacht, dass Mendel Singer sein Haus vor einfachen Zeugen der Familie Billes zur Benutzung übergeben“ werde und sie auf Menuchim aufpassen würden 471. Die Orientierungslosigkeit beginnt für Mendel schon bei der Beschaffung der Dokumente und Papiere: „Ich will nach Amerika – wo muss ich hin?“ 472 fragt Mendel hilflos einen Beamten. Das Verlorensein hat bereits begonnen, deutet Eva Raffel an. 473 Raffel ist der Meinung, dass der Deichselbruch, den der Wagen von Fuhrmann Sameschkin auf der Rückfahrt von dem Amt erleidet, ein „symptomatisches Zeichen für den Zusammenbruch der Familie“ ist, und die Familie wiederum für „das ewig flüchtende Judentum“ 474 steht. Daher sind die Worte Fuhrmann Sameschkins sehr treffend, als er Mendel sagt: „So beginnt deine Reise nach Amerika, […] was fahrt ihr auch immer so viel in der Welt herum! Der Teufel schickt euch von einem Ort zum
469
Hiob, S. 78. Hiob, S. 20. 471 Hiob, S. 103. 472 Hiob, S. 86. 473 Vgl. Raffel, S. 219. 474 Raffel, S. 219. 470
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anderen“ 475. Die Auflösung nimmt ihren Gang und schon vor der Abreise beginnt der Zerfall des Hauses Mendel Singers: alle wussten schon, dass Mendel nach Amerika ging, ein Schüler nach dem anderen blieb vom Unterricht weg. Jetzt waren es nur noch fünf Knaben, auch sie kamen nicht zu regelmäßigen Zeiten. Die Papiere hatte Kapturak noch nicht gebracht, die Schiffskarten hatte Sam noch nicht geschickt. Aber schon begann das Haus Mendel Singers zu zerfallen. 476
In diesem Moment ist Amerika nicht mehr das Land der Hoffnung, wie sich Deborah denkt: „Amerika ist ein gesegnetes Land. […] Russland ist ein trauriges Land, Amerika ist ein freies Land, ein fröhliches Land. Mendel wird kein Lehrer mehr sein, der Vater eines reichen Sohnes wird er sein“ 477, sondern es ist das Schicksal, vor dem sie sich nicht retten können: „Es war, als hätten sie, Deborah und Mendel, nicht freiwillig den Entschluss gefasst, nach Amerika zu gehen, sondern als wäre Amerika über sie gekommen, über sie hergefallen, […]sie konnten sich nicht mehr vor Amerika retten“ 478. Und so beginnt der Exodus Familie Singer exemplarisch für das gesamte Ostjudentum nach Amerika.
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Das Amerika-Bild in Roths Hiob
Das erste, was Mendel bei der Ankunft im Hafen von New York erblickt, ist die Freiheitsstatue, die sie wie Millionen von anderen Immigranten mit Strahlenkrone und Fackel empfängt. 479 Mendel erfährt von einem Juden, der neben ihm steht, dass die Fackel, die die Freiheitsstatue in der Hand hält, „brennt und dennoch niemals ganz verbrennen kann“ 480. Eva Raffel lässt durchblicken, dass Roth in dieser Stelle die Worte des alten Testaments über den brennenden Dornbusch 481 wiedergibt 482, mit denen der Exodus der Juden aus der ägyptischen Sklaverei eingeleitet und ihnen ein Land versprochen wurde, in dem Milch und Honig fließen würden. 483 Sie weist weiter darauf hin, dass Roth hier mit diesen Worten seinem großen Misstrauen Ausdruck verlieh, das er dem Zeitalter der Industrialisierung entgegenbrachte, dessen 475
Hiob, S. 92. Hiob, S. 102. 477 Hiob, S. 78. 478 Hiob, S. 106. 479 Vgl. Hiob, S. 114. 480 Hiob, S. 114. 481 Vgl. 2 Mos 3,2; Dort erschien ihm der Engel des Herren in einer Flamme, die aus einem Dornbusch emporschlug. Er schaute hin: da brannte der Dornbusch und verbrannte nicht. 482 Vgl. Raffel, S. 220. 483 Vgl. 2 Mos 3.8: Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzufahren in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen… 476
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Verkörperung die westliche Welt, vor allem Amerika war. 484 Die Freiheitsstatue ist im Inneren hohl und es könnte als eine Anspielung auf die hohle Freiheit in Amerika, die nur auf äußerlichen, oberflächlichen Werten, wie Geld, Autos und Besitz beruht, verstanden werden. 485 Das Wiedersehen des Sohnes, Schemarjah, verwirrt Mendel Singer. Er ist Schemarjah und zugleich Sam, „als wenn ein Sam über einen Schemarjah gestülpt worden wäre, ein durchsichtiger Sam. […] Er war zwar Schemarjah, aber es war Sam“ 486. Eva Raffel deutet diese Spaltung an und schreibt: Mendel muss feststellen, dass aus Schemarjah wirklich Sam geworden ist, denn dieser trägt keinen Bart mehr. Die meisten frommen Juden verurteilen einen Mann aufs schärfste, der sich den Bart rasieren lässt – wie überhaupt das rasierte Gesicht das deutliche Merkmal für den Abfall vom Glauben darstellt 487.
Ja, Schemarjahs „Angesicht ist glatt, wie ein nobler Grabstein“, und duftet nach „Schneeglöckchen“ und „auch ein wenig wie Karbol“ 488. Eva Raffel meint, man könnte die Assoziation mit „noblem Grabstein“ als einen Hinweis auf Sams frühen Tod für das neue Vaterland Amerika verstehen. Sam hat die Werte des Judentums begraben und hinter seinem neuen noblen Aussehen sieht Mendel nichts von der jüdischen Identität 489. Die erste richtige Begegnung Mendel Singers mit Amerika ist seine erste Fahrt durch New York. An einem hellen und heißen Tag sitzt Familie Singer im Auto von Sams Freund Mac. Für Mendel Singer ist das, als ob er eine Höllenfahrt gemacht hätte: „Der schwere Wagen ratterte über die Straßen mit einer wütenden Wucht, […] als wäre es seine Absicht, Stein und Asphalt für ewige Zeiten zu zertrümmern und die Fundamente der Häuser zu erschüttern“ 490; Mendel ist in diesem Moment „der Jude auf Wanderschaft“ und muss „an die Wüste denken, durch die seine Ahnen vierzig Jahre gewandert waren“ 491, er denkt und sagte sich: „Aber sie waren wenigstens zu Fuß gegangen“ 492. In der „wahnsinnigen Eile, in der sie dahin rasten“ spürt Mendel einen heißen Wind, „den feurigen Atem der Hölle. Statt zu kühlen, glühte er. Der Wind war
484
Vgl. Raffel, S. 220. Vgl. Raffel, S. 220. 486 Hiob, S. 115. 487 Raffel, S. 220. 488 Hiob, S. 115. 489 Vgl. Raffel, S. 221. 490 Hiob, S. 117. 491 Hiob, S. 117. 492 Hiob, S. 117. 485
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kein Wind, er bestand aus Lärm und Geschrei, es war ein wehender Lärm“ 493. Eine kindliche Regression bemächtigt sich seiner, „Die Muskeln seines Angesichts waren erstarrt. Er hätte lieber geweint wie ein kleines Kind“ 494. Seine mit dem Geruch der slawischen Natur vertraute Nase riecht den scharfen Teer aus dem schmelzenden Asphalt, den trockenen und spröden Staub in der Luft, den ranzigen und fetten Gestank aus Kanälen und Käsehandlungen, den beizenden Geruch von Zwiebeln, den süßlichen Benzinrauch der Autos, den fauligen Sumpfgeruch aus Fischhallen, die Maiglöckchen und das Karbol von den Wangen seines Sohnes. 495
Amerika ist das Land der Ohnmächtigkeit. Mendel hat seine Sinne nicht mehr beieinander, „er wusste nicht mehr, was zu hören, zu sehen, zu riechen war“ 496. Er verliert die Grundfähigkeiten eines Menschen und entfremdet sich völlig von sich selbst, wie in einer Ohnmacht: „Amerika drang auf ihn ein, Amerika zerbrach ihn, Amerika zerschmetterte ihn. Nach einige Minuten wurde er ohnmächtig“ 497. Mendel Singer ist in dieser Situation machtlos; er ist passiv und dem Geschehen ausgeliefert, er zerbricht nicht an Amerika, sondern „Amerika zerbrach ihn“ 498. Er verliert den Bezug zu sich selbst, und seine Persönlichkeit ist aufgelöst; im wahrsten Sinne des Wortes hat er kein Selbstbewusstsein mehr: „Erst an seinen Angehörigen erkannte er sich wieder. Ein bisschen schämte er sich. […] Es war ihm, als wäre er aus sich selbst herausgestoßen worden, von sich selbst getrennt würde er fortan leben müssen“ 499. Die Auflösung seiner Identität nimmt ihren Gang mit der Erkenntnis, dass er in Amerika nichts zu suchen hat; er ist mit der ganzen Welt um sich herum entfremdet: „Was gehen mich diese Leute an […] Was geht mich ganz Amerika an? Mein Sohn, meine Frau, meine Tochter, dieser Mac? Bin ich noch Mendel Singer? Wo ist mein Sohn Menuchim?“ 500. Claudio Magris meint, dass der ganze Roman von der bejahenden Antwort auf diese Identitätsfrage zusammengehalten wird. 501 Mendel Singer verlässt mit Menuchim auch sich selbst in Russland: „Es war ihm, als hätte er sich selbst in Zuchnow zurückgelassen, in der Nähe von Menuchim“ 502. Eva Raffel ist der Meinung, dass Mendel Singer nur im Schtetl Selbstbewusstsein hatte, 493
Hiob, S. 117. Hiob, S. 118. 495 Hiob, S. 118. 496 Hiob, S. 118. 497 Hiob, S. 118. 498 Hiob, S. 118. 499 Hiob, S. 119. 500 Hiob, S. 119. 501 Vgl. Magris: Weit von wo, S. 153. 502 Hiob, S. 119. 494
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unter seinesgleichen, den anderen Ostjuden, denn er war dort nicht fremd, und seine ostjüdische Erscheinung war nicht auffallend. In Amerika ist Mendel Singer fremd und eine auffällige Persönlichkeit, gespalten zwischen dem Bedürfnis, sich der neuen Umgebung anzupassen, und dem Wunsch, sein Judentum für sich zu bewahren. 503 Schon nach der ersten Begegnung Mendel Singers mit „Amerika“ fängt in seinem Innen der Prozess der Vereinsamung an. Amerika macht ihn einsam: „Und während es um seine Lippen lächelte und während es seinen Kopf schüttelte, begann sein Herz langsam zu vereisen, es pochte wie ein metallener Schlegel gegen kaltes Glas. Schon war er einsam, Mendel Singer: schon war in Amerika“ 504. Claudio Magris sieht in der direkten Berührung der völlig horizontalen gesellschaftlichen Wirklichkeit Amerikas und der inneren vertikalen Wirklichkeit der Persönlichkeit
Mendels
und
der
von
ihm
verkörperten
Tradition
einen
Verfremdungseffekt. „Amerika ist ein ironisches God’s own country, ein Gelobtes Land“ 505. Mendel, Deborah und Mirjam wohnen in einer dunklen, kümmerlichen Wohnung im ersten Stock eines Hauses im Judenviertel New Yorks, was als ein „Glücksfall“ 506 beschrieben wird, weil man leicht auch im zweiten, im dritten, im vierten Stock hätte wohnen können. 507. Mendel schläft in der Küche und die Frauen im einzigen Wohnraum: „Paläste bewohnt man auch in Amerika nicht“ 508. Es fehlt in der Wohnung an Licht und Sonnenschein, dafür gibt es aber Ungeziefer in Mengen 509. Es stinkt und lärmt im Haus: „Die Treppe ist schief und schmutzig, immer finster. Mit Streichhölzern beleuchtet man auch am Tag die Stufen. Es riecht warm, feucht und klebrig nach Katzen. […] Alle Bretter quietschen, wenn Mendel durch die Stube geht“ 510. Unbewusst vergleichen Mendel und Deborah die neue Welt mit der alten. Die neue Welt ist auch eine Kopie der Judengasse in Zuchnow. Deborah denkt sich: „Aber dieses Amerika war keine neue Welt. Es gab mehr Juden hier als Kluczýsk. Hatte man den weiten Weg über das große Wasser nehmen müssen, um wieder nach Kluczýsk zu kommen, das man in der Fuhre Sameschkin hätte erreichen können?“ 511. Der Unterschied liegt in der Qualität des Lebens: „Licht und Sonne hatte Deborah 503
Vgl. Raffel, S. 221f. Hiob, S. 120. 505 Magris: Weit von wo, S. 152. 506 Hiob, S. 125. 507 Vgl. Hiob, S. 125. 508 Hiob, S. 125. 509 Vgl. Hiob, S. 139. 510 Hiob, S. 125. 511 Hiob, S. 126. 504
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wenigstens zu Hause gehabt“ 512, die Fenster gehen in Zuchnow gen Himmel auf und in Amerika „in einen finsteren Lichthof, in dem Katzen, Ratten und Kinder sich balgten, um drei Uhr nachmittags, auch im Frühling, musste man die Petroleumlampe anzünden, nicht einmal elektrisches Licht gab es“ 513. Obwohl im Haus Friede herrscht und Deborah und Mirjam gut miteinander leben, fühlt sich Mendel einsam und unglücklich: „Mutter und Tochter flüstern miteinander, oft, lange nach Mitternacht, Mendel tut, als ob er schliefe. Er kann es leicht“ 514. Esther Steinmann weist darauf hin, dass „sich das Unglück eben nicht nur aus Geschehnissen der äußeren Wirklichkeit zusammensetzt, sondern durchaus ein Innenleben, eine verborgene Rückseite hat. Zu den Voraussetzungen jenes Unglücks von innen gehört der Mangel an Zufriedenheit“ 515. Obwohl man zu Beginn des zweiten Teils liest: „Von Mendel Singer aber wissen wir, dass er nach einigen Monaten in New York zu Hause war. Ja er war beinahe heimisch in Amerika!“ 516, wird man nicht wirklich überzeugt, dass dies wahr ist. Durch das „beinahe“, meint Eva Raffel, wird ein großer Abstand hervorgehoben, der zwischen Mendel Singer und seinem amerikanischen Umfeld besteht. 517 Die äußeren Erscheinungen der Amerikanisierung schleichen in das Haus Mendel Singers: das Grammophon, das Sam „schon“ besitzt und das Mirjam „manchmal“ bei der Schwägerin ausleiht und in „getreuen Armen, durch die Straßen, wie ein krankes Kind“ 518 trägt; die Gewohnheit Sams, sich „zweimal am Tag“ zu waschen und seinen Anzug, den er „am Abend trägt“, Dress zu nennen und seine häufige Verwendung der englischen Ausdrücke 519; die Tatsache, dass Deborah „schon zehnmal im Kino und dreimal im Theater“ war; ihr seidenes, dunkelgraues Kleid, das sie von Sam geschenkt bekommen hatte und ihre goldene Kette, die sie „um den Hals“ trägt, und die sie wie „eines der Lustweiber, von denen manchmal die heiligen Schriften erzählen“ 520 aussehen lässt; Mirjams Job als Verkäuferin „in Sams Laden“, ihr Verhalten, nach Mitternacht heimzukommen und um sieben Uhr morgens wegzugehen und dem Vater „Guten Abend, Vater! Guten Morgen, Vater“ zu sagen und „weiter nichts“ 521, ihr 512
Hiob, S. 126. Hiob, S. 126. 514 Hiob, S. 126. 515 Steinmann, S. 45. 516 Hiob, S. 123. 517 Vgl. Raffel, S. 222. 518 Hiob, S. 124. 519 Hiob, S. 124. 520 Hiob, S. 124. 521 Hiob, S. 125. 513
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nobles Aussehen, mit „Hut und Seidenstrümpfen“ 522 und ihre Beziehung mit dem amerikanischem Mac, dem besten Freund Sams 523 - alles spricht für den unbedingten Willen zur Assimilation im Haus Mendel Singers. Mendel bleibt aber seiner einfachen bescheidenen Lebensführung und dem traditionellen Äußeren treu; er betrachtet seinen Aufenthalt in Amerika als vorübergehend und träumt ständig von der Rückkehr in sein russisches Schtetl und vom Wiedersehen mit Menuchim. 524 Zwar bewundert Mendel Singer den Fortschritt und die schnelle Entwicklung der Technik in Amerika, und er glaubt seinen Kindern „aufs Wort“, dass „Amerika das Land Gottes war, New York die Stadt der Wunder und Englisch die schönste Sprache. […] Bald werden die Menschen fliegen wie Vögel, schwimmen wie Fische, die Zukunft sehn wie Propheten, […] Die Welt wird sehr schön sein“ 525, aber die Erkenntnis, dass er alle diese Ereignisse nicht erleben werde, und dass „er noch vor den Triumphen der Lebendigen ein Toter sein würde“ 526, beruhigt ihn. Eva Raffel ist der Meinung, dass der fast märchenhafte Ton an dieser Stelle das Unrealistische an diesen Gedanken zeigt. 527 Bodo Rolka äußert, Roth habe in seinen Werken versucht, ein zweiseitiges Amerika zu zeigen: einerseits ein Beispiel für die fortgeschrittenste Technik, andererseits ein Beispiel für ein Land, „in dem die Zerstörung der elementaren menschlichen Werte am weitesten fortgeschritten ist“ 528. - das zweite Bild kann man zum Beispiel im Verhalten Sams sehen, der mit menschlichen Werten aufgewachsen ist, aber in Amerika, wo es ums Geld und Geschäft geht, alle diesen Werte wegwirft und dem Vater mit besonderer Eitelkeit erzählt : „Jetzt kommen die Versicherungsagenten zu mir. Ich sehe sie mir an, denke mir: ich kenn das Geschäft, und werfe sie hinaus, eigenhändig. Alle werfe ich hinaus!“ 529 – Amerika wird, setzt Rolka fort, „zu einer Chiffre für das Böse“, und das Böse „manifestiert sich als die zunehmende Entfernung des Menschen von Gott“ 530. In diesem Land setzt das Heimweh Mendel Singers nach Russland ein. Erst in Amerika wird ihm bewusst, dass er dem kleinen ostjüdischen Schtetl Zuchnow, trotz allen dortigen Entfremdungen zugehört. 522
Hiob, S. 126. Vgl. Hiob, S. 127. 524 Vgl. Hiob, S. 139. 525 Hiob, S. 138. 526 Hiob, S. 139. 527 Vgl. Raffel, 225. 528 Rolka, Bodo: Joseph Roths Amerikabild. In: Literatur und Kritik. Heft 70. Salzburg 197, S. 590-598, hier S. 597. 529 Hiob, S. 128. 530 . Rolka, S. 597. 523
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3
Ausbruch der Katastrophe
3.1
Verlust der Familie
Amerika bedeutet aber auch den vollständigen Verlust all dessen, was bislang zur Selbstverständlichkeit gehörte. Der Aufbruch nach Amerika macht die Auflösung der Familie, den Zerfall des Hauses Mendel Singers offenkundig: „Wie morsch muss es doch gewesen sein, dachte Mendel. Es ist morsch gewesen, und man hat es nicht gewusst“ 531. Mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges, während „zum ersten mal die Sorgen das Haus Mendel Singers“ 532 verlassen, zieht Sam, der das Fortleben der Familie gesichert hat, für Amerika in den Krieg, denn „Amerika ist nicht Russland. Amerika ist ein Vaterland. Jeder anständige Mensch ist verpflichtet, für das Vaterland in den Krieg zu gehen“ 533. Er läßt Mirjam den Eltern diese pathetischen Worte ausrichten. Mendel, der einen Sohn „dem Zaren gegeben“ hat, denkt sich, „es wäre genug gewesen“ 534. Er ist nicht überzeugt, dass Amerika ein Vaterland ist, und sucht die Schuld in sich, in seinen eigenen Taten, ohne zu erkennen, wie Bernd Hüppauf es meint, „dass nicht er gesündigt, sondern die Welt um ihn herum sich verändert hat“ 535. Mendel Singers Schuldgefühlt nimmt ihm die Ruhe: Vielleicht war Amerika ein Vaterland, der Krieg eine Pflicht, die Feigheit eine Schande, […] Dennoch,[…] bin ich der Vater, ich hätte ein Wort sagen müssen. » Lange Jahre habe ich gewartet, um einen kleinen Zipfel vom Glück zu sehen. Nun ist Jonas bei den Soldaten, wer weiß, was mit Menuchim geschehen wird, du hast eine Frau, ein Kind und ein Geschäft. Bleib Sam! « Vielleicht wäre er geblieben. 536
Sam fällt im Krieg. Mac, sein bester Freund, kehrt zurück und bringt der Familie Singer Sams „Uhr und die letzten Grüße“ 537. Deborah verkraftet die Todesnachricht ihres Sohnes nicht und stirbt unmittelbar aus Kummer darüber. Mendel, der den Tod Deborahs zunächst scheinbar nicht wahrnimmt, denkt sich: „Auch Menuchim ist gestorben, allein, unter Fremden“ 538. In einem Gespräch mit der toten Deborah
531
Hiob, S. , I/909 (muss finden) Hiob, S. 137. 533 Hiob, S. 146. 534 Hiob, S. 147. 535 Hüppauf, S. 42. 536 Hiob, S. 147. 537 Hiob, S.1 50. 538 Hiob, S. 152. 532
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erbringt Mendel seinen immer noch fest verwurzelten Glauben: „Er ist der Herr, Er weiß, was er tut“ 539. Aber er befindet sich in einer trostlosen Lage. Sein Herz ist leer und er ist nicht mehr Mendel Singer, er ist „der Rest von Mendel Singer“ 540. Mendel setzt das Gespräch mit der toten Deborah fort; in der Wucht seiner Wut bringt er seinen Hass gegen die mörderische Rolle Amerikas, des Pseudo-Vaterlandes, zum Ausdruck: Amerika hat uns getötet. Amerika ist ein Vaterland, aber ein tödliches Vaterland. Was bei uns Tag war, ist hier Nacht. Was bei uns Leben war, ist hier Tod. Der Sohn, der bei uns Schemarjah hieß, hat hier Sam geheißen. In Amerika bist du begraben, Deborah, auch mich, Mendel Singer, wird man in Amerika begraben. 541
Nach den sieben Trauertagen bringt man Mendel Singer die Nachricht von Mirjams Wahnsinn: „Der Teufel ist in sie gefahren“ 542. Sie hat in die Anstalt gebracht werden müssen, und wird auf einer „Bahre“ weggetragen. Eva Raffel gibt zu verstehen, dass man eine Bahre nur für Tote nimmt, einen kranken Menschen transportiert man auf einer Trage. Folglich deutet es darauf hin, dass Mirjam auch nicht mehr zu retten ist. Ihre Krankheit ist eine unheilbare Krankheit. 543 Es gibt überhaupt keine Hoffnung mehr. Mendel ist alles verloren gegangen. Er begreift, dass Amerika nicht die erträumte Rettung gewesen ist. Amerika kann keine Rettung sein. Es hat den Zerfall beschleunigt: „Es war, als hätte er soeben erst die Heimat verloren und in ihr Menuchim, den treuesten aller Toten. Wären wir dort geblieben – dachte Mendel, gar nichts wäre geschehen!“ 544. Über die rettungslose Situation Mirjams äußert Eva Raffel, dass es ein Zeichen für das Versagen Amerikas als einer Lösung für die europäischen Probleme ist, auch für die nachfolgende Generation. 545 Durch den Verlust der Familie geht Mendel den wichtigsten Halt seines Lebens, nämlich sein starker Glaube, auch verloren.
3.2
Verlust des Glaubens
Mendel Singers innere Heimat, sein Glaube, der während der Jahre des Exils unerschütterlich bleibt, der nichts erwartet, hofft oder fürchtet, der jede Neuigkeit 539
Hiob, S. 154. Hiob, S. 154. 541 Hiob, S. 154. 542 Hiob, S. 157. 543 Vgl. Raffel, S. 225; In der Krankheit Mirjams schildert Roth die hoffnungslose Situation seiner geisteskranken Frau, Friedl. Vgl. Bronsen: Biographie, S. 385. 544 Hiob, S. 158. 545 Vgl. Raffel, S. 225. 540
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ausschließt und ihn immer bestärkt, alles mit sich geschehen zu lassen, nichts aber in sich, wird durch diese Abfolge von Unglücksnachrichten und Häufung von Leid erschüttert, und er lehnt sich gegen Gott auf, nachdem seine harten Prüfungen ihn niedergeschmettert haben. Mendel Singer steht in der Mitte des Lebens ohne jemanden an seiner Seite zu haben. „Es fiel ihm ein, dass er schon seit Jahren einsam war. Einsam war er seit dem Augenblick gewesen, an dem die Lust zwischen seinem Weib und ihm aufgehört hatte. Allein war er, allein“ 546. Alle seine Bindungen sind zerbrochen. Nur eine Beziehung ist ihm übrig geblieben, die er zu lösen beabsichtigt; diejenige, die sein ganzes Leben hindurch die wichtigste für ihn gewesen ist, die ihm als der wichtigste Halt seines Lebens, als seine Heimat gilt. Er bricht mit Gott. Zu seiner Schwiegertochter sagt er: „Ein paar Welten habe ich zugrunde gehen sehn, endlich bin ich klug geworden. Alle Jahre war ich ein törichter Lehrer. Nun weiß ich, was ich sage“ 547. Mendel lässt Gott und seinen Glauben in Flammen aufgehen, und murmelt währenddessen die Bilanz seines Lebens: Aus, aus, aus ist es mit Mendel Singer. […] Er hat keinen Sohn, er hat keine Tochter, er hat kein Weib, er hat keine Heimat, er hat kein Geld. Gott sagt: ich habe Mendel Singer gestraft; wofür straft er, Gott? […] Nur Mendel straft er! Mendel hat den Tod, Mendel hat den Wahnsinn, Mendel hat den Hunger, alle Gaben Gottes hat Mendel. Aus, aus, aus ist es mit Mendel Singer. 548
Eva Raffel lässt erkennen, dass Mendel in dieser Episode von sich in der dritten Person spricht, und das heißt in der „größtmöglichen Distanz“; da er sich von Gott lossagte, entfernte er sich weiter von sich selbst als je zuvor: „Das Personalpronomen der größten Nähe bleibt Gott vorbehalten“. 549 Mendels Herz ist „böse auf Gott“, aber, als er das „rotsamtene Säckchen“, in dem seine „Gebetsriemen lagen, sein Gebetsmantel und seine Gebetsbücher“ in den Armen hält, wirft er es nicht in das Feuer hinein. Ein paar Mal hebt er es in die Höhe, seine Arme aber sinken wieder. Die Furcht vor Gott wohnt immer noch „in seinen Muskeln“ 550. Diese Hände haben Fünfzig Jahre, Tag für Tag, „den Gebetsmantel ausgebreitet und wieder zusammengefaltet, die Gebetsriemen aufgerollt und um den Kopf geschlungen und um den linken Arm, dieses Gebetsbuch aufgeschlagen, um und um geblättert und wieder zugeklappt“. Nun in dem Moment weigern sich die Hände, 546
Hiob, S. 161. Hiob, S. 161. 548 Hiob, S. 162. 549 Raffel, S. 226. 550 Hiob, S. 163. 547
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„Mendels Zorn zu hören“. 551 Sidney Rosenfeld meint, dass Mendel Singers Auflehnung gegen Gott der Verzweifelung eines Menschen entwächst, „dessen Lebensfundament gänzlich in der Überzeugung gegründet ist, dass Gott den Schuldigen strafe, das Gebet des Gerechten jedoch erhöre“, und da er sieht, wie sein Glaube widerlegt ist, und „die Welt auf die Hiobsfrage »warum mich?« keine Antwort gibt“, bleibt ihm nichts übrig als „Gott den Gehorsam zu verweigern“. Das Unglück das ihm widerfuhr ist nicht „die Probe des Gerechten, sondern in Wirklichkeit die Tragik seiner eigenen zerklüfteten Welt“. Das Vertrauen des einfachen armen Kinderlehrers „in das Wort und sein Glaube an Gottes Gerechtigkeit“ ist zu groß, und dementsprechend seine Desillusion. 552 Mendels vier Freunde, Menkes, der Obsthändler, Skowronek, der Musikalienhändler, Rottenberg, der Bibelschreiber, und Groschel, der Schuster, die nach Eva Raffel den vier Freunden des biblischen Hiob, Eliphas, Bildad, Zophar und Elihu entsprechen 553, denken, dass Mendel aus lautem Kummer das Haus verbrennen möchte und hindern ihn daran. Darauf erwidert Mendel: Ich will mehr verbrennen als nur ein Haus und mehr als einen Menschen. […] Ihr werdet staunen und sagen: auch Mendel ist verrückt, wie seine Tochter. Aber ich versichere euch: ich bin nicht verrückt. Ich war verrückt. Mehr als sechzig Jahre war ich verrückt, heute bin ich es nicht.Gott will ich verbrennen. […] Gott ist grausam, und je mehr man ihm gehorcht, desto strenger geht er mit uns um. Er ist mächtiger als die Mächtigen, mit dem Nagel seines kleinen Fingers kann er ihnen den Garaus machen, aber er tut es nicht. Nur die Schwachen vernichtet er gerne. Die Schwäche eines Menschen reizt seine Stärke, und der Gehorsam weckt seinen Zorn. 554
Die Freunde Mendels unterbreiten ihm ein Sinnangebot im Hinblick auf den biblischen Hiob: „Erinnere dich an Hiob. Ihm ist Ähnliches geschehen wie dir. Er saß auf der nackten Erde, Asche auf dem Haupt, und seine Wunden taten ihm so weh, dass er sich wie ein Tier auf dem Boden wälzte. Auch er lästerte Gott. Und doch war es nur eine Prüfung gewesen“ 555. Ihre Argumente werden aber von Mendel verworfen: „Habt ihr schon wirkliche Wunder gesehen, mit euren Augen? Wunder, wie sie am Schluss von Hiob berichtet werden?“ 556 Die Versuche der Freunde, Mendel Hoffnung zu schenken, sind umsonst. Mendels innere Heimat, sein Glaube ist zerstört: „Ich bin allein und ich will allein sein. Alle Jahre habe ich Gott geliebt, und er hat mich gehasst. Alle Jahre habe ich Gott gefürchtet, jetzt kann er mir nichts machen. Er kann mich nur noch
551
Hiob, S. 163. Vgl. Rosenfeld, Glaube und Heimat, S. 237. 553 Vgl. Raffel, S. 226. 554 Hiob, S. 164f. 555 Hiob, S. 165. 556 Hiob, S. 165f. 552
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töten. Aber dazu ist er zu grausam. Ich werde leben, leben, leben.“ 557 Und doch lebt er weiter bei dem Musikhändler Skowronnek. Er „betete nicht mehr“ 558, aber „es tat ihm weh, dass er nicht betete. Sein Zorn schmerzte ihn und die Machtlosigkeit dieses Zorns“ 559. Je mehr sich Mendel in seinen Taten von Gott abwendet, umso stärker denkt er an die Vergangenheit, an die ostjüdische Heimat, und umso lebendiger werden ihm die Erinnerungen. Die Zuchnower Heimat wird für Mendel zu einem Ort, an dem er gerne sterben möchte. Mendels Erinnerungen verkörpern die Heimat, wie sie eigentlich sein sollte; dieser Ort hat mit der Realität nichts zu tun. Der Akt des Erinnerns ist eine Flucht aus der Wirklichkeit. 560
4
Die Mythisierung der Heimat
Claudio Magris, der den zweiten Teil des Hiob-Romans, der im amerikanischen Exil angesiedelt ist, der Ghettoliteratur zuordnet, weist nach, dass die Zeugnisse der Ghettoliteratur „in der Tat fast immer Zeugnisse der Vergangenheit“ 561 sind. Er fügt hinzu, dass „das Reale […] in die Erinnerung übergeführt“ wird, und „nur in den Parametern des Gedächtnisses einen Sinn“ 562 gewinnt. Die Verneinung und Umkehrung aller erworbenen Sicherheiten, was seit dem „Fin de siècle“ bis in die dreißiger Jahre die Kultur des mitteleuropäischen Raums gekennzeichnet hat, ist ursprünglich Protest gegen das, was als aktuelle Wirklichkeit des „geschichtlichen Augenblicks“ wahrgenommen wurde, und gegen die „Logik der Geschichte selbst“ 563. Die Bedeutung und Funktion der Vergangenheit wird von Magris weiter erklärt: Die Vergangenheit ist in diesem Fall kein konservatives Modell eines Zeitalters oder einer zu restaurierenden geschichtlichen Kultur, sie ist die Chiffre der Innerlichkeit, die totale Unbedingtheit der Seele, für die alles gleichzeitig ist und nichts vergessen oder abgelegt werden darf. Die Vergangenheit wird zur Utopie als Negation jeder Gegenwart und jedes herrschenden Systems, aller herrschenden Normen. 564
Und so ruft Mendel Singer sich die Erinnerungen an die Vergangenheit ins Gedächtnis, um die harte Wirklichkeit der Gegenwart zu negieren. Da seine Entfremdung und Vereinsamung unerbittlich zunehmen und ihm die Heimatlosigkeit 557
Hiob, S. 168. Hiob, S. 171. 559 Hiob, S. 172. 560 Vgl. Magris: Weit von wo, S. 150. 561 Vgl. Magris: Weit von wo, S. 150. 562 Magris: Weit von wo, S. 150. 563 Magris: Weit von wo, S. 150. 564 Magris: Weit von wo, S. 151. 558
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zur bittersten Erfahrung wird, drängen sich ihm häufiger die Bilder der Zuchnower Heimat ins Bewusstsein. Sie ist nicht jene Heimat, die er verlassen hatte, sondern die, die er sich wünschen würde, eine Utopie, eine mythisierte Heimat. Sidney Rosenfeld weist darauf hin, dass die altheimatlichen Bilder, die im amerikanischen Exil in den Erinnerungen des entwurzelten Mendel Singers ausgeleuchtet werden, ihm schon am Anfang des Aufenthalts in Amerika als „konturlose, ganz aus Klang und Finsternis“ 565 bestehende Landschaft gegenwärtig sind. Es scheint, dass die landschaftlichen Bilder der alten Heimat mit denen des amerikanischen Exils kontrastieren, vor allem aber, wie Sidney Rosenfeld äußert, „der weitgespannte Himmelsraum, das einstige Zeugnis der Allgegenwart Gottes“ 566. Mendel zündet eine Kerze und ging ans Fenster: Da sah er den rötlichen Widerschein der lebendigen amerikanischen Nacht, die sich irgendwo abspielte, und den regelmäßigen silbernen Schatten eines Scheinwerfers, der verzweifelt am nächtlichen Himmel Gott zu suchen schien. Ja, und ein paar Sterne sah Mendel ebenfalls, ein paar kümmerliche Sterne, zerhackte Sternbilder. Mendel erinnerte sich an die hellgestirnten Nächte daheim, die tiefe Bläue des weitgespannten Himmels, die sanftgewölbte Sichel des Mondes, das finstere Rauschen der Föhren im Wald, an die Stimme der Grillen und Frösche. 567
In dieser Passage steht die Farbe Rot für etwas Irdisches und Diesseitiges, die mit der tiefen Bläue des heimatlichen Himmels, die das Heiligtum und etwas Jenseitiges verkörpert,
kontrastiert.
Das
zeigt,
welche
unantastbar
heilige
Rolle
die
Heimatvorstellung für Mendel spielt. Mendel denkt ständig an eine Heimkehr. 568 Ihm fällt es schwer, die amerikanische Welt nicht mit der heimatlichen zu vergleichen. Er kann nicht die schöne Natur des Exillandes anschauen ohne sich dabei an die wilden Nächte daheim, das Zirpen der Grillen und das Quaken der Frösche zu erinnern. 569 Als die Schläge des Schicksals Mendel gänzlich treffen, gesellen sich zu „den vielen Stimmen, in denen die Heimat sang und redete“, zum „Rauschen des Waldes“, zum „Zirpen der Grillen und zum Quaken der Frösche“ 570, die die sehnsuchtsvolle Erinnerung wieder wachrufen, so Sidney Rosenfeld, „weitere, konkrete Erscheinungen der russischen Landschaft, welche Mendel Singer vorher nie mit vollem Bewusstsein
565
Rosenfeld, Glaube und Heimat, S. 235. Rosenfeld, Glaube und Heimat, S. 235. 567 Hiob, S. 140. 568 Vgl. Hiob, S. 136. 569 Vgl. Hiob S. 133. 570 Hiob, S. 140. 566
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wahrgenommen hatte“ 571. Schon im Wartesaal der Irrenanstalt, in die man Mirjam einliefert, blickt Mendel eine Blumenvase an und es werden die Bilder der russischen Landschaft heraufgerufen: Es waren gelbe Schlüsselblumen, Mendel erinnerte sich, dass er sie daheim auf den grünen Wiesen oft gesehen hatte. Die Blumen kamen aus der Heimat. Er gedachte ihrer gern. Diese Wiesen hatte es dort gegeben und diese Blumen! Der Friede war dort heimisch gewesen, die Jugend war dort heimisch gewesen, und die vertraute Armut. Im Sommer war der Himmel ganz blau gewesen, die Sonne ganz heiß, das Getreide ganz gelb, die Fliegen hatten grün geschillert und warme Liedchen gesummt, und hoch unter den blauen Himmeln hatten die Lerchen getrillert, ohne Aufhören. 572
Jedes Einzelbild tritt in dieser Darstellung mit besonders großer Leuchtkraft hervor, die durch die Adjektive intensiviert wird und zur vollen Wirksamkeit gelangt: der heimatliche Himmel ist „ganz“ blau, die Sonne „ganz“ heiß, das Getreide „ganz“ gelb. Die Wiesen, die einmal bedrohlich und finster gewesen waren, verlieren ihre dunkle Anonymität und erscheinen grün voll warmen Lebens; das gehässige Kläffen der Hunde verwandelt sich zum Summen der Fliegen und zu Lerchengesang. Die Sehnsucht nach der Heimat wird einem gewissen Plausibilitätsanspruch unterworfen und der Mythos in die Vergangenheit verlegt. Jetzt, da die Zuchnower Heimat unerreichbar fern ist, da die Jugend und der Friede vergangen sind, da das Heimatliche zeitlich und geschichtlich verschwunden ist, wird das ostjüdische Schtetl und seine Umgebung, die einst als feindlich wahrgenommen wurde, noch einmal als Erinnerung an ein verlorenes Glück wiederhergestellt. Weit mehr als die Sehnsucht nach Heimat und dem längst verschwundenen Frieden der Seele ist Mendels überaus große Sehnsucht nach dem in der Zuchnower Heimat zurückgelassenen Sohn Menuchim. Seit dem Auszug aus Zuchnow
taucht keine
einzige Erinnerung in Mendel Singer auf, in der Menuchim nicht im Mittelpunkt gestanden hätte. Sidney Rosenfeld ist der Meinung, dass Zuchnow dem vereinsamten Mendel Singer erst zur Heimat werden kann, als durch den Tod Schemarjahs im Krieg die letzte Verbindung mit den Lebenden abgeschnitten ist und nur noch „der dort vermeintlich gestorbene und begrabene Menuchim als einziges, wenngleich unerreichbares Ziel seiner Sehnsucht bleibt“. 573 Das Wunder am Ende des Romans, das Wiedersehen mit dem totgeglaubten Sohn erfüllt diese starke Sehnsucht.
571
Rosenfeld, Glaube und Heimat, S. 236. Hiob, S. 158. 573 Rosenfeld, Glaube und Heimat, S. 236f. 572
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Erlösung durch die Wiederbegegnung des Vaters mit dem Sohn
Und so geht schließlich die Prophezeiung des Wunderrabbis in Erfüllung und der geheilte Menuchim findet seinen Vater wieder. Das Ende des Romans mit der wunderbaren Gesundung Menuchims ist wegen der legendenhaften, märchenhaften Ausschmückungen oft angegriffen worden. Sidney Rosenfeld charakterisiert den Schluss als „problematisch“ und „filmhaft“ 574, Ludwig Marcuse als „wohl nur aufgesetzt“ und „kompositorische Verlegenheit“ 575; dazu stellt Peter W. Jansen fest, dass „das mäßige Wunder […] im Roman unmäßig“ 576 scheint. Hermann Kesten behauptet, dass Roth ursprünglich an einen anderen Schluss gedacht habe und erst durch ihn dazu gekommen sei, seinen Hiob-Roman mit einem Hiob-Wunder zu Ende zu bringen. 577 Demgegenüber weist David Bronsen auf die frühe Prophezeiung des Wunderrabbis hin, die über den ganzen Roman leitmotivisch einen Schatten wirft und Erfüllung beansprucht. 578 Man kann sagen, dass der wunderbare Schluss des Romans der großen Erwartung entspricht, die seit der Prophezeiung des Wunderrabbis atmosphärisch über der Geschichte schwebt. Man sieht voraus und erwartet, dass das Wunder geschieht, und in dem Sinne ist das Wunder am Ende die logische Konsequent des Romanverlaufes. Hiobs große Leiden – ob in der Bibel oder im Roman eines einfachen Mannes - sollen durch ein großes angemessenes Wunder ihr Ende finden. Ein „Happyend“ bedeutet nicht in jedem Falle das schlechteste Ende einer Geschichte. Jedenfalls kommt der erste Hoffnungsschimmer für, das versteinerte Herz Mendel Singers aus Europa. Mendel, der bei seinem Freund Skowronnek dem Musikhändler wohnt, legt eines Tages heimlich eine Grammophonplatte auf, und es erklingt ein Lied, das Mendel zutiefst berührt. Beim Anhören dieser Musik weint Mendel zum ersten Mal seit langer Zeit. Das Lied heißt „Menuchims Lied“: „Es rann wie ein kleines Wässerchen und murmelte sachte, wurde groß wie das Meer und rauschte. »Die ganze Welt höre ich jetzt«, dachte Mendel. Wie ist es möglich, dass die ganze Welt auf so einer kleinen Platte eingraviert ist?“. 579 Eva Raffel meint, dass für Mendel Singer der Trost und die Erlösung von seinem Schmerz nur aus Europa kommen konnte. Sie schreibt: „Europa war – nicht nur in Roths Augen- zerstört und krank wie Menuchim, 574
Rosenfeld, Glaube und Heimat, S. 227. Marcuse, Ludwig: Radetzkymarsch. In: Das Tagebuch 13 (1932), S. 1548-1550. 576 Jansen, Peter Wilhelm: Weltbezug und Erzählhaltung. Eine Untersuchung zum Erzählwerk und zur dichterischen Existenz Joseph Roths, Freiburg 1958, S. 179. 577 Vgl. Bronsen, Biographie, S. 385. 578 Vgl. Bronsen, Biographie, S. 385. 579 Hiob, S. 179. 575
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aber man hatte genauso wenig Recht, es zu verlassen, wie Mendel nicht das Recht hatte, den kranken Sohn zu verlassen“ 580. Rottenberg, ein Freund von Mendel sagt ihm: „Vielleicht, lieber Mendel, hast du Gottes Pläne stören versucht, weil du Menuchim zurückgelassen hast? Ein kranker Sohn war dir beschieden, und ihr habt getan, als wäre es ein böser Sohn“ 581. Daher ist das einzige Ziel Mendels, nach Europa zurückzukehren zu Menuchim, um dort für ewig einzuschlafen, denn seine Welten sind gestorben. 582 Am Pessachabend sitzt Mendel mit der Familie Skowronnek zusammen beim feierlichen Seder. Er sitzt am Rande des Tisches und stützt ein den Tisch verlängerndes Brett. Ohne ihn als Stütze würde der ganze Tisch zusammenbrechen.583 Man kann davon ausgehen, dass obwohl Mendel „als Geringster“ 584 am äußersten Rand des Tisches saß, sein Vorhandensein trotzdem dringend notwendig ist und seiner marginalen Rolle als ostjüdischer Patriarch in der modernen amerikanischen Gesellschaft entspricht. Man kann auch sagen, dass ohne das Wesen der Tradition, trotz seiner Altmodischkeit, der Zusammenhalt der Ostjuden unmöglich wäre. Als Mendel der Sederabendstradition gemäß die Tür für den Propheten Elias, der die Ankunft des Messias ankündigt, öffnet, tritt Menuchim, der sich als Alexej Kossak vorstellt, ein. 585 Eva Raffel gibt die Erklärung: Menuchim oder Menahem ist nach einem messianischen Text aus dem Palästinensischen Talmud der Name des Messias. In einer anderen messianischen Erzählung 586 sucht der Seher Elia am Tage der Tempelzerstörung den Messias und findet eine klagende Mutter vor. Auf die Frage nach dem Grund ihrer Klage antwortet sie, der Knabe sei schließlich „an dem Tage geboren, da das Haus Gottes zerstört wurde“. Elia bedeutet ihr, den Knaben zu hüten und auf ihn achtzugeben, denn „durch ihn wird dereinst großes Heil euch zuteil werden“. Fünf Jahre später sucht Elia diese Frau wieder auf, um nach dem „Erlöser Israels“ zu schauen. Er findet sie vor der Tür sitzend, den Knaben auf dem Boden liegend. Sie jammert: „Füße hat er und kann nicht gehen, Augen hat er und kann nicht sehen, Ohren hat er und kann nicht hören, einen Mund hat er und kann nicht sprechen, und immer liegt er da gleichwie ein Stein“587. Die Parallele zur Figur des Menuchim im Roman ist nicht zu übersehen. 588
580
Raffel, S. 227. Hiob, S. 166. 582 Vgl. Hiob, S. 187. 583 Vgl. Hiob, S. 194. 584 Raffel, S. 227. 585 Vgl. Hiob, S. 197. 586 Ben Gorion, Micha Joseph: Aus alten Büchern. In Bethlehem, in Jerusalem und in Rom. Fünf messianische Texte. In: Vom Judentum. Ein Sammelbuch. Hrsg. vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag, Leipzig 1913, S. 267-273. 587 Ben Gorion: S. 268. 588 Eva Raffel, S. 228. 581
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Das überraschende Wiedererkennen von Vater und Sohn markiert den Umschwung, den Höhepunkt sowohl des Lebens Mendel Singers als auch des Romans. Menuchim, ein gefeierter Musiker, kommt aus Europa, wurde in Europa geheilt, will den Vater nach Hause, nach Europa, holen. Auch für Mirjam hofft Menuchim auf eine Genesung in Europa: „Vielleicht nehmen wir sie mit. Vielleicht wird sie in Europa gesund!“ 589. Eva Raffel äußert, dass man an so etwas Altmodisches wie ein Wunder nur in Europa glauben kann, in Amerika glaubt man an die moderne Medizin. 590 Das Wunder Menuchim ist die Erlösung Mendel Singers. Es geschieht, weil in Mendel die Bereitschaft zur Versöhnung allmählich aufbricht, zur Versöhnung mit der Familie, der feindlichen Natur, der dahinschwindenden Zeit und mit Gott. 591 Menuchim bringt dem Vater auch die verlorengegangene Hoffnung auf ein Wiederfinden des Sohnes Jonas, auf eine Gesundung Mirjams und auf die Heimat: „Aber ihr dürft die Hoffnung immer noch nicht aufgeben“ 592. Wolfgang Müller-Funk meint: das Wiederfinden Menuchims bedeutet „wiedergefundene Identität, Abkehr von der trügerischen Heilsversprechung Amerika, Rückkehr in die Heimat“ 593 Esther Steinmann weist darauf hin, dass das Wunder Menuchim „also zugleich das Wunder Kossak“ ist, „ein Name, in dem sich vielleicht auch die Rückkehr zum Ausgangspunkt in der Beziehung Mendels zu Deborah andeuten mag“ 594. Mendel geht mit seinem Sohn ins Hotel Astor. Dort nimmt er zum ersten Mal die Erscheinungsformen der modernen Gesellschaft, ohne von ihnen verstört zu werden. Er macht eine Verwandlung durch. Mendel Singer betritt die Halle des Hotels: Gebeugt, im grünlich schillernden Rock, das rotsamtene Säckchen im Arm. […] er betrachtete das elektrische Licht, den blonden Portier, die weiße Büste eines unbekannten Gottes vor dem Aufgang […] Er stieg in den Lift und sah sich im Spiegel neben seinem Sohn, er schloss die Augen, denn er fühlte sich schwindlig werden. […] er schwebte in den Himmel. 595
Mit dem Wiederfinden Menuchims findet Mendel seine schon seit langer Zeit verlorengegangenen Sinne. Er geht ins Zimmer seines Sohnes und dort „sah er zum ersten mal die Nacht von Amerika aus der Nähe“ 596; er kann die Farben und die
589
Hiob, S. 216. Vgl. Raffel, S. 228. 591 Vgl. Steinmann, S. 47. 592 Hiob, S. 201. 593 Müller-Funk, S. 129. 594 Steinmann, S. 52. 595 Hiob, S. 210. 596 Hiob, S. 211. 590
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Geräusche anders wahrnehmen. Anders als bei seiner ersten Rundfahrt in New York sieht er über der amerikanischen Nacht: Den geröteten Himmel, die flammenden, sprühenden, tropfenden, glühenden, roten, blauen, grünen, silbernen, goldenen Buchstaben, Bilder und Zeichen. Er hörte den lärmenden Gesang Amerikas, das Hupen, das Tuten, das Dröhnen, das Klingeln, das Kreischen, das Knarren, das Pfeifen und das Heulen. Dem Fenster gegenüber, an dem Mendel lehnte, erschien jede fünfte Sekunde das breite lachende Gesicht eines Mädchens, zusammengesetzt aus lauter hingesprühten Funken und Punkten […] Es war eine Reklame für eine neue Limonade. 597
Mendel versöhnt sich mit Amerika. Er bewundert sogar diese „vollkommenste Darstellung des nächtlichen Glücks und der goldenen Gesundheit“. 598 Er versöhnt sich mit der Vergangenheit, in dem er Menuchim mit „weiter, weiter“ 599 anspornt, als dieser ihm Erinnerungen aus seiner Kindheit erzählt. Indem er Menuchim zuhört, durchlebt Mendel die alte Zeit in der Heimat erneut; er sieht Mirjam vor sich „im goldenen Schal, mit den blauschwarzen Haaren, flink und leichtfüßig, eine junge Gazelle“. 600 Mendel versöhnt sich mit der Natur, die ihm einmal fremd und feindlich war: beim Ausflug ans Meer gelangt der Vater mit seinem Sohn in eine Welt, wo der weiche Sand gelb war, das weite Meer blau und alle Häuser weiß. […] Die Amseln hüpften dicht an ihn heran. […] Die Wellen des Meeres plätscherten mit sanftem regelmäßigem Schlag an den Strand. Am blassblauen Himmel standen ein paar weiße Wölkchen. 601
Diese vollkommene Harmonie wird begleitet von seiner Versöhnung mit einem neuen Bild von Gott. Gott ist nun nicht mehr der strafende böse Jahwe, sondern ein barmherziger Gott, der ihm erlaubt, zum ersten mal seine „Mütze aus altem Seidenrips abzulegen und die Sonne auf seinen alten Schädel scheinen zu lassen“ 602. Inmitten dieses Glückes glaubt er „dass Jonas sich einmal wieder einfinden würde und Mirjam heimkehren […] Er selbst, Mendel Singer, wird nach späten Jahren in den guten Tod eingehen, umringt von vielen Enkeln und »satt am Leben«, wie es im Hiob geschrieben stand“. 603 Und „so grüßte Mendel Singer die Welt“. 604 Durch die Rückkehr des gesund gewordenen Sohnes erfährt Mendel die Erlösung. Menuchim ist der Retter des Vaters. Mendel findet zum ersten Mal Ruhe und Frieden
597
Hiob, S. 211. Hiob, S. 211. 599 Hiob, S. 212f. 600 Hiob, S. 213. 601 Hiob, S. 215. 602 Hiob, S. 215. 603 Hiob, S. 215. 604 Hiob, S. 215. 598
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im Leben und „ruhte aus von der Schwere des Glücks und der Größe der Wunder“. 605 Man kann aus dem Schluss des Romans schließen, dass die Rothsche Heimat weder in Osteuropa noch in Amerika liegt. Die ersehnte Heimat des Ostjuden in der Diaspora ist der Mythos einer erträumten Heimat, die in der äußeren Wirklichkeit nicht existiert. Die ostjüdische Heimat liegt im Innern. Solange der Ostjude nicht zu sich selbst gefunden hat, solange er den Frieden mit Gott, der Tradition und sich selbst nicht erreicht hat, fühlt er sich nirgendwo heimisch. Die Unmöglichkeit der Heimat entsteht aus der Entfremdung mit sich selbst, der Natur und den Menschen. Der Weg zu sich selbst geht durch die Heimatlosigkeit, und sobald der Ostjude den inneren Frieden gewinnt, kann er Hoffnung haben auf das Wiederfinden der Heimat, beziehungsweise auf das Gefühl des Heimischseins entweder in Osteuropa oder möglicherweise einer Heimatstätte in Amerika.
605
Hiob, S. 217.
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Zusammenfassung Seit seiner skeptischen Wende in den dreißiger Jahren gab Joseph Roth die Idee des Absoluten auf. Weder im wunderbaren Schluss des Hiob-Romans noch in der Mythisierung der ostjüdischen Heimat kann noch eine Spur von dieser Idee gefunden werden. Das Mythische betrachtete er nicht als Ort der absoluten Wahrheit, sondern eher als eine Hilfskonstruktion für das Weiterleben, beziehungsweise Überleben in einer Welt voller Hoffnungslosigkeit, voller Hässlichkeit. Joseph Roths Bindung an die ostjüdische Welt entwickelte sich, als diese vernichtet wurde. Bedingt durch die Unwiederbringlichkeit der verlorenen Welt der Ostjuden fand er in ihr bestimmte Momente und Werte, die dem Menschen Lebenshalt, Gelassenheit und Hoffnung schenken. Roth fand in der ostjüdischen Welt und der des alten habsburgischen Österreich ein idealisiertes Exemplar für die Welten, die schon gestorben waren: die Welten seiner Werte. Diese beiden verlorenen Welten – die des Ostjudentums und der habsburgischen Monarchie – ließen seinen Traum von einem menschenwürdigen hoffnungsvollen Leben auch in den finsteren Zeiten seines eigenen Daseins nicht ersterben. Der Raum wo diese beiden Welten zusammenkamen war Galizien. Galizien – sowohl im polnischen als auch im russischen Raum – fungiert in Roths Werk als ‚die verlorene Heimat’. Dieses Galizien war Roths eigene Heimat, wo er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte; in genau den gleichen landschaftlichen und ethnischen Besonderheiten dieses Raumes. Diese kleine galizische Heimat und das Leben in dem winzigen ethnischen Raum des Schtetl waren zeitlebens das Ziel seiner Sehnsüchte. Roth verließ diese Heimat ganz früh und kehrte nie wieder dorthin zurück. Er wusste, dass ihm keine Rückkehr mehr möglich sein wird. Somit mythisierte er die unwiederbringliche Heimat. Er ließ seinen Protagonisten das Gleiche tun. In seinem Werk erscheint diese Heimat oft aus der Perspektive der Emigranten, die sie verlassen haben und sich in einem fremden Land an ihre Bilder, Gerüche, Geschmäcker, Landschaften und Menschen erinnern. In Hiob idealisiert Roth die heimatlichen Werte aus der Perspektive des Exils heraus. Der Protagonist Mendel Singer, der sich in seiner ostjüdischen Schtetlwelt in der russischen Heimat fremd und einsam fühlt und das Land als ein verhängnisvolles Land von Bedrohung und Untergang wahrnimmt, beginnt, diese verfremdete Heimat zu idealisieren, nachdem er sie verlassen hat, um ins amerikanische Exil zu ziehen. Es gibt zwischen Mendel und seinem neuen Umfeld, der modernen hoch technologisierten
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Gesellschaft Amerikas gar keinen Berührungspunkt. Daher nimmt er seinen neuen Zustand nur als einen vorübergehenden Zustand wahr und träumt Tag und Nacht von der Rückkehr nach Hause. Erst durch den Ausbruch des ersten Weltkrieges und die daraus folgende Zerstörung seiner Heimat und seiner Familie verliert Mendel alle seine alten Bindungen, die ihm am stärksten die Heimat verkörpern. Auch sein unmittelbarer liebevoller Glaube an Gott, der ihm als ein innerliches Zuhause gilt, geht ihm verloren und in dem hoffnungslosesten Moment seines Lebens bricht er mit Gott wegen all der Schläge, die Gott ihm zugefügt hat. In diesem trostlosen Zustand kehren die Bilder der verlorenen russischen Heimat immer stärker, wacher, bunter und idealisierter in seine Erinnerung zurück, als ob er zum ersten Mal die Schönheiten seiner Heimat wahrnehmen würde. Es sind nicht die Bilder jener Heimat, die er verlassen hat, sondern die Bilder einer Utopie; die Bilder der Heimat, nicht wie sie in der Wirklichkeit gewesen ist, sondern wie er sie sich wünschen würde. Er mythisiert die alte russische Heimat, weil ihm die Unmöglichkeit dieser Heimat bewusst ist. Es bleibt ihm nichts übrig, außer einer blassen Hoffnung, nach Russland zurückzugehen und irgendeine Spur von seinem kranken, in Russland zurückgelassenen Sohn Menuchim zu finden. Die Geschichte Mendel Singers findet ihren Schluss in einer wunderbaren Weise. Menuchim kommt geheilt und prächtig als ein großer, ruhmreicher Musiker nach Amerika, um den Vater zu holen. Das Wiedererkennen von Vater und Sohn ist der Höhepunkt des Romans. Das Wunder Menuchims scheint zugleich das Wunder Mendel Singers zu sein. Durch dieses Wunder versöhnt sich Mendel mit der Vergangenheit und auch mit der Gegenwart. Er zieht mit Menuchim in dessen Hotel ein und kommt dort zum ersten Mal – aller Sorgen frei – zu Ruhe. Durch Menuchims Wiederfinden öffnet sich Mendel Singer und findet zu sich selbst und vor allem zu Gott. Der Schluss zeigt, dass das größte Problem der jüdischen Heimatfindung eigentlich die ‚seelische Obdachlosigkeit’ ist. Solange der Ostjude seine innerliche Heimat nicht findet, bleibt ihm die Möglichkeit einer Heimatfindung im Äußeren unvorstellbar. Für einen entwurzelten Ostjuden ist die Hoffnung das einzige, was ihm bleibt. Hoffnung ist die stärkste Motivation für die Suche, und in Hiob wird ein Suchender dargestellt, der am Ende seines Lebens anscheinend einen Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit seines irdischen Daseins gefunden hat. Es ist der Versuch, im Wunder, in der Gnade Gottes, eine Heimat zu finden. Mendel Singers Schluss gibt Zeugnis davon, dass man die Gnade Gottes erleben kann, sowohl im russischen Schtetl als auch in Amerika.
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Erklärung Die Unterzeichnete versichert, dass sie die vorliegende, schriftliche Hausarbeit selbständig verfasst und keine anderen, als die von ihnen angegebenen Hilfsmittel benutzt hat. Die Stellen der Arbeit, die anderen Werken dem Wortlaut oder dem Sinne nach entnommen sind, wurden in jedem Fall unter angegebenen Quellen kenntlich gemacht.
München, den 2. Juni 2009
Kianoosh Sadigh
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Lebenslauf Kianoosh Sadigh
Echingerstr. 10e, 80805 München Telefon: 017620501900 Email:
[email protected]
Persönliche Angaben
Geburtsdatum:
28.Juni.1970
Geburtsort:
Teheran/Iran
Familienstand:
ledig
Staatsangehörigkeit: iranisch
Schulische Bildung
1976-1981:
Grundschule, Bahare-No, Teheran-Iran
1981-1984:
Mittelschule, Nour, Teheran-Iran
1984-1988:
Gymnasium, Schohadaye-Hafte-Tir, TeheranIran
Studium:
1990-1994:
Studium Persische Sprache und Literatur, Gilan-Universität, Rasht-Iran. Abschluss B.A.
Seit 2002:
LMU München: Fächer: Neuere deutsche Literatur Orientalistik/Semitistik
Berufserfahrung:
1994-2000:
Forscherin und Assistentin in der Geschichtsabteilung des Zentrums der großen islamischen Enzyklopädie, Teheran-Iran
1994-2000:
Freiberufliche Autorin von islamwissenschaftlichen und literarischen Artikeln in verschiedenen Forschungszentren, Teheran-Iran
1998-2000:
Freiberufliche journalistische Tätigkeit bei der Zeitschrift „Zanan“ (Frauen), TeheranIran
Seit 2002:
Buchhändlerin in München. Fachkraft in der Buchhandlung Avicenna, Amalienstr. 91 für islamwissenschaftliche Bücher
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Fremdsprachen
Persisch
Muttersprache
Deutsch
DSH Zertifikat (2002)
Englisch
Mittelkentnisse
Arabisch
Großes Arabicum LMU
Hebräisch
Großes Hebraicum LMU
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