Das Gemeinschaftserlebnis im Bierzelt (Ostschweiz am Sonntag, 27.9.2015)

June 29, 2017 | Author: Konrad Kuhn | Category: Rituals
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Reflexe 19

27. September 2015 Ostschweiz am Sonntag

VW hat sich gründlich verfahren

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oderne Autos sind rollende Computer. Alles, was der Wolfsburger VolkswagenKonzern zur Manipulation brauchte, befindet sich schon an Bord. Die überall im Fahrzeug installierten Sensoren registrieren, wenn sich etwa nur die Räder der Antriebsachse drehen, die anderen aber nicht, oder wenn bei voller Fahrt das Lenkrad nicht genutzt wird. Sie schliessen daraus: Rollenprüfstand, Laborbedingungen – ein Test! Es brauchte nur wenige zusätzliche Programmzeilen der Bordsoftware, damit dem Dieseltreibstoff bei der Verbrennung weniger Luft beigemischt wird und so weniger Stickoxide entstehen. Im Labor haben die Motoren dadurch bis zu 40mal tiefere Schadstoffwerte erreicht als im normalen Strassenverkehr. Auf der Strasse waren vernünftige Resultate lange Zeit nicht messbar, nun aber gibt es Methoden, die zuverlässige Werte liefern. Deshalb fiel die Schummelei von VW in den USA auf. Auffällige Diskrepanzen zwischen den Laborwerten und dem effektiven Schadstoffausstoss gab es auch bei anderen Herstellern, einen systematischen Betrug hat bisher aber nur der Branchenprimus aus Wolfsburg eingeräumt. Der Jubel des Konzerns, gerade zum grössten Autohersteller der Welt aufgestiegen zu sein, ist verklungen. Sein Selbstverständnis spiegelt sich noch im ebenso schlichten wie cleveren Werbeclaim «das Auto». Ingenieurskunst made in Germany galt lange als Mass aller Dinge auf vier Rädern. Nun wurde Volks-

Blatter ist nicht mehr als ein Symptom

wagen gründlich vorgeführt; ausgerechnet die Amerikaner sind es, die auf den Umweltsünder aus Deutschland zeigen können – und weiterhin mit prähistorischen Benzinschluckern rumkurven. Der Imageschaden für VW lässt sich kaum beziffern, gemessen an VWKalauern in sozialen Netzwerken ist er aber immens. Beispiel: «Sag etwas Dreckiges!», flüstert sie ihm ins Ohr. Er: «Golf Diesel.» Volkswagen muss mit einer Milliardenbusse rechnen, mit Rückrufaktionen, mit Schadenersatzklagen. Der Schaden begrenzt sich aber nicht auf die USA: Betroffen sind weltweit wohl elf Millionen Fahrzeuge der Marken VW, Audi, Seat und Skoda mit Dieselmotoren nach der Euro-5-Norm der Modelljahrgänge 2009 bis 2014. Diese sollen nun kostenlos nachgerüstet werden, verspricht VW. Die Schweiz verbietet den Verkauf von betroffenen Fahrzeugen – allerdings stehen bei den Händlern heute Autos nach Euro-6-Norm, deren Schadstoffwerte nicht manipuliert wurden. Was die Industrie mehr interessieren dürfte: Die EU und die USA wollen Abgastests verschärfen und Tests im Strassenverkehr, nicht nur unter Laborbedingungen, einführen. Dies nicht nur als Reaktion auf den VW-Skandal, sondern auch auf den Umstand, dass die stetig verschärften Schadstoffgrenzwerte für Autos zwar offiziell eingehalten werden, Messungen in Städten aber oft ein ganz anderes Bild zeigen. Daraus lässt sich schliessen: Die Autohersteller sind entweder nicht fähig oder aber nicht willens, die strengen Vorschriften ein-

Im Labor haben die Motoren bis zu 40mal tiefere Schadstoffwerte.

Philipp Landmark philipp.landmark!tagblatt.ch

zuhalten. Technische Lösungen zur verbesserten Abgasreinigung gibt es durchaus, doch diese Technik ist teuer. Dafür bezahlen will niemand. Bei den meisten Käufern steht das pure Fahrvergnügen im Mittelpunkt, ökologische Aspekte kommen unter die Räder. Die Autoindustrie zeigt sich so kompromissbereit wie ihre Kundschaft: eigentlich gar nicht. Das alljährliche Neuheiten-Feuerwerk begeistert immer wieder mit faszinierenden Autos, die nur eines nicht sind: wirklich innovativ. Das

liegt auch an den Kunden, die Bestrebungen, saubere Fahrzeuge anzubieten, bisher kaum honorieren. Es wird nicht verwundern, wenn sich der VW-Skandal in den nächsten Wochen noch ausweiten wird. Lange wird der Schock deswegen nicht anhalten, der ungebrochene Drang nach individueller Mobilität wird der Autoindustrie bald wieder glückliche Momente bescheren. Der hässliche Kratzer am Selbstverständnis der Autobauer könnte freilich Positives bewirken: Dann nämlich, wenn Ingenieure weltweit beweisen wollen, dass sie tatsächlich saubere Autos konstruieren können und die Manager diese dann auch vom Band laufen lassen. Bei Volkswagen muss sich das Management zwischen dem traditionellen Familienstreit Porsche-Pi¨ech und staatlicher Mitsprache erst einmal neu orientieren. VW-Regent Martin Winterkorn musste den Hut nehmen. Auch wenn er tatsächlich nicht gewusst haben sollte, dass sein Konzern systematisch betrügt, hat er die Verantwortung zu übernehmen. Neu lenkt der bisherige Porsche-Chef Mathias Müller den Konzern, der innert Tagen an den Börsen einen Drittel seines Werts eingebüsst hat. Irritierenderweise nimmt Winterkorn verschiedene andere Spitzenfunktionen im VW-Universum weiterhin wahr. Sollte er unter Druck auch diese aufgeben, muss er nicht darben: Für sein Ruhegehalt sind weit über 20 Millionen Euro zurückgestellt worden. Und, ja: Einen Dienstwagen bekommt er auch. Es muss ja kein Diesel sein.

Toms Welt: Winterkorns Abgang

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un hat es auch ihn erwischt. Seit Freitag ermitteln die Behörden gegen Fifa-Präsident Sepp Blatter. Auch wenn es viele kommen sahen, ist die Nachricht bemerkenswert. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 1998 war Blatter immer wieder Gegenstand von Anwürfen und Verdächtigungen. Etwas Konkretes nachweisen konnte man ihm nie – bis diese Woche die Bundesanwaltschaft genug Anhaltspunkte sah, um ein Strafverfahren zu eröffnen. Auch wenn mit ihm eine Reizfigur gefallen ist, die für viele die personifizierte Korruption darstellt: Es geht bei den Problemen der Fifa um mehr als um die Person Sepp Blatter. Das machen insbesondere die Vorgänge im höchsten Gremium des Verbands klar, dem FifaExekutivkomitee. Dort sitzen jene 25 Personen, die über die Austragung der Weltmeisterschaft entscheiden. Seit 2010 kam es im Gremium zu nicht weniger als zehn unfreiwilligen Abgängen – alle wegen Korruption. Darunter sind klingende Namen wie Mohamed bin Hammam (Katar), Jack Warner (Trinidad und Tobago), Ricardo Teixeira (Brasilien) oder Chuck Blazer (USA). So mies der Ruf dieser Leute ist: Alle sind wie Blatter die logische Folge eines Systems, das auf Vetternwirtschaft und Intransparenz basiert. Wer glaubt, einige Spitzenfunktionäre austauschen zu können und damit das Problem gelöst zu haben, irrt. Was es braucht, ist eine grundlegende und strukturelle Reform der Fifa. Der Weltfussballverband ist von Natur aus korruptionsanfällig. Es geht um viel Geld, über das wenige Leute entscheiden. Kommt hinzu, dass viele Entscheidungsträger aus Staaten kommen, in denen Korruption weit verbreitet ist. Eine Reform muss auf verschiedenen Stufen ansetzen. Ein Integritäts-Check für die Fifa-Delegierten der Landesverbände könnte sicherstellen, dass diese den Interessen ihrer Fussballverbände und nicht ihren eigenen nachgehen. Dann braucht es transparentere Verfahren, insbesondere bei der Präsidentschaftswahl und der Vergabe von Weltmeisterschaften. Denn wenn niemand weiss, wer wie abgestimmt hat, ist es auch schwierig, die Entscheidungsträger für ihr Stimmverhalten verantwortlich zu machen. Schliesslich muss etwas gegen die personelle Verfilzung unternommen werden. Zu oft wäscht heute eine Hand die andere. Eine Amtszeitbeschränkung für das Präsidium und das Fifa-Exekutivkomitee könnte helfen, die Vetternwirtschaft einzudämmen. Bleibt die Frage, ob diese Reform im heutigen System eine Chance hat. Denn der Widerstand der Günstlinge wird gross sein.

Roger Braun roger.braun!ostschweiz-am-sonntag.ch

Gastkommentar – Konrad Kuhn über die Oktoberfest-Welle und den Wandel von Bräuchen

Das Gemeinschaftserlebnis im Bierzelt

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etzt sind sie wieder überall – die Oktoberfeste. In jeder grösseren Stadt findet sich eine Wiesn, jede bessere Beiz wirbt mit Oktoberfest, Brezn und Bier. Weit weg vom Original in München verkleiden Menschen sich mit bayrischen Trachten (oder was sie dafür halten), verspeisen Hendl und trinken vor allem Bier. Ebenso zuverlässig wie dieses Fest stets im September ansteht, melden sich auch jene Stimmen, die über «fremde Bräuche», über «unechte Feste» und über «Kommerz-Bräuche» klagen. Als Kulturwissenschafter sieht man vieles nüchterner: Weder ist es «schon immer so gewesen», noch sind Bräuche unveränderbar. Zwar ist der Wunsch nach Konstanz verständlich, gerade angesichts einer sich schnell wandelnden Welt: Das zweitgrösste Oktoberfest ist anscheinend jenes im chinesischen Qingdao, dicht gefolgt von einer kanadischen und einer brasilianischen Version. Gerade eine so globalisierte Ausbreitung eines Brauches weckt Ängste, sie kann allerdings auch den Blick dafür schärfen, dass sich bei allen Bräuchen viel Dynamik, Übernahme und Veränderung

feststellen lässt. Auch traditionelle Bräuche wandeln sich ständig: Gerade bei den zahlreichen Herbstbräuchen – der Herbst ist eine Umbruch- und Überflusszeit – wie den Herbstmessen, dem Berner Zibelemärit, aber auch bei neueren Entwicklungen wie den Räbenlichterumzügen oder Halloween zeigen sich Elemente einer «Eventisierung» und «Superlativierung»: Die Anlässe werden stets grösser und zielen verstärkt auf das Erlebnis. Zahlreich sind die Beispiele für «wiederbelebte», ja gar «neu erfundene» Bräuche (so war der Adventskranz in der Zwischenkriegszeit in der Schweiz noch wenig verbreitet). Bräuche sind in stetem Wandel begriffen, neue Bräuche entstehen, andere werden über-

Konrad Kuhn forscht und lehrt am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel. Seine Schwerpunkte sind Bräuche und Rituale der Alltagsgesellschaft.

nommen, wieder andere werden verändert, umgedeutet oder verschwinden gar. Bräuche sind stets historisch gewachsene, wandelbare und konstruierte Kulturpraktiken mit hohem symbolischem Gehalt. Gerade die globalisierten Oktoberfeste verweisen auf ein starkes Bedürfnis nach kollektivem Erleben. Dieses (temporäre) Gemeinschaftserlebnis ist zugleich individuell gestaltbar, es ist eine flexible Option, die in einer variablen Gruppe erlebt wird. So sitzen an den Oktoberfesten Jugendfreunde, Abteilungen von Firmen oder Frauengruppen an den reservierte Tischen. In dieser Flexibilität liegt wohl auch das Erfolgsrezept der Oktoberfeste. Künftig werden solche Bräuche wohl zunehmen. Gerade in einer postmodernen Welt wie der unseren bleiben die grundlegenden Qualitäten von Bräuchen attraktiv: Sie schaffen Möglichkeiten für Grenzüberschreitungen, erlauben ein Spiel mit anderen Identitäten, bieten Raum für gemeinsames Singen und Trinken und sind eine jener – in unserer individualisierten Welt raren – Gelegenheiten für das Erleben von Aufgehobensein in einer Gemeinschaft.



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