„Das Gebet des Propheten, als ob Du es sehen würdest“ – Der Salafismus als „Rechtsschule“ des Propheten? Bacem Dziri
1. Einleitung Nicht selten wird der Salafismus als konsequente – weil wortwörtliche und kompromisslose – Umsetzung der normgebenden Quellen des Islams wahrgenommen. Dies ist nicht zuletzt Resultat eines eifrig herausgestellten Selbstverständnisses der Salafisten, sich in der Öffentlichkeit, aber auch innerhalb muslimischer Gemeinden, als „wahre Religion“ bzw. „authentischer Islam“ zu präsentieren. Eine Hinterfragung dieses Anspruchs kann nicht unbeachtet lassen, dass es sich beim Salafismus selbst um einen kritischen Diskurs handelt, der sich auch gegen die wohl mächtigsten Institutionen wendet, die sich in der Geschichte des Islams herausgebildet haben: die Rechtsschulen und der Sufismus. Tendenziell erscheinen aus salafistischem Denken heraus alle nach den drei ersten Generationen (salaf) neu aufgekommenen Erscheinungen als bestenfalls nicht religiös verbürgt und andernfalls als Abweichung vom rechten Weg. Dazu zählt potentiell auch die Ausdifferenzierung in Bereiche und Disziplinen islamischer Wissenschaften. Folglich unternehmen Salafisten diese Differenzierung oftmals nicht, vielmehr fallen ihre Ansichten sowohl im Bereich der Glaubenslehre (Jaqida) als auch im Recht (fiqh) in einer Art Einheitsschule zusammen, dem sogenannten madhhab as-salaf, also der Lehrschule der Altvorderen.1 Faktisch sind die Rechtsschulen 1
Siehe Ali Bin Yahya al-Haddadi (2002), Kitab al-arbaJin fi madhhab al-salaf, Riad; JAbd al-Rahman JAli Muhammad Dhuyib (2013), „Tarjih madhhab
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in der Tat Verwirklichungen einer formativen Epoche. Dem gegenüber haben wir es bei dem Salafismus – jedenfalls in dessen Denklogik – nicht mit einer Lehre (unter vielen) zu tun, sondern sprichwörtlich mit der Rechtsschule des Propheten (madhhab al-rasul) schlechthin.2 In dieser Zuspitzung wird das traditionelle Rechtsschulsystem nicht nur obsolet, sondern ganz verworfen. Da allen Muslimen geboten ist, dem Propheten zu folgen, und der Salafismus dessen „Rechtsschule“ repräsentiere, sei es „Muslimen nicht erlaubt, irgendeiner anderen Bewegung (als dem Salafismus) zu folgen, da diese alle irregeleitete Bewegungen sind“, so Salih al-Fauzan, eine der wichtigsten Orientierungspersonen des modernen Salafismus.3 Gleichsam verschwimmt die Differenzierung von Rechts- und Glaubenslehre. Letztere bauten die Salafisten auf den Lehren Muhammad Ibn JAbd al-Wahhabs (gest. 1792) auf und verwarfen entschieden jene Glaubensschulen, die sich im Verlauf des sunnitischen Islams entwickelt haben.4 Im Recht hingegen gibt es ein ambivalentes Verhältnis zu den Rechtsschulen, vor allem zur hanbalitischen. Anders als beispielsweise al-AshJari (gest. 936), dem Begründer der gleichnamigen Glaubensschule, werden die Namensgeber der Rechtsschulen nicht verurteilt, sondern einverleibt. Dieser Beitrag bietet eine Gegenüberstellung salafistischen Denkens im Bereich des Rechts zu den klassischen Rechtsschulen. Nach einer Skizze zur Entwicklung und Relevanz der al-salaf Jala madhhab al-khalaf fi bab al-sifat al-ilahiyya“, Majallat JamiJat alMadina al-JAlamiyya 5, 161–190 sowie Ahmad Bin al-Hussain al-Nisaburi alBaihaqi und Abu al-Fadl JAbd Allah Muhammad al-Siddiq al-Ghimari (1909), al-IJtiqad Jala madhhab al-salaf ahl al-sunna wa-l-jamaJa, o.O. 2 So auch Ibn JUthaimin (gest. 2001) auf die Frage, ob man einer Rechtsschule folgen müsse: „Ja, man muss einer Rechtsschule zwingend folgen, und zwar der Rechtsschule des Propheten“, al-Sulaiman 2008, 166. Siehe auch das Video: „Madhhab of The Prophet PBUH – Dr Bilal Philips“, youtube.com und Abu Ameenah Bilal Philips (1995), The Evolution of Fiqh, Riad. Hier ruft Philips zu einer Vereinheitlichung aller Rechtsschulen auf. 3 Salih al-Fauzan (geb. 1933), zitiert nach al-Atawneh 2009, 217. 4 Hierzu siehe auch Gharaibeh in diesem Band.
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Rechtsschulen wird auch der Weg der vermeintlichen Vereinheitlichung zu einer einzigen Rechtsschule nachgezeichnet. Wie angedeutet wird hierbei der (oft für bare Münze gehaltene) Anspruch des Salafismus angezweifelt, in wahrer Tradition der vier Rechtsschulen zu stehen. Schließlich soll anhand eines Beispiels, nämlich dem Gebet, auf Komplikationen hingewiesen werden, die sich ergeben, wenn die historisch gewachsenen Disziplinen nicht anerkannt und in ihrer Differenziertheit gedacht werden, und stattdessen einer vermeintlich einzelnen Einheitsschule weichen sollen.
2. Genese und Geltung der sunnitischen Rechtsschulen Hinweise für die Existenz islamischen Rechts reichen bis in die Lebzeiten des Propheten zurück, dem als Ausleger des Korans für die Menschen im Alltag eine zentrale Rolle zukam. Mit seinem Ableben verlor die Gemeinde ihre unmittelbar ansprechbare Instanz. Erst allmählich und auf Grundlage von Koran und der Sunna des Propheten als Rechtsquellen entwickelte sich das islamische Recht.5 Da es aber unterschiedliche Verständnisse von und Zugänge zu diesen Quellen gab, bildeten sich bereits gegen Ende des 1. Jahrhunderts islamischer Zeitrechnung verschiedene regionale Rechtsschulen heraus. Diesen war gemeinsam, dass sie auf Basis dessen, was ihnen an Quellen zur Verfügung stand, ihre Meinung (ra'y) entwickelten.6 Die Differenzierung in verschiedene Schulen nahm im Verlauf der Ausdeh5
Jedenfalls ist dies die klassische Auffassung muslimischer Gelehrter. Eine Argumentation unter vielen hierfür ist zu verfolgen bei Yasin Dutton (1999), The Origins of Islamic Law: The QurJan, The MuwattaJ and Madinan JAmal, Surrey. Unter Islamwissenschaftlern wird darüber diskutiert, ob – und wenn ja inwiefern – das Recht eine spätere Projizierungen darstellt oder ob – und wenn ja inwiefern – die grundsätzliche Disposition zum Recht vielmehr in den frühesten Quellen gegeben war und auch entsprechend genutzt wurde. 6 Zumindest für das frühe mekkanische Recht nachgewiesen bei Harald Motzki (2002), The Origins of Islamic Jurisprudence. Meccan Fiqh before the Classical Schoools, Leiden (u. a.).
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nung islamischer Herrschaft zu und ging mit einem wachsenden Aufkommen von Spezialisten mit angesehener Urteilskraft (ahl al-ra 'y) sowie einem sich verdichtenden Bestand an Überlieferungen einher. Darauf formierten sich im 2. Jahrhundert erstmals Traditionalisten (ahl al-hadith)7, die im ra'y wegen seiner nicht stets eindeutig auf der Sunna beruhenden Methodologie immer mehr eine Diskrepanz zum prophetischen Ideal wahrnahmen. Sie erwirkten durch ihre Skepsis nach und nach eine Wandlung des zuvor positiv besetzten Begriffs ra'y hin zu einer negativen Wahrnehmung; nämlich dem ra'y als Ausdruck einer mehr oder minder willkürlich getroffenen Urteilsfindung. In den heute verbliebenen vier Rechtsschulen – namentlich die Hanafiten, Malikiten, Schafiiten und Hanbaliten – ist sowohl ein gewisses Maß an Ratio als auch Tradition Bestandteil der Rechtsschulsystematik. Eine Errungenschaft dieser Rechtsschulen war es, dass sie sich gegenseitig nicht aus der Gemeinschaft ausschlossen oder als sektiererisch bezeichneten, sondern dass sie allesamt und gleichzeitig richtig liegen konnten und der Wechsel von einer Schule zur anderen ohne größere Probleme erfolgen konnte. Der Sufismus trug zum System der Rechtsschulen bei, indem er einen Heiligenkult förderte, der nun auch die Rechtsschulpatronen mit einschloss. Das System der Rechtsschulen schuf eine Hierarchie, indem es zur Nachahmung (taqlid) dieser Autoritäten verpflichtete und damit die Diffusion rechtlicher Bestimmungen eindämmte. Darin lag aber die erachtete Schwäche dieser Ordnung. Denn immer dann, wenn die Rechtsschulen in ihrer Gesamtheit als zu steif und ihrer Bandbreite als zu unflexibel erschienen, kamen Forderungen nach einer Neubestimmung (ijtihad) auf, die der Tradition ein gewisses Maß an Unabhängigkeit abverlangten. Doch nie wurde so viel Druck auf das immerhin knapp ein 7 In diesem Artikel wird von der ahl al-hadith, der Ahl-e Hadith und der „Ahl al-Hadith“ die Rede sein. Den unterschiedlichen Schreibweisen liegen inhaltliche Differenzen zugrunde.
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Jahrtausend vorherrschende Paradigma der Rechtsschulen erzeugt wie durch die aufkommenden Wellen der Moderne und der Globalisierung. Ein besonders auffallendes Resultat ist dabei der Salafismus. Der hanbalitische madhhab zwischen Rechts- und Glaubensschule Nach der Etablierung der Rechtsschulen gab es nur wenige, die dem Lager der Rationalisten oder dem der ahl al-hadith angehörten. Letztere gingen tendenziell in den Hanbaliten auf,8 diese wiederum näherte sich den anderen Rechtsschulen an.9 Literalistische Schulen, wie die Zahiriten, lösten sich hingegen praktisch auf. Allein Ibn Hazm (gest. 1064), ein später Angehöriger der zahiritischen Denkrichtung mit nachhaltigem Einfluss, ist als bedeutender Gelehrter noch aus ihr hervorgegangen. Aufgrund dieser Alleinstellung wundert es nicht, dass er zu den erbittertsten Kritikern des Rechtsschulparadigmas gehörte.10 Ganz versiegt dürften die jetzt an den Rand gedrängten Schulen aber nicht gewesen sein. Nur bewegten sie sich am äußersten Rand eines verbindenden Rechtssystems, und nicht völlig losgelöst davon. Die Schulen indessen entwickelten ein ihnen jeweils eigentümliches Profil, welches zuweilen zu stereotyp wirkte und deren „Systemfehler“ Gegenstand von Polemiken waren. Der Koranexeget al-Zamakhshari (gest. 1144), trotz seiner rationalistischen Orientierung von den meisten Gelehrten für seine herausragenden Leistungen hochgeschätzt, griff diesen Umstand in den folgenden Verszeilen ironisch auf: 8
Siehe Scott C. Lucas (2006), „The Legal Principles of Muh. ammad b. Isma¯Jı¯l al-Buha¯rı¯ and their Relationship to Classical Salafi Islam“, Islamic Law ˘ 13:3, 289–324 und Christopher Melchert (2001), „Traditionistand Society Jurisprudennce and the Framing of Islamic Law“, Islamic Law and Society 8:3, 383–406. 9 Melchert 2006, 79–81. 10 Zur selektiven Rezeption Ibn Hazms im heutigen Salafismus siehe auch Gauvain 2013, 229–233.
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„Würde man nach meiner Rechtschule fragen, würde ich mit ihr nicht reizen wollen, lieber verschweig ich sie, ja sie zurückzuhalten ist für mich doch heilsamer, wenn Hanafit ich sagte, würd es heißen; tala11 ich gestatte, unerlaubten Trank also, wenn Malikit ich sagte, würd es heißen; Verzehr von Hunden ich erlaube, doch sie sind die [Hunde], wenn Schafiit ich sagte, würd es heißen; die Vermählung eines verbotenen Mädchens ich erlaube, wenn Hanbalit ich sagte, würd es heißen; lästig, monistisch, grimmig und Anthropomorphist ich sei, und wenn ich sagte, dass zur ahl al-hadith und ihrer Gruppe ich gehöre, sagen sie: ein Bockiger, dumm und ignorant.“12
Hier wird die ahl al-hadith als gesonderte Schule, außerhalb der vier Rechtsschulen, erwähnt, was darauf hinweist, dass es zumindest in al-Zamakhsharis Wahrnehmung noch zu dieser Zeit Angehörige dieser Schule gegeben haben könnte. Im Gegensatz zu den Zahiriten, die in dem Gedicht keine Erwähnung fanden, haben sich die Hanbaliten gegen Ende des 3. Jahrhunderts in das System der Rechtsschulen eingegliedert. Die ahl al-hadith hingegen waren nicht verschwunden; sie blieben eher als Glaubens- denn als Rechtsschule bestehen. Diese Sonderstellung wäre damit zu erklären, dass während das Rechtswesen zum bindenden Glied werden konnte, es einen derartigen Kompromiss auf der Ebene der Theologie nicht gab. Die Glaubensschulen des al-AshJari oder al-Maturidi (gest. 941) waren zwar ebenfalls Syntheseentwürfe zwischen Offenbarung und Ratio, in ihrer Breitenwirkung aber längst nicht so durchgreifend. Die schafiitische Rechtsschule war wegen ihrer Bewandtnis in der Verteidigung der Tradition gegenüber rationalistischen Argumenten für viele Hanbaliten attraktiv geworden, eine solche Anziehung auf die Hanbaliten ging von AshJariten aber
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Ein Getränk mit zweifelhaftem Alkoholanteil. http://www.poetsgate.com/poem_106797.html.
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nicht aus, obwohl auch sie für das Vorrecht der Offenbarung gegenüber der Vernunft stritten. Am ehesten bei den Hanbaliten blieben daher zwei Stränge erhalten: die anti-rationalistische Dogmatik der ahl al-hadith und eine Rechtsschule, die ihren wenn auch reservierten Ausgleich mit Vernunftargumenten fand.
3. Ibn Taimiyya im Widerstreit mit den Rechtsschulen Nachdem die rationalistisch ausgerichteten AshJariten im 11. Jahrhundert zur führenden theologischen Schule aufstiegen, erregte dies bei einigen Traditionalisten innerhalb hanbalitischer und anderer Rechtschulen ein Unbehagen. Ein weitgehend akzeptierter Pluralismus mit äquivalenten Glaubenslehren setzte sich nicht durch.13 Herausgefordert wurde die neue ashJaritische Elite im 13./14. Jahrhundert mit ungekannter Heftigkeit durch Ibn Taimiyya (gest. 1328), der ausgerechnet mit ausgeklügelten Vernunftargumenten versuchte, die Nichtigkeit rationalistischer Beweisführung und den Vorzug der ahl al-hadith zu demonstrieren.14 Da sich unter seinen Anhängern nicht nur Hanbaliten, sondern auch Angehörige anderer Rechtsschulen befanden, lässt dies darauf schließen, dass innerhalb dieses Kreises um Ibn Taimiyya die Zugehörigkeit zur Rechtsschule kein entscheidendes Kriterium war. Seine Vorstöße im Bereich des Rechts waren aber für die damalige Gesellschaft mindestens ebenso erschütternd wie die im Bereich der Glaubenslehre, weil er die Ordnung des Rechtssystems antastete. In einer Zeit, in der soziale Grenzen und Autoritäten über eine Gelehrsamkeit nach dem Rechtsschulparadigma verhandelt wurden und sich Differenzen innerhalb dieses Systems austrugen, begann 13
Makdisi 1962, 47. Siehe Racha el. Omari (2010): „Ibn Taimiyya’s ‚Theology of the Sunna‘ and his Polemics with the AshJarites“, in Ibn Taimiyya and his Times, Hrsg. Yossef Rapoport und Shahab Ahmed, 101–119. Oxford. 14
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sich Ibn Taimiyya hiervon zu lösen.15 Formal blieb er zwar immer Hanbalit, faktisch trennte er sich aber von den herrschenden Lehren innerhalb dieser Schule.16 Durch seinen hervorstechenden Pragmatismus (z. B. im Scheidungs-, Agrar-, Handels- oder Zeugenrecht) und seine egalitäre Auslegung des islamischen Rechts gewann er die Sympathien einiger Gelehrter und vieler Laien, erregte andererseits aber auch Unmut. Problematisch erschien seinen Gegnern das Überschreiten der Rechtsschulen durch einen ijtihad mit zweifelhaft hohem Anteil an Unabhängigkeit vom Konsens der Rechtsschulen. Dies veranlasste auch hanbalitische Gelehrte in Damaskus zu anhaltender Skepsis. Ibn Rajab (gest. 1393), selbst den ahl al-hadith nahestehend und treuer Hanbalit, übte Kritik an Ibn Taimiyya, die im Vergleich zu den Maßnahmen anderer zeitgenössischer Gelehrter noch verhältnismäßig mild ausfiel. So untersagte etwa der hanbalitische Mufti Shams al-Din Bin Musallam (gest. 1326) Ibn Taimiyya wegen seiner progressiven Ansichten zum Scheidungsrecht das Erlassen von Rechtsgutachten (Fatwas) und die vier Oberrichter Kairos verurteilten Ibn Taimiyyas Fatwa zum Gräberbesuch.17 Wenn auch die Aufregung um Ibn Taimiyya zu Lebzeiten hoch gewesen sein mag, für die hanbalitische Rechtsschule spielte er in den folgenden Jahrhunderten keine allzu 15 „bi haithu idh afta lam yaltazim bi-madhhab“ (wenn er ein Rechtsgutachten gab, hielt er sich nicht an eine Rechtsschule), Ibn Rajab 2005, 497; „qad khalafa al-a 'imma al-arbaJa fi Jiddat masa'il“ (in zahlreichen Fragen wich er von den vier Imamen ab), al-JAsqalani 1993, 158, der hier al-Dhahabi zitiert. Daneben hatte sich Ibn Taimiyya wegen seines Angriffs auf Lehre und Person des Muh. yi al-Din Ibn JArabi auch bei Sufis unbeliebt gemacht, siehe Alexander D. Knysh (1999), Ibn JArabı¯ in the Later Islamic Tradition, The Making of a Polemical Image in Medieval Islam, New York, insb. 87–106. 16 Siehe Abdul Hakim I. al-Matroudi (2006), The H. anbali School of Law and Ibn Taymiyyah, Conflict or Conciliation, London. 17 Siehe Caterina Bori (2010). „Ibn Taimiyya wa-Jama’atuhu: Authority, Conflict and Consensus in Ibn Taimiyya’s Circle“, in Ibn Taimiyya and his Times, Hrsg. Yossef Rapoport und Shahab Ahmed, 23–52. Oxford, insb. 30–35.
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bedeutende Rolle mehr. Nur wenige seiner Schüler wurden im Nachhinein überhaupt noch zu Hanbaliten und damit zu den vier Rechtsschulen gezählt. Der bekannteste, Ibn Qayyim al-Jauziyya (gest. 1350), wurde von den Hanbaliten kaum berücksichtigt, da er im Gegensatz zu Ibn Taimiyya keine Anstalten von einer Zugehörigkeit zur Rechtsschule machte und zudem die Meinungsunterschiede innerhalb der Hanbaliten gerne außer Acht ließ. In dem Maße, wie er die Rechtstradition umging, wurde er von den ihm folgenden Tradenten ignoriert.18 Jahrhunderte danach nahm Ibn Taimiyya die Funktion einer Art von Ahnherr für weitere Reformer ein, die sich in ihrer konkreten Ausrichtung unterschieden, wie al-Birgiwi (gest. 1573) im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, al-Kurani (gest. 1690) im Medina des 17. Jahrhunderts, später dann Shah Waliyullah (gest. 1763) in Indien, Ibn JAbd al-Wahhab (gest. 1792) im heutigen Saudi-Arabien oder al-Shaukani (gest. 1860) im Jemen. Sie alle bedienten sich der Lehren Ibn Taimiyyas. Ein entscheidendes Moment war dabei die Ablehnung des taqlid, auf dessen Grundlage sie jeweils ihre zeitgenössische Kritik verfassten.19 Darüber hinausgehenden, bahnbrechenden Erfolg erlebte die Ibn Taimiyya-Rezeption dann aber erst im Zuge der im 19. und 20. Jahrhundert aufkommenden sogenannten klassischen Salafiyya-Bewegung.20 Da18 Siehe Christopher Melchert (2013), „The Relation of Ibn Taimiyya and Ibn Qayyim al-Jawziyya to the H. anbali School of Law“, in Islamic Theology, Philosophy and Law. Debating Ibn Taimiyya and Ibn Qayyim al-Jawziyya, Hrsg. Birgit Krawietz und Georges Tamer, 146–163, Berlin. 19 Ausführlicher dazu Bruce Masters (2013). The Arabs of the Ottoman Empire, 1516–1918: A Social and Cultural History. Cambridge, 122–125.; Basheer M. Nafi 2002. „Tas. awwuf and Reform in Pre-Modern Islamic Culture: In Search of Ibra¯hı¯m al-Ku¯ra¯nı¯,“ Die Welt des Islams New Series 42:3, 307–355; Riexinger 2013, 493–517 und John Voll (1975), „Muh. ammad H. ayya¯ al-Sindı¯ and Muh. ammad ibn Abd al-Wahhab: An Analysis of an Intellectual Group in Eighteenth-Century Madı¯na“, Bulletin of the School of Oriental and African Studies 38:1, 32–39. 20 Siehe Basheer M. Nafi (2009), „Salafism Revived: Nu'ma¯n al-Alu¯sı¯ and the Trial of Two Ah. mads“, Die Welt des Islams New Series 49:1, 49–97. Siehe auch Nedza in diesem Band.
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bei ist festzuhalten, dass bis auf Ibn JAbd al-Wahhab, dem Namensgeber der Wahhabiten, alle genannten Reformer keine Hanbaliten waren. Dass die Wahhabiten mit zu den radikalsten Reformbewegungen im Islam gehören, ist indessen keine Folge einer Zugehörigkeit zu den Hanbaliten, sondern die eines Bruchs mit dem historischen Verlauf dieser Rechtsschule und einer fundamentalistischen Hinwendung zu dogmatischen Streitfragen
4. Traditionelle Hanbaliten in Auseinandersetzung zur wahhabitischen Reform Um diesen Bruch zu illustrieren, werfen wir einen Blick auf Damaszener Hanbaliten des 18. Jahrhunderts. Von einer typisch hanbalitischen Abneigung gegenüber dem Sufismus konnte dort keine Rede sein und auch mit dem Gräberkult gab es keine Berührungsängste; ein hanbalitischer Mufti nannte sich gar „Diener des Grabes von JAbd al-Qadir“, einige Hanbaliten ließen sich in einen Sufi-Orden initiieren und mit dem wohl bekanntesten Damaszener Sufi jener Tage, JAbd al-Ghani al-Nablusi (gest. 1731), pflegten sie ein freundschaftliches Verhältnis. Was die Legitimation sufischer Praktiken anging, behielten sie zwar eine konservative Position. Dies hielt sie jedoch nicht davon ab, die Orden als Teil der Orthodoxie zu betrachten.21 Kurz: Sie waren – im Gegensatz zu dem heute weit verbreiteten Eindruck – alles andere als fundamentalistisch.22 Das Aufkommen fundamentalistischer Tendenzen ist einem anderen, neueren Strang der Hanbaliten geschuldet: dem Wahhabismus. Für diesen scheinen die Hanbaliten selbst allerdings keine Inspirationsquelle gewesen zu sein. Ibn JAbd al-Wahhab führt bei der Verurteilung des Gräberkults, einem zentralen Inhalt seiner Lehre, nur einen einzigen 21 22
Siehe Voll 1972, 277–291. Ebd., 90.
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Hanbaliten als Referenz an, und zwar ausgerechnet einen sehr untypischen, mit stark rationalistischen Neigungen.23 Kristallisationspunkt waren hier wieder Dogmen, die an entscheidenden Punkten von der Glaubenslehre der ahl al-hadith24 abwichen, und mit Hanbaliten des 18. Jahrhunderts wenig gemein hatten. So kritisierte Ibn Humaid (gest 1878), Damaszener Mufti hanbalitischer Provenienz, die Wahhabiten dafür, dass sie behaupteten Hanbaliten zu sein, in Wahrheit aber ijtihad in einem Maße übten, der über die Rechtsschulen hinausginge. Sufi-Bräuche und Wunder sind in Ibn Humaids Darstellung Teil einer alten hanbalitischen Tradition, die es im Najd weit vor dem Aufkommen der Wahhabiten gegeben habe und die mit dem hanbalitischen Erbe in Damaskus und Kairo verbunden sei. In dieser Ablehnung der Wahhabiten folgt er seinem Lehrer Ahmad Zaini Dahlan (gest. 1886), dem damaligen schafiitischen Mufti Mekkas, der sich ausdrücklich dagegen wehrte, Ibn JAbd al-Wahhab zu den Hanbaliten zu zählen.25 Dahlan beschuldigte ihn vielmehr den Rechtsschulen eine Absage mit der Begründung zu erteilen, dass diese zu einer illegitimen Spaltung beitrügen. Laut Dahlan sei es sogar so gewesen, dass Ibn JAbd al-Wahhab die Menschen zunächst zu täuschen versuchte, indem er versicherte, Hanbalit zu sein. Erst als er bemerkt habe, dass dies nichts nütze, hätte er offen eine absolut unabhängige Meinungsfindungskompetenz (ijtihad mutlaq) für sich bean23 Siehe Michael Cook (1992), „On the Origins of Wahhabism“, Journal of the Royal Asiatic Society Third Series 2:2, 191–202, hier 198–199. 24 Vgl. den Beitrag von Gharaibeh in diesem Band. Politisch relevante Auswirkung dieser Unterscheidung sind bereits 1918 dem britischen Agenten John Philby (gest. 1960) aufgefallen, siehe dazu: Joseph Kostiner (1985), „On Instruments and Their Designers: The Ikhwan of Najd and the Emergence of the Saudi State“, Middle Eastern Studies 21:3, 298–323, hier 304–305. 25 Siehe David Commins (2005), „Traditional Anti-Wahhabi Hanbalism in Nineteenth-Century Arabia“, in Ottoman reform and Muslim Regeneration. Studies in Honour of Butrus Abu-Manneb, Hrsg. Itzchak Weismann und Fruma Zachs, London, 81–96 und Ah. mad Zayni Dahlan (2002), Al-Durar al-saniyya fi al-radd Jala l-Wahhabiyya, Istanbul, 45–51.
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sprucht, sodass er an keine Rechtsschule mehr gebunden sei. Ob es sich um eine bewusste Täuschung gehandelt hat, ist kaum festzustellen. Möglich wäre auch ein Kurswechsel oder eine generell ambivalente Haltung zur hanbalitischen Rechtsschule. Mindestens zu einem Zeitpunkt in seinem Leben aber muss Ibn JAbd al-Wahhab den fiqh insgesamt als institutionalisierten Götzendienst (shirk) wahrgenommen haben, den es zu bekämpfen gilt.26Allerdings scheint es so, als habe die Vorstellung, es handle sich bei den Wahhabiten um eine hanbalitische Bewegung, fortgelebt. Andernfalls würden gezielte Versuche solcher Hanbaliten wie Ibn Humaid, eindeutig die Abkehr der Wahhabiten von den Hanbaliten zu betonen, keinen Sinn ergeben.27 Der Inder Siddiq Hasan Khan (gest. 1890) wies im Namen der Ahl-e Hadith28 den an sie gerichteten Vorwurf, dass sie Wahhabiten seien, mit dem Verweis ab, dass Letztere eindeutig Hanbaliten wären, wohingegen die Ahl-e Hadith-Bewegung keinen taqlid übe.29 Die Wahhabiten ihrerseits haben diesen Anspruch nicht aufgegeben, im Gegenteil, diese Vorwürfe beschäftigten sie nachhaltig. Auf das von Dahlan verfasste ad-Durar as-saniyya fi l-radd Jala l-wahhabiyya („Die glanzvollen Perlen der Erwiderung an die Wahhabiten“) erfolgte fast hundert Jahre später eine mehrbändige Replik von JAbd al-Rahman Bin Qasim, der sich bewusst den Beinamen „al-Hanbali“ gab, mit dem Titel al-Durar al-saniyya fi l-ajwiba l-najdiyya („Die glanzvollen Perlen der Antworten aus Najd“). Darin enthaltene Aussagen, bspw. der eines Sohnes Ibn JAbd al-Wahhabs, betonen die Zugehörigkeit der Wahhabiten zu den Hanbaliten. Die wahhabitische Literatur des 19. Jahrhunderts legte expliziten Wert auf die Bindung zur hanbalitischen Rechts26
Peskes 1993, 41. Eine Liste mit weiteren Hanbaliten, die sich auf Distanz zum Wahhabismus gaben siehe: Aftab Ahmad Malik (2002). The Broken Chain, Reflections upon the Neglect of a Tradition, Bristol, 34. 28 Siehe Abou Zahab 2009. 29 Preckel 2013, 201. 27
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schule.30 Solcherlei Bekenntnisse zu den Hanbaliten finden sich, trotz der Annäherung an den Salafismus (s. u.), noch heute auf wahhabitischen Internetseiten.31 Die Bindung an die Rechtsschule der Hanbaliten wird zu einem nicht unerheblichen Maß auch mit der Tatsache zusammenhängen, dass die Wahhabiten schlicht keine eigene Rechtsmethodologie aufweisen konnten. Zudem lag ihr Schwerpunkt ohnehin in der Theologie. Der Reformgeist im Bereich des Rechts schlägt sich aber sowohl in den Arbeiten Ibn Qasims als auch in denen anderer wahhabitischer Gelehrter nieder. Vorzugsweise wird hier Ibn Taimiyya rezipiert, der – wie wir oben sahen – sich selbst als formaler Hanbalit nicht sonderlich an die Rechtsschulen gebunden fühlte. Der hochangesehene saudische Gelehrte Ibn JUthaimin (gest. 2001) hat seine Reputation der Kommentierung wichtiger hanbalitischer Grundlagenwerke zu verdanken, die zugleich zu den Standardwerken des Wahhabismus im 20. Jahrhundert zählten. Der eigentliche Verdienst aber lag darin, dass Ibn JUthaimin sich in zahlreichen Fragen von der herrschenden hanbalitischen Meinung freimachte, diese durch die Standpunkte Ibn Taimiyyas oder seine eigenen kompensierte und generell eine hadith-zentrierte Auslegung verfolgte. Sein einziges Manko war bloß, dass er kein hadithGelehrter war.32 Bald aber erschien jemand auf der Bildfläche, der diese Lücke schloss: Nasir al-Din al-Albani (gest. 1999). Mit dem ihm zugesprochenen Vermögen in der hadith-Wissenschaft verhieß er ein Islamverständnis, das nicht nur noch authentischer, sondern zum Inbegriff der salafistischen Universalschule werden sollte. 30
Schacht 1928, 212. Etwa „Shaykh Abd Allaah Bin Muhammad Bin Abd Al-Wahhaab on Fiqh, Ijtihaad, Madhhabs and Taqlid“, http://www.wahhabis.com/articles/fgxssshaykh-abd-allaah-bin-muhammad-bin-abd-al-wahhaab-on-fiqh-ijtihaadmadhhabs-and-taqlid.cfm. 32 Siehe Mohammad Gharaibeh (2012), Zur Attributenlehre der Wahha¯biya unter besonderer Berücksichtigung der Schriften Ibn JU-taymı¯ns (1929–2001), Berlin, hier 79–81. 31
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5. Wiedergeburt der ahl al-hadith? Von den Reformbewegungen zum modernen Salafismus Um den Erfolg al-Albanis zu verstehen, bedarf es zunächst weiterer Erklärungen. Im 18./19. Jahrhundert gab es in der islamischen Welt neben den Wahhabiten weitere Erneuerungsbewegungen, die den Gedanken teilten, dem voranschreitenden politischen und kulturellen Verfall der muslimischen Welt durch eine heilsame Wiederherstellung des Früheren zu entkommen, wobei natürlich unterschiedliche Vorstellungen vom „Früheren“ existierten. Die hadith-Wissenschaft schien das verlässlichste Instrument zu sein, um an die Gebräuche und Glaubensvorstellungen der frühen Muslime anzuknüpfen, weshalb sie zunehmend ins Zentrum der Reformbewegungen rückte. Daneben variierten die Vorstellungen davon, in welcher Zeit der Islam noch als frei von den späteren Verfallserscheinungen anzusehen sei. Hier setzte sich zunehmend eine Konzentration auf die sogenannten Altvorderen (salaf) durch. Diese Idee wurde von einer Reihe von Denkern und Gelehrten inhaltlich unterschiedlich ausgefüllt und drückte sich in Bewegungen aus, deren gemeinsamer Diskurs aus Schlüsselelementen bestand, die islamrechtlichen Konzepten neue Dimensionen verliehen: Erneuerung (tajdid) durch Neuauslegung (ijtihad) statt Stillstand (jumud) durch unkritische Nachahmung (taqlid). Wie kam es nun zu der im modernen Salafismus präsenten Vorstellung einer „Rechtsschule der Ahl al-Hadith“ (madhhab ahl-hadith)?33 Beginnen wir mit einer Bewegung aus dem damaligen British-Indien, die sich selbst den Namen Ahl-e Hadith34 verlieh. Als einen ihrer Gründer betrachteten sie Sayed Ahmad Barelvi35 (gest. 1831). Dieser machte sich mit einigen Schülern 1821 auf den Weg zur Pilgerfahrt nach Mekka, und von dort weiter nach Jemen, wo Muhammad al-Shaukani (gest. 33 34 35
Al Salman 2011. Die Umschrift gibt die Aussprache aus dem Urdu wieder. Nicht zu verwechseln mit der Barelvi-Bewegung und ihrem Gründer.
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1834) wirkte. Al-Shaukani war ein insbesondere für seine Kritik an den Rechtsschulen bekannt gewordener jemenitischer Reformer, dessen Einfluss auf die Ahl-e Hadith sich mit dem nach Indien zurückströmenden Ideengut sukzessive intensivieren sollte.36 An diesem Austausch war vor allem Siddiq Hasan Khan (gest. 1890) beteiligt. Mit ihm gewann die Ahl-e Hadith in Indien an politischer Bedeutung. Für Khan waren die unterschiedlichen Lehrauffassungen im Bereich der Glaubensschulen zunächst nur von marginaler Bedeutung.37 Al-Shaukanis Idee eines weitaus stärker am hadith orientierten fiqh (fiqh al-hadith)38 hingegen geriet schon eher in Konflikt mit den indischen Hanafiten, was sich etwa in Streitigkeiten über das „richtige Gebet“ manifestierte. Obwohl sich die Ahl-e Hadith in der Theologie zunächst nicht von den Wahhabiten beeinflussen ließ, kam es im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einer Annäherung im Bereich der Jaqida.39 17 Studenten aus dem Gebiet des heutigen Saudi-Arabiens machten sich am Ende des 19. Jahrhunderts auf, um bei indischen Ahl-e Hadith Gelehrten zu studierten. Ab den 1920er-Jahren und mit der Konsolidierung des Staates Saudi-Arabien kehrte sich dieser Strom um und zahlreiche Studenten kamen nun aus Indien und dem heutigen Pakistan nach Saudi-Arabien. Zudem wurden Schriften führender wahhabitischer Gelehrter in Urdu übersetzt. An der Universität von Medina wurden bedeutende Gelehrte der Ahl-e Hadith berufen, wie Hafiz Mohammad Gondalvi, der dort ab 1965 al-Albani ablöste.40 Bei al-Shaukani entwickelte sich das Verhältnis zu den Wahhabiten zunächst umgekehrt. Er sah sich in einer besonderen jemenitischen Tradition der ahl al-hadith, die er über seinen älteren Zeitgenossen Muhammad Bin al-Amir al-San36 37 38 39 40
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Jani (gest. 1768) bis ins 15. Jahrhundert zu Ibn al-Wazir (gest. 1436) zurückführte. Die taqlid-Feindlichkeit bei al-Shaukani entwickelte sich, weil er den Stellenwert der Quellen nicht durch Sekundärquellen untergraben wissen wollte, wobei er diese Kritik hauptsächlich auf die zaiditische HadawiyyaRechtsschule (madhhab al-sharif) bezog.41 Hingegen konsultierte er Ibn Taimiyyas Schriften recht oft, aber auch Ibn Taimiyya, so betonte al-Shaukani, sei nicht frei von den Fesseln des taqlid und ein Anhänger der hanbalitischen Rechtsschule gewesen. Daher müsse auch dessen Rezeption der Quellentexte Koran und Sunna einer Revision unterzogen werden. Al-Shaukani zählte zunächst zu den Bewunderern Ibn JAbd al-Wahhabs, wandte sich dann aber von ihm ab, als sich ihm seine Lehren und deren Folgen verdeutlichten. Im Unterschied zu den Wahhabiten, die Gräber zerstörten, wo immer sie waren, stand al-Shaukani dem Gräberkult zwar auch entgegen, verbot aber ihre Zerstörung. Das Besuchen von Gräbern und das Bittgebet an diesem Ort (tawassul) lehnte er nicht prinzipiell ab, solange diese nicht auf taqlid beruhten. Die Wahhabiten wurden daher von ihm mit den Khawarij, einer extremen frühislamischen Sekte, verglichen.42 Al-Shaukani ist bis heute für den Salafismus im Bereich des fiqh von außerordentlicher Bedeutung. Da der zeitgenössische Salafismus jedoch eng an den Wahhabismus gebunden ist, werden die Distanzierungen al-Shaukanis von Ibn JAbd al-Wahhab seitens der Salafisten unterschlagen. In den letzten drei Jahrzenten gab es an saudischen Universitäten einen rasanten Anstieg schriftlicher Ausarbeitungen und an Absolventen – Muqbil alWadiJi (gest. 2001)43 sei hier erwähnt –, die das Verhältnis zwi41
Haykel 2003, 11. Ebd., 127–138. 43 Zu seiner Person siehe: François Burgat und Muhammad Sbitli (2002), Les Salafis au Yemen ou la modernisation malgé tout, Chroniques yéménites, Band 10, http://cy.revues.org/137. Nach seiner Rückkehr aus Saudi-Arabien in seinen Heimatort im Jemen baute er in den frühen 1980er-Jahren eine Lehreinrichtung mit dem Namen Dar al-Hadith auf. Ein deutscher Schüler dieses jemenitischen Zweiges betreibt eine Seite, in der hauptsächlich andere 42
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schen der jemenitischen ahl al-hadith-Tradition al-Shaukanis mit den Wahhabiten zu harmonisieren versuchten.44 Schließlich wäre noch die sogenannte klassische Salafiyya zu nennen. Dabei handelt es sich um eine Namensgebung für eine vielschichtige Gruppe von Gelehrten und Denkern, die unter anderem Ibn Taimiyya rezipierten, aber nicht, wie die Wahhabiten und die heutigen Salafisten, zwangsläufig anti-rationale oder auch anti-sufische Einstellungen trugen.45 Im Sinne einer Gruppenbezeichnung hat sich „Salafiyya“ anscheinend erst im 20. Jahrhundert etabliert. Zu den prominentesten Vertretern jener modernistischen Reformbewegung gehörten al-Afghani (gest. 1897), Muhammad JAbduh (1905) und Rashid Rida (gest. 1935). Von einer salafistischen Rechtsschule aber war noch keine Rede. Rida war, wie vermutlich viele modernistische Reformer vor ihm, in seinen Anfangsjahren dem Westen und dem Rationalismus gegenüber nicht abgeneigt. Das sollte sich jedoch ändern, nachdem er sich enttäuscht von der europäischen Kolonialpolitik abwandte und seinen Protest durch eine Zuwendung zu den puristischen Wahhabiten kundtat.46 Diese Angleichung äußerte sich unter anderem in seiner vehement vertreten Forderung nach authentischen hadithen bzw. der Ablehnung schwacher hadithe in Theologie und Recht. In seiner Zeitschrift „al-Manar“ kritisierte er die Verwendung von schwachen hadithen im Hauptwerk des Abu Hamid al-Ghazali (gest. 1111), dem Ihya Julum al-din („Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften“). Rida warf al-Ghazali ferner vor, zu unerlaubten Neuerungen beigetrasalafistische Prediger aus Deutschland, aber auch aus anderen Ländern ins Visier genommen und scharf angegriffen werden: http://hizbiya.fawaid.info/ zu-meiner-person. Siehe auch Laurent Bonnefoy (2011), Salafism in Yemen, Transnationalism and Religious Identity, London. 44 Siehe Haykel 2003, 225 Fn. 128. 45 Siehe Basheer M. Nafi (2002), „Abu al-Thana‘ al-Alusi: An Alim, Ottoman Mufti, and Exegete of the Qur’an“, International Journal of Middle East Studies 34:3, 465–494. 46 Dallal 2000, 342.
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gen zu haben, etwa in Form eines speziellen zusätzlichen Gebets im islamischen Monat ShaJban. Diesem Projekt der vollständigen Isolation schwacher hadithe aus der Theologie hat sich nach Rida kaum jemand dermaßen verschrieben wie al-Albani.47 Mit der erwähnten Kritik an al-Ghazali ist al-Albani durch Ridas Zeitschrift „al-Manar“ in Kontakt gekommen.48 Es erweckte in ihm tiefes Misstrauen gegenüber dem Sufismus. Fortan nahm er sich vor, alle schwachen hadithe aus der Theologie zu tilgen. In einem dreizehnbändigen Werk wies er auf alle aus seiner Sicht schwachen hadithe hin.49 Sein Vorhaben erstreckte sich konsequenterweise auch auf die Jurisprudenz. Seinem Vater, selbst ein hanafitischer Gelehrter, der die Entwicklung seines Sohnes mit Sorge betrachtete und ihn warnte, hatte er abgeschworen. Den Bruch mit den Hanafiten verglich al-Albani selbst später mit der Abwendung Abrahams von dem Götzenkult seines Vaters.50 Al-Albani ging so weit, dass er später selbst Wahhabiten bezichtigte, nicht dem wahren Weg der salaf zu folgen, da sie noch der hanbalitischen Rechtsschule anhängten.51 Im Unterschied zu vielen Wahhabiten war al-Albani vor allem eins: Hadith-Wissenschaftler. Außerdem war er Autodidakt, und somit für viele Anhänger des Salafismus so etwas wie ein Idealtypus eines mündigen Muslims, der ohne eine traditionelle Ausbildung die vermeintlich authentischen Bestimmungen einer verfälschten Tradition zu hinterfragen wusste. In Saudi-Arabien gab es zu der Zeit von al-Albanis Aufstieg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum die Mittel, um direkt aus dem Fundus der Quellen zu schöpfen, denn es gab 47
Brown 2011, 34–38. Die Ablehnung schwacher hadithe nahm schon bei al-SanJani und al-Shaukani ihren Anfang, ebd., 39–41. 48 Brown 2007, 321–322. 49 Der Titel des Werkes lautet Silsilat al-ahadith al-daJifa wa-l mauduJa wata'thirha al-sayyi ' fi l-umma („Die Sammlung der schwachen und erfundenen Überlieferungen und ihr schlechter Einfluss auf die umma“). 50 Brown 2011, 323. 51 Berger, 148.
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nur wenig gedrucktes Material. Dies war u. a. ein Grund dafür, dass man sich wohl oder übel lange nach den Überlieferungen und Vorgaben der hanbalitischen Rechtsschule richten musste. Al-Albani sollte hier für klare Verhältnisse sorgen und wurde in den 1960ern nach Medina zur dortigen Universität berufen. Seine totale Ablehnung schwacher hadithe passte zur hypersensiblen wahhabitischen Sorge vor dem Götzendienst, denn es waren laut al-Albani die schwachen hadithe, die in der Jurisprudenz zur Legitimation von Götzendienst führten.52 Der Stellenwert al-Albanis innerhalb des Salafismus wird gerne durch eine Erzählung wiedergegeben, die sich während einer Pilgerfahrt begeben haben soll: Bei dieser seien sowohl Ibn Baz (gest. 1999), Ibn JUthaimin als auch al-Albani zugegen gewesen, und als die Frage im Raum stand, wer von ihnen das rituelle Gebet für die Gemeinschaft führen solle, war es al-Albani, der wegen seines Vorrangs innerhalb der hadith-Wissenschaft und der damit zusammenhängenden Vorstellung, auf diese Weise das „Gebet des Propheten“ exakt nachahmen zu können, den Vorzug bekam.53
6. „Das Gebet des Propheten“ In Abgrenzung zu den anderen Rechtsschulen konstituieren sich die Anhänger al-Albanis unter dem Namen „Ahl al-Hadith“54 heute so, wie wir sie der Beschreibung Al Salmans55 52
Brown 2011, 41. Siehe Video: „Ibn Baz, Ibn Uthaymeen Albani Meet At Hajj – Shaykh Muhammad Hassan (English Subtitles)“, youtube.com. Siehe auch Gauvain 2013, 105. 54 „Ahl al-Hadith“ ist hier in Abgrenzung zur mittelalterlichen ahl al-hadith in Anführungszeichen geschrieben. 55 Der in Jordanien lebende Al Salman gehört zu einem Kreis getreuer Schüler al-Albanis. Zum Salafismus in Jordanien siehe Mohammad Abu Rumman und Hassan Abu Hanieh (2010), Conservative Salafism: A Strategy for the ‚Islamization of Society‘ and an Ambiguous Relationship with the State, 53
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entnehmen können. In einer schriftlich verzeichneten Unterrichtsreihe der 12. „Imam al-Albani-Konferenz“ im Jahr 2010, welche im gleichnamigen Zentrum in Amman stattfand, erläuterte Al Salman Verständnis, Geschichtsbild und Merkmale dieser „Ahl al-Hadith“ wie folgt: Zunächst bezeichnet er sie als eine Rechtsschule (madhhab), die zwischen den Rechtsgelehrten (fuqaha') und den literalistischen Zahiriten positioniert sei. Darüber hinaus sei „die Rechtsschule der Ahl al-Hadith“ deckungsgleich mit den Begriffen ahl assunna (Sunniten), ahl al-athar (Traditionalisten) oder eben auch al-madhhab as-salafi (die salafistische Rechtsschule). All diese Namensgebungen stünden synonym für ein und dieselbe Rechtsschule, die sich darin ausweise, den salaf bewusst „Folge zu leisten“ (ittibaJ; der Begriff wird in Abgrenzung zum taqlid der Rechtsschulen verwendet). Kennzeichnend für diese Zeit der salaf sei, dass „hadith fiqh und fiqh hadith gewesen ist“.56 Damit will gesagt sein, dass die Überlieferungen des Propheten andere Quellen und Instrumente des fiqh nahezu obsolet werden lassen. Während sich im Laufe der Geschichte Al Salman zufolge verstärkt Engstirnigkeit (ta Jassub) und unkritische Nachahmung (taqlid) in die Rechtsschulen eingeschlichen hätten und dies darin gipfelte, dass Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Osmanen ein „menschengemachter Gesetzeskodex“ eingeführt worden sei, distanzierten sich die Muslime laut Al Salman zunehmend von ihren Urquellen. Daher sei es erstrebenswert, zu der Zeit der frommen Altvorderen (al-salaf al-salih) zurückzukehren. Einer Zeit, in der die salaf das freie, beliebige Räsonieren (ra'y) abgelehnt hätten. Im Grunde hätten alle frühen regionalen Schulen eigentlich der ahl al-hadith angehört. Ergo sei die salafistische Rechtsschule von Anfang an nicht nur bekannt und anerkannt, sondern auch die einzige gewesen. Erst mit der Zeit sei man von diesem Weg abgeFriedrich-Ebert-Stiftung, Amman Office. http://library.fes.de/pdf-files/bueros/amman/07758-index.html. 56 Siehe Al Salman 2011, 7–10.
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kommen, so dass die nachkommenden Rechtsgelehrten als „blinde Nachahmer“ (muqallidun) nicht wirklich den vier Imamen (also den Gründern der vier großen Rechtsschulen) anhängten, welche ihrerseits dagegen tatsächlich allein den salaf folgten.57 Die weiterhin von Al Salman ausgeführten Merkmale der „Ahl al-Hadith“ lassen sich im Wesentlichen wie folgt zusammenfassen: 1. 2.
3. 4.
5.
Die absolute Autorität der Offenbarungsquellen Koran und Sunna (vor dem Verstand). Vertrauen in allen religiösen Fragen auf dem Verständnis der salaf, da diese die Religion besser verstanden hätten als alle anderen. Weitestgehende Ablehnung von ra'y und qiyas. Ablehnung des taqlid, der ihnen als stures Nachahmen von Autoritäten gilt, ohne deren Beweisführung (dalil) kritisch zu hinterfragen. Auch hier verortet Al Salman die „Ahl al-Hadith“ in der Mitte zwischen den Rechtsgelehrten und den Literalisten. Sie sehen taqlid weder als verpflichtend an, noch lehnen sie es vollkommen ab. Vielmehr stelle der taqlid eine Notwendigkeit dar, die mit dem ausnahmsweise erlaubten Essen von sonst verbotenem Aas im Fall einer Hungersnot verglichen wird.58 Vorzuggabe des Sammelns und Lesens von Überlieferungen des Propheten gegenüber der in den Rechtsschulen vorherrschenden Praxis des Kodifizierens von Rechtssprüchen und Fallfragen.59
Auf dem deutschen Buchmarkt gibt es, soweit dem Autor dieses Beitrags bekannt, nur ein einziges Buch von Al Salman. Es ist eine Übersetzung mit dem Titel „Fehler der Betenden in Bezug auf das Gebet“.60 Dieses ist eine Zusammen57
Siehe ebd., 12–31. Dieses Merkmal ist ein weiteres Indiz für den widersprüchlichen Umgang der Salafisten mit dem taqlid, s. u. 59 Siehe ebd., 62–85. 60 Siehe Al Salman, 2013 58
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fassung zweier Bücher Al Salmans, die sich ausführlicher mit dem Gebet beschäftigen und nebenbei Grundsatzfragen der Jurisprudenz und der Theologie streifen. Diese Bücher zum Gebet in Verbindung mit einer Darlegung salafistischer Grundanschauungen gehören einem Genre salafistischer Literatur zum „Gebet des Propheten“ an, welches durch das gleichnamige Werk von al-Albani geprägt wurde. Al-Albanis Buch zum Prophetengebet wurde vielfach neu aufgelegt und ist in Deutschland mindestens mit zwei Ausgaben erschienen. Al Salman gibt in „Fehler der Betenden in Bezug auf das Gebet“ kurz und prägnant die angeblichen Fehler der muslimischen Betenden wieder, wie die in der hanafitischen Schule gängige Praxis, die Hände beim Gebet auf den Bauchnabel oder darunter zu legen61, allerdings ohne eine Beweisführung hierzu anzuführen; dies „zur Erleichterung für die umma“, wie er schreibt.62 Dass er seine Leser damit zu nichts anderem als zum taqlid anregt, den die Salafisten eigentlich aufs schärfste verurteilen, ist ein Paradox unter vielen in dieser „Rechtsschule“. Nummer 30 der insgesamt 343 „Fehler“, die teilweise auch noch in Unterkategorien gegliedert sind, lautet: Die Hände werden auf den Bauchnabel oder unter diesen gelegt.63 Nun ist Letzteres aber die Art der Gebetsverrichtung der Hanafiten, der weitverbreitetsten aller islamischen Rechtsschulen. Die Frage nach dem richtigen Gebet ist sicherlich keine neue, aber mit der Etablierung der Rechtsschulen haben sich unterschiedliche Formen des Gebets gebildet, die ausdiskutiert, begründet und schließlich auch in ihrer Unterschiedlichkeit akzeptiert wurden.64 Als in Indien die Ahl-e Hadith die Rechtsschulen anprangerten, verbanden sie dies durch einen Gebetsstil, den sie oftmals provokativ an den Tag legten 61
Ebd., 24. Ebd., 8. 63 Al Salman 2013, 24. 64 ˇ a¯bir Fayya¯d. Al-JAlwa¯nı¯ (2013). Verhaltensethik einer Siehe dazu: T. a¯ha G innerislamischen Streitkultur, Übersetzt und mit einer Einführung versehen von Bacem Dziri, Frankfurt, 97. 62
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und den Unmut der vorherrschenden hanafitischen Rechtsschule auf sich zogen. Dieser Konflikt deutete sich bereits mit Muhammad Hashim Bin JAbd al-Ghafur (gest. 1174/1761) an, der eine Abhandlung eigens zu diesem von Al Salman erwähnten „Fehler“ Nr. 30 verfasste.65 Die Auseinandersetzungen zu dieser Frage gingen so weit, dass sie bis vor die höchsten Gerichte gebracht wurden. Die Lage beruhigte sich erst, als die Ahl-e Hadith ab den 1870ern eigene Moscheen bauten.66 Gut ein Jahrhundert später vollzog auch die Ahl-e Hadith in Pakistan und Indien praktisch taqlid, nur waren es nun saudische Schriften, die ins Urdu oder Englische übersetzt und befolgt wurden, darunter auch „Das Gebet des Propheten“ von al-Albani.67 In der pakistanischen Gesellschaft ist die Art des Gebets bis heute ein Unterscheidungskriterium zwischen den hanafitischen Deobandis und den Ahl-e Hadith. Nun ist die Frage des korrekten Gebets keine triviale, denn hinter Kleinigkeiten stecken weitreichende Grundsatzfragen islamischer Jurisprudenz und Theologie. Einem Gelehrten „blind“ zu folgen, ist einer der Kardinalvorwürfe der Salafisten gegenüber Rechtsschulanhängern. Alles müsse in seinem Gehalt auf die Urquellen geprüft sein und könne erst dann sanktioniert werden. Die Radikalität dieser Forderung schwankt innerhalb der Salafisten. Mal ist zu vernehmen, dass das Befolgen der Rechtsschulen zulässig sei, allerdings nur für ungebildete Laien, an anderer Stelle wird nahegelegt, dass es für niemanden zulässig sei. Tendenziell aber gibt es eine klare Ausrichtung gegen den taqlid. Die Schwelle an Kriterien, die einen Laien ausmachen, ist bei den Salafisten deutlich niedriger als bei den Rechtsschulen. Ein interessierter Muslim, der die Frage nach der Zulässigkeit des taqlid stellt, gilt in diesem Sinne schon nahezu als 65
Mit dem Titel Dirham as-Surra fı¯ wad J al-yadayn tah. t as-surra, siehe Nafi 2006, 232. 66 Siehe Preckel 2013, 203–204. 67 Siehe ebd., 194.
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Fortgeschrittener und somit schon an der Schwelle desjenigen, dem es untersagt wird taqlid zu üben. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es sich hierbei vielmehr um einen Kniff handelt, der zu einer Loslösung von Rechtsschulen führen und die Autorität in Rechtsfragen auf Salafisten übertragen soll. De facto sind selbst fortgeschrittene Schüler im Salafismus an ihren Lehrer gebunden und praktizieren damit auch eine Form des taqlid, nur wird diese von dem Postulat des „Festhaltens an Koran und Sunna“ überschattet. Auch das wiederholte Zurückgreifen auf bestimmte Rechtsgelehrte (Ibn Taimiyya, al-Albani etc.) ist im Endeffekt eine Form des taqlid. Es geht hierbei also vor allem um die Autoritätsfrage. Gesink macht darauf aufmerksam, dass der im 19. und 20. Jahrhundert verstärkt aufgetretene Wandel in Richtung eines individualisierten ijtihads auf Kosten einer qualifizierten Gelehrtenschaft, die diese Qualität prüft, zum Entstehen modernistischer Gruppierungen wie den Muslimbrüdern und den Salafisten führte. Ende des 19. Jahrhunderts verteidigte der malikitsche Oberrichter in Kairo, Muhammad JIlish (gest. 1882), den taqlid als das einigende Band sunnitischer Muslime. Dagegen habe der ijtihad einer Bandbreite von „Sekten“ die Tür geöffnet, so JIlish. Das Paradox besteht darin, dass die Salafisten ihre Anhänger zwar zum ijtihad ermutigen, diesen aber ablehnen, wenn Letztere zu Vorstellungen gelangen, die ihren Lehrern ganz und gar nicht passen.68 Ein extremes Beispiel hierfür ist der Fall von Juhaiman al-JUtaibi (gest. 1980). Als eifriger Schüler von al-Albani und Ibn Baz gelangte er zu der Überzeugung, den Mahdi, eine Messias-Figur, unterstützen zu müssen. Hierzu sah er sich 1979 berechtigt, mit einer Reihe von meist jungen Gefolgsleuten die heilige Moschee in Mekka zu stürmen und Geiseln zu nehmen, um das dann doch nicht eingetretene 68 Siehe Indira Falk Gesink (2003), „‚Chaos on the Earth‘: Subjective Truths versus Communal Unity in Islamic Law and the Rise of Militant Islam“, The American Historical Review 108:3, 710–733.
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apokalyptische Szenario einzuläuten.69 Die Frage der Autorität ist innerhalb des Salafismus damit selbst hochproblematisch; wie könnte es anders sein, wenn die Vorstellung herrscht, dass allein Koran und Sunna Autorität genießen dürften. Die salafistische Szene ist in ihrer konkreten Ausgestaltung tief zerstritten. Dabei geht es oftmals um politische Fragen, aber auch auf der einfachen Ebene des Ritus tun sich Salafisten tendenziell schwer mit Meinungsunterschieden. So erschien es Pierre Vogel erforderlich, darauf hinzuweisen, dass man Meinungsunterschiede bei einer scheinbar banalen Frage, nämlich ob bei der Niederwerfung zunächst die Knie oder Hände den Boden berühren sollten, ohne Streit angehen solle.70 Ein augenscheinlich ähnliches Beispiel wurde bereits früher von Ibn JUthaimin herangezogen. Auch ihm sei aufgefallen, dass es in Fragen des Gebets häufig zu unnötigen Streitereien gekommen ist: „So meinen einige, dass das Sitzen eine sunna [d. h. eine empfehlenswert Handlung] ist und hassen diejenigen, die nicht sitzen. Das ist jedoch falsch. (…) Diese Thematik gibt es des Öfteren unter Jugendlichen, unter denen Probleme daraus entstehen können.“71 Ebenso beklagt Pierre Vogel die Feindschaft, die aus diesen Fragen resultiert: „Leute, die unterhalten sich über eine Meinungsverschiedenheit unter Gehlehrten und die gehen auseinander und du siehst die haben Hass aufeinander.“72 Eine Differenz wird dann zur Abspaltung, wenn politische Interessen, Konkurrenz und Abwehrmechanismen über diese Differenzen ausgebaut werden oder aber wenn unterschiedliche Ausübungen der Riten zu einer Trennung führen. 69 Siehe: Thomas Hegghammer und Stéphane Lacroix (2007), „Rejectionist Islamism in Saudi Arabia: The Story of Juhayman al-JUtaybi revisited“, International Journal Middle Eastern Studies 39, 103–122. 70 Video: „Pierre Vogel F&A Möchte Niqab tragen aber es wird gesagt es sein keine Pflicht“, youtube.com. 71 al-JUthaimin 2011, 57. 72 Siehe Fußnote 69.
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Beide Tendenzen sind innerhalb des Salafismus gegeben. Eine Steigerung dieser Fragmentierungsprozesse vollzieht sich im Exkommunikations-Diskurs (takfir), der unter der Salafisten sehr virulent ist. Die Vorstellung, Urteile zu treffen, die von solch einer Eindeutigkeit sind, als würde man dem Propheten selbst beim Beten zusehen, erweist sich als eine Illusion. Der Islamwissenschaftler und Historiker Aziz al-Azmeh charakterisiert diese typisch salafistische Auffassung als das „Non plus Ultra paradigmatischer Überlieferung und utopischer Vorbildlichkeit“, die bewirkt, dass diejenigen, die sich darauf einlassen, „den utopischen Ort unter Führung eines Reiseleiters“ zu sehen meinen.73 Der utopische Ort ist in diesem Fall das Gebet des Propheten und der Reiseleiter ist gewissermaßen al-Albani.
Fazit Vorsicht ist vor dem falschen Umkehrschluss geboten, in einem Muslim, der dem prophetischen Ideal nachstrebt, zwingend einen (gefährlichen) Salafisten zu sehen. Das wäre nicht nur falsch, sondern würde das salafistische Narrativ einer allseitigen Verunglimpfung des „wahren Islams“ bestärken. Deutlich ergiebiger wäre das Aufzeigen innerer Paradoxien und das Hinterfragen des salafistischen Anspruchs, den einzig authentischen Islam zu vertreten. Al-Albanis „Das Gebet des Propheten“ etwa trägt den markanten Untertitel „beschrieben vom Anfang (takbir) bis zum Ende (taslim), als ob du es sehen würdest“. Damit bezieht er sich auf eine gemeinhin als authentisch anerkannte Überlieferung des Propheten mit dem Wortlaut: „Betet, wie ihr mich beten gesehen habt.“ Nur hat al-Albani den Propheten denn bei der Verrichtung des Gebets leibhaftig gesehen, so dass er es entsprechend zeigen könnte? Vertrauen al-Albanis Anhänger nicht letztlich auch auf dessen Auswahl, Authentifizierung und sinngebende Zusammen73
Azmeh 1996, 72.
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setzung und Auslegung des immensen und zum Teil widersprüchlichen Quellmaterials in der gleichen Weise, wie es die Anhänger der traditionellen Rechtsschulen machen? Haben wir es dann mit einer Art „Albanischen“ Rechtsschule zu tun? Und überhaupt: Wenn wir es mit al-Albanis Sicht auf das Gebet des Propheten zu tun hätten, wäre diese Sicht nicht auch eine von mehreren? Damit wäre die salafistische Sicht nicht mehr oder weniger authentisch als die der klassischen Rechtsschulen und somit wäre der Salafismus an seinem eigenen Anspruch gemessen gescheitert. Literatur Abou Zahab, Mariam. (2009). „Salafism in Pakistan. The Ahl-e Hadith Movement.“ In Global Salafism, Islam’s New Religious Movement. Hrsg. Roel Meijer, 126–142. London. Al Salman, Mashhur Bin Hasan (2011). The Fiqh Madhhab of Ahl ul-Hadı¯th. The Legitimacy of its Features. London. Al Salman, Mashhur Bin Hasan (2013). Mukhtasar akhta' al-musallin. Fehler der Betenden in Bezug auf das Gebet. Brüssel. al-JAsqalani, Ibn Hajar (1993). al-Durar al-kamina fi a Jyan al-mi 'a al-thamina, Band 1. Beirut. al-Atawneh, Muhammad (2009). „Reconciling Tribalism and Islam in the Writings of Contemporary JUlama in Saudi Arabia.“ In Guardians of Faith in Modern Times: ‘ulama’ in the Middle East. Hrsg. Meir Hatina, 211–228. Leiden. al-Azmeh, Aziz (1996). Die Islamisierung des Islam. Imaginäre Welter einer politischen Theologie. Frankfurt. Brown, Jonathan (2007). The Canonization of al-Bukha¯rı¯ and Muslim. The Formation and Function of the Sunnı¯ H. adı¯th Canon. Leiden. Brown, Jonathan (2011). „Even If It’s Not True It’s True: Using Unreliable H. adı¯ths in Sunni Islam.“ Islamic Law and Society 18:1, 1–52. Dallal, Ahmad (2000). „Appropriating the Past: Twentieth-Century Reconstruction of Pre-Modern Islamic Thought.“ Islamic Law and Society 7:3, 325–358. Gauvain, Richard (2013). In the Presence of God. Salafi Ritual Purity. New York.
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