Das Endgericht bei Paulus: Framesemantische und exegetische Studien zur paulinischen Eschatologie und Soteriologie. Habilitationsschrift Universität Zürich 2013, 425 pp. (Forthcoming in: WUNT, Tübingen: Mohr Siebeck, 2016)

June 28, 2017 | Author: Christian Stettler | Category: Eschatology and Apocalypticism, Apostle Paul and the Pauline Letters, Soteriology, Last Judgment
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Kapitel I

Ausgangspunkt A.

Vorbemerkungen

„If there is still room in Paul’s thinking for a future judgement on the basis of men’s deeds, this is the result of the uncomfortable fact that what happens in Christ is not, after all, the end of salvation history but a new beginning, so that we go on living in this present age, as well as in the age to come.“ (Morna Hooker 1)

Das Thema „Endgericht bei Paulus“ hat in den letzten Jahren vermehrte Aufmerksamkeit erfahren. In den meisten neueren Abhandlungen über die Theologie des Paulus ist davon allerdings noch wenig zu spüren. So widmen Udo Schnelle 2, Jürgen Becker3, Calvin Roetzel4, David Horrell5, James Dunn6 und Michael Bird7 dem Thema keinen eigenen Unterabschnitt, und im von James Dunn herausgegebenen Cambridge Companion to St. Paul8 sowie im von Stephen Westerholm herausgegebenen Blackwell Companion to Paul 9 figurieren „judgment“ oder „day of the Lord“ nicht einmal im Stichwortverzeichnis.10 Fast alle neueren Untersuchungen zum Endgericht nach Paulus behandeln nur Teilbereiche des Themas, entweder einzelne Motive oder eine Auswahl der Texte.11 Seit der letzten umfassenden systematischen Darstellung der paulinischen Endgerichtsanschauungen durch Lieselotte Mattern (1966)12 ist fast ein halbes Jahrhundert vergangen. Matterns Arbeit bleibt nach wie vor bedeutsam, zum einen als Inventar der Hooker, „Paul and Covenantal Nomism“ 163. Schnelle, Paulus. Das Gericht kommt lediglich unter den Stichworten „Der alttestamentlich-jüdische Hintergrund“ (56–62, hier 57–59) und „Der Ablauf der Endereignisse und die postmortale Existenz“ (672 – 680, hier 676) vor. 3 Becker, Paulus. Hier wird das Endgericht in den Kapiteln „Paulus als Pharisäer der D iaspora“ (42–53, hier 49–51) und „Die Wurzeln der paulinischen Rechtfertigungsaussagen“ (294–304, hier 296–299) verhandelt. 4 Sowohl in Roetzel, Paul: The Man and the Myth als auch in ders., Paul: A Jew on the Margins kommt das Gericht nicht einmal im Stichwortverzeichnis vor – dies ist umso erstaunlicher, als Roetzel selbst ein Buch über 1. Korinther 3–4 geschrieben hat (Judgement). 5 Horrell, Introduction. 6 Dunn, Theology. Das Endgericht wird auf drei (von 737) Seiten unter dem Stichwort „The Process of Salvation“: „the process completed“ abgehandelt (490–492). 7 Bird, Bird’s-Eye View. Das Gericht ist hier unter dem Stichwort „Parousia“ erwähnt (120–122, hier 121f.). 8 Dunn, Cambridge Companion. 9 Westerholm, Blackwell Companion. 10 Ausnahmen sind etwa Hooker, Paul („Judgment“ 140f.); Thiselton, Paul („The last judgement“ 144– 146); Pate, The End („Judgment of the Righteous and the Wicked“ 232 als Unterabschnitt von „Pauline Eschatology“ 217–236; Schreiner, Paul (“Judgment of Unbelievers” 467–471 als Unterabschnitt von “The Hope of God’s People” 453–484) und McRay, Paul („The Jugdment of All People“, 425f., als Unterabschnitt von „A Possible Sequence of Eschatological Events“ 422–426). Bei Beker, Sieg (vgl. schon ders., Paul) kommt das Gericht sachlich, aber nicht als eigenes Stichwort vor. 11 Ausnahmen sind: Chris VanLandingham, Judgment and Justification in Early Judaism and the Apostle Paul (2006) und Steven H. Travis, Christ and the Judgement of God (2. Aufl. 2009). Beide behandeln freilich auch die Gerichtserwartung des Alten Testaments und Frühjudentums, Travis zudem die Synoptiker und die Offenbarung. Entsprechend kurz ist jeweils die Analyse von Paulus. 12 S. u. Abschn. 9. 1 2

relevanten Texte und zum anderen durch die herausgearbeiteten Problemstellungen. Doch hat sie die Forschungsdiskussion nicht zu einem Abschluss bringen können, wie der Fortgang der Diskussion zeigte13, und ist inzwischen auch in ihren Voraussetzungen teilweise überholt. Seit 1966 hat sich unser Verständnis der historischen Verortung des paulinischen Denkens in vielerlei Hinsicht erweitert und gewandelt, insbesondere im Blick auf den frühjüdischen Hintergrund des Paulus durch die fortgeschrittene Erforschung der Qumrantexte und der alttestamentlichen Pseudepigraphen, aber auch durch eine methodisch genauere Auswertung der rabbinischen Schriften für die Zeit des Neuen Testaments. Besonders relevant für unser Thema ist die grundlegende Erkenntnis der alttestamentlichen und judaistischen Forschung, dass das Jüngste Gericht nach dem späten Alten Testament und dem Frühjudentum nicht in erster Linie ein „Vernichtungsgericht“ ist, wie Mattern es noch voraussetzte, sondern dass es der universalen Durchsetzung der kosmischen Wohlordnung und der heilschaffenden Gerechtigkeit Gottes dient. 14 Bei diesem Verständnis von Gericht bildet die Vernichtung des Bösen zwar eine Seite der Meda ille, aber nicht die beherrschende, und schon gar nicht den Gesamtinhalt des Gerichts. Auch in anderen Themenbereichen des Frühjudentums, die für die paulinische Gerichtsanschauung von Bedeutung sind – wie Gerechtigkeit, Erwählung und Tora –, hat sich unser Verständnis durch die Arbeiten von George Foot Moore15, Ephraim E. Urbach16 und Ed Parish Sanders17 sowie durch die sich an Sanders anschließende Diskussion verändert.18 Weiter ist der aspektbezogene Charakter des frühjüdischen Denkens stärker ins Bewusstsein getreten. Das antike Judentum weist kein ausgeprägtes Interesse an geschlossenen Denksystemen auf, sondern ist „in hohem Maße fähig, auch divergente ... Ansichten und Vorstellungen zu integrieren. Das hängt ... mit einer eigentümlich facettenhaften Wahrnehmung zusammen, der Fähigkeit, einen Gegenstand gleichzeitig aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten“. 19

Dass Paulus kulturell von diesem „aspektiven“ Denken geprägt war, wurde bisher in der Paulusexegese zu wenig beachtet. Dies ist insbesondere in der Diskussion über die paulinischen Aussagen zu Gericht, Gnade und Werken der Fall. Verbunden mit diesen neueren Entwicklungen in der Judaistik ist auch in der exegetischen Debatte über die paulinische Rechtfertigungslehre eine neue Situation entstanden. Zunächst hatte die Paulusforschung in der ökumenischen Zusammenarbeit evangelischer und katholischer Exegeten (v. a. im deutschsprachigen Raum) große Fortschritte im gemeinsamen Verständnis der paulinischen Rechtfertigungslehre zu verzeichnen.20 Wichtige Ergebnisse waren z. B., dass die Rechtfertigungsaussagen des Paulus nicht existential, sondern forensisch gemeint sind, also nur in ihrem Bezug auf die Endgerichtserwartung angemessen verstanden werden können, und dass das Gericht nach den Werken und die Rechtfertigung aus Glauben einander nicht ausschließen, sondern

13 14

Vgl. nur Synofzik, Gerichts- und Vergeltungsaussagen 11f.

Siehe dazu zusammenfassend C. Stettler, Das letzte Gericht. Moore, Judaism. 16 Urbach, The Sages. 17 Sanders, Paul and Palestinian Judaism. 18 Siehe unten den Exkurs zur „New Perspective on Paul“, Abschn. 18.a. 19 Avemarie, „Erwählung und Vergeltung 113 im Anschluss an Brunner-Traut, Frühformen des Erkennens. 20 Siehe Thomas Söding, „Einführung“ 9f. und ders., „Kriterium der Wahrheit“ 205f.; Kertelge, „Paulus zur Rechtfertigung“ 65. 15

aufeinander bezogen sind. 21 Gerade diese Ergebnisse sind in der „New Perspective on Paul“ unter Kritik geraten22, v. a. im englischsprachigen Bereich, aber nicht nur dort: Die Forschung habe sich bisher viel zu sehr von konfessionellen Fragestellungen nach einer individuellen Soteriologie leiten lassen, während bei Paulus das soziologische (bzw. ekklesiologisch-missionspragmatische) Problem, unter welchen Bedingungen die durch die urchristliche Mission gewonnenen Heiden ins Volk des neuen Bundes integriert werden konnten, im Vordergrund gestanden habe. Bei den verschiedenen Vertretern der „New Perspective“ spielt das Endgericht weder für die Rechtfertigungslehre noch für die Theologie des Paulus insgesamt eine konstitutive Rolle. In jüngster Zeit ist diese Diskussion gerade in Bezug auf die Vergeltungsanschauungen des Früh- und rabbinischen Judentums in Bewegung gekommen. Während die „New Perspective“ der reformatorischen Paulusauslegung ganz den Abschied gegeben und die Rolle der Werke für das Christsein völlig neu bewertet hat, werden von vielen protestantischen Exegeten die für das Thema Endgericht zentralen Motive des Lohnes und des Ruhmes nach wie vor als theologisch anstößig empfunden. Auf diesem Hintergrund ist es dringend notwendig, das Endgericht als ein in seiner Bedeutung umstrittenes und weithin vernachlässigtes Thema der paulinischen Soteriologie und Eschatologie neu ins Auge zu fassen und die paulinische Lehre vom Endgericht umfassend und systematisch zu rekonstruieren. Das methodische Hauptproblem einer solchen Rekonstruktion besteht darin, dass Paulus in seinen erhaltenen Briefen nirgends eine zusammenhängende Darstellung seiner Lehre vom Endgericht bietet. Dass eine systematische Zusammenschau der verstreuten paulinischen Bezugnahmen auf das Endgericht überhaupt möglich und legitim sei, wurde nach dem Erscheinen von Matterns Arbeit immer wieder in Zweifel gezogen. Die Monographie von Ernst Synofzik (1977) untersuchte nur mehr die Funktion der paulinischen Gerichtsaussagen in ihrem jeweiligen Kontext. 23 Die einzelnen Gerichtsaussagen stehen nach Synofzik oft in Spannung zueinander, sind disparat und ergeben kein geschlossenes Bild. Synofziks Sicht ist bis heute einflussreich. Das wird exemplarisch an den Arbeiten von David Aune (2002)24 und Matthias Konradt (2003).25 Die traditionsgeschichtliche Basis für Konradts Argumentation bilden die Arbeiten von E. Brandenburger und K. Müller zu den frühjüdischen Gerichtsvorstellungen. 26 Beide arbeiten für das Frühjudentum mehrere „Gerichtskonzeptionen“ heraus, die sie scharf voneinander unterscheiden. Im Zentrum steht die Unterscheidung eines „Rechtsverfahrens vor dem Richterthron“ von einem „Straf- und Vernichtungsgericht“.27 Nach Konradt greift Paulus je nach Kontext auf diese miteinander nicht systematisierbaren Gerichtskonzeptionen zurück. Im Vorgriff auf die Auswertung der Forschungsgeschichte (unten Abschn. C) sei hier schon einmal die Fragestellung der vorliegenden Arbeit skizziert: Sie unterzieht (1) die Ansicht, Paulus habe unterschiedliche, nicht miteinander zu vereinbarende Gerichtskonzeptionen zur Voraussetzung gehabt, einer erneuten Prüfung; sie stellt (2) der Methodik der rein kontextbezogenen Arbeiten seit Synofzik neuere Überlegungen der autorzentrierten Interpretation und der kognitiven Semantik entgegen (insbesondere die semantische Kategorie des „Frames“); und sie lotet (3) als Ergänzung und Korrektur der 21 Der Ertrag dieser gemeinsamen exegetischen Arbeit wird z. B. greifbar in: Wilckens, Röm. 1,142–146: Exkurs „Das Gericht nach den Werken II (Theologische Interpretation)“; K. K ertelge, „Rechtfertigung aus Glauben“; ders., „Rechtfertigung II“; Stuhlmacher, Röm. 44–46: Exkurs „Das Endgericht nach den Werken“. 22 Zum Folgenden s. u. den Exkurs zur „New Perspective on Paul“, Abschn. 18.a. 23 S. u. Abschn. 12. 24 Aune, „Judgement Seat“, s. u. Abschn. 19. 25 Konradt, Gericht, s. u. Abschn. 21. 26 Müller, „Gott als Richter“; Brandenburger, „Gerichtskonzeptionen“. 27 Müller, „Gott als Richter“ 40f.; Brandenburger, „Gerichtskonzeptionen“ 307 –314.

„New Perspective on Paul“ den Themenkomplex Gericht, Toragehorsam und Gnade durch mehrere exegetische Oberflächenuntersuchungen und Tiefenbohrungen aus.

Ertrag A.

Unterschiedliche Gerichtskonzeptionen?

Für das Verständnis der paulinischen Gerichtskonzeption(en) ist der 1. Thessalonicherbrief grundlegend wichtig. Er spielt auch in der Argumentation von Matthias Konradt eine entscheidende Rolle. Paulus konnte sich nur kurz in Thessalonich aufhalten (vgl. Apg 17,1– 10) und musste deshalb in seinem ersten Brief an die Thessalonicher weitere Glaubensfundamente vermitteln. Er wiederholt einerseits die schon mündlich vermittelte Lehre, dass der wiederkommende Christus die Glaubenden aus dem kommenden Zorngericht rettet (1,10), sie also nicht zum Zorngericht bestimmt sind (5,9). Andererseits lehrt er, dass am Tag des Herrn, d. h. bei der Parusie Jesu, entscheidend ist, dass das Verhalten der Christen untadelig und heilig ist 3,13; 5,23). Was das für das konkrete Verhalten heißt, führt er in seiner Paraklese aus. Wer nicht heilig, sondern in der Finsternis lebt, verfällt (auch als Christ!) der „Rache“ Gottes (4,3–8; 5,2–9). Bei der Parusie findet also eine Beurteilung des Verhaltens auch der Christen statt, auch wenn Paulus nicht explizit das Motiv der Gerichtsszene verwendet. Diese Unterscheidung ist für das Verständnis der paulinischen Gerichtsaussagen grundlegend wichtig: Obwohl Paulus für das Endgericht neben dem Motiv der Gerichtssitzung weitere Motive verwendet (etwa das des Zorngerichts), schließt das Gerichtshandeln Gottes trotzdem immer eine Beurteilung des menschlichen Verhaltens ein. Das so verstandene Endgericht ist für die Argumentation des 1. Thessalonicherbriefs grundlegend. Es bildet zugleich eine Grundkomponente der Missionspredigt des Paulus: Es ist das Endgericht, in dem und aus dem der wiederkommende Jesus die Seinen retten wird, die ihm in Heiligkeit dienen. Weitere zentrale Gerichtsaussagen des Paulus bestätigen, dass das die Werke beurteilende Endgericht die unverzichtbare Grundvoraussetzung der paulinischen Soteriologie bildet. 2Kor 5,10 zeigt unmissverständlich, dass Paulus ein Beurteilungsgericht über die Werke der Christen erwartete und lehrte. Das Beurteilungsgericht wird hier durch das Motiv des Gerichtsverfahrens (klar angezeigt durch βῆ μα) ausgedrückt. Richter ist der Christus, die Werke (die hier Verborgenes wie Gedanken und Motive des Herzens einschließen) werden danach beurteilt, ob sie „gut“ oder „böse“ waren. Jeder wird eine entsprechende Vergeltung erhalten. Paulus verwendet diesen allgemeinen Lehrsatz hier als Argument im Zusammenhang mit seiner eigenen Motivation für seinen Dienst (V. 9.11) und der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern (V. 12). Paulus ruft die Gemeinde indirekt auf, sich von den Gegenmissionaren zu trennen, danach zu streben, „dem Herrn zu gefallen“ (V. 9) und im Blick auf das kommende Gericht in der Gottesfurcht zu leben (V. 11). Die Verwendung des Lehrsatzes über das Gericht im Kontext der Apologie des Paulus heißt nicht, dass Paulus hier uneigentlich spräche und ein Argument verwendete, das kein Bestandteil seiner Lehre wäre, im Gegenteil: Weil der Satz allgemein gültig ist, kann er ihn als wirksames Argument in der Apologie seines Dienstes benutzen. In Röm 14,10–12 haben wir denselben paulinischen Lehrsatz vor uns wie in 2Kor 5,10, der klar ein Gericht nach den Werken für alle Christen lehrt. Begründet wird dieses Gericht mit dem im Alten Testament angekündigten universalen Endgericht; die angesprochenen Christen sind davon also nicht ausgenommen. Während in 2Kor 5,10 von der Vergeltung entsprechend dem guten und bösen Handeln die Rede ist, spricht Röm 14,10–12 nur davon, dass „jeder vor Gott für sich selber Rechenschaft geben wird“. Illustriert wird dies inhaltlich durch die Mahnungen in 14,1–15,13, dass die Schwachen und Starken in der Gemeinde einander nicht verachten oder verurteilen, sondern (in Nachahmung Jesu) annehmen und

aufbauen sollen. Der Hinweis auf das Gericht gilt der Motivation dieses Verhaltens. Auch hier wäre er ohne Sinn, wenn er nicht einen semantischen Überschuss über das Thema des Kontexts hinaus besäße. Röm 2,6–16 findet sich im Rahmen des Nachweises, dass ohne Glauben an den Messias Jesus nicht nur alle Heiden, sondern auch alle Juden der Verurteilung im Gericht anheim fallen, da sie alle gesündigt haben (1,18–3,20) und die Privilegien Israels als des erwählten Bundesvolkes die Juden im Gericht nicht schützen. Die Gerichtsregel, die Paulus in Röm 2,6–11 anführt, ist dafür das entscheidende Argument: Weil Gott jedem ohne Ansehen der Person nach seinen Werken vergilt, sei es ewiges Leben für das Tun des Guten, sei es ewige Verdammnis für das Tun des Bösen, deshalb ist niemand vor Gott gerecht, und zwar nicht nur die Heiden (für die das ohnehin klar ist, 1,18–32; 2,2), sondern auch die Juden, die – zumindest im Verborgenen des unbeschnittenen Herzens – ebenfalls Sünde tun (2,1–3,19a). Somit wird faktisch im Gericht niemand dafür gerecht gesprochen werden, dass er das Gesetz getan hat (3,19b–20). Würde Paulus in Röm 2,6–11 nur hypothetisch sprechen oder nur ad hoc für den Kontext ein Argument einführen, das nicht seiner Meinung und seiner Lehre entspräche (geschweige denn derjenigen der anderen Autoritäten des Urchristentums – die Gemeinde in Rom wurde ja nicht von Paulus gegründet, er setzt aber die Gerichtsregel auch dort als selbstverständlich voraus!), wäre seine ganze Argumentation hinfällig. Wir können folgern: Das universale Beurteilungsgericht als Kulmination der geschichtlichen Gerichte Gottes ist die Voraussetzung der paulinischen Lehre von der Rechtfertigung, Rettung, Erlösung und Versöhnung durch den Messias Jesus (Röm 3,21– 5,21). Das Beurteilungsgericht gilt für Heiden und Juden ohne Ausnahme; es schließt deshalb auch die (Heiden- und Juden-) Christen ein. Wie wir gesehen haben, kann Paulus in Röm 14,10–12 gerade vom universalen Gericht her für das Gericht über Christen argumentieren und setzt dieses auch in 2Kor 5,10 voraus. Zorn- und Beurteilungsgericht sind dabei keine voneinander getrennten Gerichtskonzeptionen, sondern Gottes gegenwärtiges Zorngericht über die Heiden (1,18–32) und seine Geduld mit den Juden mündet zuletzt ein in den „Tag des Zorns (!) und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes“, an dem Gott durch seinen Messias die Taten und verborgenen Herzensmotive von Heiden und Juden richten wird (2,5.16). Ohne die Erlösung durch den Messias Jesus ist der Ausgang dieses Beurteilungsgerichts faktisch das Vernichtungsgericht. So hängen die beiden nur künstlich zu unterscheidenden Gerichtskonzeptionen „Beurteilungsgericht“ und „Vernichtungsgericht“ inhaltlich zusammen, ja bedingen einander notwendig und bilden eine einzige Gesamtkonzeption. Es handelt sich also beim eschatologischen Beurteilungsgericht keineswegs um einen nur kontextuell bedingten Nebengedanken des Paulus, sondern um eine theologische Grundvoraussetzung seiner Lehre, die er auch mit dem nicht von ihm geprägten Urchristentum und somit auch mit den Christen in Rom teilt. Das Zorngericht über Sünde und Sünder(innen) ist die „negative“, das Böse nichtende Seite des Gerichts und muss, wird es als Gericht über jegliche Sünde und nicht als Gericht über einen ethnisch definierten Teil der Menschheit verstanden, eine Beurteilung des menschlichen Handelns voraussetzen, auch wenn dies nicht notwendigerweise auch mit dem Motiv des Gerichtsverfahrens ausgedrückt wird. Das positive Gegenstück zum Zorngericht, die Rettung im Gericht, setzt diese Beurteilung genauso voraus, ebenfalls unabhängig davon, ob auch motivisch von einer Gerichtsverhandlung die Rede ist. Obwohl Paulus in seinen Gerichtsaussagen in den unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche tradtitionsgeschichtliche Motive verwendet, bezieht er sich nicht auf mehrere, grundsätzlich verschiedene Gerichtskonzeptionen, sondern auf eine einzige, kohärente Konzeption, die voraussetzt, dass das Gericht über die Ungläubigen wie über die Glaubenden eine Beurteilung ihrer Werke einschließt. Das so verstandene Endgericht ist konstitutiver Bestandteil des paulinischen Evangeliums.

B.

Kontextfunktion versus Enzyklopädie

Die neuere kognitive Semantik hat erkannt, dass die Bedeutung eines Wortes nicht in erster Linie vom unmittelbaren literarischen Kontext, sondern umgekehrt „das Textverständnis weitestgehend von der Einsetzung der zugehörigen Szenographie [= Frame] bestimmt wird“.28 Das Semem (die Gesamtbedeutung eines Wortes) wird so „als virtueller Text und ebenso der Text als Expansion eines Semems“ verstanden. 29 Diese Erkenntnis ist für unsere Untersuchung zum paulinischen Gerichtsgedanken grundlegend. Wir werden den verstreuten, fragmentarischen Aussagen des Paulus zum Endgericht nicht gerecht, wenn wir nur nach ihrer Funktion im unmittelbaren Briefkontext fragen. Vielmehr sind sie Ausdruck des „enzyklopädischen Wissens“ des Paulus über das Endgericht. Durch seine Anspielungen „evoziert“ Paulus den Frame „Endgericht“ und erwartet von seinen Adressaten, dass sie die Leerstellen aus ihrem Vorwissen entsprechend ausfüllen. Der fragmentarische Charakter der Anspielungen auf das Endgericht ist nicht etwa Ausdruck eines Desinteresses des Paulus oder einer geringen theologischen Bedeutsamkeit im Rahmen seiner Theologie, sondern Ausdruck der „kommunikativen Ökonomie“ bzw. der „maximalen Implizitheit“: Was als bekannt vorausgesetzt ist, muss nicht nochmals gesagt werden; es reichen Hinweise, etwa durch Schlüsselwörter, mit denen die Adressaten aufgefordert sind, den ganzen Frame aufzurufen. Die Inferenzen zu bestimmen, die Paulus von seinen Lesern erwartet, ist eine zentrale Aufgabe der Textinterpretation. Paulus setzte bei seinen Adressaten ein klar umrissenes Vorwissen über das Endgericht voraus. Diesen common ground zu bestimmen war für ihn einfach, weil er (außer im Fall des Römerbriefs) die Gemeinden weitgehend selber unterrichtet hatte. Er konnte also seine eigene, mündlich weitergegebene Lehre vom Endgericht bei seinen Adressaten voraussetzen. Bisweilen machte er seine Verweise auf die mündliche Lehre über das Endgericht durch οὐκ οἴδατε explizit (1Kor 6,2.3.9, erwartete Antwort: „Doch, natürlich wissen wir das!“). Hinzu kam, dass er und seine Adressaten (inklusive die Gemeinde in Rom! vgl. etwa οἴδαμεν in Röm 2,2) eine gemeinsame kognitive Umwelt besaßen, die aus den Lehren des Urchristentums, der Jesustradition, frühjüdischen Traditionen und den jüdischen Heiligen Schriften bestand. Natürlich gab es unter den Leserinnen und Lesern der Paulusbriefe individuelle Unterschiede in Auffassungsgabe, Gedächtnis und Vertrautheit mit den Heiligen Schriften und der Tradition, aber auch in der inneren Einstellung zu Paulus und seinen Motiven. Alle diese Unterschiede beeinflussten faktisch das Verständnis seiner Briefe (vgl. 2Petr 3,15f.!). Trotzdem gehen seine Briefe von einem common ground mit seinen Lesern aus (vgl. 1Kor 11,2: Ἐπαινῶ δὲ ὑμᾶς ὅτι πάντα μου μέμνησθε καὶ καθὼς παρέδωκα ὑμῖν τὰς παραδόσεις κατέχετε. Für eine angemessene Interpretation der fragmentarischen Gerichtsaussagen des Paulus ist es unerlässlich, die von ihm vorausgesetzten Konzepte zum Thema „Endgericht“ zu rekonstruieren. Diese sind freilich nicht direkt zugänglich, sie können aber zu einem guten Teil rekonstruiert werden, und dies mit größerer Wahrscheinlichkeit als die mögliche Wirkung seiner Texte bei seinen Lesern. Die in der Literaturwissenschaft neuerdings wiederentdeckte Bedeutung der intentio auctoris für eine gültige Interpretation und die zunehmende Relativierung der Bedeutung der Rezeptionsästhetik unterstützen diese Sicht. In Kapitel III haben wir den Versuch einer Rekonstruktion des paulinischen Frames „Endgericht“ vorgenommen. In weiteren Schritten haben wir die Traditionen seines Milieus

28

Eco, Lector in fabula 101. Eco, Lector in fabula 27. Vgl. ebd.: „[D]ie Geschichte eines Fischers wäre demnach nichts anderes als die Entfaltung dessen, was uns eine ideale Enzyklopädie über den Fischer hätte sagen können“. 29

dazu in Beziehung gesetzt. Dabei ist deutlich geworden, dass er die ihn umgebenden Traditionen zwar aufgenommen hat, aber eigene Akzente gesetzt hat. Die oben vorgenommene Rekonstruktion des Frames „Endgericht“ geht von den Schlüsselwörtern aus, mit denen Paulus den Frame evoziert. Jeder so bestimmte Text wurde auf seine Frame-Elemente („slots“) hin untersucht. Dabei wurde ein Mehrfaches deutlich: Erstens wurde bestätigt, dass Paulus in all diesen Texten einen einzigen Frame voraussetzt, eine Konzeption vom Endgericht nach den Werken, die weithin konstant ist. Zweitens sind die Ellipsen interessant, d. h. Auslassungen von Frame-Elementen, die von Paulus als selbstverständlich vorausgesetzt sind und von den Lesern Inferenzen vom Gesamtframe her verlangen. Es zeigte sich, dass einige Elemente für den Frame notwendig sind, so der Zeitpunkt des Gerichts, der Richter, die Gerichteten, die Unparteilichkeit des Gerichts, Standard, Urteil und Vollstreckung. Andere Elemente sind weniger zentral, so das „Kommen des Richters“, das „Hintreten“ vor ihn oder der Ort des Gerichts. Die zentralen Rollen sind dadurch charakterisiert, dass sie in allen Texten entweder vorhanden oder aber für das Verständnis des Textes notwendig vorausgesetzt sind. Dies gilt sogar für die einzelnen Elemente innerhalb der Rolle „Akt“ (Beurteilung, Urteil, Vollstreckung), von denen meist nur eines erwähnt wird. Dadurch bestätigt sich das Prinzip der „kommunikativen Ökonomie“ (Löbner), wonach wir uns beim Kommunizieren notwendigerweise auf kulturelles Wissen verlassen, das wir mit den Adressaten teilen: „Dadurch können wir das, was wir sagen, semantisch auf ein Minimum von Information beschränken[,] mit dem wir ein Maximum von zusätzlichem Hintergrundwissen aufrufen“. 30

Je nach Text können durch die Stichwörter und / oder den Kontext bestimmte Aspekte des Frames „profiliert“, d. h. hervorgehoben werden („highlighting“, „perspectivizing“), jeweils vor dem Hintergrund des ganzen Frames. Drittens gibt es für die Füllung dieser Rollen eine gewisse Variabilität an Aspekten, Ausdrücken und Motiven. Dies ist ein Ausdruck des für das Frühjudentum typischen aspekthaften Denkens. Zum Beispiel kann Gott, Christus oder die christliche Gemeinde der Richter sein. Oft sind die zugrundeliegenden Bilder für die Variabilität verantwortlich, so z. B. bei der Formulierung des Ergehens: Je nachdem, ob das endgültige Heil als Gottesreich oder verheißenes Land, als Belohnung durch den Vorgesetzten, Siegespreis, Leben, Rettung etc. verstanden wird, verändert sich auch die Motivik des positiven oder negativen Ausgangs des Gerichts. Diese verschiedenen Motive stehen aber bei Paulus nicht unverbunden nebeneinander, sondern gehören schon von der alttestamentlich-frühjüdischen Tradition her zu einem einzigen semantischen Frame, den man mit „Reich Gottes / ewiges Leben / neuer Bund / neuer Äon / neue Schöpfung“ überschreiben könnte. Mit diesem Frame wiederum eng verbunden ist schon in der alttestamtlich-frühjüdischen Tradition die Thematik des „Kommens“ Gottes (oder des Messias-Menschensohns) zum Endgericht, denn er richtet sein Reich durch das Endgericht auf. Das Endgericht kann mit Metaphern aus der Theophanietradition (kosmische Katastrophen, heiliger Krieg) und aus der Rechtstradition (Gerichtsverhandlung) beschrieben werden. Auch Paulus kennt neben dem Motiv vom endzeitlichen Gerichtsverfahren die Motive vom Endkampf (1Kor 15,24; vgl. Röm 8,38f.) und von der kosmischen Umwandlung (Röm 8,19–23; vgl. 1Kor 15,35–55). Viertens haben wir gesehen, dass sich bei jedem Element des Frames „Endgericht“ Bezüge zu weiteren paulinischen Texten ergeben, die von denselben Sachverhalten sprechen. Dies ermöglichte es, ein noch detaillierteres Inventar der in den Paulusbriefen erwähnten Elemente des Frames zu erstellen. Eine so versuchte Rekonstruktion des paulinischen Frames „Endgericht“ kann missverstanden werden als ein neuer Versuch, hinter den Aussagen des Paulus völlig 30

Löbner, Semantik 308.

hypothetische „Mythen“ zu postulieren, wie dies in der religionsgeschichtlichen Schule mit dem „Erlösermythos“ oder dem θεῖος ἀνήρ geschah. Der Unterschied zu solchen in der Forschung mit Recht aufgegebenen Spekulationen ist hier einerseits, dass sowohl im Alten Testament als auch im Frühjudentum, bei Jesus und im Urchristentum klare Sz enarien für das Endgericht belegt sind und diese nachweislich miteinander in traditionsgeschichtlichem Zusammenhang stehen. Die Spekulationen der religionsgeschichtlichen Schule verbanden hingegen Texte und Motive miteinander, die traditionsgeschichtlich nichts miteinander zu tun hatten. Andererseits ist das hier vorgenommene Verfahren durch die Frame-Semantik linguistisch klar begründet und fußt nicht auf vagen Vermutungen eines nirgends belegten „Mythos“. Vielmehr bietet uns die in der Literaturwissenschaft neu entdeckte Bedeutung der intentio auctoris die theoretische Legitimation und die neuere Frame-Semantik das methodische Instrumentarium, um die in sich kohärente paulinische Endgerichtskonzeption zu rekonstruieren.

C.

The New Perspective on Paul: Korrekturen

Während in der „New Perspective on Paul“ die Bedeutung des Endgerichts für die paulinische Theologie marginalisiert und die paulinischen Rechtfertigungsaussagen in erster Linie auf die ekklesiologisch-soziologische Dimension der Integration von Heidenchristen in die Kirche bezogen werden, hat die vorliegende Untersuchung gezeigt, dass die Endgerichtserwartung ein konstitutives Element in der paulinischen Soteriologie darstellt, ohne die wir die Rechtfertigungsaussagen des Paulus nicht angemessen verstehen können. Im Endgericht geht es nach Paulus um die Beurteilung des Handelns der Menschen; Maßstab ist die Tora, wie sie vom Messias Jesus für den neuen Bund transformiert wurde und wie sie kraft des Geistes Gottes von den Glaubenden praktiziert wird (siehe Kap. IV.A und C.3). Es ist der Wille Gottes, wie er in den Werken der Schöpfung zum Ausdruck kommt, in der Mosetora offenbart, in der Lehre Jesu bekräftigt und für die neue heilsgeschichtliche Situation interpretiert sowie durch seine Selbsthingabe exemplarisch erfüllt wurde und wie er im doppelten Liebesgebot zusammengefasst ist. Nach Paulus sind angesichts der durch den neuen Bund gegebenen neuen heilsgeschichtlichen Situation Juden und Heiden nicht mehr verpflichtet, das mosaische Gesetz in einem wörtlichen Sinn halten. Sie sind aber verpflichtet, in der Kraft des Heiligen Geistes all jenen Geboten der Tora Folge zu leisten, die das Liebesgebot interpretieren, die sich also auf das Verhältnis zu Gott und zu den Nächsten beziehen. Nicht an Jesus glaubende Juden kennen diesen Gotteswillen aus der Tora; das ethische Wissen der ungläubigen Heiden entspricht inhaltlich dem offenbarten Willen Gottes, da aus den Werken der Schöpfung das Wesen des Christus, der der Schöpfungsmittler ist, erkannt werden kann. In 1Kor 3,5–4,5 geht Paulus ausführlich auf das Thema Endgericht ein (s. Kap. IV.B). Nach diesem Text gibt es im Gericht für verschiedene Grade von Einsatz (κόπος) und die unterschiedliche Qualität des Ergebnisses der Arbeit (ἔργον) unterschiedlichen Lohn. Dies gilt nicht nur für Apostel und Verkündiger, sondern für alle Christen (3,10b–15; vgl. 4,5b). Gegenstand des Gerichts ist, wie jedes einzelne Gemeindeglied auf dem Fundament, das Paulus gelegt hat, „weiterbaut“. Dieses „Weiterbauen“ umfasst das gesamte Spektrum christlichen Redens und Handelns in der Liebe. Die speziellen Dienste des Wortes sind Teil dieses Spektrums, so wie die Ausübung aller Charismen von der Liebe motiviert sein muss, damit sie nicht wertlos ist (1Kor 13,1–3). Die unterschiedliche Intensität, mit der die einzelnen Glaubenden der Erfüllung des Liebesgebots nachkommen, resultiert in einem unterschiedlichen Lohn.

Nach 1Kor 3,15 kann jemand im Extremfall sogar dann gerettet werden kann, wenn er zwar keine unvergebenen Sünden (vgl. 1Kor 6,9f.), aber auch keinen positiven Gehorsam vorzuzeigen hat, also keine Erfüllung des Liebesgebots, keine Frucht des Geistes. Die Rettung geschieht dann, wie wir oben aufgrund anderer Aussagen des 1. Korintherbriefs festgestellt haben, allein aufgrund des Vertrauens einer Person auf das Rettungswerk Jesu Christi in seinem Tod und seiner Auferstehung und aufgrund der dadurch erfahrenen Sündenvergebung. Rechtfertigung geschieht also nicht aufgrund des vollkommenen Glaubensgehorsams oder aufgrund der durch Gottes Gnade gewirkten Werke, sondern aus Glauben im Sinne eines vertrauenden Sich-zu-eigen-Machens von Christi Heilswerk. Die Aussage, dass die Rechtfertigung im Endgericht nicht aufgrund des vollkommenen Gehorsams von Christen geschehen kann, wird auch bestätigt durch den Umgang des Paulus mit seinen Gemeinden (s. Kap. IV.C). Paulus ist sich nicht nur der in den Gemeinden vorhandenen Frucht des Geistes bewusst, die er unumschränkt loben kann, sondern auch der immer noch vorhandenen Sünde von Christen. Die Paränese seiner Briefe tritt auf weite Strecken der Christensünde entgegen. Paulus erklärt das Vorkommen von Sünde nach der Taufe mit dem Kampf zwischen dem Geist Gottes und dem noch nicht erneuerten Leib, dem „Fleisch“, dessen Begierden dem Geist Gottes entgegenstehen. Er ruft die Gemeinden dazu auf, im Kampf gegen die Sünde fortzufahren, in der Liebe zuzunehmen und die Heiligung zu vollenden. Für die Sünde von Christen gibt es die Möglichkeit der Umkehr, Zurechtbringung und Vergebung, wie Gal 6,1 und 2Kor 2,2–11 zeigen. Ohne diese Umkehr gibt es freilich kein Heil. Im Fall von Unbußfertigkeit gibt es zwei Stufen, welche die Abgefallenen zur Umkehr bewegen sollen: zuerst Ermahnung, dann Gemeindeausschluss verbunden mit einer Übergabe der Sünder an Satan. Unter Umständen kann auch ein göttliches Züchtigungsgericht eintreten. Paulus hat also die Sühnewirkung des Todes Jesu offensichtlich nicht nur auf Sünden vor der Taufe, sondern auch auf die Sünden von Christen bezogen. Wo Sünde nach der Bekehrung vorkommt, kann ein Christ nicht aufgrund seines noch so weitgehenden Liebeswerkes gerechtfertigt werden, sondern ist weiterhin auf die Vergebung Christi angewiesen. Im Blick auf die Rechtfertigung gilt ohnehin das ganze Leben einer Person als Einheit und wird nicht in die Zeit vor und die Zeit nach der Bekehrung aufgeteilt. Abgesehen von Jesus (2Kor 5,21) gibt es niemand, der sein ganzes Leben über ohne Sünde geblieben ist (vgl. Röm 3,9–20). Rechtfertigung selbst durch einen vollkommenen Gehorsam nach der Bekehrung ist dadurch ohnehin ausgeschlossen. Nach Paulus sind die Glaubenden dem Gericht nach den Werken nicht enthoben, vielmehr sind sie denselben Maßstäben unterworfen wie die übrige Menschheit. Was sie jedoch von nicht an Jesus glaubenden Menschen unterscheidet, ist zweierlei: Erstens, dass ihre Sünden vergeben sind, auch die, die nach ihrer Taufe geschahen, sofern sie nicht im sündigen Verhalten verharrt, sondern darüber Buße getan haben, und zweitens, dass sie mit dem Heiligen Geist, der Kraft der neuen Schöpfung, begabt sind, durch den sie ein Gott wohlgefälliges Leben führen können. Beides, Vergebung und Geist, haben sie aus Gottes Gnade empfangen, aufgrund ihres Glaubens an den gekreuzigten und auferstandenen Gottessohn. Also ist auch das neue Handeln aus dem Geist eine Wirkung des Auferstandenen, eine Wirkung der Gnade. Das neue Handeln ist ganz die Verantwortung des Menschen und zugleich ganz die Wirkung Gottes. Es ist deshalb kein Widerspruch, sondern Ausdruck des typisch frühjüdischen aspekthaften Denkens des Paulus, dass nach Paulus die Rettung und Rechtfertigung im Endgericht einerseits ganz Geschenk, ganz „Gnade“ ist und denen gilt, die glauben, und andererseits Paulus dennoch die Gabe des ewigen Lebens im Endgericht auch als eine Antwort auf das Werk der Christen, auf ihren Glaubensgehorsam, ja als „Lohn“ bezeichnen kann. Erstens kann Paulus nur deshalb das ewige Leben als Belohnung für den Gehorsam der Glaubenden erwarten, weil die Sünden dieser Glaubenden zum Zeitpunkt des Gerichts

durch Vergebung getilgt sind. Das heißt, dass in der endgerichtlichen Buchführung die „Soll“-Spalte ihres Lebenskontos keine Rolle spielt, und zwar in Bezug auf ihr Leben vor und nach der Bekehrungstaufe. Und daraus folgt zweitens, dass im Endgericht entscheidend ist, ob jemand bis zum Schluss umkehrbereit war. Im Gericht zählt für die Frage des ewigen Lebens nicht die Summe der Taten, etwa indem böse und gute gegeneinander abgewogen werden, sondern ob das „Leben im Geist“ – inklusive Umkehrbereitschaft! – bis zum Ende durchgehalten wurde.



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