Das Ende des Westens, wie wir ihn kannten Von DAVID ENGEL S Illustrationen MARTIN HA AKE
Wir beschwören Werte, an die wir selbst nicht mehr glauben, und verklären das Aufschieben grundsätzlicher Entscheidungen zur Staatskunst. So geht die westliche Zivilisation ihrem Niedergang entgegen 21 Cicero – 11. 2016
Mediendiktatur, Bildungsmisere, Demokratiedefizit, Lobbyismus, Entpolitisierung, Masseneinwanderung, Fundamentalismus, Fremdenfeindlichkeit, Populismus, Terrorismus oder asymmetrische Kriege. Der Westen, oder was davon noch übrig ist, sitzt auf einem stetig wachsenden Berg aus reinem Sprengstoff, dessen Entschärfung mittlerweile so unwahrscheinlich geworden ist, dass eine kontrollierte Zündung schon fast als Gnade erscheint. Die eigentliche Tragik dabei ist aber nicht die atemberaubende Quantität der einzelnen Krisenfaktoren, sondern vor allem die Tatsache, dass all das kaum jemanden wirklich zu interessieren scheint. Die wohl gewaltigste innere Herausforderung, vor die der Westen je gestellt wurde, hat nicht etwa zu einem allgemeinen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Schulterschluss geführt, der es uns ermöglichen würde, wirtschaftlich vielleicht verarmt, dafür aber innerlich geläutert aus der Krise hervorzugehen, sondern ist vielmehr von einer inneren Auflösung begleitet, die sich täglich mehr als Desinteresse, Orientierungslosigkeit, Defätismus und sogar offener Selbsthass niederschlägt. Der Westen ist nicht nur in der Krise, er ist auch dabei, sich selbst zu überleben. Wem das zu abstrakt scheint, der möge den Verfasser auf einen Spaziergang durch seine Heimatstadt Verviers begleiten – der kleine Umweg lohnt sich.
David Engels wurde 1979 im belgischen Verviers nahe der deutschen Grenze geboren und ist Professor für Römische Geschichte an der Université Libre de Bruxelles. Er gilt als einer der interessantesten Intellektuellen seines Landes und ist Autor zahlreicher Bücher. Im Mai 2014 erschien „Auf dem Weg ins Imperium – Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der Römischen Republik“ im Europa-Verlag
* AN EINEM SONNIGEN SAMSTAG der Herbstferien – „Al-
lerheiligenferien“ gilt in Belgien als unerwünschte, da religiös diskriminierende Bezeichnung – verlasse ich mit meinen zwei kleinen Söhnen unser Haus in der ostbelgischen Kleinstadt Verviers und trete auf die Straße, um wie üblich den Wochenmarkt zu besuchen. Wir wohnen, wie die meisten Menschen hier, in einem Altbau des späten 19. Jahrhunderts, haben aber das Glück, das Haus ganz für uns alleine zu bewohnen; die meisten der Nachbarhäuser sind durch Zerstückelung der alten Proportionen in drei oder gar vier enge Wohnungen aufgeteilt. Längst sind die Nachfahren der alten Notabelfamilien ausgestorben oder aufs Land geflohen: Unsere Nachbarn sind uns nur durch die exotischen Namen auf vielfach überklebten Klingelschildern und Briefkästen bekannt; schon lange haben wir angesichts der permanenten Aus- und Einzüge die Übersicht verloren. Die Stadtverwaltung ist seit Jahrzehnten so gut wie bankrott, und so ist der Bürgersteig von Unkraut überwuchert, die Straße von Schlaglöchern übersät, woran auch die Privatisierung der Parkgebühren nichts geändert hat. Vielmehr ist allbekannt, dass immer größere Teile der Stadt stillschweigend vom System übergangen werden, da es zu üblem Schaden an Mensch und Gerät gekommen sein soll – keine Ausnahme in Verviers, wo auch die Ordnungskräfte sich hüten, dort
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chon Machiavelli bemerkte, dass es in der Geschichte nie an Untergangspropheten gefehlt habe, ihre Allgegenwart aber keineswegs bedeute, dass sie auch immer gleichermaßen unrecht hätten. Das 21. Jahrhundert ist sicherlich einer der Fälle, auf den er verwiesen hätte, wäre ihm die zweifelhafte Gunst vergönnt gewesen, Zeuge unserer Zeit zu sein. Denn der Westen, so wie wir ihn kennen, ist mittlerweile ebenso an sein Ende geraten wie vor ihm bereits viele andere Hochkulturen. Wohin man auch blickt, überall sind Erscheinungen zu sehen, die man zwar oft verniedlichend als „Transformation“, „Challenge“ oder gar „Chance“ bezeichnet, die aber ehrlicherweise eher als Zeichen von Niedergang, Selbstaufgabe, Auflösung oder gar Untergang betrachtet werden sollten. Es ist wohl kaum notwendig, hier einmal mehr die fast endlose Liste der Herausforderungen durchzugehen, welchen der Westen sich innerhalb der nächsten zehn Jahre zu stellen hat, wenn er nicht den völligen inneren Zusammenbruch riskieren will, so wie Arbeitslosigkeit, Verarmung, Spekulation, Desindustrialisierung, Sozialstaatsabbau, Finanzkrise, Staatsschuld, Werteverlust, Bevölkerungsrückgang, Überalterung, 22
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Foto: Privat
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Präsenz zu zeigen, wo Polizeistreifen zusammenge- beschieden sein wird; einem riesigen Glaskasten, der seit Jahren leer steht. schlagen oder Polizeistationen verwüstet werden. Nun führt unser Weg am Kriegerdenkmal vorbei, Unser Spaziergang zum Markt führt uns durch Straßenzüge, die ein wahres Architekturmuseum sein wo in kühnem Art-déco-Schwung der Sieg von „Hukönnten, wenn sie nicht in einem so schlimmen Zu- manité“ und „Liberté“ über den deutschen Gegner und stand wären. Oft fallen Stuckdekorationen herab; vie- seine berüchtigte „Kultur“ gefeiert wird, während eiles steht zum Verkauf. Die Kirchen sind leer und ver- nige Meter davon entfernt der Belgier gedacht wird, die in der Kongokolonie tapfer ihr Leben für die Verfallen, wenn sie nicht gleich abgerissen werden, um teidigung der „Civilisation“ gaben. Der Widerspruch Parkplätzen Raum zu schaffen; nur Moscheen und evangelikale Gebetsräume sprießen in jeder Straße. der beiden Monumente interessiert heute keinen mehr: Auch die Fabrik- und Lagerhallen, Zeugnisse der einst Die Esplanade dient den immer zahlreicheren Obdachreichen Textilindustrie, stehen leer, die Fenster ver- losen als Heimstätte und ist übersät von leeren Bierklebt oder eingeworfen. Die noch vor zwei Generati- dosen. Direkt nebenan steht das „Grand Théâtre“, ein Schmuckstück klassizistischer Architektur und einst onen florierenden mittelständischen Geschäfte stehen mittlerweile größtenteils zum Verkauf – die Arbeits- kulturelles Herz der für ihr Musikleben international losenquote hat 25 Prozent erreicht – oder beherber- renommierten Stadt. Heute ist es dem Verfall preisgen schnell wechselnde Ramschläden; nur Nightshops, gegeben: Von Gittern umzäunt, um Passanten vor heDönerbuden und Friseurläden, meist spezialisiert auf rabfallenden Gebäudeteilen zu bewahren, mit Graffiti bedeckt, sind die Arkaden, Simse und Balustraden das kunstvolle Ausrasieren von Bärten, scheinen eine aussichtsreiche Zukunft zu haben. Aber vielleicht än- mit Unkraut und Gestrüpp bewachsen. Für eine Redert sich das alles bald: Die Stadtverwaltung will ge- novierung fehlt das Geld; die Stadtkasse, wie der gegen den massiven Widerstand der Bevölkerung ein fu- samte belgische Staat hoch verschuldet, finanziert aus dem, was die horrenden Sozialleistungen von den maturistisches Shoppingzentrum errichten, welches zwar den Abriss eines großen Teiles der historischen In- geren Gemeindesteuern übrig lassen, lieber Sportzentren oder interkulturelle Initiativen: Das ist weniger nenstadt und die Überdeckung des Flusses mit sich bringen würde, aber viele neue Arbeitsplätze schaf- „elitistisch“. Wir erreichen die Stadtmitte. Die mittlerweile fen soll – wenn dem Unternehmen nicht dasselbe Ende wie dem fast identischen Projekt in der Nachbarstadt weltweit verbreiteten Billigläden mit ihren androgynen, 24 Cicero – 11. 2016
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wurden, aus deren Netzwerk die Attentäter von Paris und Brüssel sowie zahlreiche in Syrien aktive Kämpfer hervorgingen. Nur einen Steinwurf von hier gewann auch der minderjährige Sohn eines lokalen Imam traurige Berühmtheit, als er, sich selbst filmend, lauthals singend durch Verviers zog und Allah um den Tod aller Ungläubigen bat. An eine Schließung der Moscheen, in denen nachweisbar Hasspredigten verbreitet werden, ist laut Aussage der (sozialistischen) Bürgermeisterin allerdings nicht zu denken, da dies „einen Bürgerkrieg auslösen würde“. Bald sind wir endlich wieder zu Hause, kreuzen aber noch die Bahnlinie. Früher rauschten hier TGV und ICE vorbei und gewährten einen kurzen, verschwommenen Blick auf gelangweilte Eurokraten und Manager, die Köpfe über Laptops oder Hochglanzzeitschriften gebeugt, von denen kaum einer die heruntergekommenen Ziegel- und Stuckfassaden wahrnahm. Heute hält nur noch Regionalverkehr in der sterbenden Stadt.
spärlich bekleideten Models stehen in trauter Eintracht neben Geschäften für Schleier (für die muslimische Frau) und Perücken (für die Schwarzafrikanerinnen) und einem Zentrum für Familienplanung, das für Abtreibung und Schutz vor häuslicher Gewalt wirbt; die örtliche „Maison de la Laïcité“ ruft dazu auf, sich an Diskussionen zu Multikulturalismus, Freimaurerei und den pädophilen Verbrechen der Kirche zu beteiligen; Großbanken, eben erst mit gigantischen Steuerspritzen aufgepäppelt, werben mit Niedrigzinsen, welche in bedenklichem Kontrast zu den Versprechungen der Rentenkasse nebenan stehen. Und während schräg gegenüber eine Konditorei darum bangt, ob die lokale Spezialität, der Reisfladen, tatsächlich bald verboten wird, da sie mit frischer, nichtpasteurisierter Milch zubereitet werden muss – laut EU-Norm ein großes Gesundheitsrisiko –, wirbt ein ehemaliger (sozialistischer) Bürgermeister im Aushang einer Zeitung für TTIP. Kurzum: Belgischer Surrealismus in Reinform – oder ist es bereits europäischer Surrealismus? Nun sind wir am Marktplatz angekommen, überragt von den Türmen des gewaltigen neogotischen Postamts, das mittlerweile zeitgemäß zum Sozialamt umfunktioniert wurde. Verkäufer wie Kunden sind fast ausschließlich außereuropäischer Herkunft, nimmt man einige örtliche Senioren aus, die ein wenig verwirrt durch die fremden Massen irren, sowie eine Handvoll Jugendliche, welche sich umweltbewusst um den einzigen Biogemüsestand scharen. An der Ecke des Rathauses hören wir auch die Stimmen einiger kamerabewehrter deutscher Touristen, die in Verviers wohl einen Vorgeschmack auf das Mittelmeer suchen. Und tatsächlich hat der Markt mit seinen arabischen Werberufen, den exotischen Produkten, den weißen Kaftanen der Muslime, den farbenreichen Gewändern der Kongolesen und den unzähligen Kindern der tiefverschleierten nordafrikanischen Damen fast etwas Malerisches – wenn die Sonne scheint. In Anbetracht der 216 Regentage pro Jahr (gegen 153 in England) ist allerdings während eines Großteils des Jahres, wenn sich das Wetter auf die Laune der Anwesenden niederschlägt, von einem Besuch eher abzuraten. Und noch etwas trübt die Freude: Überall kommen wir an wachsamen Soldaten vorbei, die mit Maschinengewehren im Anschlag Patrouille schieben. Auch klobige Militärjeeps und Truppentransporter gehören mittlerweile zum Stadtbild, denn der erst zwei Generationen alte Multikulturalismus der ehemaligen Textilmetropole – rund ein Drittel der Bewohner ist mittlerweile ausländischen, meist außereuropäischen Ursprungs – bringt nicht nur Freude und Buntheit, sondern auch handfeste Sorgen. Der Rückweg führt uns denn auch in gerader Linie am berüchtigten Domizil einer der lokalen islamistischen Terrorgruppen vorbei. Immer noch sind die Einschüsse zu sehen, welche im Januar entstanden, als die mit Kalaschnikows und Handgranaten ausgerüsteten Terroristen ausgeräuchert
* E S S EI D EM LE S ER A N H EI M G E S TELLT zu entscheiden, inwieweit er sich in dem oben skizzierten Bild einer niedergehenden Gesellschaft wiederzufinden vermag, wie sie bereits für viele Landstriche Europas typisch ist – mag vielen Deutschen auch die desaströse Lage in Südosteuropa, Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, ja selbst Frankreich und Belgien nur als böses
Auch klobige Militärjeeps gehören zum Stadtbild, denn der erst zwei Generationen alte Multikulturalismus bringt nicht nur Freude und Buntheit
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sondern ihre Fähigkeit, Einwanderer effizient zu integrieren. Und eben um diese Integrationskraft steht es schlecht bestellt, sind doch nahezu alle Identitätsmerkmale, welche den Westen einst in den Bereichen gesellschaftlichen Zusammenlebens, religiösen Glaubens, geschlechtlicher Rollenbilder, historischen Empfindens, politischen Agierens und kollektiven Zukunftsvertrauens definierten und über die Landesgrenzen hinweg als gemeinsamen Kulturkreis zusammenhielten, in solchem Grade erodiert oder umgedeutet, dass den Neuankömmlingen kaum verübelt werden kann, in Ermangelung einer glaubwürdigen Alternative an ihren eigenen Verhaltensweisen festzuhalten. Vielfalt von Sitte, Sprache und Kultur war immer schon ein Merkmal der westlichen Gesellschaft und ermöglichte die Entstehung eines abendländischen Weltbürgertums, das sich seit jeher durch regen Austausch, Bildungsreisen, Mehrsprachigkeit und geistige Aufgeschlossenheit kennzeichnete und in der Vielfalt die Stärke sah. Heute aber, im Zeitalter von „Pluralismus“ und „Kosmopolitismus“, betrachten wir die zunehmende Reduzierung kultureller Vielfalt auf die globale Zivilisation amerikanischen Zuschnitts, in welchem das Festhalten am Eigenen, sofern es das erlaubte Maß an Folklore überschreitet, schnell Gefahr läuft, mit Intoleranz, Nationalismus oder gar Extremismus gleichgesetzt zu werden. Somit sind zwar viele Konzepte westlicher Kultur über die ganze Erde verbreitet worden, haben aber gleichzeitig die ihnen eigene Vielschichtigkeit und somit Anschlussfähigkeit für andere Vorstellungen verloren und zwingen die Betroffenen entweder zur Selbstaufgabe oder zur Bildung unversöhnlicher Parallelgesellschaften. Hiermit hat ungewollt aber ein ganz neues Konzept Eingang in den Westen gefunden, nämlich die als Multikulturalismus missverstandene orientalische Gesellschaftsform des Gettos, das weniger ein Mit- als vielmehr ein Neben- oder gar Gegeneinander ist, aus dem sich früher oder später ein Wettbewerb der verschiedenen Bevölkerungsgruppen um die Dominanz über die anderen entwickeln muss. Auch ein anderer wesentlicher Bestandteil westlicher Kultur, nämlich die Bedeutung der christlichen Gedankenwelt als Wegweiser für Denken und Schaffen, ist durch die immer weitere Verbreitung des Materialismus in die Defensive gedrängt worden und heute vom Aussterben bedroht. Hierbei ist es nicht nur die Werbekraft atheistischer Überzeugungen, sondern auch das Ideal angeblich unparteilicher Laizität, welches unter dem Vorwand der Trennung von Kirche und Staat die Grundvoraussetzungen für das Absterben des Christentums geschaffen hat. Denn Glaube und Handeln können schon per definitionem nicht separiert werden, da sie sich wechselseitig bedingen, um kohärent zu sein, sodass ihre Trennung zum einen die künstliche Reduzierung religiösen Gefühls auf eine reine Privatangelegenheit zur Folge hat, aus der
Je vollmundiger Politiker die Überlegenheit „westlicher Werte“ beschwören, desto mehr hat sich die Bedeutung dieser Werte von ihrem ursprünglichen Kern entfernt
Gerücht gelten. Essenziell scheint, dass die gegenwärtige Krise sich nicht in einer Ansammlung ungünstiger sozialer, wirtschaftlicher, politischer oder demografischer Indikatoren erschöpft, sondern gleichzeitig auch Sinn und Identität der westlichen Gesellschaft an sich infrage stellt, hinter deren mühsam konservierter Fassade sich längst gänzlich andere Kräfte eingerichtet haben. Je vollmundiger unsere Politiker die Überlegenheit „westlicher Werte“ beschwören, diese mit freiheitlicher Zivilisation an sich gleichsetzen und in flagrantem Widerspruch zum gleichzeitig besungenen Multikulturalismus überallhin zu exportieren trachten, desto mehr scheint es, dass sich die tatsächliche Bedeutung dieser Werte weit von ihrem ursprünglichen Gehalt entfernt hat: An die Stelle positiver Identität sind bestenfalls floskelhafte Leerstellen, schlimmstenfalls offene Selbstzerstörung getreten und höhlen den Westen von innen aus. Wir wollen erst gar nicht auf die Frage eingehen, inwieweit die in ihrem Umfang historisch wohl einzigartige, meist islamische Einwanderungsbewegung der letzten zwei Generationen, in der aus Gastarbeitern Vollbürger geworden sind, die in vielen Ländern mittlerweile ein Fünftel der gesamten Bürgerschaft ausmachen, bereits eine indirekte Form der Selbstaufgabe des Westens darstellen mag, die noch durch das demografische Ungleichgewicht und die Konzentration der Einwanderer auf die Großstädte verstärkt wird: Zentral bei der Frage kultureller Identität ist ja nicht die ethnische Zusammensetzung einer Bevölkerung, 26
bringt die Fundamente der westlichen Gesellschaft ins Wanken: Einerseits lässt sich eine vollständige Eingliederung der Frau in das Berufsleben nur durch Leugnung der Mutterschaft und somit grundlegende Konsequenzen für Familie, Erziehung und Demografie erzwingen; andererseits birgt die Ablehnung naturhaft verankerter Rollenbilder paradoxerweise das Risiko einer Stärkung jener Gesellschaftskräfte, die unter dem Deckmantel der Selbstbestimmung den Status der Frau faktisch auf eine oft vormittelalterliche Position zurückdrängen wollen, den des Mannes aber vom Gentleman zum Macho mutieren lassen. Zu den wichtigsten Elementen für den Zusammenhalt einer jeden und somit auch der westlichen Gesellschaft gehört auch der Umgang mit der eigenen Geschichte. Dass zumindest Deutschland immer noch Schwierigkeiten damit hat, so etwas wie ein positives Verhältnis zur eigenen Geschichtlichkeit aufzubauen, ist zwar verständlich; erstaunlicherweise ist aber auch europaweit festzustellen, dass der Stolz auf das eigene Wesen von Jahr zu Jahr ab- und die Betonung der historischen Verbrechen zunimmt, während es doch immer absurder wird, eine kollektive Verantwortung einzufordern – eine Entwicklung mit schweren gesellschaftlichen und politischen Folgen. So hat die zunehmende Reduktion von Geschichte auf „Verarbeitung“ zu einem Zeitempfinden chronischer Besserwisserei geführt, dem alles Vergangene
auch die Auflösung der Kirchen als Institution folgen muss, zum anderen jegliches öffentliches Handeln ausschließlich an menschlichen, also relativen Kriterien auszurichten erzwingt. Die hieraus abgeleitete Glaubensfreiheit, so begrüßenswert sie als Grundfeste moderner Zivilisation auch ist, kann daher auch nur für Religionen gelten, die wie das Christentum den Ablösungsprozess von Staat und Gesellschaft schon hinter sich haben. Auf Religionen wie den Islam bezogen, der für viele Gläubige weiterhin ein unauflösbares „totales“ Programm darstellt, führt Religionsfreiheit notwendigerweise zur Bestätigung des jeweiligen religiösen Gesamtmodells und somit zur Selbstauflösung der Laizität selbst. Eine weitere, ebenfalls von der modernen ideologischen Diskussion erschütterte Grundlage westlicher Kultur ist das Verhältnis der Geschlechter. So vorbehaltlos die endlich erreichte Gleichberechtigung zu begrüßen ist, so sehr ist darauf hinzuweisen, dass die westliche Welt schon immer durch eine überaus große Wertschätzung der Frau gekennzeichnet war, die vom ritterlichen Ideal und der Marienverehrung über die politische Herrschaftsfähigkeit der Frau und ihre kulturelle Dominanz im 17. und 18. Jahrhundert bis hin zu ihrer rechtlichen Gleichstellung in der Gegenwart führte. Die im Überschwang der Emanzipationsbewegung postulierte vollständige Relativierung der Geschlechterrollen durch die Genderideologie allerdings 28
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Macht, Verrat, Intrigen
bestenfalls rückständig, schlimmstenfalls verwerflich anmutet und nur insoweit verantwortbar scheint, als es teleologisch die „moderne“ Gesellschaft hervorgebracht hat. Kultur und Bildung, notgedrungen vergangenheitsorientiert, sind somit zu geradezu anrüchigen Begriffen mutiert und werden in den Leitmedien der modernen Massenkultur routinemäßig der Lächerlichkeit preisgegeben. Gleichzeitig ist es durch die pathologische Selbstkritik aber auch zu einer gefährlichen Moralisierung jeglicher politischer Entscheidungsfindung gekommen: Die dauerhafte Versicherung, der eigenen Schuld gerecht zu werden und aus der Geschichte gelernt zu haben, impliziert zunehmend die moralische Unantastbarkeit des eigenen Standpunkts, fördert eine Kultur permanenten Beleidigtseins real oder imaginär verfolgter Randgruppen und macht jede objektive Debatte unmöglich. In diesem Zusammenhang ist auch der fast abgeschlossene Übergang von der bürgerlichen politischen Gesellschaft, wie sie typisch für das westliche Gesellschaftsmodell war, zur akklamatorischen Elitentechnokratie zu nennen, der unter dem Deckmantel der Verteidigung demokratisch-pluralistischer Werte zu einer zunehmenden Infantilisierung und Entmachtung des Bürgers geführt hat. Dem Anschein nach werden alle grundlegenden demokratischen Einrichtungen erhalten, sogar noch vertieft, doch konnte die Kombination von parlamentarischer Demokratie, Institutionengewirr, permanentem Wahlkampf, ultraliberaler Fixierung auf die „Märkte“ und Delegation staatlicher Gewalt an internationale Einrichtungen nur zum Niedergang der politischen Beteiligung des Volkes und zum Aufstieg einer kleinen Gruppe von Berufspolitikern führen. Deren jeweilige Parteizugehörigkeit täuscht nur mühsam über ihre ideologische Grundübereinstimmung hinweg, welche allmählich als politisch korrekter Konsens „westlicher Werte“ gleichbedeutend mit Rechtsstaatlichkeit an sich gesetzt und von Massenmedien wie Erziehungssystemen verbreitet wird – mit der unweigerlichen Folge, dass jene sinnentleerte Instrumentalisierung des „Westens“ viele Bürger entweder der eigenen Identität entfremdet oder zu ihrer extremistischen Überbetonung drängt. Die Konsequenz dieser Entwicklungen ist überall greifbar: Der Westen hat den Glauben an sich und seine Zukunft verloren; jene nie recht quantifizierbare, aber doch in allen Lebensäußerungen spürbare Überzeugung, ein wichtiger, unersetzbarer und unübersetzbarer Akteur der menschlichen Geschichte zu sein und dieser durch die eigene Weltanschauung eine unverkennbare, einzigartige Dimension hinzugefügt zu haben. Diese Überzeugung aber gehört einer ganz anderen Kategorie an als die platte Inklusivität des berüchtigten „Wir schaffen das“ oder die neurotisch übersteigerte Exklusivität blinden Nationalismus; sie trägt den tragischen Charakter eines ebenso affirmativen wie außermoralischen Bekenntnisses nicht
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Zahl von Bürgern außereuropäischer Herkunft nur bedingt mit dieser Vergangenheit identifizieren kann. Selbst wenn der Westen sich in buchstäblich letzter Minute durchringen sollte, zumindest die Rudimente jener abendländischen Kultur zu retten, die jenseits beliebig exportierbarer westlicher Massenzivilisation seine eigentliche, unverwechselbare Seele ausmachen, wird er doch fortan immer gezwungen sein, Rücksicht auf fremde Vorstellungen zu nehmen, die so mächtig geworden sind, dass sie nicht mehr assimiliert, sondern höchstens durch Bezug auf einen gemeinsamen Nenner, also ein äußeres drittes Element, sinnvoll eingebunden werden können: Der Westen würde von einer gelebten Kultur gewissermaßen zu einer rein abstrakten Verhandlungsbasis schrumpfen. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit dem Westen überhaupt noch die Zeit für eine solche vorsichtige und langwierige Neudefinition seiner kulturellen Identität jenseits von Selbstaufgabe oder reaktionärem Wunschdenken bleibt. Denn der sich rapide verdichtende materielle wie ideelle Zusammenbruch ist auch von einem massiven Verlust jener gegenseitigen Vertrauensvorleistung begleitet, ohne die es keine Gesellschaft geben kann, und die an die Stelle von Egoismus, Extremismus und Ressentiment verantwortungsvolle Selbstbegrenzung setzt. Es steht zu befürchten, dass die gegenwärtig angelegten Spannungen und Unzufriedenheiten, befeuert durch schreiende wirtschaftliche Ungerechtigkeit, die Machtlosigkeit einer innerlich gelähmten Parteienlandschaft und die Furcht aller Beteiligten, den letzten Rest „eigener“ Identität zu verlieren, sich zunehmend in offenen Gewalttaten entladen werden – jenem mittlerweile überall beschworenen und von vielen wohl auch unterbewusst erhofften Bürgerkrieg, von dem zu erwarten ist, dass er den letzten Rest des europäischen Wertekonsens beseitigen wird. Und wer auch immer als Sieger hieraus hervorgehen mag: Die Errichtung eines autoritären Regimes zur gewaltsamen Wiederherstellung von Recht und Ordnung, Frieden und Wohlstand scheint unausweichlich, ganz genau wie vor 2000 Jahren, als die römische Republik, deren Krise und Untergang von analogen Bedingungen bestimmt waren, ebenfalls in jahrzehntelange Bürgerkriege und die Errichtung der Militärdiktatur des Augustus mündete. Dieser galt den Zeitgenossen ebenso als Erneuerer Roms, wie jetzt schon populistische Herrschaftsanwärter wie Trump, Putin oder Le Pen in Anspruch nehmen, westliche Werte zu verteidigen. Doch es dürfte ein trauriger Westen sein, der sich aus der Asche unserer heutigen Welt erheben wird. Vielleicht tatsächlich wieder reich, mächtig und geschichtsbewusst wie einst, doch zusammengehalten nur von dem einen Gedanken: ein erneutes Absinken in den Brudermord zu verhindern und dafür tagtäglich mit der Preisgabe der Freiheit zu zahlen – des eigentlichen, wichtigsten Wertes nicht nur der westlichen, sondern einer jeden menschlichen Gesellschaft.
An die Stelle des einst viel beschworenen „faustischen Dranges“ ist ein bis zum Selbsthass gehender Überdruss getreten nur zu den Großtaten, sondern auch den Schattenseiten der eigenen Vergangenheit, die eben nicht als Anlass für Leugnung, Idealisierung, Instrumentalisierung oder Selbstverneinung gesehen werden, sondern als zwar bedauernswerter und zu überwindender, aber trotzdem notwendiger Teil der eigenen Identität. Dem Westen ist diese ebenso stolze wie tragische Affirmation der eigenen Identität, jener Stolz, mit dem sich einst das klassische Athen rühmte, „im Guten wie im Schlimmen überall ewige Denkmäler seiner Anwesenheit“ gestiftet zu haben, fast vollständig abhandengekommen. An die Stelle des versiegenden, einst viel beschworenen „faustischen Dranges“ ist ein bis zum Selbsthass gehender Überdruss getreten, der viele Bürger die nahende Auflösung nicht nur fatalistisch akzeptieren, sondern sogar unter Vorspiegelung moralisierender Eigenkritik bejahen und somit unbewusst beschleunigen lässt. * K A N N D ER W E S TEN sich von dieser Krise erholen?
Das ist wenig wahrscheinlich, vor allem solange ein Teil der Bevölkerung den drohenden Zusammenbruch schlichtweg ignoriert und das Aufschieben der immer dringenderen Grundsatzentscheidung als Staatskunst preist, während ein anderer verantwortungslos davon träumt, die Zeit, als Westen, Christentum und weiße Hautfarbe als Synonyme galten, mit brachialer Gewalt zurückzurufen. Auch ist die historische Verwurzelung unserer eigenen Kultur in den beiden letzten Generationen in solchem Maße unterbrochen worden, dass an ein inneres, organisches Anknüpfen an die Vergangenheit kaum mehr zu denken ist, zumal sich die stetig anwachsende 30
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Report "Das Ende des Westens, wie wir ihn kannten, in: Cicero. Journal für politische Kultur, November 2016, 21-30. "