[Erscheint in: Andreas Hetzel/Gerhard Unterthurner (Hg.), Postdemokratie und die Verleugnung des Politischen, Baden-Baden, 2016 (Nomos)]
Das demokratische Begehren. Politische Leidenschaften in der Postdemokratie Andreas Hetzel
»Wollen, das ist zu wenig. Begehren erst führt dich zum Ziel.« Ovid
Die von Jacques Rancière1 und Colin Crouch2 als ›postdemokratisch‹ gekennzeichnete Lage unserer heutigen westlichen Gesellschaften verstehe ich vor allem als Ausdruck der Krise eines demokratischen Begehrens. Crouch spricht explizit von einer »politischen Apathie«3 als wesentlichem Signum der aktuell um sich greifenden Demokratieverdrossenheit, Rancière erwähnt eine »spürbare Erkaltung der Liebe«4 zur Demokratie. Diese Apathie und dieses Erkalten äußern sich in einem Gefühl der Ohnmacht angesichts vermeintlicher Sachzwänge, in einem schwindenden Vertrauen in demokratische Verfahren sowie in einer nachlassenden politischen Einbildungskraft: in der mangelnden Fähigkeit, sich andere Weisen der politischen Vergemeinschaftung vorstellen zu können oder zu wollen als jene neoliberale Ordnung, die uns seit 1989 von allen Seiten als alternativlos angepriesen wird. Wir haben, kurz gesagt, das demokratische Wünschen verlernt, uns im Regiert-Werden weitgehend eingerichtet. Die Lebensform, die dieser politischen Apathie korrespondiert, ist, quer durch alle Klassen, auf Akkumulation von ökonomischem und sozialem Kapital sowie auf die Erhöhung von Konsumchancen ausgerichtet, von Verlustängsten geprägt und im strengen Sinne apolitisch. Politisches En-
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Vgl. Jacques Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a.M. 2002, 105-131; vgl. zu Rancière auch den Beitrag von Lea Klasen und Liza Mattutat in diesem Band. Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2008; zur Rezeption und Diskussion des Begriffs vgl. Hubertus Buchstein/Frank Nullmeier, »Einleitung: Die Postdemokratie-Debatte«, in: Neue Soziale Bewegungen, 4, 2006, 16-22. Crouch, Postdemokratie, 30. Rancière, Unvernehmen, 107.
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gagement wird nicht länger als Entfaltungsmöglichkeit für das eigene Leben erkannt. Die klassisch-antike Einheit von Glück, das Aristoteles als gelingenden Gesamtlebensvollzug definiert, und einer Existenz in der, mit der, für die und durch die Gemeinschaft kann unter heutigen Bedingungen noch nicht einmal mehr gedacht werden. Die vielbeschworene Individualisierung, eines der wichtigsten Charakteristika moderner Gesellschaften, erweist sich vor allem als eine Individualisierung des Begehrens, als Transformation eines auf kollektive Lebens- und Praxisformen ausgerichteten Glücksstrebens in ein entpolitisiertes, im wörtlichen Sinne idiotisches (d.h. auf das Privatleben und den oikos fixiertes) Luststreben. Das griechische Substantiv praxis kennen wir heute vor allem als Bezeichnung einer kollektiven Tätigkeit, die ihren Zweck in sich selbst hat, und damit als Synonym von Politik. Vergessen wird darüber weitgehend, dass praxis im Griechischen primär einen erotischen Sinn hatte: Aphrodite wurde an zahlreichen Altären im klassischen Griechenland, so etwa in Megara, mit dem Beinamen Aphrodite Praxis als Göttin des Geschlechtsverkehrs und des erotischen Begehrens angebetet. Nach Pausanias war Aphrodite Praxis die älteste Gestalt, in der die Liebesgöttin überhaupt verehrt wurde.5 Der Skandal, den Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie auslöste, hatte vor allem damit zu tun, dass er auf den zentralen Stellenwert einer erotisch-dionysischen Dimension der klassisch-griechischen Kultur aufmerksam machte, auf die öffentliche Präsenz des Begehrens. Die agora war immer auch ein Ort, an dem Leidenschaften zirkulierten, nicht nur Argumente. Was Herbert Marcuse in den 1960er-Jahren als »repressive Entsublimierung«6 beschrieben hatte, ließe sich von hier aus vor allem als eine Entpolitisierung der Libido begreifen. Marcuse knüpft mit seiner Diagnose an die psychoanalytische Theorie der Sublimierung an. Freud versteht unter Sublimierung die Steigerung und Transformation von Libido in kulturelle Leistungen, etwa in die Schaffung von Kunstwerken. Mit dieser Transformation geht für Marcuse zugleich eine Erweiterung libidinöser Besetzungen einher. Eine Libido, die sich nicht mehr auf die mit den Genitalien assoziierte sexuelle Lust reduzieren lässt, kehrt in ihr frühkindliches Ausgangsstadium zurück, sie wird polymorph, sie besetzt den gesamten Körper und dessen kulturelle wie soziale Umwelt. Insbesondere spon-
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Pausanias, Reisen in Griechenland, Darmstadt 1986, I 43, 6. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Darmstadt/Neuwied 1967, 92.
tane Erscheinungsformen eines kollektiven Körpers begreift Marcuse als eine »Landschaft, ein Medium lustbetonter Erfahrung«7, das unter spätkapitalistischen Bedingungen an Relevanz einbüßt. Der Spätkapitalismus beschränkt »Reichweite« und »Bedürfnis« nach Sublimierung, er reduziert den Menschen, nicht zuletzt mit Hilfe massenmedialer Bedürfnismanipulation, wieder auf seine individuelle genitale Sexualität. Die Libido wird aus der Gesellschaft abgezogen, gleichsam in die Genitalien zurückgedrängt, ökonomisch nutzbar gemacht und verwaltet, sie wird zum Treibstoff einer auf Produktion und Konsumtion von Waren fixierten Gesellschaft. Die Diagnose eines nachlassenden demokratischen Begehrens impliziert, dass sich Demokratie insgesamt weder ausschließlich auf ein historisch gewordenes Gefüge von Praktiken und Institutionen reduzieren lässt noch primär als Verkörperung universeller Werte verstanden werden kann. Demokratie verkörpert vielmehr zuvörderst eine Sehnsucht: nach einem angstfreien, vielleicht sogar freudvollen (wenn auch niemals vollständig versöhnten) Miteinander Verschiedener, nach einer Gemeinschaft Freier und Gleicher, nach einer Zugehörigkeit, die nicht weiter von exkludierenden Voraussetzungen abhängig gemacht würde, nach einer Entunterwerfung der Subjekte, die keinen Großen Anderen mehr benötigen, welcher ihrer Welt Eindeutigkeit und Konsistenz verleiht, nach einer unbeschränkten Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen, nach einem öffentlichen Kampf um Anerkennung, in dem sich Gegner respektieren und auf Augenhöhe begegnen können, nach einer Gesellschaft, die von ihren Bewohnern insofern als ihre Gesellschaft begriffen werden könnte, als sie in ihr den freien Ausdruck ihrer eigenen kollektiven Praxis sehen, nach der Offenheit von Debatten, die von keinem letztbegründeten Wissen und keiner Machtposition aus kontrolliert werden können, in denen alle alles zu sagen vermögen, nach einem gelingenden Leben, das mehr wäre als individuelles Überleben. Demokratie war, auch dort, wo man sich nicht explizit auf ihren Namen berief, immer schon Ausdruck eines Traums, eines Ideals und einer lebendigen Option. Der Inhalt dieses Traums, und damit die Gestalt einer mit Fug und Recht als demokratisch zu bezeichnenden Lebensform, blieb dabei zugleich umstritten; wie Paul Woodruff schreibt: »If it is not contro-
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versial, it is not about democracy.«8 Demokratie kann gerade deshalb unsere politischen Träume aufs immer wieder Neue inspirieren, weil sie sich niemals rein verwirklichen lässt, weil sie, mit Derrida gesprochen, kein eidos9 besitzt. Wir können Demokratie nicht einfach haben, sondern nur zu ihr unterwegs sein, sie zu verwirklichen und vertiefen suchen, kurz: sie begehren. Wenn es Demokratie gibt, was nie ausgemacht sein könnte, dann zuvörderst als Leidenschaft nach ihr, als Aufbegehren gegen alle vor- und undemokratischen Formen der Vergemeinschaftung. Postdemokratie, so mein Vorschlag, wäre ein Name für das Erkalten dieser Leidenschaft, dieses Begehrens nach Demokratie. In meinem Beitrag möchte ich einerseits den Spuren eines demokratischen Begehrens in der Geschichte der politischen Ereignisse und Theorien folgen, andererseits aber auch versuchen, ausgehend von der Psychoanalyse und der mimetischen Theorie René Girards eine Art Systematik des demokratischen Begehrens anzudeuten. Beginnen werde ich damit, ausgehend von Albert Hirschman und C.B. Macpherson das Verhältnis von Politik und Begehren in der klassischen Politischen Philosophie der Neuzeit in den Blick zu nehmen. Dabei beleuchte ich vor allem, wie Leidenschaften pathologisiert und durch ein ökonomistisches Konzept des Interesses verdrängt wurden (1). In einem zweiten Abschnitt thematisiere ich einige demokratietheoretische Implikationen der von der Psychoanalyse und Girard angedeuteten Theorien des Begehrens. Hier interessiert mich vor allem der kollektive und antiessentialistische Charakter des Begehrens (2). Abschließend frage ich, inwieweit sich eine Theorie radikaler Demokratie auch als Theorie eines demokratischen Begehrens verstehen ließe und an welche Bestände der Geschichte politischer Ideen ein solcher Versuch anknüpfen könnte (3).
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Paul Woodruff, First Democracy, Oxford 2005, ix. Derrida schreibt in Bezug auf sein Konzept einer kommenden Demokratie, dass sie sich nicht in Regeln und Statuten kodifizieren ließe, sondern nur über eine ihr spezifische Form der Autoimmunität ansprechen lässt, über ihr »Recht auf Selbstkritik« (Jacques Derrida, Schurken, Frankfurt a.M. 2003, 104), das zu einer »inneren Historizität« (ebd.) der Demokratie führe. »Innere Historizität« bedeutet wiederum »die Abwesenheit einer eigentümlichen Form, eines eidos [...] einer definitiven Gestalt, eines Wesens« (ebd.).
1. Von der Leidenschaft zum Interesse Der Beginn der Neuzeit lässt sich nicht nur durch einen Paradigmenwechsel in der Erkenntnistheorie definieren (durch einen Übergang vom geschlossenen Kosmos zur offenen Welt oder vom Sein zum Subjekt), sondern auch durch einen Bruch in den Ordnungen des Begehrens. Dieser Bruch wird eingehend in Albert O. Hirschmans10 1977 erschienener Studie The Passions and the Interests: Political Arguments for Capitalism before its Triumph untersucht. Im Mittelalter und in der Renaissance, so Hirschmans Ausgangsthese, richte sich das Begehren der Menschen weniger auf Geld und Besitz als auf Ruhm. Der Ruhm, so könnte man Hirschmans Analysen ergänzen, beerbt dabei das antike ethos, die öffentlich sichtbare Lebensgeschichte einer Person, die uns einerseits in Form von Erzählungen vertraut ist, die sich andererseits aber auch in ihrem Habitus körperlich manifestiert. Dieses ethos konnte sich nur in der demokratischen Konstellation einer Polis entfalten, in der die gemeinsamen Angelegenheiten im Medium von Rede und Gegenrede öffentlich beratschlagt wurden. Der Weg zum ethos oder Ruhm führt aus dem oikos, dem Raum der materiellen Notwendigkeiten und privaten Geheimnisse, heraus. Die Neuzeit beginnt für Hirschman mit einer Entzauberung des Ruhms, der von Hobbes als »Form bloßer Selbsterhaltung«, von La Rochefoucauld als »Eigenliebe« und von Pascal als »Eitelkeit« denunziert wird.11 Ruhm werde mit einer höfischen Kultur assoziiert und, in der Verbindung Ruhmsucht, vor allem auch ethisch desavouiert. Mit der neuzeitlichen Abwertung des Ruhms gehe eine Abwertung der Leidenschaften insgesamt einher, die nicht nur von Rationalisten wie Empiristen als Gefahr für die Erkenntnis, sondern von den Klassikern der Politischen Philosophie auch als Gefahr für das Zusammenleben begriffen und entsprechend pathologisiert werden. Für das soziale Band suchen die Politischen Philosophen der frühen Neuzeit einen Grund, der über ein wechselseitiges af-
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Albert O. Hirschman, ein 1915 in Berlin geborener Soziologe und Ökonom, promovierte 1938 in Triest und schloss sich dort einer antifaschistischen Untergrundgruppe an; auf Seiten der Republikaner kämpfte er drei Monate im Spanischen Bürgerkrieg, um dann am Zweiten Wettkrieg zunächst auf französischer, dann auf amerikanischer Seite teilzunehmen und nach dem Krieg Wirtschaftswissenschaften zu lehren, an der Yale University, der Colombia University und an der Harvard University. Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen, Frankfurt a.M. 1987, 19.
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fektives Verhaftet-Sein hinausgeht und finden ihn letztlich in einer instrumentellen Konzeption von Vernunft. In der Philosophie der frühen Neuzeit lassen sich, so Hirschman, im Wesentlichen drei begriffliche Strategien der Bewältigung von Leidenschaften ausmachen: a. Die erste, von Augustinus und Calvin inspirierte Strategie besteht darin, Emotionen durch »Zwang und Repression«12 beherrschen zu wollen. Dieses Projekt hat etwa Hobbes in seinem Versuch einer kalkülrationalen Begründung des Politischen aus einem Gesellschaftsvertrag verfolgt. Mit Hilfe dieses Vertrags schützen wir uns wechselseitig vor den verwerflichen sozialen Konsequenzen der Kontingenzen und Maßlosigkeiten unseres Begehrens. Diese Konzeption geht allerdings mit spezifischen Schwierigkeiten einher. Nichts garantiert, dass nicht auch das Ergebnis des Gesellschaftsvertrags, der Souverän, hinter dem immer endliche Menschen stehen, Opfer von Leidenschaften werden kann. Darüber hinaus drängt sich nicht erst dem psychoanalytisch informierten Leser die Frage auf, ob sich Leidenschaften überhaupt erfolgreich auf dem Wege ihrer Unterdrückung bekämpfen lassen. b. Ein zweiter historisch bedeutsamer Versuch ihrer Bewältigung besteht insofern im Versuch, die Leidenschaften gegeneinander auszuspielen, sie sich wechselseitig neutralisieren zu lassen. Präfiguriert finde sich dieser Versuch in mittelalterlichen Allegorien, welche die »Seele des Menschen als Schlachtfeld«13 von Affekten darstellen. Im Kontext der neuzeitlichen Praktischen Philosophie werden diese Allegorien bei Bacon und Spinoza aufgegriffen. Für Bacon kommt es in politischen Dingen darauf an, »wie man Affekt gegen Affekt einsetzt und den einen durch den anderen beherrscht«14. Und in Spinozas Ethik heißt es ganz ähnlich: »Ein Affekt kann nur gehemmt oder aufgehoben werden durch einen Affekt, der entgegengesetzt und der stärker ist als der zu hemmende Affekt.«15 Damit richte sich Spinoza gegen das rationalistische Vorurteil, dass »die wahre Erkenntnis des Guten und Schlechten« einen Affekt zu »hemmen« vermöge; sie könne dies allenfalls, sofern
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Ebd., 23. Ebd., 30. Francis Bacon, The Advancement of Learning, XXII, 6, Oxford et al. 1974, 164; zit. u. übers. n. Hirschman, Leidenschaften, 31. Baruch de Spinoza, Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, Hamburg 1976, IV, 7; zit. n. Hirschman, Leidenschaften, 31.
die Erkenntnis selbst »als Affekt«16 fungiere. Als Beispiel für die Strategie einer wechselseitigen Neutralisierung von Leidenschaften führt Hirschman wiederum Hobbes an. Eine Grundoperation des Leviathan bestehe darin, das zerstörerische Streben nach Ruhm und Besitz durch eine »Furcht vor dem Tod« überwinden zu wollen; der Leviathan als Verkörperung des Gesellschaftsvertrags vermag die soziale Integration nur mit dem Schwert zu garantieren. »Die ganze Lehre vom Gesellschaftsvertrag« ist für Hirschman vor diesem Hintergrund »ein Ableger der Ausgleichs-Strategie«17. c. Der dritte und historisch prominenteste Weg der Bewältigung von Leidenschaften besteht für Hirschman in ihrer Transformation, darin also, sie »auf irgendeine Weise für andere Zwecke einzuspannen und nutzbar zu machen«18, insbesondere für ökonomische. Die Hoffnung auf eine solche Transformierbarkeit der Leidenschaften artikuliert sich nicht erst in Adam Smith’ Theorem einer invisible hand, sondern findet sich bereits bei Pascal, für den die »Größe des Menschen« darin liege, »aus der Begierde eine so schöne Ordnung gewonnen zu haben«19. Bei Giovanni Battista Vico schließlich heißt es in der Mitte des 18. Jahrhunderts: Die menschliche Gesellschaft macht »aus der Grausamkeit, der Habsucht und dem Ehrgeiz – den drei Lastern, die das ganze Menschengeschlecht verwirren – das Militär, den Handel und den Hof und damit die Stärke, den Reichtum und die Weisheit der Staaten«20. Hirschman interpretiert Smith’ invisible hand, Hegels ›List der Vernunft‹ und Freuds ›Sublimierung‹ als Varianten der Einsicht Vicos, dass sich das Verfolgen individueller Interessen in der Marktgesellschaft zu einer überindividuellen sozialen Ordnung fügt. Das individuelle Interesse als zentrale Kategorie neuzeitlicher Politischer Theorie geht aus einer Transformation der Leidenschaften hervor und wird ihnen zugleich entgegengesetzt. Im Unterschied zu den Leidenschaften gilt das Interesse den neuzeitlichen Philosophen als vernunftgeleitet; es
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Hirschman, Leidenschaften, 31. Ebd., 40. Ebd., 24. Blaise Pascal, Gedanken, Leipzig 1987, § 106/403, S. 57; vgl. Hirschman, Leidenschaften, 25. Giovanni Battista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Hamburg 1990, Bd. 1, 91; vgl. Hirschman, Leidenschaften, 25.
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bezeichne ein Streben, zu dem sich ein »Element der Reflexion und Kalkulation hinsichtlich der Art, wie diesem Streben nachzukommen«21 sei, hinzugeselle. Neben dieser rationalen Dimension zeichnet sich das Interesse auch durch eine ökonomische Komponente aus. Hirschman weist in diesem Zusammenhang auf die Begriffsgeschichte des englischen interest hin, das im 16. Jahrhundert vor allem die für geliehenes Geld erhobenen Zinsen bezeichnet. Montesquieu und die schottischen Aufklärer betonen mehrfach eine befriedende Kraft des Schuldzinses, der die Leidenschaft der Habgier in einen ruhigen Willensantrieb zu transformieren vermag. Zins und Kredit befördern, so Montesquieu, einen »Geist der Einfachheit, Sparsamkeit, Mäßigung, des Fleißes, der Klugheit, Ruhe und geregelten Ordnung«22, sie etablieren wechselseitige Verpflichtungen und Abhängigkeiten. Das mit Zins und Kredit assoziierte Interesse stiftet ein soziales Band über ein wechselseitiges In-der-Schuld-Stehen, das es den Einzelnen nicht erlaubt, weiter den Impulsen der Leidenschaft, etwa der Habgier, zu folgen, die ganz in der Gegenwart lebt und nicht an zukünftige Folgen und Nebenfolgen denkt. Das ökonomisch konnotierte Interesse richtet sich vor allem auf persönlichen Wohlstand, der sich in Geld bemessen lässt. Hirschman erwähnt in diesem Kontext eine wichtige Entdeckung, die Georg Simmel in seiner Philosophie des Geldes gemacht hatte. Für alles menschliche Begehren sei, so Simmel, eine »Dissonanz zwischen dem Wunsch und dessen Erfüllung«23 charakteristisch. Egal, ob sich das Begehren auf einen sexuell attraktiven Menschen, eine gesellschaftliche Position oder ein ökonomisches Gut richtet: Das Erreichen des begehrten Objekts löse in der Regel nie das ein, was wir uns von ihm versprochen hatten. Das Begehren wird weniger von der Präsenz einer begehrten Sache evoziert als von deren Abwesenheit oder Mangel, es zerstört sich mit dem Erreichen der begehrten Sache selbst. Lacan beschreibt diesen Prozess als ein Mehr-Genießen, ein Genießen des Begehrens selbst, das uns immer wieder dazu bringt, uns selbst daran zu hindern, die begehrte Sache zu erreichen.
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Hirschman, Leidenschaften, 41. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Tübingen 1992, Bd. 1, 70, vgl. Hirschmann, Leidenschaften, 81. Hirschman, Leidenschaften, 64.
»Angst tritt nicht auf, wenn die Objekt-Ursache des Begehrens fehlt; nicht das Fehlen des Objekts löst sie aus, sondern, im Gegenteil, die Gefahr, sich dem Objekt zu sehr zu nähern und dadurch des Mangels selbst verlustig zu gehen – anders gesagt, das Verschwinden des Begehrens zu erleiden.«24
Kurz gesagt: Alle Angst ist immer auch Angst vor dem erfüllten Begehren. Die einzige Ausnahme von der Regel einer Dissonanz zwischen Wunsch und Erfüllung stellt für Simmel das Begehren nach Geld dar, vorausgesetzt, wir geben das Geld nicht gleich wieder für andere Güter aus. Gerade weil das Geld eine reine Konvention sei, ein qualitätsloses Nichts, könne es genau das einlösen, was es verspricht. Insofern können wir es endlos akkumulieren und zugleich weiter begehren. Hirschman beschreibt das Interesse zusammenfassend als »Mischung aus Egoismus und Rationalität«25. Den wesentlichen Vorzug einer von Interessen statt von Leidenschaften regierten Welt sehen die Politischen Philosophen der Neuzeit in der »Voraussagbarkeit und Beständigkeit«26 einer auf Interessen gebauten Ordnung. Mit Interessen lässt sich im wörtlichen Sinne rechnen: Als von einem Kalkül geleitete kollidieren Interessen in weit geringerem Maße miteinander als die wesentlich idiosynkratischeren Leidenschaften. Das Verfolgen der individuellen Interessen vermehre im Sinne der Smith’schen invisible hand die Nutzensumme für die gesamte Gesellschaft. Im 17. und 18. Jahrhundert versprach man sich insofern von der »Ausdehnung des Handels«, dem Inbegriff eines interessegeleiteten Handelns27, »umfassende vorteilhafte Auswirkungen«28, die nicht nur die ökonomische Sphäre betrafen, sondern auch »politischer, sozialer und moralischer Art«29 waren. Hirschman zeigt, wie das Streben nach Geld im 18. Jahrhundert als »ruhige Leidenschaft«30 definiert wurde, die zur Ausbildung von polished nations führe. Der Austausch von Waren und Geld stifte, wie etwa Bolinbroke schreiben sollte, »dauerhaftere Bindungen als Ehre, Freundschaft, Verwandtschaft, gleiches Temperament oder verwandte
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Slavoj Žižek, Mehr-Genießen. Lacan in der Populärkultur, Wien 1992, 11. Hirschman, Leidenschaften, 44. Ebd., 57. Es wäre lohneswert zu untersuchen, inwiefern die Handlung bzw. das handelnde Subjekt als Schlüsselbegriffe der neuzeitlichen Philosophie nichts anderes darstellen als Hypostasierungen des Handels. Hirschman, Leidenschaften, 61. Ebd. Ebd., 72.
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Neigungen«31. Der Markt übernimmt hier die Aufgabe des Politischen, setzt sich in vergleichbarer Weise an seine Stelle, wie sich die Interessen an die Stelle der Leidenschaften gesetzt haben. Der Übergang von einer Welt der Leidenschaften zu einer Welt der Interessen steht also zugleich für eine Verleugnung des Politischen zu Gunsten der Ökonomie. Die vom Markt regierte bürgerliche polished nation des 17. und 18. Jahrhunderts ist bereits eine Form der Postdemokratie, die der modernen Demokratie logisch wie genealogisch vorausgeht. Umgekehrt zeichnen sich demokratische Augenblicke im Sinne von Crouch immer durch einen Ausbruch von Leidenschaften aus, durch ein Durchbrechen jener Regime und Dispositive, die unser Begehren in die Maschinen der Verteilung von Geld, Macht und Subjektpositionen einzuspeisen suchen. Genuin demokratische Ereignisse wie die Belagerung der Akropolis (auf die sich die Anhänger der Tyrannis zurückgezogen hatten) durch das Athener Volk im Jahre 507 v. Chr., das den demokratischen Reformen des Kleisthenes den Weg bereitete (vgl. Arist. Ath. Pol. 20.), die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten am 4. Juli 1776, der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789, der Mai 1968, die friedliche Revolution in der DDR 1989 sowie schließlich der mit Mohamed Bouazizis Selbstverbrennung am 17. Dezember 2010 einsetzende Arabische Frühling sind immer primär Manifestationen einer Leidenschaft, nicht nur diskursive Artikulationen von Forderungen und Interessen. All diese Ereignisse gehen mit einem zugleich leidenschaftlichen und leibhaften Einsatz einher, mit der Konstitution neuer politischer Subjekte, die sich über einen Mangel und ein Begehren definieren, mit der Erfindung einer Sprache, in der sich primär das Begehren zuvor vermeintlich Sprachloser zu sprechen ausdrückt, und vor allem mit einem Mimetismus des Begehrens, mit einem kollektiven Gefühl, das eine unbedingte Gemeinschaft möglich wird, die nicht länger auf Subordination beruht. Der theoretische wie praktische Versuch, eine moderne (rationale, funktional differenzierte, bürokratisierte) Gesellschaft zu errichten, steht immer im Dienst der Bewältigung politischer Leidenschaften und der ihnen korrespondierenden Ereignisse; er bereitet damit vor, was heute als Postdemokratie bezeichnet wird. Die vorherrschende Reaktion auf Leiden-
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Zit. n. Hirschman, Leidenschaften, 66.
schaften besteht in der Moderne in ihrer Pathologisierung. Wie Michael Walzer schreibt: »Der Unterschied zwischen uns und ihnen ist klar. Wir sind gebildete, intelligente, liberale und vernünftige Menschen, und wenn unsere Überzeugungen stark sind, so ist es die Gesellschaft als Ganzes. […] Die Leidenschaft ist [dagegen] mit den anderen verknüpft, mit der ›blutgefärbten Flut‹, die aus den Tiefen steigt, sobald das Zentrum zusammenbricht.«32
Genau diese Pathologisierung gilt es als die postdemokratische Geste schlechthin zu skandalisieren und die Leidenschaften als mögliche Agenten einer demokratischen Befreiung zu begreifen. Demokratisierung befördere ich dann, wenn ich dem eigenen Begehren treu bleibe, den eigenen Glücksansprüchen nicht abschwöre, mich nicht im wunschlosen Unglück eines verwalteten und disziplinierten Lebens einrichte. Vor diesem Hintergrund schlage ich vor, den Begriff der Postdemokratie nicht im Sinne einer Epochenbezeichnung zu verwenden. Die Postdemokratie folgt (im Gegensatz zu Crouchs geschichtsphilosophischer Darstellung) weniger auf die Demokratie, als dass sie ihr vorausgeht, als Bedingung ihrer Unmöglichkeit wie ihrer Möglichkeit. Der Kapitalismus entsteht vor der modernen Demokratie und prägt ihre postdemokratische Gestalt. Die politische Auseinandersetzung nimmt in der Postdemokratie die Form der Konkurrenz von Marktteilnehmern an, sie wird zum Kampf um die knappe Ressource der Macht. Eine genuine oder radikale Demokratie könnte sich nur gegen die Postdemokratie als einer Vorherrschaft jenes Interesses etablieren, das als der restaurative Begriff schlechthin gelten kann. Doch wie ließe sich die demokratische Leidenschaft dagegen schützen, erneut in einen Treibstoff für Kapitalismus, Populismus oder Fundamentalismus transformiert zu werden? Das ist vielleicht die entscheidende Frage, die sich jeder radikaldemokratischen Position heute noch vor derjenigen nach der adäquaten Be- oder Entgründung des Politischen zu stellen hat. Ihre Beantwortung wäre nur möglich, wenn sich die Politische Theorie von ihrem Formalismus, von ihrer selbstauferlegten Abstinenz in Bezug auf die Thematisierung von Lebensformen und Leidenschaften, befreien könnte.33
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Michael Walzer, Vernunft, Politik und Leidenschaft. Defizite liberaler Theorie, Frankfurt a.M. 1999, 69. In diese Richtung zielen auch Martha C. Nussbaum, Politische Emotionen, Berlin 2014, sowie Thomas Bedorf, »Politische Gefühle«, in: ders./Tobias Nikolaus
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2. Eine politische Kartographie des Begehrens Die pathoi oder Leidenschaften der antiken Philosophie waren primär das, was mir widerfahren ist, was vom Anderen kommt und von dessen Primat zeugt, was im Raum zwischen uns zirkuliert und diesen Raum erst eröffnet, was mir erlaubt, mich selbst als vom Anderen bedingt zu erfahren: kurz, was mich vor jedem Selbstbezug in den Raum eines Politischen stellt. Sie sind insofern nie vollständig kontrollierbar, zugleich aber das, was eine Gemeinschaft zwischen uns stiftet, uns aufeinander ausrichtet. Das neuzeitliche, interessegeleitete Subjekt setzt sich demgegenüber den pathoi nicht länger aus. Es richtet sich auf sich selbst aus, auf seine Selbsterhaltung und die Vermehrung seines Wohlstands. Sein Prototyp könnte der von C.B. Macpherson beschriebene Besitzindividualist sein34, hinter dem sich einerseits der bürgerliche Kaufmann der frühen europäischen Marktgesellschaften verbirgt, andererseits eine Art Idealtypus, von dem die Politische Philosophie der frühen Neuzeit ausgeht. Erst zur Verteidigung des Besitzes dieses Besitzbürgers begründen Hobbes und Locke die Notwendigkeit des Politischen. Im Gegensatz zur antiken Vorstellung des Menschen als eines zoon politikon, das von vornherein (und vor allem auch affektiv) assoziiert ist, beginnt die Politische Philosophie der Neuzeit mit einem strikten Individualismus. So verzichtet Hobbes auf naturrechtliche Vorstellungen, wie sie für die christliche und humanistische Tradition leitend waren, und »deduziert[..] politische Rechte und Pflichten aus Interesse und Willen dissoziierter Individuen«35. Locke wird Hobbes in diesem Punkt folgen; das Individuum fungiert bei Locke »wesenhaft als Eigentümer seiner eigenen Person oder seiner eigenen Fähigkeiten, für die es nichts der Gesellschaft schuldet«36. Dass es der Gesellschaft nichts schuldet, ist hier zentral; das Individuum vermag sich für Hobbes wie für Locke aus sich selbst heraus zu begründen, aus dem Verfolgen seiner Interessen. Das Besitzen, Erhalten und Vermehren von Reichtum, der Inbegriff des Interesses, gilt Locke als intrinsisch gut; in der Wert und Eigentum schaf-
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Klass (Hg.), Leib – Körper – Politik. Untersuchungen zur Leiblichkeit des Politischen, Weilerswist 2015, 249-265. Vgl. Crawford Brough Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, Frankfurt a.M. 1980. Ebd., 13. Ebd., 15.
fenden Arbeit verlängere sich der natürliche Selbsterhaltungstrieb. Da die natürlichen Ressourcen auf der Erde unermesslich seien, führe die Arbeit an sich nicht automatisch zu sozialer Ungleichheit. Zur sozialen Ungleichheit kommt es erst mit der Etablierung einer Geldwirtschaft, die Locke noch im Naturzustand situiert. Die Akkumulation der Erträge unserer Arbeit macht nur Sinn, wenn die angehäuften Güter nicht verderben, was etwa bei landwirtschaftlichen Produkten der Fall wäre. Geld gilt Locke nun als genau diejenige Erfindung, die es erlaubt, auch über das für die eigene Selbsterhaltung hinaus nötige Maß zu akkumulieren. Wenn ich einmal über Kapital verfüge, kann ich mir weiteren Boden aneignen, der dann anderen fehlen und sie zwingen wird, für mich zu arbeiten, meinen Boden zu bestellen. Das Politische dient für Locke dazu, die damit entstehende soziale Ungleichheit bzw. das Eigentum der (von Natur aus fleißigen) Eigentümer zu schützen und die Möglichkeit einer Revolte abzuwehren. Damit bereitet Locke begrifflich jene Ordnung vor, die Rancière und Crouch als postdemokratisch kennzeichnen. Das Parlament dient den Interessen des Kapitals, es wird von dessen Lobbys dirigiert, es dereguliert die Gesellschaft, unterwirft sie der Logik des freien Marktes. Ein Begehren nach Demokratie wäre noch kein demokratisches Begehren. Insofern haben wir uns nun die Frage zu stellen, inwiefern das Begehren, oder zumindest eine bestimmte Gestalt des Begehrens, demokratisch sein könnte. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, dass nichts idiosynkratischer, privater und irrationaler ist als das Begehren. Über die Art, unser Begehren zu artikulieren und zu leben, unterscheiden wir uns als Individuen voneinander und geraten in Konflikte, die sich im Gegensatz zu Deutungskonflikten scheinbar nicht politisch moderieren lassen. Bei der Frage danach, ob es nicht gleichwohl ein spezifisch demokratisches Begehren geben könne, orientiere ich mich zunächst an den ausdifferenziertesten Theorien des Begehrens, an der klassischen Psychoanalyse und an der Mimetischen Theorie Girards, die mir dabei helfen werden, das Begehren in einem Raum der Intersubjektivität oder Praxis anzusiedeln, ohne dass sie freilich bereits selbst explizit eine politische Dimension des Begehrens freizulegen vermochten. Ein großes Verdienst der klassischen Psychoanalyse besteht darin, das Begehren unabhängig von einer Subjekt- wie von einer Objektursache zu denken, es gleichsam als autonom zu begreifen. Das Begehren reduziert sich aus psychoanalytischer Sicht gerade nicht auf einen Trieb, der anthropologisch verankert wäre und insofern vektoriell von einem Individuum ausginge, das sich dann nachträglich ein mögliches Objekt seiner Erfül197
lung suchen müsste. Umgekehrt ist aus psychoanalytischer Sicht kein Objekt intrinsisch begehrenswert, sein Wert ergibt sich vielmehr erst daraus, welche Werte andere Subjekte ihm oder anderen Objekten zumessen. Mein Begehren orientiert sich also immer primär am Begehren eines Anderen; es ist, wie Lacan sagen würde, das Begehren des Anderen.37 Im Begehren gehöre ich mir, wie in einer demokratischen Gemeinschaft und im Unterschied zum sich selbst besitzenden Individuum bei Locke, nicht völlig selbst, habe mich dem Anderen überantwortet, kann per definitionem nicht souverän sein. Im Rahmen der ödipalen Triade38, die als Urszene der Freud’schen Theorie des Begehrens gelten kann, begehrt der Sohn seine Mutter, weil und indem er das Begehren seines Vaters imitiert. Dieser Mimetismus des Begehrens führt bei Freud, dem sich René Girard weitgehend anschließen wird39, in eine Rivalität, einen Konflikt, als dessen Internalisierung sich das Subjekt erst formiert. Da mein Begehren das Begehren des Anderen nachahmt, bezieht es sich auf das gleiche Objekt. Jedes Begehren führt somit in eine Situation der Konkurrenz und des Konflikts. Diesen Konflikt können wir nicht diskursiv lösen, sondern nur dadurch, dass wir, wie Freud in Totem und Tabu andeutet, seine Ursache auf einen gemeinsamen Dritten (Freuds Urvater und Girards Sündenbock) projizieren, gegen den sich dann unsere vereinte Gewalt richtet und der dafür verantwortlich gemacht wird, dass unser Begehren niemals Befriedigung finden kann. Die Exklusion dieses Sündenbocks stiftet dann eine Gemeinschaft, die sich nur über diesen Ausschluss zu stabilisieren vermag und damit gewaltförmig bleibt. Es wäre an dieser Stelle zunächst zu fragen, ob Freud und Girard nicht stark von der neuzeitlichen Transformation der Leidenschaften in Interessen, wie sie Hirschman beschrieben hatte, geprägt sind. Was heißt in ihren Theorien »Begehren«? Ist es in der von Freud zu Girard reichenden Tradi-
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Lacan geht davon aus, »dass das Begehren des Menschen das Begehren des Andern ist« (Jacques Lacan, Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht, in: ders., Schriften I, Berlin/Weinheim 1991, 171-236, 220). Vgl. Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1972, 351ff. Vgl. René Girard, Figuren des Begehrens, Münster 2012; ferner Andreas Hetzel, »Opfer und Gewalt. René Girards Kulturanthropologie des Sündenbocks«, in: Wilhelm Gräb/Martin Laube (Hg.), Der menschliche Makel. Zur sprachlosen Wiederkehr der Sünde, Loccumer Protokolle, 11, 2008, 103-118.
tion nicht doch vor allem ein verobjektivierendes Begehren, ein Begehren, das seinen Fokus eher in einem Objekt hat als in einem Mangel oder einem sich mir konstitutiv entziehenden Anderen? Der Konflikt des Begehrens wird von Freud und Girard nach dem Vorbild der Konkurrenz in einer Marktgesellschaft inszeniert. Als klinisches Paradigma Freuds fungiert die bürgerliche, patriarchale Kleinfamilie der Jahrhundertwende, das literarische Paradigma Girards bilden die Eifersuchtsszenen Prousts, die ebenfalls einer durch und durch bürgerlichen Welt angehören. Beide Autoren betten ihre Konzeptionen des Begehrens in eine historisch kontingente und problematische, letztlich besitzbürgerliche Ordnung ein. Es scheint mir keineswegs ausgemacht, dass ein Mimetismus des Begehrens (ein Begehren wird durch ein anderes Begehren bzw. das Begehren eines Anderen hervorgerufen) notwendig in einen Konflikt führen muss, vor allem dann nicht, wenn sich das Begehren nicht auf ein Objekt richten würde, sondern auf die Etablierung einer gemeinsamen Lebensform, die gerade nicht durch Konkurrenz um knappe Ressourcen geprägt ist, sondern auf ein gemeinsames Genießen des gemeinsamen Vollzugs der Einrichtung der gemeinsamen Angelegenheiten, kurz: auf eine eudaimonistisch verstandene Praxis, die zugleich Politik wäre. Im Gegensatz zum animalischen Trieb hat das Begehren eine gewisse Achtung zur Voraussetzung, die darin zum Ausdruck kommt, dass ich denjenigen, den ich begehre, gerade nicht zu einem Objekt mache, sondern die Distanz zwischen uns respektiere. Insofern kann Lacans Aufforderung, in seinem Begehren nicht nachzulassen40, als ethisches Pendant zum Levinas schen Antlitz gelesen werden. Beide Gesten, das Angesprochenwerden vom Antlitz und das Im-Begehren-Bleiben, stehen für eine Nichtindifferenz gegenüber Anderen, gegenüber denjenigen, die mir real begegnen und eine Antwort einfordern. Wenn ich in meinem Begehren nicht nachlasse, akzeptiere ich, dass ich beim Anderen nicht wirklich ankommen kann, weiter von ihm oder ihr (nicht zuletzt von ihrer Art zu begehren) irritiert zu werden, sie oder ihn als unabgegoltenen Anspruch zu begreifen, ihn oder sie niemals zu unterwerfen. Das Antlitz und das nicht nachlassende Begehren unterwandern die ödipale Konstellation Freuds, in
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»Ich behaupte, daß es nur eines gibt, dessen man schuldig sein kann, zumindest in analytischer Perspektive, und das ist, abgelassen zu haben von seinem Begehren« (Jacques Lacan, Das Seminar, Buch VII (1959–1960). Die Ethik der Psychoanalyse, Weinheim 1996, 380).
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der die sozialen Formen und Sprachen des Begehrens von einem Vater dominiert werden. Der Vater verkörpert in der klassischen Psychoanalyse die Angst vor dem versagten, unstatthaften Begehren. Ein antiödipales Begehren, wie es etwa die deutschen Frühromantiker, Herbert Marcuse und Gilles Deleuze angedacht haben, korrespondiert demgegenüber einer vaterlosen Gesellschaft, in der niemand souverän ist, die darum noch nicht automatisch demokratisch wäre, demokratische Lebensformen aber zumindest in einer nachhaltigen Weise befördern würde. Nicht abzulassen vom Begehren bedeutet auch, seiner Reflexivität Rechnung zu tragen, die insbesondere von Lacan betont wurde. Lacan spricht, wie bereits weiter oben erwähnt, von einem »Mehr-Genießen«: Ich begehre/genieße über das begehrte Objekt hinaus immer auch das eigene Begehren. Das Begehren muss sich deshalb zugleich selbst bejahen und verneinen. Indem es sich das begehrte Objekt einverleibt, negiert es sich als Begehren; indem es den ersehnten Gegenstand in eine unerreichbare Distanz rückt, erhält es sich, verstößt aber gegen seinen eigenen Begriff. Diese Paradoxie ist nicht zu vermeiden. Der ethische Imperativ der Lacan’schen Psychoanalyse lautet deshalb: Lasse in deinem Begehren nicht nach, komme nie an, bleibe im Werden! Wir genießen, so Lacan, nur den ausstehenden Genuss, das Genießen selbst. Letztlich haben wir keine Angst davor, dass sich uns die Objektursache des Begehrens auf ewig entziehen könnte. Im Gegenteil: Als wirklich bedrohlich empfinden wir die Möglichkeit, die Objektursache erreichen zu können. Dies ist der Grund für die neurotischen Selbstverhinderungsstrategien, die wir aus unserem Alltag kennen; wir selbst sind permanent damit beschäftigt, uns daran zu hindern, das zu erreichen, was wir eigentlich wollen, da wir es mit dem Erreichen in ein Objekt verwandeln würden. Wenn wir uns für eine Demokratisierung der Gesellschaft auf allen Ebenen einsetzen wollen, käme es nicht nur darauf an, demokratische Verfahren zu etablieren und für sie rationale Begründungen zu liefern, sondern demokratische Leidenschaften zu mobilisieren, Demokratie begehrenswert erscheinen zu lassen und zugleich unser Begehren zu demokratisieren, es von Objekten auf nicht-exkludierende, freudvolle Lebensformen zu richten. Dass sich Leidenschaften mobilisieren lassen, machen uns sowohl der rechte Populismus als auch der Kapitalismus erfolgreich vor. Der Kapitalismus führt uns insbesondere die Plastizität von Leidenschaften vor Augen, er richtet unser Begehren auf beliebige Objekte, Waren und entpolitisiert damit unsere Leidenschaften. Hirschmans Analysen einer historischen Transformation der Leidenschaften in Interessen lassen sich vor al200
lem als Hinweis darauf lesen, dass auch andere Ordnungen der Leidenschaften möglich wären, Formen der Leidenschaft, die sich nicht auf Objekte richten würden, sondern, mit Arendt gesprochen, auf das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten, auf Weisen eines beglückenden Mitseins, in denen niemand (kein Vater) als Vorbild dafür dienen oder vorschreiben könnte, wie zu begehren und zu genießen sei. Lacans Forderung, im Begehren nicht nachzulassen, lässt sich insofern nicht nur als ethischer Imperativ lesen, sondern auch als politischer. Er bedeutet nicht nur, nicht bei der Anderen ankommen zu können, weil ich ihr nie werde Gerechtigkeit widerfahren lassen könnte, sondern auch, dass die Einrichtung der Polis ein immerwährender Prozess bleiben wird. In genau diesem Sinne hält sich auch Derridas Konzept einer radikalen Demokratie wesentlich im Kommen, sie begnügt sich nie mit dem bereits Erreichten. Gerade aus der Einsicht in die Mangelhaftigkeit des bereits erreichten Standes der Demokratisierung bezieht sie ihre Kraft. Letztlich hat die »kommende Demokratie« den Status einer Forderung oder unendlichen Aufgabe: Derrida spricht von einem »Muss«, davon, »dass man mit aller Kraft« einer Sache die Treue bewahren muss: »dem fortbestehenden Begehren nach Demokratie, dem Auflodern einer Präferenz, welche die Risiken, die Gefahren, eine gefahrvolle Freiheit der einschläfernden Ruhe einer Unterjochung vorzieht«41.
3. Politische Leidenschaften und radikale Demokratie Der Beschreibung des gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustands als postdemokratisch können sich auch Ernesto Laclau und Chantal Mouffe anschließen, die ihre eigene Position als radikaldemokratisch bezeichnen. Mouffe spricht statt von postdemokratischen Zuständen eher von postpolitischen. Als postpolitisch charakterisiert sie im Anschluss an Rancière Strategien der Verleugnung des Politischen, etwa die Recodierung politischer Konflikte in moralischen Begriffen.42 Ein politischer Konflikt werde in diesem Falle dadurch entpolitisiert, dass eine der beteiligten Parteien von der anderen moralisch disqualifiziert, etwa auf eine »Achse des Bösen« eingetragen wird. Eine weitere, insbesondere für deliberative Demo-
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Derrida, Schurken, 106. Vgl. Chantal Mouffe, Über das Politische, Frankfurt a.M. 2007, 41 u. 85ff.
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kratietheorien typische Strategie der Verleugnung des Politischen besteht für Mouffe darin, politische Konflikte als rein theoretische Konflikte auszulegen, die sich prinzipiell und in the long run, etwa durch wohlbegründete Expertenurteile, entscheiden ließen. Der Konflikt des Politischen beschränkt sich für sie nicht, wie in deliberativen Demokratietheorien, auf das Schlichten strittiger Deutungen von Situationen oder das wechselseitige Einfordern von Begründungen für strittige Geltungsansprüche. Zum Konflikt, der das Politische definiert, gehören für Mouffe nicht nur Meinungen, sondern auch Leidenschaften: »Mit ihrer Privilegierung von Rationalität ignorieren deliberative [...] Perspektiven ein zentrales Moment: die wesentliche Rolle, die Leidenschaften und Affekte für die Sicherung der Loyalität gegenüber demokratischen Werten spielen.«43 Mouffe steht hier einerseits in der Tradition Montesquieus, für den der das Gesetz allererst beseelende »Geist des Gesetzes«, sein pleroma, politisch bedeutsamer ist als das Gesetz selbst, andererseits in der Tradition Tocquevilles, für den sich die Überlegenheit der amerikanischen Demokratie über die französische nicht an besseren demokratische Institutionen festmacht, sondern an einer stärkeren affektiven Besetzung der Demokratie. Als zentrale politische Leidenschaft zeichnet Mouffe, im Anschluss an Carl Schmitt, die Gegnerschaft aus.44 Der Gegner als das »konstitutive Außerhalb«45 jeder politischen Assoziation bietet einen Ansatzpunkt zur Artikulation bzw. Verkettung verschiedener gegenhegemonialer Projekte und lokaler Widerstandsformen, die erst angesichts dieses gemeinsamen Gegners eine mehr als nur lokale Relevanz gewinnen und damit politisch werden. Mouffes Auszeichnung der Rolle der Leidenschaften für die Politik kann ich nur zustimmen. Die Frage lautet allerdings, ob Gegnerschaft als einziger demokratischer Affekt in Frage kommt. Verläuft die Integration oder Assoziierung verschiedener Interessen immer und notwendig über einen gemeinsamen Gegner, also, wie bei Freud und Girard, über eine Geste der Exklusion? Oder ließen sich auch andere Formen politischer Assoziation denken, die mit anderen Affekten als dem leidenschaftlichen Verhaftetsein an einen Gegner einhergingen? Eine politische Assoziation, die über eine Vielfalt von Leidenschaften erfolgt, wird seit der Antike in der Naturrechtstradition diskutiert. Die
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Chantal Mouffe, Das Demokratische Paradox, Wien 2008, 98. Mouffe, Über das Politische, 40. Ebd., 23.
moderne Politische Philosophie hebt mit einer translatio des Naturrechts an, die man, zumindest bei Hobbes und Locke, als gescheiterte translatio begreifen muss. Im Gegensatz zur antiken Vorstellung des Menschen als eines zoon politikon, das von vornherein über seine Affekte assoziiert ist und nach weiterer Assoziierung strebt, beginnt die Politische Philosophie des 17. Jahrhunderts bei Hobbes und Locke mit einem strikten Individualismus, für den das Individuum »nichts der Gesellschaft schuldet«46. Das Naturrecht betont demgegenüber, dass wir immer schon alles dem Anderen schulden. Die Naturrechtstradition zieht sich wie eine Art innerer Anderer durch das kalkülrationale politische Denken der Neuzeit und begreift sich als Anwalt politischer Leidenschaften. So schreibt Hugo Grotius in seinen 1625 erschienenen Drei Büchern über das Recht des Krieges und Friedens: Dem Menschen eigentümlich ist »der gesellige Trieb zu einer ruhigen und nach dem Maß seiner Einsicht geordneten Gemeinschaft mit Seinesgleichen, welche die Stoiker oikoiosin nannten. Der Satz, dass jedes lebende Wesen nur den Trieb auf seinen eigenen Nutzen habe, kann in dieser Allgemeinheit nicht zugegeben werden.«47 Und weiter: »Der Ausspruch des Carneades und Anderer ›Der Nutzen ist die wahre Mutter von Recht und Billigkeit‹ ist daher, streng genommen, falsch. Denn die Mutter des natürlichen Rechts ist die menschliche Natur selbst, welche uns, auch wenn wir keine Bedürfnisse hätten, zur Aufsuchung der Gemeinschaft treiben würde.«48
Insbesondere in der Politischen Philosophie Spinozas49 wird die Naturrechtslehre gegen die kalkülrationale Begründung des Politischen bei Hobbes ausgespielt und im Sinne einer Artikulation von Demokratie und Leidenschaft interpretiert. Historisch gesehen reagiert Spinoza mit seiner politischen Philosophie auf die gleiche Konstellation wie Hobbes und Locke: auf die Religionskriege des 17. Jahrhunderts. Gegen Hobbes, für den sich die Herrschaft des Souveräns auch auf die Worte und religiösen Bekenntnisse erstreckt, fordert Spinoza, »daß jedem die Freiheit des Urteils und die Möglichkeit, die Grundlagen seines Glaubens nach seinem Sinne
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Macpherson, Besitzindividualismus, 15. Hugo Grotius, Drei Bücher über das Recht des Krieges und Friedens, Berlin 2007, Bd. 1, 24; Hervorhebung AH. Ebd., 34. Vgl. Martin Saar, Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza, Berlin 2013.
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auszulegen, gelassen werden muß«50. Der Zweck des Staates und des Politischen besteht hier nicht im Sichern des Eigentums der Besitzbürger, sondern im Sichern des Naturrechts im Sinne des Vermögens, sich in den Medien der Rede und der Affekte aufeinander zu beziehen. Diese Assoziation kommt gerade nicht dadurch zustande, dass das Naturrecht an einen Souverän abgetreten oder auf einen Souverän übertragen wird. Spinoza bemerkt, »daß die Menschen, um sicher und gut zu leben, sich notwendig vereinigen mußten, wodurch sie bewirkten, daß sie das Recht, das von Natur jeder zu allem hatte, nun gemeinsam besitzen und daß es nicht mehr von dem Vermögen und der Begierde des einzelnen, sondern von der Macht und dem Willen der Gesamtheit bestimmt wird«51.
Vernunft gilt Spinoza als das Ergebnis und nicht als die Voraussetzung dieser Universalisierung, die nur der äußeren Form nach dem Hobbes’schen Vertrag ähnelt. Den gemeinsamen Besitz des Naturrechts charakterisiert Spinoza als Demokratie: »Das Recht einer derartigen Gesellschaft heißt Demokratie; sie ist demnach zu definieren als eine allgemeine Vereinigung von Menschen, die in ihrer Gesamtheit das höchste Recht zu allem hat, was sie vermag.«52 Die demokratische Regierung bezeichnet Spinoza weiter als die »natürlichste«53, da in ihr »alle gleich« bleiben, wie es auch im Naturzustand der Fall war. »Das Recht der Regierung« ist in der Demokratie »nichts anderes als das Naturrecht selbst, das durch die Macht nicht eines einzelnen, sondern der wie in einem Geiste geleiteten Menge [multitudo] bestimmt wird.«54 Im Naturzustand, der dem demokratischen Zustand entspricht, ist der Mensch für Spinoza wesentlich ein Affektwesen. Beim Übergang in den Staat bleiben die Affekte, im Gegensatz zu den kalkülrationalistischen Staatsentstehungstheorien von Hobbes und Locke, für Spinoza nicht auf der Strecke. Gegen Platons Vision einer Philosophenherrschaft sowie den rationalistischen Versuch von Hobbes, den Staat aus Vernunftgrundsätzen zu konstruieren, bekennt sich Spinoza zu einem politischen Realismus, der mit einem entschiedenen Plädoyer für politische Leidenschaften einher-
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Baruch de Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, Hamburg 1994, 10. Ebd., 235. Ebd., 238. Ebd., 240. Baruch de Spinoza, Abhandlung vom Staate, Werke Bd. 5, Hamburg 1977, 71.
geht. Erst die Affekte, konkret: ein widerspenstiges Moment in den Leidenschaften, machen jene Multitudo möglich, die für demokratische Vergemeinschaftungsformen konstitutiv ist: »Die Menschen können ihrer Natur nach voneinander abweichen, sofern sie von Affekten, die Leidenschaften sind, bedrängt werden; ja insofern ist sogar ein und derselbe Mensch veränderlich, unbeständig«55 Die Art, wie andere ihr Begehren organisieren, macht sie für mich am schwersten erträglich. Die Pluralität der Multitudo Spinozas darf insofern nicht nur als Pluralität der Meinungen verstanden werden, sondern ist zuvörderst eine Pluralität der Leidenschaften. Die Leidenschaften neutralisieren sich hier nicht einfach, wie Hirschman es in Bezug auf Spinozas Ethik unterstellt, wechselseitig, sondern befruchten sich vielmehr. Leidenschaften spielen in der Politik nicht automatisch eine gute Rolle. Michael Walzer schreibt in Vernunft, Politik und Leidenschaft: »Es gibt ›gute‹ und ›schlechte‹ Verbindungen von Vernunft und Leidenschaft, die wir vernünftig und leidenschaftlich unterscheiden.«56 Eine Politik gänzlich ohne Leidenschaften wäre dagegen undenkbar, eine Demokratie ohne Leidenschaften wäre eine Postdemokratie. Erst die Leidenschaften machen uns wechselseitig zu Anderen, nötigen uns somit, ein politisches Verhältnis zueinander zu etablieren; Demokratie ist nur zwischen Anderen möglich und nötig. Die Art, wie Andere ihr Begehren organisieren, bleibt uns verschlossen, unzugänglich, und doch müssen wir sie nicht nur aushalten, sondern mit ihnen eine gemeinsame Welt gestalten und affektiv besetzen.
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Spinoza, Ethik, IV, 33. Walzer, Vernunft, 90.
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