I. Einleitung In Untersuchungen zu Fragen der Bildlichkeit figuriert ‚das‘ Bild als eine Größe im Singular. Das eine, künstlerisch oder ästhetisch komplexe Bild steht als Positivum gegen die (zu) vielen Bilder, die mit Techniken der schnellen Erzeugung und Multiplikation die Menschen überwältigen, überfordern, überlisten. Aktuelle Beiträge zum Iconic Turn nehmen ihren Ausgang von der inzwischen geradezu topischen Feststellung, die ‚Flut‘ der modernen, elektronisch gespeicherten und übermittelten Bilder führe zu einer Krise des Bildes. In dieser Kontraposition von dem ‚einen‘ Bild klassischer Tradition und den ‚vielen‘ Bildern technischer Machart bleibt eine dritte Spielart ausgeklammert, die mehrere Bilder so organisiert zusammenführt, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Ein einheitlicher Name fehlt für dieses Gesamt; in der Forschung sind dafür die unterschiedlichsten Begriffe im Umlauf: Bildsumme, Bildsystem, Mehrfeldbild, Bilderraum oder Hyperimage. Zu den Strukturen, Wirkungsweisen und Funktionen dieser pluralen Organisationsformen hat die Forschung in den letzten Jahren grundsätzliche Thesen vorgelegt: Ausgehend von Befunden der Moderne und der Gegenwartskunst betont Werner Hofmann die Vorherrschaft „polyfokaler“ Bildkonzepte, mit denen die bildende Kunst seit 1800 experimentierte.1 Die „Polyfokalität“ der Moderne, so Hofmanns Überlegung, erweise sich in der Rückblende auf die mittelalterliche Situation als der Normalfall. Der monofokale Bildtypus der frühen Neuzeit, das klassische Staffeleibild mit „seinem einansichtigen Illusionismus“ sei nicht mehr „als Zwischenspiel, als Zwischenraum“2. Im Hinblick auf die Grundlagen einer allgemeinen Bildtheorie plädiert Felix Thürlemann dafür, beide Konstellationen, das Einzelbild und das durch „Verlinkung“ mehrerer Bilder konstituierte „Hyperimage“, als elementare Möglichkeiten menschlichen Bildgebrauchs anzusetzen.3 1 Vgl. Werner Hofmann: Die Moderne im Rückspiegel – Hauptwege der Kunstgeschichte, München 1998. Der Begriff der „Polyfokalität“ bei Hofmann geht insofern über das Bild im Plural hinaus, als darunter alle „mehransichtigen“ Bilder fallen, d. h. auch solche Einzelbilder, die in ihrem Aufbau nicht den Regeln der Zentralperspektive entsprechen. 2 Ebd., 17. 3 Vgl. Felix Thürlemann: Vom Einzelbild zum „hyperimage“ – Eine Herausforderung für die kunstgeschichtliche Hermeneutik, in: Ada Babette Neschke-Hentschke (Hg.): Les herméneutiques au seuil du XXIème siècle – Évolution et débat actuel (Bibliothèque philosophique de Louvain 62), Louvain-la-Neuve/Paris 2004, 223–247. Ich beziehe mich hier auf die erweiterte Definition des
502 David Ganz Habe das Einzelbild seinen Archetypus im Kultbild, das den Betrachter zu einer „einfühlend-personalisierende[n] Rezeption“4 einlade, fordere das Hyperimage den Betrachter zu einem abstrahierenden Vergleich und damit zu einer distanzierten Bildwahrnehmung auf. Unabhängig von ihren jeweiligen Erkenntnisinteressen kommen die neueren Forschungen darin überein, den Bildkulturen des Christentums eine herausragende Rolle in der Geschichte des Bilds im Plural zuzuweisen. Wie wohl keine andere Religion, so die These Wolfgang Kemps, hat das Christentum die spezifischen Anschauungsqualitäten einer koordinierten Verbindung mehrerer Bilder immer wieder neu fruchtbar gemacht und in einer großen Vielfalt von Anordnungsmustern ausdifferenziert.5 Konsens besteht in der Forschung aber auch darüber, dass die lange, in der Spätantike einsetzende Ära christlicher Pluralbilder spätestens um 1800, mit dem Beginn der Moderne, an ihr Ende gelangt ist. So wird ein Anordnungsschema wie das Triptychon zwar bis heute mit ‚religiösen‘ bzw. ‚christlichen‘ Konnotationen wahrgenommen, in der modernen und zeitgenössischen Kunst kehrt es jedoch nur noch im Modus zitierender, verfremdender oder spielerischer Aneignung historischen Formenvokabulars wieder. II. Paradigmen der Forschungsgeschichte, erläutert an einem Fallbeispiel Die entscheidende Sattelzeit einer christlichen Kunst der ‚vielen Bilder‘ beginnt mit der konstantinischen Wende. Dass wir es dabei mit einer grundsätzlichen Neuausrichtung christlicher Bildpraxis zu tun haben, belegen besonders deutlich die Basiliken der römischen Kaiser und Päpste.6 Nicht nur die Gebäude, auch Bildzyklen mit Wandmalereien oder Mosaiken waren die essenziellen Bestandteile dieser frühen Kirchen.7 Einziges heute noch erhaltenes Beispiel ist die Basilika Santa Maria Maggiore.8 Der Marientitulus auf dem Esquilin wurde unter Sixtus III. (432–440) „Hyperimage“ bei Thürlemann, das in einem engeren Sinn erst einmal nachträgliche Kombinationen unabhängig voneinander gefertigter Bilder bezeichnet, vgl. ebd., 223 f. 4 Felix Thürlemann: Bild gegen Bild – Für eine Theorie des vergleichenden Sehens, in: Aleida Assmann / Ulrich Gaier / Gisela Trommsdorf (Hg.): Zwischen Literatur und Anthropologie – Diskurse, Medien, Performanzen (Literatur und Anthropologie 23), Tübingen 2005, 163–174, hier 172. 5 Vgl. Wolfgang Kemp: Christliche Kunst – Ihre Anfänge, ihre Strukturen, München 1994. 6 Zu den Anfängen christlicher Bildkulturen im frühen 3. Jhd. vgl. den Beitrag von Jean-Michel Spieser in Band 1 des Handbuchs. Siehe dazu Jean-Michel Spieser: Die Anfänge der christlichen Ikonographie, in: Reinhard Hoeps (Hg.): Handbuch der Bildtheologie, Bd. 1: Bild-Konflikte, Paderborn u. a. 2007, 139–170. 7 Vgl. hierzu eine Reihe von Studien Herbert Kesslers, die in Herbert L. Kessler: Studies in Pictorial Narrative, London 1994 wieder abgedruckt wurden, insbesondere ders.: Pictures as Scripture in Fifth-Century Churches, in: Ders.: Studies in Pictorial Narrative 357–379. 8 Zu den Mosaiken zuletzt Angelika Geyer: Bibelepik und frühchristliche Bildzyklen – Die Mosaiken von Santa Maria Maggiore in Rom, in: Mitteilungen des deutschen Archäologischen Instituts, Römische Abteilung 112 (2005/06), 293–321. Gerhard Steigerwald: Neue Aspekte zum
Das Bild im Plural 503
Abb. 1: Mosaiken des alttestamentlichen Zyklus, 431–440, Rom, Santa Maria Maggiore, linke Langhauswand.
im Langhaus und am (ehemaligen) Triumphbogen mit einem alttestamentlichen und einem neutestamentlichen Zyklus ausmosaiziert. An diesen Mosaiken fällt zuallererst ihre extreme Verschiedenheit ins Auge: Der Langhauszyklus besteht aus einer gleichförmigen, dicht gesetzten Reihung rechteckiger Bildfelder unterhalb der Obergadenfenster, die jeweils von Osten nach Westen abgeschritten werden müssen (Abb. 1). Die Bilder am Triumphbogen hingegen sind zu einer flächenumspannenden Gesamtkomposition verbunden, die von einem Standpunkt aus gut überschaut werden kann (Abb. 2). 42 Bildfelder, die größtenteils noch einmal in zwei Register unterteilt sind, stehen gegen drei Streifen mit insgesamt acht Szenen; Geschehnisse, die von Abraham, Isaak und Jakob bis Moses und Josua reichen, gegen wenige Jahre aus der Kindheit Jesu. Die Ausstattung von Santa Maria Maggiore ist gut geeignet, um in das spezifische Potenzial bildlicher Syntax einzuführen, das ein solcher mehrteiliger Zyklus eröffnet. Verständnis der Mosaiken des Triumphbogens von S. Maria Maggiore in Rom, in: Römische Quartalschrift 3–4 (2007), 161–203. Dort detaillierte Angaben zur Datierung und zur Rekonstruktion des spätantiken Zustands von Kirche und Mosaiken sowie ausführliche bibliographische Hinweise zur Forschungsliteratur.
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Abb. 2: Mosaiken des Kindheit-Christi-Zyklus, 431–440, Rom, Santa Maria Maggiore, Triumphbogen.
1. Bilder als Schriftersatz Der Umgang mit den Bildzyklen der Spätantike wie des Mittelalters ist lange durch eine stark philologisch ausgerichtete Kunstgeschichte behindert worden. Die formale Gestaltung der Bildelemente wurde pauschal dem Verdacht unterstellt, dass man es mit Motivübernahmen, mit Kopien und eben nicht mit eigenständigen künstlerischen Lösungen zu tun habe. So wurde für die Mosaiken von Santa Maria Maggiore unter anderem der Nachweis geführt, dass diese sich auf Bildformeln aus dem Fundus der (paganen) römischen Staatskunst stützen: den adventus des Herrschers, die adlocutio des Truppenführers vor seinen Soldaten, Dialoge, Schlachten,
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bukolische Szenen.9 Die Semantik der Bilder wurde dagegen primär im Rückgang auf Referenztexte, sei es der Bibel, sei es apokrypher Schriften oder der patristischen Literatur rekonstruiert. Schließlich, so die Überzeugung, habe man es mit Werken zu tun, die als Schrift für die Ungebildeten konzipiert worden seien, wie es Gregor der Große in seinen berühmten Briefen an Bischof Serenus von Marseille formuliert.10 Wer sich je vor Ort an einer Betrachtung der Mosaiken versucht hat, wird schnell bemerken, dass diese Definition nicht sehr plausibel ist: Betrachter, denen die von den Mosaiken erzählten Geschichten noch nicht geläufig waren, dürften von je her ihre Mühe gehabt haben, deren genauen Inhalt mithilfe der Bilder zu erschließen. Dem zeitgenössischen Publikum des spätantiken Roms waren zwar die oben angesprochenen Bildformeln vertraut, doch gaben diese wegen ihrer paganen Herkunft keinerlei Aufschluss über die christlichen Bildgegenstände der Mosaiken. Eine eindeutige ikonographische Kennzeichnung der handelnden Personen, wie sie die spätere christliche Bildkunst mittels standardisierter Physiognomien und Attribute entwickelte, ist in diesen frühen Darstellungen so gut wie gar nicht ausgebildet. Die Mosaiken setzen also informierte Betrachter voraus, die mit den erzählten Geschichten bereits vertraut sind. Ihre Funktion kann nicht die einer ‚Illustration‘, eines Transports inhaltlicher Informationen sein.11 2. Zeitpfeile Worum aber geht es dann? Positive Aufmerksamkeit wurde der Vermehrung der Bilder in der kunsthistorischen Forschung um 1900 entgegengebracht. Die entscheidende Leistung wurde dabei in der Veranschaulichung einer zeitlichen Sukzession aufeinander folgender Handlungsphasen gesehen, die über Lessings Konzept der Bildkunst als statischer Momentaufnahme von Körper und Raum hinausgeht. 9 Dazu zuletzt noch einmal ausführlich Geyer: Bibelepik. 10 „Nam quod legentibus scriptura, hoc idiotis praestat pictura cernentibus, quia in ipsa etiam ignorantes uident quod debeant, in ipsa legunt qui litteras nesciunt. Unde et praecipue gentibus pro lectione pictura est.“ Zitiert nach S. Gregorius Magnus: S. Gregorii Magni registrum epistularum libri VIII– XIV, ed. by Dag Norberg (Corpus Christianorum: Series Latina 140A), Turnhout 1982, 874, Ep. XI,10. In der intensiven jüngeren Diskussion, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, wurde die Relevanz dieser Passage für die christliche Bildkunst energisch bestritten, vgl. Lawrence Duggan: Was Art Really the Book of the Illiterate, in: Word & Image 5/3 (1989), 227–251. 11 Inwiefern die Mosaiken von Santa Maria Maggiore und verwandte Bildprogramme in frühchristlichen Kirchen überhaupt einen ‚empirischen Betrachter‘ adressieren, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Vgl. Beat Brenk: Visibility and Partial Invisibility of Early Christian Images, in: Giselle de Nie / Karl F. Morrison / Marco Mostert (Hg.): Seeing the Invisible in Late Antiquity and the Early Middle Ages – Papers from „Verbal and Pictorial Imaging: Representing and Accessing Experience of the Invisible, 400–1000“ (Utrecht, 11.–13. December 2003) (Utrecht Studies in Medieval Literacy 14), Turnhout 2005, 140–183, hier 148–151. Brenk vertritt die Auffassung, dass der Maßstab der Mosaiken in einer so großen Anbringungshöhe ein Wiedererkennen der dargestellten Geschichten nahezu unmöglich gemacht habe. Dagegen unterstreicht Herbert Kessler die Bemühungen der Künstler um eine größtmögliche Lesbarkeit der Kompositionen, vgl. Kessler: Pictures as Scripture 365–371.
506 David Ganz Einschlägig für unsere Fragestellung ist vor allem Franz Wickhoffs klassische Unterscheidung von kontinuierendem, distinguierendem und komplettierendem Erzählstil, die an der frühchristlichen Handschrift der Wiener Genesis gewonnen wurde.12 In den Miniaturen der Wiener Genesis entdeckt Wickhoff eine Verwandlung von Bildräumen in Zeitflüsse, die eine ganze Sequenz von Handlungsmomenten in sich bergen.13 Die Wurzel dieser „kontinuierenden“ Darstellungsweise sieht er in einer illusionistischen Haltung der kaiserzeitlichen Kunst, welche Bilder als eine Art präfilmisches Fluidum begreife – sehr überzeugend hat Karl Clausberg auf die Nähe dieses Ansatzes zu den Anfängen des Kinos, zur Chronophotographie hingewiesen. Für das Christentum führt Wickhoff dieses Abspulen von Bildfolgen jedoch auf ganz andere Vorgaben zurück, die mit dem Illusionismus sich bewegender Bilder nur mehr wenig zu tun haben: Es gehe um Texttreue, um die enge Bindung der christlichen Kunst an die Heilige Schrift. Erst aus dieser zweiten Perspektive heraus wird verständlich, warum Wickhoff die kontinuierende Erzählweise trotz aller paganen Wurzeln als Inbegriff christlicher Bildkunst bewertet: „Die altchristlichen Kompositionen also, in denen die kontinuierende Erzählweise herrschte, hatten durch sie, weil sich eben nur die deutlichsten Kompositionen erhalten konnten, die Fähigkeit erlangt, das Mittelalter zu überdauern. Die Gewohnheit, fast alle alten Bestandteile des christlichen Zyklus kontinuierend erzählen zu sehen, hatte das Kontinuieren zu einer spezifischen Eigentümlichkeit aller christlichen Kompositionen bis in das sechzehnte Jahrhundert hinein gemacht.“14 Wickhoffs Thesen sind für die Forschung zum Erzählen in mehreren Bildern ungemein einflussreich gewesen und haben dazu beigetragen, dass das Problem des einen und der vielen Bilder von der Kunstgeschichte lange genug nur in der eingeschränkten Optik der Narration entlang eines Zeitpfeiles betrachtet wurde. Vor dem Gros der christlichen Pluralbilder muss dieser Ansatz jedoch kapitulieren. Um eine präfilmische Verschmelzung von Bewegungsphasen kann es ja nur in solchen Werken gehen, in denen die zeitlichen Intervalle zwischen den dargestellten Szenen gering bemessen sind – in Santa Maria Maggiore ist dies nur in einigen Bildfeldern des Langhauszyklus der Fall, etwa im Mosaik, das vom Besuch der drei Engel bei Abraham erzählt (Abb. 1). Für alle anderen Bilder, seien sie nun kontinuierend in durchlaufende Hintergründe eingebettet oder distinguierend in separate Bildfelder gepackt, bleibt als Movens der Vervielfältigung am Ende nur die Sukzessivität literarischen Erzählens. Gerade der stockende Gang der Erzählung, der harte Schnitt, 12 Vgl. Franz Wickhoff: Römische Kunst – Die Wiener Genesis (Die Schriften Franz Wickhoffs 3), Berlin 1912. Zur forschungsgeschichtlichen Einordnung vgl. Karl Clausberg: Die Wiener Genesis – Eine kunstwissenschaftliche Bilderbuchgeschichte (Fischer-Taschenbücher 3917: Kunststück), Frankfurt a.M. 1984. Jutta Karpf: Strukturanalyse der mittelalterlichen Bilderzählung – Ein Beitrag zur kunsthistorischen Erzählforschung (Studien zur Kunst- und Kulturgeschichte 12), Marburg 1994, 13–15. 13 „Sondern wie der Text strömt, begleiten ihn, sanft gleitend und ununterbrochen, gleichwie die Uferlandschaften bei einer Wasserfahrt an dem Auge vorüberziehen, die jeweiligen Helden der Erzählung in kontinuierlich sich aneinander reihenden Zuständen.“ Wickhoff: Römische Kunst 9. 14 Ebd., 192.
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die Kombination entfernt liegender Ereignisse, aber auch die Umkehrung der chronologischen Reihenfolge sind der Normalfall vielteiliger Bildprogramme in der christlichen Kunst. 3. Tiefenstrukturen Eine Neubewertung des Problems der vielen Bilder erfolgt seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts unter den Vorzeichen der strukturalistischen Erzählforschung. ‚Erzählung‘ wird dabei nicht mehr als bloße Aneinanderreihung von Ereignissen, sondern als elementare Form menschlicher Sinnstiftung aufgefasst, die Geschehnisse handlungslogisch deutet und in ein bestimmtes Wertesystem einordnet.15 Um all dieses leisten zu können, so die These, transportieren Erzählungen Strukturmodelle, die auf der sinnfälligen Opposition zwischen einem Anfangs- und einem Endzustand gründen. Die Vermehrung der Bilder hat auch in dieser Perspektive etwas mit Zeitlichkeit zu tun, doch geht es nicht mehr um die Stetigkeit einer Bewegung, sondern um die Markierung sinnvoll aufeinander bezogener Anfangs- und Endpunkte, deren ‚Dazwischen‘ in unterschiedlicher Dichte aufgefüllt werden kann.16 Für die Auseinandersetzung mit den Bildprogrammen der christlichen Kunst hat sich dieser Ansatz deshalb als besonders fruchtbar erwiesen, weil bereits die biblischen Urtexte einem Strukturschema des Erzählens verpflichtet sind, deren Eckpunkte verkürzt als ‚Verheißung‘ und ‚Erfüllung‘ angesprochen werden können.17 Idealiter bezieht sich diese Sinnklammer auf das Ganze der Heiligen Schrift, auf die Verbindung von Altem und Neuem Testament, auf das Gesamt der Heilsgeschichte – eine Makrostruktur, die aufgrund zahlloser Einschübe und Ergänzungen leicht aus dem Blick geraten kann. Was der Leser im heterogenen Konglomerat der vielen biblischen Teilerzählungen wiederfindet, ist eine Projektion der Sinnklammer auf die Ebene der Mikrostruktur, auf die Geschichte einzelner Auserwählter etwa, an deren Biographie sie beispielhaft deutlich wird. Auf das Beispiel von Santa Maria Maggiore bezogen heißt dies: Der scheinbar so gleichmäßig dahinfließende Langhauszyklus entpuppt sich bei genauerer Überprüfung als eine thematisch stark zugespitzte Auswahl aus den Büchern Genesis bis Josua, deren Leitlinien ‚Nachwuchs‘ und ‚Land‘ heißen.18 Alles beginnt an der 15 Die systematischste Ausprägung dieses Ansatzes bieten die Arbeiten der Pariser Greimas-Schule, vgl. Algirdas Julien Greimas / Joseph Courtès: Sémiotique – Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, 2 Bde. (Hachette université: langue, linguistique, communication), Paris 1979–1986. 16 Vgl. Karpf: Strukturanalyse. Kemp: Christliche Kunst. 17 Vgl. Kemp: Christliche Kunst 75 f. Und Bernd Mohnhaupt: Beziehungsgeflechte – Typologische Kunst des Mittelalters (Vestigia Bibliae 22), Bern 2000, 24–27, dieser unter Berufung auf Robert Alter: The Art of Biblical Narrative, New York 1981. Und Herbert N. Schneidau: Sacred discontent – The Bible and Western Tradition, Baton Rouge 1976. 18 Ich referiere hier die von Kemp: Christliche Kunst 153–181, im Anschluss an Johannes G. Deckers: Der alttestamentliche Zyklus von Santa Maria Maggiore in Rom – Studien zur
508 David Ganz linken Langhausseite mit drei Bildfeldern, welche diese Themen in großen Verheißungsmomenten einführen. Gott erteilt Melchisedek Anweisung, den siegreich von der Schlacht zurückkehrenden Abraham mit Speise und Trank zu ehren. Der Bund mit Gott, den Melchisedek in Form seiner Gaben offeriert, wird in den nächsten beiden Bildfeldern der Langhauswände mit konkreten Inhalten gefüllt: Die Begegnung in Mamre rückt die Fruchtbarkeit Abrahams und seiner Nachkommen in den Vordergrund, die Trennung der Sippen Abrahams und Lots thematisiert die Frage des Landes, welches das Volk Gottes beherrschen soll. Entscheidend für die Zusammengehörigkeit beider Teile des Mosaikprogramms, von Langhaus und Triumphbogen, ist nun, dass „die Hauptthemen der beiden Teile des Langhauszyklus […] vom Triumphbogen wieder aufgenommen“19 werden und so ein Verhältnis struktureller Parallelität erzeugt wird. Der Themenbereich ‚Nachwuchs‘ ist am Triumphbogen bereits mit der Verkündigungsszene präsent, die wieder als große Verheißung in das Programm des Zyklus einführt. In den übrigen Szenen ist die Geschichte des Christuskindes eng mit seiner Anerkennung als Herrscher über Juden und Heiden verwoben: Christus wird im Tempel als der Messias erkannt, von den drei Magiern verehrt und bei der Flucht nach Ägypten als König begrüßt. Das unterste Register demonstriert die Machtlosigkeit des angemaßten Herrschers Herodes bei seinem Versuch, Christus aus dem Weg zu schaffen. So kommt, erweitert zu globalen Dimensionen, ein zweites Mal der Themenbereich Herrschaft und Land ins Spiel. Die Frage nach der Notwendigkeit der vielen Bilder, aber auch die nach der Notwendigkeit von Bildern überhaupt im Verhältnis zum biblischen Urtext lässt sich mithilfe des narratologischen Ansatzes folgendermaßen beantworten: Die Kombination mehrerer Bilder erlaubt es, der Tiefenstruktur der Heilsgeschichte prägnante Konturen zu verleihen, sie aber auch mit einer anschaulichen Evidenz auszustatten, die am biblischen Text nicht in Erfahrung zu bringen ist. Die Bilder weisen eigenständige Sinnstrukturen auf, sie sind interpretierende Übersetzung und nicht illustrierende Verdoppelung der Schrift. Letzterer Punkt lässt sich insbesondere an der Möglichkeit einer Zusammenschau von Altem und Neuem Testament verdeutlichen, welche die Mosaiken den Kirchenbesuchern boten. Diese zeigten ja nicht nur eine parallele Struktur der Heilsgeschichte im Alten wie im Neuen Bund, sondern auch deren auffällige Differenzen. Ziel ist eine Visualisierung der Beziehung von Altem und Neuem Bund, die als ein Verhältnis der Wiederholung und Steigerung kenntlich gemacht wird. Denn der alttestamentarische Zyklus zeichnet sich dadurch aus, dass er sein Ziel nur über eine Vielzahl von Zwischenschritten und mannigfache Umwege erreicht. Bis das Versprechen von Land und Nachkommen wirklich erfüllt ist, erleben die Betrachter eine mehrfache Ablösung von Bildgeschichte (Habelts Dissertationsdrucke: Reihe Klassische Archäologie 8), Bonn 1976, 293–298, entwickelte Deutung der Langhausmosaiken. Angemerkt sei, dass Kemps Studie in der gesamten neueren Literatur zu den Mosaiken ignoriert wird. 19 Deckers: Der alttestamentliche Zyklus 298.
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Protagonisten und Schauplätzen. Gegenüber diesem verschlungenen Weg durch die Irrungen und Wirrungen des auserwählten Volkes können die Triumphbogenmosaiken mit extremer Komprimierung und Verdichtung aufwarten. Die gesamte Geschichte wird am Körper eines Protagonisten und in einer minimalen Zeitspanne ausgetragen.20 III. Organisationsformen und Wahrnehmungsstrukturen – Zur Typologie christlicher Pluralbilder Seit dem fortgeschrittenen 4. Jhd. war das Bild im Plural Teil der ‚visuellen Identität‘ des Christentums: Gleichzeitig mit den Wänden der Gotteshäuser wurden auch Kirchentüren, Elfenbeindiptychen und Buchseiten als Trägermedien mehrteiliger Bildkompositionen genutzt.21 Später, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, wurde dieses Spektrum fortlaufend um jeweils aktuelle Bildmedien wie das Glasfenster, das Tafelbild oder die Druckgraphik erweitert. Doch wie spezifisch waren diese Werke auf die Anforderungen religiöser Sinnhorizonte zugeschnitten? Kulturgeschichtlich könnte man das Bildensemble von Santa Maria Maggiore und vergleichbare Werke ja erst einmal als Zeugnis einer Anpassung des Christentums an die Spielregeln des paganen Kulturbetriebs werten. Vielteilige Bildwerke waren im römischen Kaiserreich schließlich omnipräsent, und zwar sowohl im Bereich der Staats- wie dem der Privatkunst – man denke etwa an Werke wie die Trajanssäule, den Konstantinsbogen oder die zyklischen Bilderzählungen pompejanischer Wohnräume.22 Richtig ist: Das Christentum erfindet das Grundprinzip pluraler Bildordnungen nicht neu, sondern macht sich bereits vorhandenes Wissen um ihre Herstellung und Wirkungsmechanismen zunutze.23 Gleichwohl unterscheiden sich die aus diesem Prozess der Akkulturation hervorgegangenen Bildprogramme signifikant von ihren paganen Vorläufern und Verwandten: Mit großer Konsequenz arbeiten sie auf eine neuartige Engführung von Bildstruktur und (christlichem) Bildgegenstand hin, wie sie oben bereits für Santa Maria Maggiore beobachtet wurde. Die bildtheologische Relevanz der Pluralbilder, so kann man daraus folgern, tritt also erst dann zutage, wenn man ‚typische‘ Konfigurationen mit je eigenen syntaktischen Strukturen, Wahrnehmungsmodalitäten unterscheidet und diese auf ihre religiöse, stets in einem bestimmten Verwendungszusammenhang verankerte 20 „Die Erfüllung […] geschieht anders als im Langhaus, wo Gottes Heilsplan viel Zeit braucht, nicht sukzessiv, sondern unmittelbar.“ Kemp: Christliche Kunst 176. 21 Dies ist die Grundthese, die Wolfgang Kemp ebd. entfaltet. 22 Vgl. Wickhoff: Römische Kunst. Richard Brilliant: Visual Narratives – Storytelling in Etruscian and Roman Art, Ithaca/London 1984, 53–123. Kemp: Christliche Kunst 49–74. 23 Ähnlich könnte man letztlich auch für das Judentum argumentieren, das seit dem 3. Jhd. (Synagoge von Dura Europos) Projekte umfassend bebilderter Sakralräume realisiert, vgl. Kurt Weitzmann / Herbert L. Kessler: The Frescoes of the Dura Synagogue and Christian Art (Dumbarton Oaks Studies 28), Washington D.C. 1990.
510 David Ganz Valenz befragt. Anhand von Fallbeispielen, die Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre gewesen sind, möchte ich im Folgenden vier solcher Konfigurationen vorstellen, die die Bildgeschichte der Vormoderne nachhaltig geprägt haben. 1. Verknüpfendes Sehen – Narrative Bildsysteme Zentrale Aufgabe der Pluralbilder, das haben die bisherigen Ausführungen bereits deutlich gemacht, ist die Sichtbarmachung heilsgeschichtlicher Strukturzusammenhänge. Differente Ereignisse, unterschiedliche Zeit- und Handlungsräume werden visuell aufeinander bezogen, ohne dass ihre Verschiedenartigkeit aufgehoben würde. Wie sehen die konkreten bildkünstlerischen Techniken aus, mit denen Pluralbilder narrative Sinneffekte zu erzielen vermögen, und welche Wahrnehmungsleistungen verlangen sie ihren Betrachtern ab? Anknüpfend an die Mosaiken von Santa Maria Maggiore möchte ich diese Fragen an zwei Beispielen vertiefen, die anderen Bildmedien und anderen historischen Zusammenhängen entstammen. Das erste Beispiel führt uns aus der Sphäre der Monumentalkunst in den Bereich der illuminierten Handschrift, genauer zu den bebilderten Vollbibeln (sog. Pandekten) der Karolingerzeit. In diese einbändigen Abschriften des gesamten Bibeltextes sind an strategisch wichtigen Punkten ganzseitige Bild-Frontispize eingefügt, Kompositionen aus mehreren Bildstreifen, die in die jeweiligen Teilbände der Heiligen Schrift einführen.24 Eine für unsere Belange sehr lehrreiche Kompilation dieser Art bietet das Paulus-Frontispiz der um 870 hergestellten Bibel von San Paolo fuori le mura (Abb. 3).25 Das gerahmte Bildfeld wurde von den Entwerfern in drei Streifen gegliedert, die jeweils zwei bis drei Szenen aufnehmen: im oberen Streifen das Treffen mit dem Hohepriester und die Blendung vor Damaskus, im mittleren das Geleit nach Damaskus, der Traum des Ananias und die Heilung des Paulus, im unteren das öffentliche Auftreten als Prediger, die Flucht vor den Verfolgern und der Aufbruch zur Tätigkeit als Apostel. Die Szenenauswahl des Blattes ist auf das Moment der conversio zugespitzt, auf die Umkehr vom ‚schlechten Leben‘, dem Paulus zu Beginn verhaftet ist, zum ‚guten Leben‘, das an seine Heilung anschließt. Wie Herbert Kessler beobachtet, wird dieses Thema von den Miniatoren dadurch auf den Punkt gebracht, dass die Paulusfigur der letzten Szene nahezu die gleiche Haltung einnimmt wie die der ersten, aber um 180 Grad gewendet ist.26 Dieses Grundthema der Erzählung wird nun 24 Vgl. Herbert L. Kessler: The Illustrated Bibles from Tours (Studies in Manuscript Illumination 7), Princeton 1977. 25 Zum Folgenden vgl. Herbert L. Kessler: An Apostle in Armor and the Mission of Carolingian Art, in: Arte Medievale 4 (1990), 17–41. Wiederabdruck in Kessler: Studies in Pictorial Narrative 207–234. Steffen Bogen: Träumen und Erzählen – Selbstreflexion der Bildkunst vor 1300, München 2001, 165–178. 26 Vgl. Kessler: An Apostle 24.
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Abb. 3: Paulus-Frontispiz, Bibel von San Paolo fuori le mura, um 870, Rom, Abbazia di San Paolo fuori le mura.
512 David Ganz mit Mitteln einer hoch elaborierten Kompositionskunst in ein kohärentes Beziehungsgeflecht überführt. Die erste Operation in diesem Sinne ist die Unterteilung des hochformatigen Blattes in drei Streifen. Der kontinuierende Fluss der Bekehrungsgeschichte wird so sinnfällig in drei ‚Unterkapitel‘ gegliedert: im ersten Streifen das schlechte Leben und der Bruch mit dem schlechten Leben, im zweiten die kritische Übergangsphase und der Übergang zum guten Leben, im dritten Streifen schließlich die Praktizierung des guten Lebens in Wort und Tat. „Nach einem solchen Durchgang durch die Bilderzählung erscheint die Bildseite dem Betrachter bereits deutlich strukturiert. Die zunächst wenig informativen Gestaltreihen sind in szenische Untergruppen aufgeteilt. Die Aufgabe, sie in der Bildfläche zueinander in Beziehung zu setzen, hat sich mit der Aufgabe verbunden, ihre Funktion in der Geschichte zu verstehen.“27 Die entscheidende Qualität der Dreiteilung des Zyklus ist aber darin zu sehen, dass sie zwei Möglichkeiten eröffnet, die getrennten Stationen der Bilderfolge miteinander zu verknüpfen: die horizontale Achse der zeitlichen Sukzession und eine vertikale Achse sinnstiftender Analogien und Gegensätze. Anlass zu einer solchen kombinierten Lektüre kann die gestörte Leseordnung des zweiten Registers sein, in dem das lineare Schema von links nach rechts zu lesender Zeilen durchbrochen ist: Der an dritter Stelle stehende Traum des Ananias ereignet sich zu einem früheren Zeitpunkt als die an zweiter Stelle stehende Heilung des Paulus durch Ananias. Das Ziel dieser Durchbrechung des Zeitpfeils war es offensichtlich, die Heilung des Paulus durch Ananias in den Mittelpunkt zu rücken: Die Wiedererlangung des Augenlichts wird so als zentrales Moment der conversio vom Saulus zum Paulus ausgewiesen. Dazu passt es, dass die Umstellung die Erzeugung eines ‚visuellen Reimes‘ zwischen den Szenen der Blendung des Saulus und der nächtlichen Traumvision des Ananias bewirkt. In vertikaler Supraposition kommen damit zwei Szenen zu stehen, die ebenfalls mit dem Thema des Sehens bzw. Nicht-Sehens zu tun haben. Zwei Ereignisse, die in der schriftlichen Darstellung der Bibel in keiner Weise miteinander verknüpft werden, übernehmen hier eine gemeinsame analoge Funktion für den Gang der Handlung. Während die Blendung des Christenverfolgers Saulus dessen Nicht-Sehen zutage fördert, vermag der Christ Ananias Gott im Traum zu schauen und kraft dieser Schau dem Geblendeten sein Augenlicht zurückzugeben. Nimmt man die Blickrichtung der beiden ‚Zwillinge‘ ernst, dann ist nicht nur Ananias in der Lage, die spätere Aktivität des Paulus als Prediger (3. Register links) vorauszusehen, sondern auch Saulus sieht bereits sich selbst als von Ananias Geheilten. In diesen Zukunftsblicken partizipieren beide an der ‚Providenz‘ Gottes, der die Heilsgeschichte vorausschauend sinnvoll gefügt hat.28 27 Bogen: Träumen und Erzählen 169. 28 Vgl. ebd., 174–178. Grundlegend zum Verhältnis von Bilderzählung und providentieller Bildkomposition siehe Max Imdahl: Giotto, Arenafresken – Ikonographie, Ikonologie, Ikonik (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste 60), 2. erw. Aufl., München 1988, 17–28 und 61–83.
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Eine Besonderheit des Erzählens in pluralen Bildern ist die Kombination von zeitlich wie räumlich weit auseinander liegenden Ereignissen, die „Denkform Typologie“ (Friedrich Ohly), die bereits den Erzählungen des Neuen Testaments ihre Struktur aufgeprägt hat.29 Typologische Bildkunst wurde lange Zeit gründlich missverstanden als Übertragung schriftlich vorformulierter Ereigniskoppelungen in das Zeichensystem der Bilder. Allein schon die Verwendung des griechischen Begriffs typos (Darstellung, Gestalt, Modell) – bzw. seines lateinischen Äquivalents figura – impliziert jedoch bereits eine eminent visuelle Relation, die nicht einfach nur gewusst, sondern – ob vor dem inneren oder vor dem äußeren Auge – gesehen und anschaulich erkannt werden soll.30 Dass gerade die Bildkunst im Sichtbarmachen solcher unsichtbarer „Beziehungsgeflechte“ gefordert ist und dass dabei eigenständige Wege jenseits des schultheologischen Wissens von der concordantia veteris et novi testamenti beschritten werden, haben jüngere Studien zur typologischen Kunst des Mittelalters eindrucksvoll dargelegt.31 Bereits die frühchristliche Kunst hat in der Gegenüberstellung von Bilderreihen aus dem Alten und dem Neuen Testament ein wichtiges Thema, wie wir am Beispiel von Santa Maria Maggiore bereits sehen konnten. Im Frühmittelalter ist dann erstmals eine Feinabstimmung einzelner Bildpaare zu beobachten, besonders elaboriert etwa an den Hildesheimer Bronzetüren, die kurz nach 1000 im Auftrag Bischof Bernwards gefertigt wurden (Abb. 4).32 Die beiden Türflügel sind vertikal in je acht Reliefs unterteilt, auf denen die Geschichte der Erschaffung des Menschen bis zum Sündenfall als Gegenstück zur Vita Christi erzählt wird. Auch in diesem Fall wird Sinngebung bereits auf Ebene der Großdisposition betrieben: Die Leserichtungen der beiden Unterzyklen sind gegenläufig, die Genesisgeschichte ist in einer Abwärtsbewegung begriffen, mit der Verkündigung setzt ein Aufstieg ein, der auf das Ausgangsniveau zurückführt. „Eine spezifische Sicht auf das AT wird erkennbar […]. Das AT ist hier nicht eine präfigurierende Vorstufe zur Erlösung, sondern eine katastrophische Entwicklung, an deren Ende die Verfluchung des Menschen durch Gott steht.“33 Das Konzept der Entwerfer, der Vita Christi nicht separate Typen beizugeben, sondern sie mit einer zusammenhängenden Vorgeschichte zu koppeln, hat zur Folge, dass neben gängigen Kombinationen auch eher unübliche Bildpaare entstehen. So ist es nicht sonderlich überraschend, im dritten Register von oben Sündenfall und Kreuzigung einander gegenübergestellt zu finden. In Baum und Kreuz hat dieses Bilderpaar eine auffällige visuelle Rekurrenz, über die ein Betrachter in einen 29 Vgl. Friedrich Ohly: Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung, in: Natur, Religion, Sprache, Universität – Universitätsvorträge 1982/83 (Schriftenreihe der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster 7), Münster 1983, 68–102. 30 Vgl. Mohnhaupt: Beziehungsgeflechte 11, im Rekurs auf Erich Auerbach: Figura, in: Archivum Romanicum 22 (1938), 436–489. 31 Vgl. mit umfassender Forschungsdiskussion Mohnhaupt: Beziehungsgeflechte. 32 Vgl. ebd., 74–100. 33 Ebd., 75.
514 David Ganz
Abb. 4: Bronzetüren mit Bildfolgen zum Alten und zum Neuen Testament, frühes 11. Jhd., Hildesheim, Sankt Michael.
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genaueren Vergleich der beiden Szenen eintreten kann. In der spezifischen Ausgestaltung der Kompositionen wird anschaulich, wie sich im Baum der Erkenntnis bereits das Kreuz ankündigt bzw. wie umgekehrt das Kreuz den Baum des Sündenfalls im dreifachen hegelschen Wortsinn ‚aufhebt‘ (emporhebt, überwindet und aufbewahrt).34 Aber was haben beispielsweise die beiden Bilder an den Nahtstellen der beiden Erzählbahnen, was haben die Ermordung Abels und die Verkündigung miteinander zu tun? Sowohl das Dispositiv der beiden Bilderbahnen als äußere Form und die vertrauten, einfachen Bildpaare wie Sündenfall/Kreuzigung sind ein starker Anreiz, Analogien und Oppositionen auch dort zu suchen (und zu entdecken), wo man sie zunächst nicht vermuten würde. Bernd Mohnhaupt sieht sie im Fall des zuunterst stehenden Bilderpaars in der „szenische[n] Analogie des göttlichen Gesprächs mit einem Menschen“, die „hier als oppositionelle Handlungsstruktur ausgeprägt [ist]: Die Unheilsverkündigung an Kain, der einen Menschen getötet hat, konterkariert die Heilsverkündigung an Maria, die einem Menschen das Leben geben wird.“35 Die Reflexion über das Verhältnis dieser beiden gegensätzlichen Dialoge artikuliert sich dann in einem dichten Beziehungsgeflecht weiterer AnalogieGegensatz-Beziehungen: Die abwärts weisende dextera Dei und die aufwärts weisende Rechte Gabriels, Kain mit dem Holzknüppel in der Hand und Maria mit einem Palmwedel, der zu Boden stürzende Abel und das Bogenmotiv hinter Maria und Gabriel, dies alles macht „den Weg vom einen Bild zum anderen zu einem frappierenden ‚Tigersprung durch die Geschichte‘ (Walter Benjamin), der bei aller antithetischer Ausgestaltung die schlüssige Überwindung der ‚Zeitfalte‘ nicht vernachlässigt.“36 Halten wir kurz in einigen Stichworten fest, was das Spezifikum von Pluralbildern, die narrativ argumentieren, ausmacht. Ausgangspunkt sind fundamentale Wertoppositionen, die die Betrachter ebenso als kulturelles Wissen mitbringen müssen wie die Kenntnis der erzählten Geschichten. Sinnstiftung spielt sich dann allgemein gesprochen auf zwei Ebenen ab: auf der Ebene der Disposition im Großen, die bereits eine signifikante Figur der Erzählung vorgeben kann, und auf der Ebene einzelner Bildfelder bzw. Bildelemente, die über auffällige Analogie- und Gegensatzbeziehungen miteinander in Verbindung gebracht werden können. Die Verknüpfung kann schließlich in eine selbstreflexive Bezugnahme der Bilder auf sich selbst und ihre eigene Funktion münden: Auf den Hildesheimer Bronzetüren ist zu beobachten, dass an herausgehobenen Stellen des Bildprogramms Türelemente zum Einsatz kommen: die negativ konnotierte Tür der Vertreibung aus dem Paradies auf dem linken Flügel, auf dem rechten Flügel mehrere Türen, die Christus durchschreitet bzw. zu durchschreiten sich anschickt (etwa in der letzten Szene des Noli me tangere). Die Durchquerung des Portals durch die Besucher von St. Michael 34 35 36
Vgl. ebd., 58. Ebd., 50. Ebd., 78.
516 David Ganz wird so in Analogie zu heilsgeschichtlichen Vorgängen gerückt.37 Auf dem Frontispiz der Bibel von San Paolo fuori le mura sind es die Visionäre Paulus und Ananias, die als Stellvertreter des Betrachters der Miniaturen handeln. Die Hand Gottes und die Augen von Paulus und Ananias, die durch diese Hand erst blind und dann innerlich sehend gemacht werden – in dieser Konstellation kann man eine grundsätzliche Reflexion auf die Rolle Gottes als idealem Erzähler der Heilsgeschichte erkennen, der einzelne Akteure stellvertretend für den Betrachter an seiner Vorsehung partizipieren lässt.38 2. Klappen und Schließen – Komposite Bildkörper Die Erzeugung heilsgeschichtlicher Evidenzen stellt die Mehrfeldbilder in ein eher loses Verhältnis zu liturgischen Vollzügen, die im Kirchenraum stattfinden. Die großen Antagonisten dieses Bildtyps scheinen die Kultbilder zu sein, einzelne Tafeln oder Bildwerke, die im Mittelpunkt von Prozessionen, Gebeten, Opfern und anderen rituellen Handlungen stehen. Statt der Einsicht in narrative Strukturzusammenhänge steht hier die Erfahrung von körperlicher Präsenz. Die Polarität der beiden Bildtypen und Bildfunktionen ist jedoch keine absolute, sondern offen für wechselseitige Kombinationen. So werden Bilder mit Präsenzanspruch immer wieder in den Rahmen narrativer Bildfolgen eingestellt, wenn man etwa an die toskanischen Franziskus-Tafeln des 13. Jhd. denkt.39 Die narrative Rahmung bindet den heiligen Körper an die Geschichte dieses Körpers zurück, macht deutlich, inwiefern hier eine heiligmäßige und von Gott auserwählte Person verehrt wird. Im Folgenden geht es mir um das umgekehrte Phänomen: Mehrteilige Bildwerke auf transformierbaren Trägermedien werden nach bestimmten rituellen Vorgaben in Bewegung versetzt und funktionieren so letztlich wie ein kompositer Bildkörper. Aktuelle Forschungen können zeigen, wie wichtig dieser Gesichtspunkt für einen spezifisch frühmittelalterlichen Gebrauch liturgischer Bücher ist, die von außen wie von innen bebildert sein konnten. Von der Beweglichkeit des Bildträgers Buch wird beispielsweise dort Gebrauch gemacht, wo Buchkünstler die Darstellung einer zusammenhängenden Szene über zwei gegenüberliegende Seiten verteilen. Am Beispiel des Perikopenbuchs Heinrichs II. (1002–1014), das eine auffällige Vorliebe für solche doppelseitigen Kompositionen an den Tag legt, stellt Wolfgang Christian Schneider die These auf, dass es den Entwerfern um eine Aktivierung der 37 Vgl. ders.: Auf Augenhöhe – Ottonische Bilder und ihre Betrachter, in: Achim Hubel / Bernd Schneidmüller (Hg.): Aufbruch ins zweite Jahrtausend – Innovation und Kontinuität in der Mitte des Mittelalters (Mittelalter-Forschungen 16), Ostfildern 2004, 183–203, hier 186 f. 38 Vgl. Bogen: Träumen und Erzählen 174–176. 39 Vgl. Klaus Krüger: Der frühe Bildkult des Franziskus in Italien – Gestalt und Funktionswandel des Tafelbildes im 13. und 14. Jahrhundert, Berlin 1992. Ähnliche Konzepte kommen bei den großen Heiligenschreinen des 12. und 13. Jhd. zur Anwendung, vgl. Viola Belghaus: Der erzählte Körper – Die Inszenierung der Reliquien Karls des Großen und Elisabeths von Thüringen, Berlin 2005.
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Bilder beim Umschlagen der Pergamentseiten zu tun war.40 Die Doppelminiatur zur Anbetung der Heiligen Drei Könige etwa weist eine Reihe formaler Besonderheiten auf, die im fixierten Zustand des aufgeblätterten Buches unmotiviert bleiben (Abb. 5): Gegen die Symmetrie der ihnen hinterlegten Pfeilerstellungen sind sowohl die thronende Maria mit dem Kind wie die Könige zum Seitenrand hin verschoben. Die beiden zuinnerst gelegenen Kompartimente werden ganz von der Gabendarbietung des ersten Königs und der ausgestreckten Rechten der Gottesmutter dominiert, gleichzeitig wird die Distanz zwischen den Königen mit ihren Gaben und der Mutter-Kind-Gruppe ins Extreme gesteigert. Erst beim Umblättern der Recto-Seite findet eine Annäherung statt: Die ‚Ausdrucksgebärde‘ der Rechten Marias kommt genau auf der Gabe des an erster Stelle stehenden Königs zu liegen. Die Marienfigur schwenkt auf die Verehrenden zu, um schließlich in direkte Berührung mit ihnen zu gelangen. Im Gebrauch des Kodex wurde die Gabe tatsächlich entgegen genommen. „Die Bildanlage übersteigt damit das auf beiden Seiten unmittelbar Abgebildete, sie erfasst auch die ‚körperliche‘ Gegenständlichkeit des Buches und die performative Nutzung des Buches, schließlich auch den Betrachter: Erst im performativen Mitwirken des Betrachters kommt die angelegte Gesamtheit des Bildgeschehens zustande […]. Das in der Darstellung Gefasste wird nicht nur bildlich gezeigt, sondern in den konkreten performativen Vollzug der Bilder hinein ausgedehnt.“41 Letztlich geht es dabei um die Doppelrolle des Kodex als heiliger Text und heiliger Körper. In der liturgischen ‚Aufführungssituation‘ wird das Buch zum handelnden Bildwerk. Das ungleich bekanntere Gegenstück zu den frühmittelalterlichen Klappseiten sind die im späten Mittelalter massenhaft produzierten Flügelretabel, die in zwei oder mehr Ansichten gewandelt werden konnten. Das entscheidende Merkmal dieser Gattung, so Valerie Möhle, ist die geschichtete Anordnung mehrerer Bildebenen, „die nie gleichzeitig, sondern nur im Verhüllen der jeweils anderen verfügbar sind. […] Gerade die systematische, immer wiederkehrende Verweigerung von Bildern weckte das Schaubedürfnis des Betrachters und machte den Zustand des Sehen-Könnens zu einem Erlebnis.“42 Ausgehend von diesen Grundgegebenheiten konnte das Verhältnis zwischen äußerer und innerer Ansicht auf unterschiedliche Weise ausgestaltet werden: sowohl im Sinne einer „Abstufung und Steigerung der Ansichten“ wie auch einer „Durchlässigkeit der äußeren auf die inneren Bilder“: „Das Klappbild kann zum Kippbild werden, das das verborgene Innere bereits im 40 Vgl. Wolfgang Christian Schneider: Geschlossene Bücher – Offene Bücher – Das Öffnen von Sinnräumen im Schließen der Codices, in: Historische Zeitschrift 271 (2000), 561–592. Ders.: Die „Aufführung“ von Bildern beim Wenden der Blätter in mittelalterlichen Codices – Zur performativen Dimension von Werken der Buchmalerei, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 47 (2002), 7–35. 41 Ders.: Geschlossene Bücher – Offene Bücher 562. 42 Valerie Möhle: Wandlungen – Überlegungen zum Zusammenspiel der Außen- und Innenseiten von Flügelretabeln am Beispiel zweier niedersächsischer Werke des frühen 15. Jahrhunderts, in: David Ganz / Thomas Lentes (Hg.): Ästhetik des Unsichtbaren – Bildtheorie und Bildgebrauch in der Vormoderne (KultBild 1), Berlin 2004, 147–169, hier 147.
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Abb. 5: Anbetung der Könige, Perikopenbuch Heinrichs II., um 1010, München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4452, fol. 17v–18r.
520 David Ganz verhüllenden Äußeren sichtbar werden lässt.“43 Die Hintereinanderschichtung der äußeren und der inneren Bilder ist auf einen erinnernden Sehmodus hin angelegt, der jedes Bild auf ein gegenwärtig unsichtbares Bild hin bezieht. Ein anschauliches Beispiel für die Funktionsweise dieses Dispositivs ist der Bildtypus der Gregorsmesse, der die Erscheinung Christi in Gestalt des Schmerzensmannes vor Papst Gregor zum Thema hat. Auf den Außenflügeln von Antwerpener Retabeln wird dieses Visionsbild regelmäßig als Bildgegenstand gewählt.44 Die Erscheinung Christi vor Papst Gregor wird dabei zum Knotenpunkt eines hochkomplexen Beziehungsgeflechts von gleichzeitig und nacheinander sichtbaren Bildfeldern. Auf dem Retabel des Zisterzienserklosters Ihlow (um 1510) gestaltet sich die Anordnung der Bildthemen folgendermaßen: Die äußere Wandlung zeigt die Gregorsmesse im Zentrum, flankiert von der Begegnung Abrahams mit Melchisedek und dem Abendmahl (Abb. 6). Die beiden seitlichen Bildgegenstände sind aus typologischen Abendmahlsprogrammen bekannt. Dass es nun die Gregorsmesse ist, welche das eigentlich höherwertige Abendmahl auf die Seite verdrängt, ist ein wichtiger Indikator dafür, dass es in diesen Retabeln nicht um die Einsetzung des Altarsakraments, sondern um die Schau des Christuskörpers am Altar geht. Wird das Retabel gewandelt, kommt hinter den bemalten Tafeln ein plastisch ausgeführter Passionszyklus zum Vorschein, dessen Zentrum eine Darstellung der Kreuzigung einnimmt. Die Gregorsmesse mit der Erscheinung Christi als Schmerzensmann ist durchscheinende Hülle für das tatsächliche Leiden und Sterben Jesu, welches bei der Wandlung des Retabels zutage tritt. Der Umschlag von einer Ansicht zur anderen als das entscheidende Moment der ‚Aufführung‘ der Schreine ist in dieser wechselseitigen Durchlässigkeit immer schon antizipiert. Dabei bringt es die Architektur des Flügelretabels mit sich, dass die auf den Außenflügeln platzierte Gregorsmesse bei der Öffnung des Schreins in zwei Teile ‚aufgebrochen‘ wird – im Fall des Ihlower Retabels führt dies dazu, dass der kniende Papst und der schwebende Christus ‚auseinandergerissen‘ werden und dass das fragmentarisch sichtbare Kruzifix über dem Altar in zwei Teile zerfällt.45 Gemeinsam ist den kompositen Bildkörpern ihre Transformierbarkeit. Mehrere Zustände oder Ansichten sind nicht gleichzeitig sichtbar, sondern müssen durch einen Vorgang der Wandlung ineinander überführt werden. In der Differenz von Vorher und Nachher werden die Bilder in das rituelle Geschehen der Liturgie integriert und in gewissem Sinne zu Orten der Epiphanie des Heiligen. Die Wahrnehmung heilsgeschichtlicher Sinnzusammenhänge wird mit der Teilnahme an der Gegenwart des Kultes verschränkt. 43 Ebd., 148, 150 f. 44 Vgl. Esther Meier: Die Gregorsmesse im Bildprogramm der Antwerpener Schnitzretabel, in: Barbara Welzel / Thomas Lentes / Heike Schlie (Hg.): Das „Goldene Wunder“ in der Dortmunder Petrikirche – Bildgebrauch und Bildproduktion im Mittelalter (Dortmunder MittelalterForschungen 2), Bielefeld 2003, 181–199. 45 Vgl. Caroline Walker Bynum: Seeing and Seeing Beyond – The Mass of St. Gregory in the Fifteenth Century, in: Jeffrey Hamburger / Anne-MArie Bouché (Hg.): The Mind’s Eye – Art and Theological Argument in the Middle Ages, Princeton 2006, 208–240, hier 218–220.
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Abb. 6: Antwerpener Passionsretabel, äußere Wandlung: Abraham und Melchisedek, Gregorsmesse, Abendmahl, um 1510, Aurich, Lambertikirche.
3. Schweifende und gebahnte Wege – Bilder zum imaginierenden Gebet Eine der vielen Zutaten zum Bildkompilat der Gregorsmessen sind die Arma Christi, welche die Erscheinung des Schmerzensmannes flankieren: Lanze, Essigschwamm, Leiter, Nägel, Geißelsäule, Silberlinge, Schlaghand, spuckender Kopf etc. Letztlich handelt es sich dabei um ein eigenes Kompositbild, dessen Bestandteile gelegentlich auch durch Rahmen voneinander getrennt werden können. Geradezu die Negativform einer wohlkomponierten und sinnvoll disponierten Erzählung sind die Arma seit ihrer Genese im frühen 14. Jhd. (Abb. 7): Arma-Darstellungen entbehren einer klaren Syntax, einer Anordnungsstruktur, welche so etwas wie eine Reihenfolge der Lektüre angeben könnte.46 In der Regel präsentieren sie 46 Vgl. Robert Suckale: Arma Christi – Zur Zeichenhaftigkeit mittelalterlicher Andachtsbilder, in: Städel-Jahrbuch 6 (1977), 177–208.
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Abb. 7: Schmerzensmann mit Arma Christi, Ulm, 1470–85, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Inv. Nr. H 9.
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sich als lose Gruppierung von Gegenständen und (fragmentierten) Akteuren, deren Verteilung auf der Bildfläche eine Suche nach visuellen Analogien komplett enttäuschen muss. Der einzige Fixpunkt ist das zentrale Motiv des Gekreuzigten, des Schmerzensmannes oder der Seitenwunde, alle übrigen Teilbilder könnten prinzipiell ihren Platz ändern. Die Rezeptionshaltung, welche die Arma stimulieren sollen, ist die Übersetzung der szenischen Abbreviaturen in ein innerlich vorgestelltes Geschehen. Werkzeuge wie Akteure der Passion implizieren jeweils eine bestimmte Handlung, welche die Leiden Christi vermehrt. Aufgrund des isolierten und fragmentierten Darstellungsmodus der Arma bedarf es der Erinnerungs- und Vorstellungskraft des Betrachters, um die gemeinten Handlungen vor dem inneren Auge zu komplettieren.47 Die offene Syntax, in welche die Zeichen auf der Bildfläche integriert sind, soll es erlauben, die Verknüpfung von einer Station des Passionsgeschehens zur nächsten frei zu wählen, ohne sich dabei der zeitlichen Sukzession der Historie verpflichtet zu fühlen. Die Arma fordern den Betrachter dazu auf, das zentrale Motiv des Gekreuzigten, des Schmerzensmannes oder der Seitenwunde ins Innere zu holen und dort mit der Fülle seines vergangenen Leidens zu überblenden. „Im Zusammenwirken von Superimago und Subimagines“, so Jochen Berns, sind die Arma gleichsam die äußeren Antriebsräder für einen „inneren Film“, der als „Erinnerungsfluss der gesamten Passionshistorie im Betrachter zustande kommt“.48 Die Erstellung innerer Bilder ist ein neues Thema der Pluralbilder des späten Mittelalters. Die offene Struktur der Arma-Bilder ist aber nur eine von mehreren Lösungen, die dem Gläubigen die Wendung von den äußeren Artefakten zur eigenen Imagination ermöglichen sollen. Andere Wege werden im Kontext des im Spätmittelalter sich entwickelnden Rosenkranzgebets eingeschlagen. Wie die meditative Betrachtung der Arma zielt dieses auf eine Imagination heilsträchtiger Ereignisse ab, die in kurzem Wechsel evoziert werden. Bildliche Darstellungen dieser Ereignisketten hatten entscheidenden Anteil an der Genese und der Verbreitung des Rosenkranzgebets. Im Gegensatz zu den syntaktisch offenen Arma-Bildern ging es dabei von Beginn an um klar strukturierte Anordnungsmuster. Während sich die Arma-Meditation ganz auf die einzelnen zu imaginierenden Ereignisse fokussiert, zielt das Rosenkranzgebet darauf ab, unterschiedlichen Ereignissen der Heilsgeschichte einen festen Ort in einer einprägsam gestalteten Gesamtfigur zuzuweisen.49 47 Zur mittelalterlichen Memoria-Kultur, in deren Tradition die Arma-Bilder stehen, vgl. Mary J. Carruthers: The Book of Memory – A Study of Memory in Medieval Culture (Cambridge Studies in Medieval Literature 10), Cambridge 1990. Zur Rolle von Bildern als ‚Merkhilfe‘ vgl. ebd., 221–257. 48 Jörg Jochen Berns: Film vor dem Film – Bewegende und bewegliche Bilder als Mittel der Imaginationssteuerung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Marburg 2000, 36. Vgl. auch ders.: Umrüstung der Mnemotechnik im Kontext von Reformation und Gutenbergs Erfindung, in: Ders. / Wolfgang Neuber (Hg.): Ars memorativa – Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400– 1750 (Frühe Neuzeit 15), Tübingen 1993, 35–72, hier 52–58. 49 Vgl. David Ganz: Ein „krentzlein“ aus Bildern – Der Englische Gruß des Veit Stoß und die Genese spätmittelalterlicher Bild-Rosarien, in: Urs-beat Frei / Fredy Bühler (Hg.): Der
524 David Ganz In der spätmittelalterlichen Bildkunst, vorzugsweise im Medium der Druckgraphik, werden mehrere Varianten eines bildlichen Anordnungsschemas für die ‚Gesetze‘ des Rosenkranzgebets durchgespielt: die einfache Zeilenkomposition, die Fünferfigur (Quincunx) mit herausgehobenem Mittelbild, schließlich die kreisförmige Anordnung in konzentrischen Räderwerken, Verflechtungen, Verkettungen. Dass diese kreisförmige Lösung sich schließlich durchsetzt, hat wohl vor allem damit zu tun, dass die Tätigkeit des Betens auch als Flechten eines runden Kranzes verstanden wurde, den der Betende Maria darbringt.50 Die kreisförmigen Bild-Rosarien stellen dem Betrachter ein Modell vor Augen, dem sich seine innere formende Tätigkeit des kranzflechtenden Betens angleichen sollte. So ist auf einem schwäbischen Holzschnitt des späten 15. Jhd. ein Kranz aus Rosen zu sehen, in den die Gesetze des freudvollen und des schmerzensreichen Rosenkranzes alternierend als weiße und rote Blüten-Medaillons eingeflochten sind (Abb. 8).51 Im zentralen Bildfeld überreicht eine weibliche Figur gemeinsam mit Vertretern der geistlichen und der weltlichen Stände Maria und dem Christuskind ihre fertigen Gebetskränze. Dass diese Frau Vorbild für den Betenden sein soll, geht aus der ‚Gebrauchsanweisung‘ hervor, die den darunter abgedruckten Text einleitet: „Wer ain andächtigen rosenkrantz betten will […] der fahe an zu betten am ersten ain glouben der bedüt dz reifflin daruff man die rösen binden sol […]“52. Obwohl die Medaillons nach Prinzipien angeordnet sind, die man aus der typologischen Kunst kennt, schließen sich nur wenige der diametral gegenüberliegenden Blüten zu heilsgeschichtlich sinnfälligen Bildpaaren zusammen – am ehesten noch die Geburt Christi und die Kreuzigung entlang der Mittelsenkrechten. Gerade daran zeigt sich, dass die Bild-Rosarien in erster Linie als Matrix von Bildorten funktionieren, die der Gläubige in seinem Inneren anlegen soll, nicht dagegen als narrative Komposition, die das Entdecken sinnfälliger Bezüge zwischen verschiedenen Ereignissen ermöglicht. 4. Integration des Betrachters – Betretbare Bilderräume „Warum die Figurenepisoden eine über der anderen anzubringen eine zu vermeidende Darstellungsart ist. Diese Weise, die bei den Malern bei Bildwänden der Kapellen allgemein in Gebrauch steht, muss mit Recht sehr getadelt werden. Sie Rosenkranz – Andacht, Geschichte, Kunst (Kat. Ausst.: Zeitinseln – Ankerperlen – Geschichten um den Rosenkranz, 25. Mai – 26. Okt. 2003, Bern, Museum Bruder Klaus Sachseln), Bern 2003, 152–169. 50 Vgl. Thomas Lentes: Die Gewänder der Heiligen – Ein Diskussionsbeitrag zum Verhältnis von Gebet, Bild und Imagination, in: Gottfried Kerscher (Hg.): Hagiographie und Kunst – Der Heiligenkult in Schrift, Bild und Architektur, Berlin 1993, 120–151, hier 123–127. 51 Vgl. Sabine Griese: Maria mit dem Rosenkranz, in: Peter Parshall u. a. (Hg.): Die Anfänge der europäischen Druckgraphik – Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch (Kat. Ausst.: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik – Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch, 5. Dez. 2005 – 19. März 2006, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum), Nürnberg 2005, 274–277, Nr. 85. 52 Zit. nach ebd., 274.
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Abb. 8: Maria im Rosenkranz mit freudvollem und schmerzensreichem „Fünfer“, darunter Gebetsanleitung mit Ablassversprechen, schwäbisch, 1485, Washington, National Gallery of Art, Rosenwald Collection 1943.3.564.
526 David Ganz machen nämlich eine Historie auf einem Plan, mit zugehöriger Landschaft und Gebäuden, darauf rücken sie nun ein Stockwerk weiter in die Höhe, machen wieder eine Historie und nehmen einen anderen Augenpunkt an als den ersten, und dann ebenso eine dritte und vierte. Das ist bei solchen Meistern eine große Dummheit, denn wir wissen sehr wohl, dass der Punkt im Auge des Beschauers der Historie liegt. Und wolltest du sagen: Wie soll ich’s denn anfangen, wenn ich das Leben eines Heiligen zu malen habe, das auf derselben Bildwand in viele einzelne Historien abgeteilt ist? So antworte ich diesbezüglich Folgendes: Du sollst den ersten Plan mit seinem Hauptpunkt in die Augenhöhe des Beschauers der Historie setzen, und auf diesem Plan figurierst du die erste Episode groß. Darauf machst du das gesamte übrige Zubehör der Gesamthistorie auf allerlei Hügeln und Ebenen, indem du Figuren und Häuser allmählich immer mehr verjüngst. […] Auf andere Weise bemühe dich nicht, denn alles, was du [solcherart] machst, ist falsch.“53 Leonardos Empfehlungen im Trattato della Pittura sprechen deutlich aus, dass das Bild im Plural seit dem Beginn der frühen Neuzeit unter anderen Voraussetzungen antritt. Bei der Ausmalung einer Kapelle soll sich der Maler nach dem Modell des „monofokalen“ Staffeleibildes richten, das zwischen dem 15. und dem 17. Jhd. zu einer zentralen Größe der europäischen Bildkunst aufsteigt.54 Zum neuen Konzept des Gemäldes als gerahmter „finestra aperta“ (Leon Battista Alberti) gehört es, dass alle Episoden einer zyklischen Erzählung nunmehr in einem einzigen Bildfeld untergebracht werden können.55 Das Neben- bzw. Übereinander mehrerer Bildfelder, so schwebt es Leonardo vor, soll vom Hintereinander mehrerer Szenen in einem gemeinsamen, perspektivisch organisierten Bildraum abgelöst werden. Die vielleicht radikalste Maßnahme zur Durchsetzung des neuen Einfeldbildes lässt sich in den Florentiner Kirchenräumen der Frührenaissance beobachten. In den von Filippo Brunelleschi geplanten Kirchen San Lorenzo und Santo Spirito war als einzige Bildausstattung nur mehr die sogenannte tavola quadrata all’antica zugelassen, eine einzelne, rechteckige Bildtafel in antikischem Rahmen, die an die Stelle des älteren Polyptychons trat. In jeder Kapelle sollte lediglich eine dieser Bildtafeln Aufstellung finden, umgeben ausschließlich von weiß getünchter Wand (Abb. 9).56 Erstmals wurde hier die Unverzichtbarkeit pluraler Bilder grundsätzlich 53 Leonardo da Vinci: Perché i capitoli delle figure l’uno sopra l’altro è opra da fuggire, in: Ders.: Trattato della Pittura, Abschnitt 116, zit. nach: Ulrich Pfisterer (Hg.): Die Kunstliteratur der italienischen Renaissance – Eine Geschichte in Quellen (Universal-Bibliothek 18236), Stuttgart 2002, 187. 54 Grundlegend Hans Belting / Christiane Kruse: Die Erfindung des Gemäldes – Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994. Victor Stoichita: Das selbstbewusste Bild – Vom Ursprung der Metamalerei (Bild und Text), München 1998. 55 Vgl. Leon Battista Alberti: De Pictura / Die Malkunst, in: Oskar Bätschmann (Hg.): Das Standbild – Die Malkunst – Grundlagen der Malerei, lateinisch/deutsch, ed., eingel., übers. u. kommentiert v. Oskar Bätschmann u. Christoph Schäublin, Darmstadt 2000, 225 (cap. 19): „Zuerst zeichne ich auf der Fläche, die das Gemälde tragen soll, ein vierwinkliges Rechteck beliebiger Größe: es dient mir gewissermaßen als offenstehendes Fenster, durch welches der ‚Vorgang‘ betrachtet wird.“ 56 Vgl. Christa Gardner von Teuffel: Lorenzo Monaco, Filippo Lippi und Filippo Brunelleschi –
in Frage gestellt. Doch war diesem ‚Frontalangriff‘ kein Erfolg beschieden. Schnell kamen hybride Ausstattungsformen auf, welche die tavola quadrata in mehrteilige Freskenzyklen integrierten. Auf diese Weise entstand als neuer Typus pluraler Bilder der neuzeitliche Bilderraum, der aus den Kirchen und Kapellen der Renaissance wie des (katholischen) Barock nicht wegzudenken ist. Die Erfindung der Renaissance-Pala, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 45 (1982), 1–30. Hubert Locher: Das gerahmte Altarbild im Umkreis Brunelleschis – Zum Realitätscharakter des RenaissanceRetabels, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 56 (1993), 487–507.
528 David Ganz Nehmen wir als Beispiel Domenico Ghirlandaios Bilder in der Cappella Sassetti (1482–1485). Dort finden wir an der Stirnwand über dem Altar eine tavola quadrata, welche die Anbetung Jesu durch die Hirten zum Gegenstand hat (Abb. 10).57 Um diese herum gruppieren sich statt der von Brunelleschi vorgeschriebenen weißen Wand mehrere Bildfelder – seitlich in fingierten Nischen der Stifter Francesco Sassetti und seine Frau Nera Corsi Sassetti, darüber zwei Szenen eines FranziskusZyklus, der sich entlang der beiden Seitenwände fortsetzt. Gegenüber dem älteren Bildsystem stellt der frühneuzeitliche Bilderraum den Betrachter vor eine doppelte Aufgabe: Auf der einen Seite kann er wie bisher über die narrative Koordination der verschiedenen Bildfelder nachdenken, in diesem Fall also über die ungewöhnliche Zusammenstellung von Anbetung der Hirten, Erweckung eines gestorbenen Kindes und Bestätigung der Ordensregel. Auf der anderen Seite kann er Differenzen beobachten, die aus der unterschiedlichen Rahmung der Bilder resultieren: Die Altartafel ist durch den Rahmen vom Raum der Kapelle ausgegrenzt, die seitlich in fingierten Nischen knienden Stifter verrichten ihr Gebet also vor einem Artefakt. Die Auferweckung des Kindes und die Regelbestätigung hingegen sind (wie der gesamte Franziskus-Zyklus) über eine scheinarchitektonische Einfassung gleichsam in den Kapellenraum verlegt. Zu diesem illusionistischen Kunstgriff, der den Betrachter auf neue Weise in den Raum der heilsgeschichtlichen Erzählung integriert, kommen in diesem besonderen Fall zwei Mittel der Aktualisierung: Die Szenen aus dem Franziskus-Leben sind über ihre Hintergrundkulissen in den städtischen Raum von Florenz verlegt, zahlreiche zeitgenössische Personen beobachten das Geschehen. Beides, die perspektivische Illusion und die Verlagerung der Ereignisse in das Florenz der eigenen Gegenwart, soll den Kapellenbesuchern eine Vorstellung von der Wirkmacht des Franziskus geben, der der Namenspatron des Stifters Francesco Sassetti ist. Genau an dem Ort, an dem die Kapellenbesucher sich gerade befinden, ist der Heilige präsent. Beim Altarbild ist dies alles ganz anders, Maria, Joseph, Christus und die Hirten sind an einem anderen Ort lokalisiert, zwischen sie und die beiden Stifterfiguren ist eine starke Schwelle eingezogen. An dieser Stelle kann eine verknüpfende Betrachtung einsetzen, welche die Erzählung der drei Ereignisse an der Stirnwand mit ihrer unterschiedlichen Rahmung zusammensieht. So kann auffallen, dass die Anbetung der Hirten und das Erweckungswunder des Franziskus zwar unterschiedlichen Realitätsebenen angehören, szenisch und kompositorisch aber in deutlicher Parallele zueinander stehen: in der Mitte zweimal ein neu ins Leben getretenes Kind, seitlich zweimal betende Figuren.58 In beiden Bildern kommt zudem eine auf den ersten Blick befremdliche Verbindung eines neugeborenen Kindes mit einem steinernen Sarkophag vor, der so 57 Vgl. Michael Rohlmann: Bildernetzwerk – Die Verflechtung von Familienschicksal und Heilsgeschichte in Ghirlandaios Sassetti-Kapelle, in: Ders. (Hg.): Domenico Ghirlandaio – Künstlerische Konstruktion von Identität im Florenz der Renaissance, Weimar 2003, 165–243. 58 Diese und andere Analogien sind herausgearbeitet von Rohlmann: Bildernetzwerk. Zur „Kinderachse“ im Zentrum der Kapelle, vgl. ebd., 211–216.
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Abb. 10: Domenico Ghirlandaio: Szenen aus dem Leben des Franziskus und Hirtenanbetung (Altarbild), 1482–85, Florenz, Santa Trinita, Cappella Sassetti.
530 David Ganz vom Behältnis toter Körper zum Behältnis neuen Lebens wird. Die Beobachtung dieser Parallele kann Betrachter veranlassen, das Gemälde der Anbetung in seinem steinernen Rahmen selbst als ein solches Behältnis neuen Lebens wahrzunehmen, an welches die gemalten Stifter und die realen Kapellenbesucher ihre Gebete richten.59 Die gemeinsamen Jenseitshoffnungen all dieser Personen werden dadurch sichtbar gemacht, dass zwei Sehweisen und Bildmodi miteinander verknüpft werden: ein illusionistisches Verständnis der Gemälde als Öffnung zum Betrachterraum und ein distanziertes Verständnis der Gemälde als gemalter Flächenkomposition. IV. Bilderwände, Serialität und Collage – Neue Formen des Pluralbildes in Neuzeit und Moderne Jüngere funktionsgeschichtliche Studien haben herausgearbeitet, wie sehr das Staffeleibild als neue universale Bildform der frühen Neuzeit zu seiner Durchsetzung auf eine Symbiose mit den gleichzeitig entstehenden Sammlungen angewiesen war. Kunst- und Wunderkammern, Antiken- und Gemäldesammlungen und andere Vorläufer der späteren Museen stellten dem Staffeleibild eine neue Spielart pluraler Kontexte zur Verfügung, die sich durch ein hohes Maß an Variabilität auszeichneten. In engem Abstand wurden Gemälde neben- und übereinander gehängt, wurden Werke unterschiedlicher Thematik und unterschiedlicher künstlerischer Herkunft zu einer Bilderwand zusammengefügt.60 Aus bereits vorhandenen, unabhängig voneinander entstandenen Bildern wurde ein „Super-Zeichen“ zusammengesetzt, das die Aufgabe hatte, ‚Kunst‘ als ein System unterschiedlicher Bildgattungen und Schulen bzw. Zeiten zu repräsentieren.61 Die klassische Form ortsfester Pluralbilder erhält in der variablen Ordnung der Galerieräume erstmals einen starken Konkurrenten. Doch erst mit der Epochenschwelle um 1800, die den Beginn der Moderne einläutet, wird sie endgültig obsolet. Zu Recht verbindet Werner Hofmann dieses Datum mit der „Erfindung einer neuen Polyfokalität“62, die sich unter stark veränderten Rahmenbedingungen manifestiert: An die Stelle der alten „Anlehnungskontexte“ der Kirche, des Palasts und der aristokratischen Kunstsammlung tritt, wie Beat Wyss formuliert, „Autopoiesis“ als neues Bezugssystem.63 59 Der Sarkophag der Wiedererweckung, der in einem direkten Berührungsverhältnis mit dem Bildrahmen steht, wird seit der Erhöhung der Mensa vom Rahmen der Altartafel verdeckt, vgl. Steffi Roettgen: Wandmalerei der Frührenaissance in Italien, Bd. 2: Die Blütezeit 1470–1510, München 1997, 136–163, hier 142. 60 Vgl. Stoichita: Das selbstbewusste Bild 99. Stoichita verwendet hierfür den Begriff „Assemblage“. 61 Vgl. Hans Belting: Das unsichtbare Meisterwerk – Die modernen Mythen der Kunst, München 1998, 49–55. Thürlemann: Vom Einzelbild zum „hyperimage“. 62 Hofmann: Moderne im Rückspiegel 145 f. 63 Vgl. Beat Wyss: Vom Bild zum Kunstsystem, 2 Bde. (Kunstwissenschaftliche Bibliothek 32),
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Die Pluralbilder der Moderne verzichten auf jene positiven Rückkopplungseffekte, welche vor 1800 ihr entscheidendes Kennzeichen waren. In Verfahren wie Collage und Serialität reflektiert Kunstproduktion ihre eigenen medialen Gegebenheiten, und dies in zunehmender Auseinandersetzung mit jenen neuen Techniken maschineller Bildreproduktion, die eine zuvor unbekannte Masse der ‚zu vielen‘ Bilder hervorbringen. Dem Leerraum zwischen den Bildern wächst in Werken wie etwa den Bilderserien Andy Warhols eine neue Qualität zu: Er ist Raum der Negativität, der zentrale Kategorien des Kunstsystems wie die Autonomie, Authentizität und Geschlossenheit künstlerischer Schöpfungen auf den Prüfstand stellt.64 Diese radikale Umorientierung tritt nicht zuletzt dort mit besonderer Deutlichkeit zutage, wo eine Aneignung des klassischen Formenrepertoires christlicher Pluralbilder stattfindet, wie erstmals kurz nach 1800 in den Gründungswerken der deutschen Romantik. Caspar David Friedrichs Bild-Rahmen-Montage des Tetschener Altars oder Franz Pforrs Diptychon Sulamith und Maria kombinieren heterogene Bildebenen, die von einer starken Rahmenform zusammengehalten werden.65 Eine solche Rückkehr zu pluralen Ganzheiten mag sich vordergründig als „Selbstnegation der Kunstautonomie“66 darstellen; in Wahrheit jedoch täuscht der Eindruck der Geschlossenheit. Hier wie in den zahlreichen Reprisen des Triptychonschemas bis in die Gegenwart (Abb. 11) stehen die Bilder selbst und ihr Anordnungsschema in einem deutlichen Spannungsverhältnis.67 V. Schluss Der Ausblick auf das Weiterleben des Bildes im Plural in Moderne und Gegenwart macht noch einmal besser verständlich, wo der gemeinsame Nenner unseres Themas für die christlichen Bildkulturen der Vormoderne liegt. Konstitutiv für die christlichen Pluralbilder scheinen bei aller Vielfalt in historischer wie in funktionaKöln 2006, 244–249. Vgl. auch Oskar Bätschmann: Ausstellungskünstler – Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997. 64 Vgl. Hofmann: Moderne im Rückspiegel 333–336. 65 Zur bildtheologischen Epochenzäsur der Frühromantik vgl. die Beiträge von Reinhard Hoeps und Richard Hoppe-Sailer in Band 1 des Handbuchs. S. dazu Reinhard Hoeps: Friedrich Schlegel über Christliche Kunst, in: Ders.: Handbuch der Bildtheologie I 326–338 und Richard Hoppe-Sailer: Philipp Otto Runge, in: Ebd., 315–325. 66 Wyss: Vom Bild zum Kunstsystem 253–258. 67 Zum modernen ‚Nachleben‘ der Triptychonform vgl. jetzt Marion Ackermann (Hg.): Drei – Das Triptychon in der Moderne (Kat. Ausst.: Drei – Das Triptychon in der Moderne, 7. Feb. –14. Juni 2009, Stuttgart, Kunstmuseum), Ostfildern 2009. Zum hier abgebildeten Werk Mark Rothkos, Teil der Bilderserie für die Rothko Chapel in Houston/Texas, vgl. Hofmann: Moderne im Rückspiegel 329 f. Die positive Wertschätzung des Zwischenraums pluraler Bilder geht nach 1800 auf den wissenschaftlichen Bildgebrauch über. Für die im 19. Jhd. entstehende Disziplin der Kunstgeschichte spielt die Nebeneinanderstellung von Bildern in gedruckten oder als Lichtbild projizierten Reproduktionen eine kaum zu überschätzende Rolle. Vgl. ebd., Moderne im Rückspiegel 299–301 und Thürlemann: Vom Einzelbild zum „hyperimage“.
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Abb. 11: Mark Rothko: Untitled (Triptychon an der Ostwand der Rothko Kapelle), 1966–67, Pigmente, Collagen und Emulsion auf Leinwand, 341 × 623 cm, Houston, Rothko Chapel.
ler Hinsicht zwei Komponenten zu sein: die beim Vergleich mit dem ‚Bild im Singular‘ augenfälligste ist das Prinzip der Heterogenität, der Vielfalt der Zeiten und Räume des Heils. Was hier zum Vorschein kommt, ist die Überzeugung, dass das ‚Ganze‘ christlicher Offenbarung sich niemals aus einer einzigen Betrachterposition erschließen könne, sondern zu seiner Visualisierung auf eine kaleidoskopartige Auffächerung von Blickwinkeln und Darstellungsmodi angewiesen sei. Die zweite Komponente ist das Prinzip eines relationierenden Blickes, welcher das einzelne Bild immer als fragmentarische, ergänzungsbedürftige Einheit versteht, die sinnvoll mit anderen Bildern koordiniert ist. Die visuelle Evidenz solcher Koordinationspotentiale setzt beim Betrachter nicht nur eine abstrahierende Zusammenschau einzelner Merkmale der Bilder voraus, sondern auch die Überzeugung, dass Transzendenz und innerweltliche Sphäre in einem engen Kommunikations- und Interaktionsverhältnis stehen. Seit der Aufklärung ist diese Überzeugung radikal in Frage gestellt. Dem Zusammenspiel von Heterogenität und Koordination in den christlichen Zyklen, Ptychen und Bilderräumen ist seither die Grundlage entzogen.
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Weiterführende Literatur Marylin Aronberg Lavin: The Place of Narrative – Mural Decoration in Italian Churches 431–1600, Chicago u. a. 1990. Jörg Jochen Berns: Film vor dem Film – Bewegende und bewegliche Bilder als Mittel der Imaginationssteuerung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Marburg 2000. Steffen Bogen: Träumen und Erzählen – Selbstreflexion der Bildkunst vor 1300, München 2001. Karl Clausberg: Die Wiener Genesis – Eine kunstwissenschaftliche Bilderbuchgeschichte (Fischer-Taschenbücher 3917: Kunststück), Frankfurt a.M. 1984. Werner Hofmann: Die Moderne im Rückspiegel – Hauptwege der Kunstgeschichte, München 1998. Wolfgang Kemp: Christliche Kunst – Ihre Anfänge, ihre Strukturen, München 1994. Herbert L. Kessler: Studies in Pictorial Narrative, London 1994. Bernd Mohnhaupt: Beziehungsgeflechte – Typologische Kunst des Mittelalters (Vestigia Bibliae 22), Bern 2000. Felix Thürlemann: Vom Einzelbild zum „hyperimage“ – Eine Herausforderung für die kunstgeschichtliche Hermeneutik, in: Ada Neschke-Hentschke (Hg.): Les herméneutiques au seuil du XXIème siècle – Évolution et débat actuel (Bibliothèque philosophique de Louvain 62), Louvain-la-Neuve/Paris 2004, 223–247.
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