(Near final draft, erschienen in jour-fixe-initiative Berlin (Hg.):
Souveränitäten. Von Staatsmenschen und Staatsmaschinen, Münster 2010:
Unrast)
Daniel Loick
But who protects us from you?
Zur kritischen Theorie der Polizei
Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses
getan hatte, wurde er eine Morgens verhaftet."[1] Der Protagonist in Franz
Kafkas Roman Der Prozess macht unangenehme Bekanntschaft mit einer
Institution, von der Walter Benjamin sagt, sie sei eine allverbreitete
gespenstische Erscheinung im Leben der zivilisierten Staaten"[2]: der
Polizei. Die Behörde, die K. belästigt, genießt in Literatur, Film und
Musik keinen guten Ruf. Seltener als fiktionale Bearbeitungen der Polizei
sind jedoch explizit philosophische oder politische Kritiken. Dass die
Polizei eine Erscheinung im Leben der zivilisierten Staaten ist, darin
sehen die allermeisten politischen Theorien nicht nur kein prinzipielles
Problem, sondern auch ein schieres Erfordernis. Das Recht ist mit der
Befugnis zu zwingen verbunden"[3], stellt zum Beispiel Immanuel Kant in
seiner Metaphysik der Sitten bündig fest. Das Postulat, dass eine
staatliche Institution eingerichtet werden muss, welche die Hindernisse des
Rechts und damit der Freiheit zuverlässig ausräumen kann, ist für Kant a
priori evident. Diese Annahme wurde in der Folge von fast allen
Rechtstheorien, wenn auch nicht immer mit demselben Begründungshintergrund,
übernommen. Die Frage der Polizei scheint keinerlei eigenständiger
Betrachtung mehr zu bedürfen: Wenn es Recht geben soll, so lautet die
allgemein geteilte Prämisse, dann muss es auch eine rechtserhaltende Gewalt
geben. Es ist nicht damit getan, ein Recht zu gründen und zu begründen,
sondern es muss auch konserviert und vor seinem Verfall oder seiner
Revolutionierung bewahrt werden. In der klassischen
politikwissenschaftlichen Einteilung entspricht dies der Trennung in
legislative und exekutive Gewalt: Ein neues Gesetz oder gar eine neue
Verfassung müssen nicht nur ausgehandelt und beschlossen, sondern auch um-
bzw. im Zweifelsfall durchgesetzt werden.
Diese Funktion nimmt im gewaltenteiligen System der Moderne eben vor allem
die Institution der Polizei wahr. Erst die Polizei stellt die
Verbindlichkeit rechtlicher Normen faktisch her und nimmt so eine wichtige
erwartungsstabilisierende und sozialintegrative Funktion wahr. Die
Faktizität von Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung ist ferner nicht nur
konstitutiv für moralentlastete Interaktionen"[4] zwischen Menschen,
sondern auch für den Wesensgehalt der Demokratie: Nur die – im Zweifelsfall
auch polizeilich erzwungene – Umsetzung demokratischer Beschlüsse lässt die
Mitwirkung an demokratischen Willensbildungsprozessen überhaupt lohnenswert
erscheinen. Volkssouveränität, wie jede Form der Souveränität, so scheint
es, kann sich nur verwirklichen, wenn sie nicht nur mit legislativer
Entscheidungskompetenz, sondern auch mit exekutiver
Zwangsanwendungskompetenz ausgestattet ist.
Staatliche Gewalt erscheint in diesem politischen Diskurs als derart
alternativlos, dass man zögert, überhaupt von Gewaltverhältnissen zu
sprechen; gerade in Zeiten der Krise und des Konflikts erscheint regelmäßig
nur die Verstärkung exekutiver Maßnahmen als Lösungsoption, während
alternative Auffassungen zur gesellschaftlichen Konfliktbewältigung im
Bereich der Utopie oder Phantasie angesiedelt werden. Dieser diskursiven
Situation gegenüber muss die Bedeutung eines simplen Hinweises als
unausgeschöpft gelten, den Walter Benjamin in seinem frühen Text Zur Kritik
der Gewalt (1920/21) gibt: Die Frage nach der Legitimität der Gewalt als
Mittel ist durch die Legitimität des Rechts als Zweck niemals schon mit
beantwortet. Es ist dieses ganz grundlegende Argument, das Benjamins
Aufsatz trotz seines apodiktischen Stils, seiner opaken Metaphorik und
seiner erratischen Argumentationsführung zu einem der bis heute wichtigsten
Dokumente der wenig beachteten Geschichte der kritischen Theorie der
Polizei gemacht hat.
Gesetzeskraft: Polizei als Mittel zu Rechtszwecken
Dass das Recht mit einer Zwangsbefugnis verbunden ist, ist deshalb so
selbstverständlich, da sich Recht und Zwang zueinander verhalten wie Zweck
und Mittel. Der Zwang ist das Mittel zum Zwecke des Rechts, er ist die
Exekution" der Legislation. Seit Aristoteles ist die Zweck-Mittel-Relation
auf syllogistische Weise geklärt[5]: Wo das Recht das Gute ist und der
Zwang das Mögliche, folgt die Zwangsanwendung als logischer Schlusssatz.
Bei Kant, in dessen Philosophie die Zweck-Mittel-Relation politisch und
moralisch thematisch wird, ist dies noch immer apodiktisch gegeben: Wer
den Zweck will, will (...( auch das dazu unentbehrlich notwendige Mittel,
das in seiner Gewalt ist"[6]. Indem er den Erfolg implizit zum Maßstab für
die Beurteilung der Mittel macht, klammert er dabei aber auch alle
moralischen und empirischen Erwägungen aus, die bei der Frage der
Mittelwahl potentiell eine eigenständige Rolle hätten spielen können: Sind
alle Mittel, Hindernisse des Rechts auszuräumen, moralisch erlaubt? Und ist
der Zwang als Mittel tatsächlich geeignet? Wenn Zweck und Mittel auf
syllogistische Weise miteinander verbunden sind, dann ist keine eigene
Prüfung der Berechtigung von Mitteln mehr vonnöten, sie ist über die
Prüfung der Zwecke bereits gegeben.
Die Polizei ist Mittel in doppelter Weise. Sie ist zum einen das Werkzeug,
das Medium zur Umsetzung einer Entscheidung. Erst mithilfe dieses Mediums
entäußert sich der souveräne Wille, erst die Polizei verschafft dem Recht
Materialität, erst durch sie wird es im gewissen Sinne Wirklichkeit. Zum
anderen ist die Polizei auch das Mittlere, als Vermittlungsinstanz zwischen
Wunsch und Wirklichkeit auch die zwischen dem Souverän und den Untertanen.
Die Entscheidungen des Volks sind ja kein Pogrom, die Staatsbürger_innen
gehen nicht selbst unmittelbar ans Werk der Umsetzung. Dem Willen des
Souveräns kommt in der gewaltenteiligen Demokratie (wie ja auch schon in
der Monarchie) keine unmittelbare perlokutionäre Wirkung zu, sondern erst
durch die (tatsächliche oder potentielle) Durchsetzung durch die Polizei.
Die Polizei ist gemäß des Selbstverständnisses moderner Gesellschaften
Mittel und nur Mittel, wird sie zum Zweck oder beginnt sie Zwecke zu
setzen, so ist die ursprüngliche Souveränität bedroht oder verschoben. Die
Polizei muss daher stumm und unsichtbar bleiben und darf keinen eigenen
Inhalt haben, sie muss sich auf den Vollzug eines von anderer Seite
determinierten Willens beschränken. Wenn die Polizei also, gemäß des
Selbstverständnisses moderner Gesellschaften, Mittel und nur Mittel ist,
wie sind dann die Ereignisse zu interpretieren, die Josef K. widerfahren
sind (und wie sie ähnlich immer wieder Menschen auch in der Realität
widerfahren), der eben eines Morgens verhaftet wurde, ohne dass er etwas
Böses getan hatte? Der erste Gedanke liegt nahe, dass K. in einem
diktatorischen Unrechtssystem gelebt hat, in dem allein solcherlei Vorfälle
auftreten können. K. selbst ist anderer Meinung. Nachdem von den
Eindringlingen in seiner Wohnung keine Auskunft über den Grund der
Verhaftung zu erhalten ist – Wir sind", kolportieren die Polizisten, die
sich selbst nur als Mittel verstehen, nicht dazu bestellt, Ihnen das zu
sagen"[7] – stellt K. eigene Überlegungen an: Was waren denn das für
Menschen? Wovon sprachen sie? Welcher Behörde gehörten sie an? K. lebte
doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden
aufrecht, wer wagte ihn in seiner Wohnung zu überfallen?"[8] Auch in einem
Rechtsstaat" in Friedenszeiten mangelt es nicht an Beispielen dafür, dass
die Polizei selbst nicht als Agent des Rechts, sondern gerade des
Rechtsbruchs fungiert. Dazu gehören kleinere Schikanen gegenüber Punks in
der U-Bahn-Station ebenso wie die Gefahr einer Kultur der Korruption und im
extremsten Fall sogar des (häufig rassistisch motivierten) Mordes. Diese
Fälle des Rechtsbruches durch die Agenten des Rechts lieferten nicht nur
den Stoff für eine Fülle von literarischen, musikalischen und filmischen
Auseinandersetzungen (ganze Genres wie der Krimi oder der Western verdanken
ihre Existenz größtenteils dieser Problematik), sondern können auch im
alltäglichen Leben immer wieder beobachtet werden.[9]
Dass in einer liberalen Demokratie ein Unschuldiger einfach eines Morgens
verhaftet wird, ist für die meisten Rechtstheorien freilich inakzeptabel
und ein Widerspruch: Wenn es sich wirklich um einen Rechtsstaat handelt und
K. wirklich unschuldig ist, hat er die Möglichkeit, sich mit Mitteln des
Rechts gegen die dann rechtswidrige Verletzung der Unversehrtheit seiner
Wohnung zur Wehr zu setzen. Das Eindringen in K.'s Wohnung ist dann
zunächst ein Zuviel an polizeilicher Aktivität, ein Exzess polizeilicher
Befugnisse, der im Ergebnis aus den Agenten des Rechts selbst Verbrecher –
und also eben nicht mehr Polizisten – macht. Nicht als Effekt legalen,
polizeilichen Handelns erscheint dann K.'s Verhaftung, sondern als
illegales Kidnapping, gegen das K. selbst mit Mitteln des Rechts und also
der Polizei vorgehen könnte.
Gesetzeskraft: die Polizei und der Ausnahmezustand
Diese Möglichkeit erscheint aber angesichts des Fortgangs des Romans, aber
auch angesichts der empirischen Häufigkeit und Regelmäßigkeit von
polizeilichen Rechtsübertretungen in westlichen Rechtsstaaten, mindestens
kontraintuitiv. Immer wieder erweisen sich auch Demokratien als unfähig,
das Verhältnis von Recht und Polizei als eine reine Zweck-Mittel-Relation
zu etablieren. Dies scheint zu indizieren, dass es sich hierbei nicht um
kurzfristige Irritationen rechtsstaatlicher Normalität, um leicht
korrigierbare Abweichungen oder Irrtümer handelt, sondern um einen festen
Bestandteil des Konzepts der Polizei selbst. Hierfür lassen sich leicht
praktische Gründe angeben, die vor allem mit der psychischen Konstitution
zusammenhängen, die Polizist_innen mitbringen müssen und die ihnen immer
weiter antrainiert wird, um sie in die Lage zu versetzen, ihren Job
überhaupt zu machen – eben nicht gerechtigkeitssensible und also zarte
Tugenden ermöglichen den Polizeidienst, sondern es sind Grobheit,
Dumpfheit und Gewalttätigkeit, derer man zur Ausübung der Herrschaft
bedarf"[10]: Ihre Sicherheit ist nur durch ihre Dummheit möglich"[11],
kommentiert Kafkas K. lakonisch. Dies mag auch die ironischerweise
ausgeprägte Legalitätsfeindlichkeit erklären, die bei den vorgeblichen
Agent_innen der Legalität immer wieder anzutreffen ist. Neben diesen
praktischen Gründen lassen sich aber auch systematische Gründe für die
konstitutive Verunreinigung der Zweck-Mittel-Relation angeben. Die
Behauptung", so stellt Walter Benjamin in seiner Kritik der Gewalt nämlich
fest, dass die Zwecke der Polizeigewalt mit denen des übrigen Rechts stets
identisch oder auch nur verbunden wären, ist durchaus unwahr." (KG 189) In
der Analyse Benjamins erhält die Polizei nicht einfach nur (als Mittel) das
von anderer Seite gesetzte Recht, sondern schafft auch selber neues Recht,
weil ihr selbst die Befugnis zukommt, Erlasse mit Rechtskraft zu erteilen.
Durch dieses Verordnungsrecht kann die Polizei die Kompetenz wahrnehmen,
ohne Rücksprache mit dem Volk oder dem Parlament selbst neues legitimes
Recht zu schöpfen. Diese Verordnungen können zwar gegebenenfalls im
Nachhinein durch den Souverän wieder kassiert werden, deshalb stellt es
allein noch kein Merkmal eines Polizeistaats dar. Entscheidend für
Benjamins These von der Aufhebung der Trennung von rechtserhaltender und
rechtsetzender Gewalt im Polizeiinstitut ist aber der Hinweis, dass die
Polizei grundsätzlich immer, also auch in Situation der
liberaldemokratischen Rechtsstaatsnormalität, der Sicherheit wegen"
überall dort eingreift, wo keine klare Rechtslage vorliegt" (KG 189). Da
die Polizei als Mittel zwischen der Allgemeinheit des Gesetzes und der
Singularität der vorgefundenen Situation fungiert, kann sie nicht einfach
passiv das fertige Gesetz anwenden, sondern muss selbst aktiv-
interpretierend tätig werden.[12] Genau genommen sagt Benjamin also, dass
die Polizei deswegen gelegentlich legislative, d.i. rechtsetzende
Kompetenzen ausübt, weil sie gezwungen ist, judikative, d.i.
rechtsinterpretierende Kompetenzen auszuüben. Sie hat dann also in diesen
Momenten faktisch provisorisch alle drei Gewalten in ihrer Hand: Ein
Tatbestand, der weder konstitutionell vorgesehen, noch juristisch
eingestanden werden darf, der aber wesentlich für die Rechtsordnung
insgesamt ist.
Um dem Gesetz Geltung zu verschaffen, ist es zwangsbewehrt, also mit
Gesetzeskraft ausgestattet. Da aber die Klarheit der Rechtslage niemals
klar genug ist[13] und da das Recht nur durch Vermittlung der Polizei
realisiert werden kann, behält polizeiliches Agieren immer eine Dimension
eigenständiger Entscheidung. Da diese dezisionistische Dimension des
Polizeihandelns vom Souverän schlechterdings nicht suspendiert werden kann,
muss die Polizei eine permanente Bedrohung des Ortes der Souveränität
darstellen, eine ständige Anfechtung der Letztinstanzlichkeit der
souveränen Entscheidung – denn nach der Entscheidung des Souveräns kommt
immer noch die Entscheidung der Polizei. Nicht auf den juristischen Bestand
polizeilicher Verordnungen kommt es dabei an, sondern auf die Tatsache,
dass grundsätzlich alle juristischen Verordnungen potentiell nur
polizeilich aktualisiert werden können. Nicht die Fortdauer polizeilicher
Entscheidungen in einem inner-juridischen Verhältnis ist hier entscheidend,
sondern der konstitutive Bezug des Rechts auf das Leben. Giorgio Agamben
hat die Tendenz dieser Kraft, die sie legitimierenden Gesetzen zu
suspendieren und die Fesseln aller die exekutive Gewalt einschränkenden
rechtlichen Schranken durchzustreichen, mit dem Term Gesetzeskraft"[14]
dargestellt. Hierin spricht sich die Latenz des Ausnahmezustandes innerhalb
der Regel aus, das Potential der Exekutive, sich von ihrem Status als
reinem Mittel zu emanzipieren" (KG 189) und zur gesellschaftlichen
Dominante zu werden. Auch Agamben beschreibt, Benjamin kommentierend, wie
die Polizei, als Mittleres zwischen der Allgemeinheit des Gesetztes und der
Konkretheit der Situation, diese Vermittlungsfunktion aufgibt (und damit
als Mittel insgesamt diskreditiert bleiben muss): Wenn nämlich der
Souverän derjenige ist, der dadurch, dass er den Ausnahmezustand ausruft
und die Gültigkeit des Gesetzes aufhebt, den Ort bezeichnet, an dem kein
Unterschied mehr zwischen Gewalt und Recht besteht, dann bewegt sich die
Polizei sozusagen immer in einem solchen Ausnahmezustand'. Die
Erfordernisse von öffentlicher Ordnung und Sicherheit, über die sie in
jedem Einzelfall neu entscheiden muss, bilden eine Zone der
Unterscheidungslosigkeit zwischen Gewalt und Recht, die in exakter
Symmetrie zu derjenigen der Souveränität steht."[15] Die Suspension des
Gesetzes durch die Polizei, in ihr immer schon angelegt, wird in
dramatischen geschichtlichen Momenten akut.[16] Über den Ausnahmezustand zu
entscheiden ist aber, anders als Carl Schmitt (und, mit Einschränkungen,
auch Agamben) meint, eben nicht einfach ein Zeichen von Souveränität,
sondern immer auch und gerade ein Moment des Verlustes von Souveränität,
ein Moment, in dem der amtierende Souverän abgesetzt oder beurlaubt
wird.[17]
Gegen die Verunreinigung des Mittel-Status' der Polizei muss der Souverän
darum Vorkehrungen treffen. Dies gilt insbesondere für die
Volkssouveränität, denn in demokratischen Systemen bedeutet eine
Suspendierung des Rechts nicht nur eine Missachtung eines einzelnen
souveränen Befehls, sondern stellt immer gleich eine besondere Gefahr für
das souveräne System insgesamt dar, da sich der souveräne Wille des Volkes
überhaupt nur durch die Geltung von Grundrechten, d.h. durch das
Vorhandensein von polizeifreien Sphären, herausbilden kann. Axel Honneth
wirft Benjamin in seiner Kritik der Kritik der Gewalt vor, diesen Aspekt
vernachlässigt zu haben. Honneth diagnostiziert Benjamin, es übersteige
dessen Vorstellungshorizont", dass demokratische Gesellschaften mit der
Zeit zivile Ressourcen der Bindung von Polizei und Militär"[18] entwickeln
könnten. Aus radikaldemokratischer Perspektive sind als solche zivile
Bindungsressourcen vor allem institutionelle Kontrollmechanismen
vorgeschlagen worden, welche die Eigenständigkeit polizeilicher Aktivität
begrenzen sollen. Der Weg von der Entscheidung zur Umsetzung soll besser
überprüft und die Polizei so auf ihre Funktion als reines Medium fixiert
werden. Karl Marx führt in seinem Text Der Bürgerkrieg in Frankreich die
Pariser Kommune als Beispiel für eine solche radikaldemokratische
Gesellschaftsorganisation an (sie stellt, provisorisch, zunächst eine volle
Verwirklichung von Volkssouveränität dar, noch nicht die kommunistische
Verwirklichung der Assoziation freier Individuen, die ganz auf die
politische Gewalt würde verzichten können): Die Kommune sollte nicht eine
parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend
und gesetzgebend zu gleicher Zeit. Die Polizei, bisher das Werkzeug der
Staatsregierung, wurde sofort aller ihrer politischen Eigenschaften
entkleidet und in das verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der
Kommune verwandelt."[19] Marx hält also in der Pariser Kommune für
verwirklicht, was Honneth für in gegenwärtigen liberalen Demokratien für
verwirklicht hält: dass die Polizei nicht mehr als die Kraft des Gesetzes,
dass sie Mittel und nichts als Mittel ist.
Gesetzeskraft: Recht und Gerechtigkeit ohne Polizei
Damit ist Benjamins grundlegendem Argument jedoch noch nicht erschöpfend
Rechnung getragen. Seiner Ansicht nach ist es weder möglich, die Polizei
aller ihrer politischen Eigenschaften" zu entkleiden, noch wäre dies als
praktische Konsequenz seiner Kritik der Gewalt annähernd hinreichend. Die
Polizei ist nie einfach nur Mittel des Rechts, und selbst wenn sie eines
wäre, wäre dies noch keine ausreichende Legitimation. Dies ist gerade der
Widerspruch, den Benjamin den Aktivist_innen attestiert, welche die
Todesstrafe oder die Wehrpflicht kritisieren, ohne die Rechtsgewalt
insgesamt in Frage zu stellen: Die Kritik der Gewalt, so Benjamin, fällt
mit der Kritik aller Rechtsgewalt, das heißt mit der Kritik der legalen
oder exekutiven Gewalt zusammen und ist bei einem minderen Programm gar
nicht zu leisten" (KG 187). Die Entscheidung, zu töten oder zum töten zu
zwingen, sind legitime rechtserhaltende Maßnahmen aus dem Register des
Souveräns, so lange man sie innerhalb des normativen Koordinatensystems des
zwangsbewehrten Rechtssystems beurteilt. Auch Kants kategorischer Imperativ
reicht zu einer Kritik der Gewalt nicht hin, so lange er sich mit dem
Mimimalprogramm" begnügt, wonach man sich der anderen Person nur nicht
ausschließlich als Mittel, aber durchaus auch als Mittel bedienen dürfe
(vgl. KG 187), denn Gewalt ist bei Kant konsequenterweise
selbstverständlicher Bestandteil im Repertoire der Mittel einer
demokratischen Republik. Benjamin erhebt aber nicht nur den Anspruch einer
realpolitischen Intervention, sondern avisiert eine transzendentale
Zurückweisung der Zweck-Mittel-Relation auf dem Gebiet der Moral und der
Politik insgesamt.[20] Eine Kritik der Gewalt als Mittel, so lautet die
weit reichende Feststellung, die Benjamins gesamte Abhandlung eröffnet, ist
nicht über eine Kritik der Zwecke bereits gegeben, denn ein solches
System, angenommen, es sei gegen alle Zweifel sichergestellt" (wie Benjamin
vielleicht vom System der Zwecke der Pariser Kommune durchaus schon
angenommen haben mag), enthält noch nicht ein Kriterium der Gewalt selbst
als eines Prinzips, sondern eines für die Fälle ihrer Anwendung. Offen
bliebe immer noch die Frage, ob Gewalt überhaupt, als Prinzip, selbst als
Mittel zu gerechten Zwecken sittlich sei." (KG 179) Diese Frage wird sowohl
vom rechtsphilosophischen Kanon umgangen, da die meisten Rechtsphilosophien
die aristotelisch-kantianische Auffassung vom Mittel-zum-Zweck als gegeben
voraussetzen. Das rechtsphilosophische Grunddogma: Gerechte Zwecke können
durch berechtigte Mittel erreicht, berechtigte Mittel an gerechte Zwecke
gewendet werden" (KG 180) schließt daher nicht aus, dass die Prinzipien der
Zwecke und die der Mittel miteinander kollidieren. Um eine solche mögliche
Kollision überhaupt registrieren zu können, folgert Benjamin, bedarf es für
beide Ebenen voneinander unabhängiger Kriterien. Für die Sphäre der Mittel,
also die Frage der prinzipiellen Berechtigung von staatlich sanktionierter
Gewalt, ist so die Frage nach einem Kriterium ohne Ansehung der Zwecke"
aufgeworfen.
Ein solches Kriterium zu liefern, ist nicht das Ziel von Benjamins
geschichtsphilosophischer Rechtsbetrachtung" und auch nicht ihre
Aufgabe.[21] Ist aber die Konsubstantialität von Recht und Gewalt einmal
enthüllt und zugleich das syllogistische Band von Zweck und Mittel gelöst,
so steht jede gewaltförmige Exekution des Rechts ohne apriorische
Legitimation da.[22] Dass sich im fortgeschrittenen Stadium von
Zivilisation eher die Gewalt als die Gewaltlosigkeit vor dem Maßstab von
Kritik auszuweisen hat, scheint für Benjamin selbstverständlich zu sein,
weshalb er sich im Fortgang seiner Untersuchung auch nicht auf den Nachweis
der normativen Richtigkeit, sondern vor allem auf die praktische
Möglichkeit gewaltfreier menschlicher Interaktion konzentriert. Wenn bei
ihm also von reinen Mitteln" die Rede ist, dann meint dies zunächst nicht,
dass die Mittel rein von Zwecken, also zweckfrei wären, sondern dass sie
rein von Gewalt sind. Als solche gewaltfreie reine Mittel scheiden zunächst
alle Mittel aus, die in irgendeiner Beziehung zum mythischen" Recht
stehen, dessen gewaltförmige Kontamination Benjamin ja bereits gezeigt hat.
Dies betrifft jede Form des Vertrages, der als rechtlich sanktioniert immer
eine Drohung zur Gewaltanwendung impliziert, als auch die Übereinkünfte in
Parlamenten, die in Ursprung und Ausgang" ebenfalls mit Gewalt behaftet
sind. Nur eine Politik kann das Etikett der Reinheit" für sich
reklamieren, die jede Beziehung zur etablierten Rechtsgewalt aufgegeben hat
und Gerechtigkeit auf eine vollständig nicht rechtsgewaltförmige Weise
manifestiert. Eine vollständig gewaltlose, aber dennoch gerechte Beilegung
von Konflikten jenseits der Rechtsgewalt ist für Benjamin dort möglich, wo
das Recht noch nicht alle sozialen Sphären seiner Regelungsgewalt
unterworfen hat, und zwar überall, wo die Kultur des Herzens den Menschen
reine Mittel der Übereinkunft an die Hand gegeben hat." (KG 191)[23] Diese
reinen Mittel beruhen auf der subjektiven Seite auf affektiv-habituellen
Charakterdispositionen wie Herzenshöflichkeit, Neigung, Friedensliebe,
Vertrauen" und auf der objektiven Seite auf der sachlichsten Beziehung
menschlicher Konflikte auf Güter". Friedrich Engels' Formulierung, wonach
im Kommunismus die Verwaltung von Sachen an die Stelle der Herrschaft über
Menschen trete,[24] mag den Gedanken inspiriert haben, dass die
Mittelbarkeit der Unterredung als Technik ziviler Übereinkunft" eine
Sphäre der Verständigung jenseits aller Rechtsgewalt zum Ausdruck bringt.
Hier zeigt sich auch, dass die Benjamin'sche Parlamentarismuskritik im Kern
der konservativen Parlamentarismuskritik eines Carl Schmitt diametral
entgegen steht; geißelte dieser die Parlamente als Schwatzbuden" und
bemängelte das Fehlen ihres dezisionistischen Bewusstseins,[25] wollte
jener gerade das deliberative Potential der direkten intersubjektiven
Einigung gegen die heteronom-bürokratische Gewaltordnung der
zeitgenössischen Parlamente verteidigen. In der Sprache ist nämlich
Gewaltlosigkeit nicht nur möglich, sie verschließt sich der Kolonisierung
durch rechtliche Gewalt sogar vollständig, wie Benjamin am Beispiel der
Straflosigkeit der Lüge zu demonstrieren versucht. Lebensweltliche
Kommunikation wird so zum alltagspraktischen Anknüpfungspunkt einer nicht-
legalen Gemeinschaft, einer Sozialität jenseits des mythischen"
Rechts.[26]
Diese Idee einer nicht-legalen Gemeinschaft fordert regelmäßig den
Einspruch der politischen Anthropologie heraus. Da die Menschen nun einmal
nicht so", also zur Freiheit reif, seien, weil sie entweder ein Volk von
Teufeln", mindestens aber in zwei Welten verhaftet seien, von denen nur
eine ihnen ein vernünftiges Handeln ermöglicht, die andere sie aber an ihre
aggressiven Leidenschaften bindet, könnte die von Benjamin geforderte
Entsetzung des Rechts" nur zu katastrophalen Konsequenzen führen. Diese
anthropologischen Annahmen sind die wesentlichen Voraussetzungen einer
jeden Rechtfertigungstheorie der Souveränität von Hobbes bis Kant gewesen.
Den Versuch einer empirischen Entkräftung dieser Befürchtungen unternimmt
Marx, wenn er von den Veränderungen schwärmt, die sich in Paris zur Zeit
der Kommune zugetragen haben sollen: Keine Leichen mehr in der Morgue,
keine nächtlichen Einbrüche und fast keine Diebstähle mehr, seit den
Februartagen von 1848 waren die Straßen von Paris wirklich einmal wieder
sicher, und das ohne irgendwelche Polizei." (Marx hatte, der Möglichkeit
einer Entkleidung der Polizei von allen politischen Eigenschaften" wohl
selbst misstrauend, diesen Vorgang bereits im nächsten Absatz seines Textes
mit einer Beseitigung" der Polizei gleichgesetzt.) Wir', sagt ein
Mitglied der Kommune, wir hören jetzt nichts mehr von Mord, Raub und
Tätlichkeiten gegen Personen; es scheint in der Tat, als ob die Polizei all
ihre konservativen Freunde mit nach Versailles geschleppt habe.'"[27] Marx
verschweigt hier freilich, dass in der Pariser Kommune vor allem deshalb
keine Polizei benötigt wurde, weil die gesamte Bevölkerung in Waffen stand.
Aber dennoch gibt seine Beschreibung einen wichtigen Fingerzeig zur Frage
der Möglichkeit eines politischen Gemeinwesens ohne Polizei. Sicherheit
kann hergestellt werden, so will Marx zum Ausdruck bringen, obwohl es keine
Polizei gibt, aber auch weil es keine Polizei gibt. Durch tief greifende
soziale und politische Umwälzungen können auch die Ursachen von
Kriminalität beseitigt werden, gegen Straftatbestände wie Einbruch und
Diebstahl gibt es keine bessere Politik als eine gerechte und ausreichende
Verteilung von Gütern an alle. Dies verdeutlicht auch die folgerichtige
Kampfansage, die der Polizei gelegentlich auf Demonstrationen gemacht wird:
No justice – no peace", bzw. deren Umkehrschluss: Peace comes with
justice. Kriminalität an der Wurzel, also auf einer nicht
anthropologischen, sondern ökonomischen Ebene zu bekämpfen, stellt sich als
das bessere Mittel zum Zwecke der Herstellung gesellschaftlicher Sicherheit
heraus.[28] Bezüglich der anderen Straftatbestände, die nicht die
Verteilung von Gütern, sondern das Leben und die körperliche Unversehrtheit
von Menschen betrifft, geht Marx sogar noch einen Schritt weiter, hier ist
es gerade die Existenz der Polizei (und ihrer konservativen Freunde"), die
diese Gewalt immer wieder erzeugt. So lange eine Gesellschaft sich eine
Institution leistet, die das soziale Leben prinzipiell mit Gewalt
durchzieht, wird sie auf die Entwicklung gewaltloser
Interaktionsmöglichkeiten nicht hoffen dürfen. Auf der Ebene von
zwischenstaatlichen Beziehungen hatte Kant dieses Argument bereits in
seiner Schrift Zum ewigen Frieden vorgebracht, auf die Benjamin in anderem
Zusammenhang (vgl. KG 185 f.) verweist: So lange stehende Heere und damit
die ständige implizite Drohung der Gewaltanwendung fortbestehen, ist kein
dauerhafter Frieden zu verwirklichen.[29]
Benjamin argumentiert jedoch wiederum nicht aus der historischen Erfahrung
heraus, sondern transzendental. Weder auf empirisch anzweifelbare Daten
noch auf die Spekulation über das Verhalten der Menschen im Kommunismus
muss seine Kritik der Gewalt daher besonderes Gewicht legen. Sind Mittel
und Zweck nicht mehr logisch miteinander verbunden, so kann aus dem Recht
allein niemals schon seine Durchsetzung deduziert werden. Es sind immer
noch zusätzliche Erwägungen und Rechtfertigungen vonnöten, welche die Ebene
der Mittel betreffen, und hierbei spielen nicht nur Effizienz-, sondern
auch moralische Kriterien eine Rolle.[30] Damit ist insbesondere das
Strafrecht diskreditiert, das nicht einmal eine prospektive Erzwingung des
rechtlich Gebotenen, sondern eine retrospektive Vergeltung eines rechtlich
Verbotenen zum Inhalt hat. Aus der Übertretung des Gesetzes, sei es
rechtlich oder moralisch kodifiziert, kann niemals ohne weiteres die
Anwendung exekutiver Gewalt legitimiert werden, so schwer das begangene
Verbrechen auch sei. Dies bedeutet auf keinen Fall, darin könnte Benjamin
klarer nicht sein, dass die letale Gewalt den Menschen bedingungsweise
gegeneinander" frei gegeben wäre – denn auf die Frage Darf ich töten?'
ergeht als unverrückbare Antwort das Gebot Du sollst nicht töten'" (KG
200). Wird aber aus einer Übertretung des Tötungsverbots die Konsequenz
einer Strafbefugnis geschlossen, liegt eine temporale Verwechslung vor. Das
Gebot bezieht sich auf das Davor der Tat, während die Strafe sich auf das
Danach bezieht, das mit dem Davor in keinem Kausalverhältnis steht.
Benjamin, der hier ganz in der Tradition Kants steht, hält Abschreckung
grundsätzlich nicht für einen legitimen Strafzweck: Die innere Triebfeder
für Gesetzestreue darf niemals einfach Furcht vor Strafe sein. Wenn das der
Fall ist, kann es aber genau genommen gar keinen legitimen Strafzweck
geben: Aber es (das Gebot( bleibt freilich, so wahr es nicht Furcht vor
der Strafe sein darf, die zu einer Befolgung anhält, unanwendbar,
inkommensurabel gegenüber der vollbrachten Tat. Aus ihm folgt über diese
kein Urteil. [...] (Das Gebot( steht nicht als Maßstab des Urteils, sondern
als Richtschnur des Handelns für die handelnde Person oder Gemeinschaft,
die mit ihm in ihrer Einsamkeit sich auseinanderzusetzen und in ungeheuren
Fällen die Verantwortung, von ihm abzusehen, auf sich zu nehmen haben." (KG
200 f.) Hier zeigt sich ganz deutlich, dass Benjamin nicht grundsätzlich
jede Form des Rechts oder des Gesetzes kritisiert, sondern die Frage seiner
staatlich-polizeilichen Applikation thematisieren will. Gegen die
bisherigen Formen des Rechts und der Rechtsgewalt, die Benjamin als
mythisch" bezeichnet, soll eine nicht-etatistische Form des Gebots und der
Gebothaftigkeit verteidigt werden, die sich in einer bestimmten jüdisch-
messianischen Tradition in Distanz oder Opposition zum Staat verstehen
lässt.[31]
Die Inkommensurabilität des Gebots gegenüber der vollbrachten Tat
veranschaulicht die alttestamentarische Geschichte von Jona, die Benjamins
Freund Gerschom Scholem zum Gegenstand einer Exegese gemacht hat, welche er
Benjamin bereits vor dem Abfassen der Kritik der Gewalt vorgelesen
hatte.[32] Jona wird von Gott ausgesandt, um dem Sündenpfuhl Ninive die
Vernichtung als göttliche Strafe zu verkünden. Nachdem Ninive daraufhin
umkehrt und den Sünden entsagt, verzichtet Gott auf die Vollstreckung
seines Urteils. Jona überkommt daraufhin eine tiefe Enttäuschung, seiner
Ansicht nach macht sich Gott der Lüge schuldig, wenn er das einmal
verkündete Urteil nicht vollzieht. Diese Enttäuschung, so zeigt Scholem,
verwechselt Prophetie mit Deskription. Wie dem Gebot geht es der Prophetie
nicht um eine Beschreibung des Zukünftigen, um eine Aussage über die Folgen
des Handelns, sondern um die Beeinflussung des Jetzigen. Jona spricht vom
Standpunkt des Rechts aus, von dem aus er auch im Recht ist, aber Gott
spricht vom Standpunkt der Gerechtigkeit aus. In der Bekehrung wird das
Recht überwunden und das Urteil nicht vollstreckt. [...] Denn dies und
nichts anderes bedeutet Gerechtigkeit im tiefsten Sinne: Dass zwar
geurteilt werden darf, aber die Exekutive davon völlig unterschieden
bleibt. Die eigentliche Beziehung des richterlichen Urteils auf die
Exekutive, auf die eigentliche Rechtsordnung wird aufgehoben im Aufschub
der Exekutive. Das tut Gott mit Ninive."[33] Die Kritik der Gewalt, die
sich hier formuliert, ist nicht nur eine Kritik ihrer Latenz, sondern auch
eine ihrer Performanz.
Der Begriff von der Geltung des Gesetzes, der dem entspricht, könnte man in
Anlehnung an Agamben vielleicht als Gesetzeskraft apostrophieren. Im
göttlichen Gewaltverzicht, im Verzicht auf eine göttliche Polizei, enthüllt
sich die Beziehung von Gesetz und Vollstreckung als arbiträr. Selbst wenn
es einer Gesellschaft gelänge, das beste, das gerechteste Recht zu
entwickeln, so wird hier deutlich, dass damit die Frage der Erhaltung
dieses Rechts noch nicht mitgeklärt ist. Es kann sein, und es mag sich als
die effektivere und gerechtere Wahl herausstellen, ein gerechtes Gesetz
auszuhandeln und zu beschließen, aber auf seine gewaltförmige
Implementierung zu verzichten. Dies heißt aber nicht, dass Gerechtigkeit
keine andere Möglichkeit hat, wirksam zu werden, als die des Rechts.[34]
Die nihilistische Position Benjamins – nihilistisch, weil sie auf eine
Vernichtung des mythischen Rechts zielt, nicht weil sie moralisch
prinzipienlos wäre – ist keine quietistische Position der Passivität.
Scholem schreibt: Der zur Handlung gewordene Aufschub ist Gerechtigkeit
als Tat."[35] Sie ist es als Tat, denn es handelt sich um den Aufschub
einer Exekutive durch eine andere: Gerechtigkeit ist die Vollstreckung
einer Nichtvollstreckung."[36] Die Suspendierung der Rechtsgewalt muss
aktiv verfolgt werden, sie vollzieht damit selbst die Unter- und
Durchbrechung des Bannes der mythischen Rechtsformen" (KG 202). Nur sind
die Mittel dieser Suspendierung der Exekution reine Mittel, insofern sie
eben frei von jeder Beziehung zur Rechtsgewalt sind. Hierin, in also dem
Dementi des syllogistischen Bandes von Zwecken und Mitteln, von Recht und
Polizei, von Legislation und Exekution stellt sich emphatisch eine
Gesellschaftlichkeit erst her, eine Gesellschaftlichkeit, die, wie Werner
Hamacher schreibt, es sicht versagt, anders denn als in ihrem bloßen
Dasein wirksam zu werden"[37].
Eine Gesellschaft, die nur in ihrer puren Gesellschaftlichkeit wirksam
wird, muss freilich nicht unbedingt eine freiere Gesellschaft sein. Auf
diesen Punkt weisen insbesondere die beiden durch Althusser beeinflussten
Polizeitheorien von Foucault und Rancière hin, die eine ganz andere
Herangehensweise an das Problem der Polizei entwickelt haben. In Althussers
berühmter Anrufungsszene" wird die Polizei erstmals nicht als exekutive
staatliche Institution betrachtet, sondern im weiteren Sinne als Metapher
der allgemein gesellschaftlichen subjektivierenden, also sowohl
unterwerfenden als auch subjektkonstitutiven, Machteffekte.[38] Ausgehend
von einer Analyse der Mikropolitiken der Macht lehnt Foucault darum die
traditionelle Souveränitätstheorie ganz als Holzweg ab, weil sie von den
wichtigeren, nicht nur politisch-repressiven, sondern sozial-produktiven
lokalen Verästelungen der Macht ablenkt, die nicht von Recht und Polizei
determiniert sind. Die Polizei ist bei ihm eine historisch spezifische
gouvernementale Technik, welche die Gesamtheit aller Maßnahmen bezeichnet,
die auf das Glück" der Bevölkerung gerichtet sind.[39] Bei Rancière
erfährt der Polizeibegriff eine noch größere Ausweitung, indem er mit
Polizei pauschal die Stabilität des ästhetischen, das heißt sinnlichen
Regimes einer Gesellschaft insgesamt bezeichnet, die durch politische
Interventionen allenfalls kurzfristig unterbrochen, niemals jedoch
dauerhaft überwunden werden kann.[40] Aus foucaultianisch-rancièristischer
Perspektive könnte ein Einwand gegen Benjamins Kritik der Polizei lauten,
dass mit dem einfachen Wegfall staatlicher repressiver Macht wenig gewonnen
wäre, da in diesem Fall lediglich andere soziale Disziplinierungsmaßnahmen
an die Stelle der wenigstens leicht überblickbaren Polizeigewalt treten
könnten.
Dies wird mit Benjamin nicht geleugnet. Ihm geht es aber auch nicht um die
Entwicklung einer gesamtgesellschaftlichen Utopie, sondern um die Kritik
der Staatsgewalt als eines legitimen Mittels zu Rechtszwecken. Mit der von
Benjamin geforderten Entsetzung des Rechts samt den Gewalten, auf die es
angewiesen ist wie sie auf jenes" (KG 202) ist nicht bereits die Ankunft
des Messias eingeläutet, wohl aber die Verwerfung eines Anteils manifester
Gewalt in der Gesellschaft. Die utilitaristische Befürchtung, diese
Verwerfung könnte in der Konsequenz ein größeres Maß an Gewalt in der
Gesellschaft hervorrufen, ist Benjamins System, das nicht
konsequentialistisch, sondern deontologisch aufgebaut ist, ganz fremd.
Erscheint Benjamins Rigorismus, der ganz wie der Kantische den Blick auf
die Wirkung aus der moralisch-politischen Erwägung vollständig verbannen
will, zunächst auch kontraintuitiv, so kann sich dessen Sinn erhellen, wenn
man das Problem der Polizei mit anderen moralisch-politischen Fragen
vergleicht. Auch z.B. die Folter lehnen (die meisten) liberalen
Rechtsstaaten ganz unabhängig von der Bewertung ihrer Erfolgschancen ab,
hier erscheint es allgemein als plausibel, dass die unveräußerliche
Menschenwürde keinem Kosten-Nutzen-Kalkül zum Opfer geworfen werden darf.
Benjamins Zug ist es nun, auf dem kantianisch bereiteten Boden einer
transzendental argumentierenden Rechtskritik auch die Polizei und die
Polizeigesellschaft aus dem Bereich der naiv stattgegebenen Gewalt zu
verbannen und unter verschärften philosophischen Rechtfertigungszwang zu
stellen.
Eine Gesellschaft ohne Polizei ist noch nicht automatisch eine freie
Gesellschaft. Aber die Gesellschaft wird so lange nicht frei sein, so lange
sie sich vorbehält, ihre Mitglieder (oder ihre Gäste) zu bestrafen oder zu
disziplinieren, zu segregieren oder zu exkludieren, zu dirigieren oder zu
exploitieren. All diese Maßnahmen umfasst aber der Begriff der Polizei, und
sei es der demokratisch kontrollierten und durch liberale Grenzen
eingeschränkten Polizei, irreduzibel. Ist aber die Polizei als politisches
Mittel diskreditiert, muss auch die politische Strategie der
Verrechtlichung in einem anderen Licht erscheinen. Gerechtigkeit stellt
sich dann nicht mehr durch das Recht, sondern durch die Durchstreichung
seiner Geltung und durch die Inswerksetzung gewaltfreier reiner Mittel her.
Die auf eine solche Deaktivierung des Rechts abzielende politische Praxis
kann heute also nicht mehr nur auf die Inklusion von aus dem Recht
ausgeschlossenen Gruppen und auf eine intern so gerechte Struktur des
Rechts wie möglich zielen, sondern muss auch die Etablierung nicht von
Rechtsgewalt und also Polizei durchdrungener Bereiche anstreben. Es ist
eine solche Destitution und Suspension der souveränen Ordnung, die Bertolt
Brecht eingedenk der Pariser Kommune in seiner Resolution der Kommunarden
ebenso fordert wie vollzieht: In Erwägung unsrer Schwäche machtet / ihr
Gesetze die uns knechten soll'n / die Gesetze seien künftig nicht beachtet
/ in Erwägung, dass wir nicht mehr Knecht sein woll'n." Die Profanierung
der Gesetze durch ihre Nicht-Beachtung: In einer solchen Welt hätte Josef
K. am Leben bleiben können.
Daniel Loick
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[1] Franz Kafka: Der Proceß, Frankfurt am Main 1990, S. 7.
[2] Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, in Gesammelte Schriften Band
II.1, herausgegeben von Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann,
Frankfurt am Main 1991, S. 189 – Im folgenden in Klammern zitiert als KG"
+ Seitenzahl.
[3] Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, in Werke in sechs Bänden,
herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd. IV, Darmstadt 1998, S. 340.
[4] Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie
des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1992, S.
151.
[5] Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, übersetzt und eingeleitet von
Ursula Wolf, Reinbek 2006, S. 104 ff. (1112b); vgl. zu Benjamin und dem
aristotelisch-kantianischen Verständnis der Zweck-Mittel-Relation ferner
Beatrice Hanssen: Critique of Violence. Between Poststructuralism and
Critical Theory, London/New York, S. 18.
[6] Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in Werke in sechs
Bänden, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd. IV, Darmstadt 1998, S.
46.
[7] Franz Kafka: Der Proceß, a.a.O., S. 9.
[8] Ebd., S. 11.
[9] Dass ein Unschuldiger ohne erkennbaren Grund von der Polizei verhaftet
wird, setzt Kafka als Verfremdungseffekt ein. Für viele Nicht-Weiße sind
solche Schikanierungen eine banale alltägliche Tatsache. Im
zeitgenössischen US-amerikanischen Rap wimmelt es von Auseinandersetzungen
mit derartigen Erfahrungen. So heißt es im Song Who protects us from you?
von KRS-One: Well, back in the days of Sherlock Holmes / A man was judged
by a clue / Now he's judged by if he's Spanish, Black, Italian or Jew / So
do not kick my door down and tie me up / While my wife cooks the stew /
'Cos you were put here to protect us / But who protects us from you?"
[10] Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten
Leben, in Gesammelte Schriften 4, Frankfurt am Main 1997, S. 27.
[11] Franz Kafka: Der Proceß, a.a.O., S. 15.
[12] In Überwachen und Strafen verweist Michel Foucault auf die
Instructions von Katharina II., in denen diese programmatisch formuliert,
dass die Polizei sich um die Dinge des Augenblicks kümmert, während die
Gesetze sich um die dauernden Dinge kümmert. Foucault bringt dieser
Augenblicksbezogenheit der Polizei mit einem Überwachungsmechanismus in
Verbindung: Zu ihrer Durchsetzung muss sich diese Macht mit einer
ununterbrochenen, erschöpfenden, allgegenwärtigen Überwachung ausstatten,
die in der Lage ist, alles sichtbar zu machen, sich selbst aber
unsichtbar." (Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des
Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994, S. 275)
[13] Zwecke", schreibt Benjamin später in einem anderen Zusammenhang,
welche für eine Situation gerecht, allgemein anzuerkennen, allgemeingültig
sind, sind dies für keine andere, wenn auch in anderen Beziehungen noch so
ähnliche Lage." (KG 196)
[14] Giorgio Agamben: Ausnahmezustand (Homo Sacer II.1), Frankfurt am Main
2004, S. 42.
[15] Giorgio Agamben: Souveräne Polizei, in ders.: Mittel ohne Zweck. Noten
zur Politik, Freiburg/Berlin 2001, S. 99 f.
[16] In Agambens Analyse besteht die Gefahr für eine weltweite Ausweitung
von Ausnahmezuständen immer dann, wenn Kriege vom Standpunkt einer
Weltinnenpolitik" aus betrieben werden und daher als reine Polizeiaktionen
konzipiert werden. Dies macht die Kriminalisierung des Feindes notwendig
und verunmöglicht Verhandlungen auf gleicher Augenhöhe", wie sie unter
gleichen Souveränen noch möglich war (vgl. ebd., S. 102). Dies entspricht
auch Hannah Arendts Beobachtung, dass wer die ganze Erde als sein
zukünftiges Territorium betrachtet, das Gewicht auf das Instrument der
innenpolitischen Gewaltausübung legen und das eroberte Territorium weniger
mit den Methoden und dem Personal der Armee als mit denen der Polizei zu
regieren suchen" (Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.
Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 2006, S. 649)
muss. Vgl. auch Arendts ausführliche Analyse der eminenten Bedeutung,
welche die Polizei im allgemeinen für die Ausübung totaler Herrschaft
spielt, ebd. S. 867 ff.
[17] Dies trifft sich mit den – diskutablen – Analysen des
Nationalsozialismus von Franz L. Neumann, der den Nationalsozialismus nicht
als Ausdruck einer extremen Souveränität betrachtet, sondern als Nicht-
Staat, in dem kein souveräner Wille mehr exekutiert werden kann, vgl. Franz
Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus, Frankfurt
am Main 1984.
[18] Axel Honneth: Eine geschichtsphilosophische Rettung des Sakralen. Zu
Benjamins Kritik der Gewalt', in ders.: Pathologien der Vernunft.
Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt am Main 2007, S.
143.
[19] Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, S. 339 f.
[20] Eine ähnliche Zurückweisung der Zweck-Mittel-Relation findet sich auch
bei Hannah Arendt, welche die instrumentelle Rationalität auf dem Gebiet
der Politik als eine Verdrängung von im emphatischen Sinne verstandenem
menschlichem Handeln zugunsten eines bloßen Herstellens" interpretiert,
vgl. Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 2007, S.
291.
[21] Dass die Kritik der Gewalt die Philosophie ihrer Geschichte" sei, wie
Benjamin konstatiert, bedeutet, dass ihr Maßstab nicht unmittelbar gegeben
ist, sondern nur auf dem Umweg der Idee ihres Ausgangs" gewonnen werden
kann, die allein eine kritische, scheidende und entscheidende Einstellung
auf ihre zeitliche Data ermöglicht." (KG 202) Eine Rechtfertigung von
Gewaltlosigkeit, wenn man sie überhaupt für notwendig erachtet, verbietet
sich Benjamin, so wird zum Ende seines Textes deutlich, aus
epistemologischen Gründen. Erst der Standpunkt der Gerechtigkeit selbst,
die als allgemeine Erlösung die bisherige Geschichte beenden könnte, mag
man ihn als Ankunft des Messias oder als Kommunismus chiffrieren, könnte
die bisherige Weltgeschichte der Erkenntnis aufschließen.
[22] Benjamin kam mit Kant vor allem durch den Marburger Neukantianer
Hermann Cohen in Kontakt, der die Ironie bereits klar analysiert hatte, die
sich bei Kant durch die Vermischung des Rechts mit der polizeilichen
Zwangsbefugnis ergeben hat. Hätte Kant dem Zwang entsagt, so hätte er eine
freie, unbefangene, souveräne Kritik an dem positiven Rechte" (Hermann
Cohen: Kants Begründung der Ethik nebst ihren Anwendungen auf Recht,
Religion und Geschichte, repr. Nachdruck der 2. verb. und erw. Auflage von
1910, Werke 2, Hildesheim 2001, S. 399) üben und seine Philosophie
tatsächlich zum Instrument von Herrschaftskritik werden können. Aber",
diagnostiziert Cohen, es lag in dem Begriffe des Zwangs, an den er sich
anklammerte, um eine feste Unterscheidung gewinnen zu können, ein
verhängnisvoller Zauber der Verführung." Durch die unhinterfragte Prämisse
von der Notwendigkeit des Zwangs verschließt sich Kant auch den Blick auf
die mögliche Ungerechtigkeit der bestehenden Rechtsordnung insgesamt: Wie
konnte es ihm (Kant( dabei entgehen, dass im Recht sehr viel Unrecht
aufgespeichert ist? Wie konnte sich ihm die drückende Einsicht
verschleiern: dass die Unzulänglichkeit der Erfahrung gegenüber der Idee
ihre unzweifelhafte geschichtliche Dokumentierung findet in der
Ungerechtigkeit so vieler Rechte?" (ebd., 397). – Bei KRS-One klingt das
so: Lookin' through my history book / I've watched you as you grew /
Killin' blacks and callin' it the law / and worshipping jesus, too."
[23] Die Kritik an kontraktualistischen Staatsbegründungen, die vom
Menschen als rationalem Egoisten ausgehen, wurde in der Geschichte der
Politischen Philosophie am prominentesten von David Hume vertreten. Mit der
Haltung des Wohlwollens gegenüber anderen verfügen Menschen über eine
Bandbreite an emotionalen Einstellungen, die sich nicht auf rein
egoistische Interessen reduzieren lassen. Obwohl Benjamin mit den Schriften
Humes vertraut war, dürfte es wahrscheinlicher sein, dass Benjamin den
Gedanken der Rationalität der gegenseitigen Hilfe" vom Anarchisten
Kropotkin übernommen hat (vgl. Peter Kropotkin: Gegenseitige Hilfe in der
Tier- und Menschenwelt, Frankfurt am Main 2005). Benjamin zitiert
jedenfalls mehrfach den wichtigsten Schüler Kropotkins, Gustav Landauer.
[24] Friedrich Engels: Herr Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, MEW
20, S. 262.
[25] Vgl. Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen
Parlamentarismus, Berlin 1985, S. 46. – Benjamin ergreift mit seiner
kritischen Theorie der Souveränität entschieden Partei gegen den Staat an
sich und damit auch gegen den bürgerlich-parlamentarischen Rechtsstaat.
Dass er dies zur Zeit der Weimarer Republik getan hat, hat ihm den häufigen
Vorwurf eingebracht, er habe die wahren Gegner seiner Zeit verkannt oder
ihnen sogar in die Hände gespielt. Benjamins linke" Parlamentarismuskritik
weise eine gefährliche Nähe zu rechten" Varianten der
Parlamentarismuskritik auf, so dass Benjamin an der Dekomposition der
politischen Institution der labilen Weimarer Demokratie indirekt mit
beteiligt gewesen sei. Diese Kritik scheint pauschal jeden Versuch
diskreditieren oder zumindest unter Generalverdacht stellen zu wollen, zur
gegenwärtigen Form der parlamentarischen Demokratie Alternativen zu
entwickeln. Die angebliche geheime Allianz" von Benjamins Kritik der
Gewalt mit konservativen oder reaktionären Parlamentarismuskritiken ist
heute so sehr zum Gemeinplatz geworden, dass sie kaum mehr hinterfragt
wird; sie geht aber an der Sache vorbei. Es ist die syndikalistische und
bolschewistische Kritik an den Parlamenten, die Benjamin als im ganzen
treffend" (KG 191) bezeichnet. Aber der Kern dieser Kritiken ist gerade
nicht, die parlamentarische Deliberation durch dezisionistische
Entscheidung abzukürzen, sondern im Gegenteil, die Arenen und Foren für
Kommunikationsprozesse durch die Einrichtung von Räten zu vervielfältigen.
Was Benjamin am Parlament kritisiert, ist nicht seine Entscheidungs-,
sondern seine Kommunikationsunfähigkeit; es ist für ihn nicht mit zuwenig,
sondern mit zuviel Gewalt behaftet. Auch der misanthropische Massenhass,
der rechte Parlamentarismuskritiken von jeher kennzeichnete, kann Benjamin
kaum attestiert werden, zeigt doch schon ein kurzer Blick in dessen
rezeptionsästhetische Schriften, dass ihm ein bürgerlicher Elitismus, auf
dem der anti-demokratische Dezisionismus meistens aufgebaut ist, ganz fremd
ist.
[26] Es ist wenig überraschend, dass dieser Gedanke Benjamin das Lob von
Jürgen Habermas eingebracht hat (vgl. Jürgen Habermas: Bewusstmachende oder
rettende Kritik – die Aktualität Walter Benjamins, in Siegfried Unseld
(Hrsg.): Zur Aktualität Walter Benjamins, Frankfurt am Main 1972, S. 220);
nach der poststrukturalistischen Dekonstruktion des Gegensatzes von Sprache
und Gewalt ist er aber zumindest in der ursprünglichen Formulierung nicht
mehr aufrechtzuerhalten. Es genügt bereits, an die juristische Regulierung
von Hate Speech zu erinnern, um die weit reichende These von einer
prinzipiellen Unzugänglichkeit der Sprache für juridische Gewalt zu
widerlegen, vgl. etwa Judith Butler: Hass spricht. Zur Politik des
Performativen, Berlin 1998, insgesamt zum Nicht-Gegensatz von Sprache und
Gewalt vgl. auch Daniel Loick: Words like violence. Konstellationen des
Unvernehmens, in Steffen K. Herrmann, Sybille Krämer und Hannes Kuch
(Hrsg.): Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung,
Bielefeld 2007. – Dies muss aber Benjamins grundlegendes Argument nicht
unbedingt aushebeln: Es gibt auch schon in der bestehenden Gesellschaft
affektive und rationale Ressourcen sozialer Kooperation jenseits des
Rechts, deren Ausschöpfung aber durch die Dominanz polizeilicher
Konfliktschlichtungsmaßnahmen verstellt ist.
[27] Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, a.a.O., S. 349.
[28] Diesen Gedanken hat – mit dann allerdings unübersehbar autoritären
bzw. konformistischen Implikationen – am prägnantesten Ernst Bloch weiter
verfolgt, indem er den Schluss zog, die Revolution sei die einzige
wirklich radikale Straftheorie", vgl. Ernst Bloch: Naturrecht und
menschliche Würde, Frankfurt am Main 1980, S. 297 ff.
[29] Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören.'
Denn sie bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg, durch die
Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen; [...] wozu kommt, dass zum
Töten, oder getötet zu werden in Sold genommen zu sein einen Gebrauch von
Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines andern (des
Staats) zu enthalten scheint, der sich nicht mit dem Rechte der Menschheit
in unserer eigenen Person vereinigen lässt." (Immanuel Kant: Zum ewigen
Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in Werke in sechs Bänden,
herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd. VI, Darmstadt 1998, S. 197 f.) –
alles Argumente, die sich auf die Agenten der staatlichen Zwangsbefugnis
ebenfalls anwenden lassen.
[30] Dies gilt übrigens auch für linke und linksradikale Zusammenhänge, die
häufig ihre eigene polizeiliche Logik herausbilden. Dass Leute, die ein
Palituch tragen, aus einem autonomen Zentrum herausgeschmissen werden,
folgt weder direkt daraus, dass das Palituch ein Symbol für Antisemitismus
ist noch daraus, dass das Plenum des Zentrums dies demokratisch beschlossen
hat. Es sind immer noch zusätzliche Überlegungen zur Frage notwendig, ob
und wenn ja wie ein solcher Beschluss umgesetzt werden soll. Es könnte das
Ergebnis einer solchen Überlegung sein, dass es besser ist, den Beschluss
zwar zu fällen, aber nicht umzusetzen: aus Angst davor, zur Polizei zu
werden, d.h. selbst auf gewaltbasierte Interaktionsformen zurückzugreifen,
Mackerstrukturen und Ausschlüsse zu produzieren, etc.
[31] Zur Wahlverwandtschaft" von libertärem Denken" und jüdischem
Messianismus" vgl. Michael Löwy: Erlösung und Utopie. Jüdischer
Messianismus und libertäres Denken. Eine Wahlverwandtschaft, Berlin 1997,
zu Benjamin insbes. Kap. 6, sowie Judith Butler: Kritik, Zwang und das
heilige Leben in Walter Benjamins Zur Kritik der Gewalt', in Susanne
Krasmann und Jürgen Martschukat (Hrsg.): Rationalitäten der Gewalt.
Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Bielefeld 2007.
[32] Die Idee des Aufschubs, schreibt Scholem in seinen Erinnerungen, hat
Benjamin beeindruckt und seine eigenen Überlegungen zum Konzept der
Gerechtigkeit inspiriert, vgl. Gershom Scholem: Walter Benjamin –
Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt am Main 1975, S. 180. – Zum
Vergleich von Scholem und Benjamin und dem Zusammenhang von Zeit, Schuld
und Rechtsordnung vgl. Werner Hamacher: Schuldgeschichte. Benjamins Skizze
Kapitalismus als Religion', in Dirk Baecker (Hrsg.): Kapitalismus als
Religion, Berlin 2003, S. 113 ff.
[33] Gershom Scholem: Über Jona und den Begriff der Gerechtigkeit, in
ders.: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923, 2. Halbband: 1917-
1923, Frankfurt am Main 2000, S. 526.
[34] Dies scheint aber Jacques Derrida anzunehmen, wenn er in seiner
ansonsten instruktiven Benjamin-Lektüre ohne Umschweife voraussetzt, dass
die Gerechtigkeit [...] erfordert, dass sie in einem Recht sich
einrichtet, das enforced' werden muss" (Jacques Derrida: Gesetzeskraft.
Der mystische Grund der Autorität", Frankfurt am Main 1991, S. 46) – eine
Behauptung, die Derrida ganz untypischerweise unhinterfragt aus dem
rechtsphilosophischen Kanon übernimmt.
[35] Gershom Scholem: Über Jona und den Begriff der Gerechtigkeit, a.a.O.,
S. 528.
[36] Ebd., S. 341.
[37] Werner Hamacher: Afformativ, Streik, in Christiaan L. Hart Nibbrig
(Hrsg.): Was heißt Darstellen"?, Frankfurt am Main 1994, S. 347. –
Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Agamben, der sich ebenfalls auf
Benjamin bezieht: Im Recht seine Nicht-Beziehung zum Leben und im Leben
seine Nicht-Beziehung zum Recht offenbar werden zu lassen heißt, zwischen
ihnen einen Raum für menschliches Handeln zu eröffnen, der vormals den
Namen des Politischen' für sich einforderte. (...( Wahrhaft politisch ist
indessen nur solches Handeln, das den Bezug zwischen Gewalt und Recht
rückgängig macht. Und nur vom Raum aus, der so sich öffnet, wird es möglich
sein, die Frage nach einem eventuellen Gebrauch des Rechts nach der
Deaktivierung des Dispositivs zu stellen, das es (...( an das Leben band."
(Giorgio Agamben: Ausnahmezustand, a.a.O., 103 f.)
[38] Vgl. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate, in
ders.: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur
marxistischen Staatstheorie, Hamburg/Berlin, S. 140.
[39] Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen, a.a.O., S. 86.
[40] Vgl. Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie,
Frankfurt am Main 2002, S. 40 ff.
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