Universität Duisburg-Essen Fakultät für Geisteswissenschaften Institut für Germanistik Fachbereich Literaturwissenschaft Sommersemester 2015 Prüfer: Dr. Patrick Eiden-Offe Zweitprüferin: Prof. Dr. Ursula Renner-Henke
Bachelorarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Bachelor of Arts
Bürgerliche Sexualmoral im Drama des Sturm und Drang
Maximilian Lippert ES0228449600 Taubenacker 19 40668 Meerbusch
[email protected] LA BA GyGe Deutsch, Geschichte 6. Fachsemester Vorgelegt am 23. Juni 2015
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Inhaltsverzeichnis
Teil I: Theoretische und historische Standpunktverortung 1
Einleitung
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Sturm und Drang – Dynamisierung und Binnenkritik der Aufklärung
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Bürgerliche Sexualmoral im Jahrhundert der Aufklärung
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Aufbegehren gegen die sexuelle Repression
16
Teil II: Die Dramen 5 5.1 5.2 5.3 6 6.1 6.2 7 7.1 7.2
Jakob Michael Reinhold Lenz Sexualität im Werk Lenzens Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung (1774) Die Soldaten (1776) Heinrich Leopold Wagner Exkurs: Der Kindsmord im 18. Jahrhundert Die Kindermörderin (1776) Friedrich Schiller Exkurs: Max Webers Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus Kabale und Liebe (1984)
20 20 22 30 42 42 44 55 56 58
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Resümee und Ausblick
66
9
Bibliographie
72
9.1 9.2 10
Primärliteratur Forschungsliteratur Versicherung Eides Statt
72 76 86
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Teil I: Theoretische und historische Standpunktverortung
1 Einleitung
„Eine Anzahl jugendlicher Kraftgenies, deren überschaumender Tatendrang sich überall an der Enge der gesellschaftlichen Formen stößt, versuchen […] in ihren Dramen gegen die veraltete Gesellschaftsordnung Sturm zu laufen.“1 Schon Stockmeyer erkennt hier 1922 das geballte gesellschaftskritische Potential, welches den Dramen aus der kurzen literaturgeschichtlichen Periode des Sturm und Drang innewohnt. Um jenes Potential und die zur Kritik Anlass gebenden Umstände soll es in dieser Arbeit gehen. Denn Literatur als „Seismograph des Zustandes einer Gesellschaft“2, indem sich kulturwissenschaftliche, sozialgeschichtliche und literaturwissenschaftliche Zugangsweisen ausloten, besitzt schließlich auch immer großen Wert als sozio- und psychohistorische Quelle für bestimmte Themen. Die Diskursivierung von, also das Reden und Schreiben über diese Themen ist nicht nur ein Indiz für deren gesellschaftliche Relevanz, sondern birgt auch stets Gewalt- und Machtverhältnisse. Michel Foucault war es, der in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France L‘ordre du discours 1970 darauf hingewiesen hat, dass jede Gesellschaft, auch jene in den deutschen Staaten des späten 18. Jahrhunderts, die Produktion eines Diskurses kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert, wodurch Herrschafts- oder Machtabsichten und -ansprüche verwirklicht werden.3 Luserke wies im Anschluss an Foucault und Wilds Thesen zu den literarischen Funktionen4 der Literatur der Aufklärung eine zivilisatorische, weil kathartische Funktion zu, die in der Disziplinierung von Leidenschaften besteht. 5 Der schöne Diskurs im aufklärerischen Jahrhundert soll in dieser Arbeit nicht im Fokus stehen. 1
Stockmeyer, Clara: Soziale Probleme im Drama des Sturmes und Dranges. Eine literaturhistorische Studie. Repr. Nachdr. d. Ausg. Frankfurt a.M. 1922 (Deutsche Forschungen 5). Hildesheim 1974. S. 235. 2 Luserke, Matthias/Glaser, Renate: Lustverbot und Kindsmord. Zivilisationsgeschichtliche Überlegungen zur Mannheimer Preisfrage von 1780. In: Marx/Stebner (Hrsg.): Ich und der Andere. Aspekte menschlicher Beziehungen. St. Ingbert 1996 S. 197. 3 Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Aus d. Franz. von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt a.M. 1991. S. 11. 4 Vgl. Wild, Rainer: Literatur im Prozeß der Zivilisation. Entwurf einer theoretischgen Grundlegung der Literaturwissenschaft. Stuttgart 1982. S. 118f. 5 Vgl. Luserke, Matthias: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung (Germanistische Abhandlungen 77). Stuttgart/Weimar 1995. S. 38f, 50.
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Dennoch wird versucht anhand von zahlreichen moralphilosophischen, pädagogischen und medizinischen Schriften aus dem sich emanzipierenden Bürgertum aufzuzeigen, wie das Verhältnis aufgeklärten Denkens zu Leidenschaften, aber konkreter: zu sexuellen Leidenschaften, Sinnlichkeit und körperlichem Begehren, gewesen ist. Nun kommt gegen Ende der aufgeklärten Epoche eine Gruppe junger Literaten auf, deren Verhältnis zu den Denkern und Schreibern der Vätergenerationen auf vielfältige Weise Brüche erlitten hat. Der Sturm und Drang erlebt eine kurze, aber turbulente Hochphase. Die Dichter nehmen die zeitgenössischen Diskurse auf, vor allem solche, bei denen es um Emotionalität, Leidenschaft und auch Sexuelles geht. Sie verhandeln die Themen jedoch gänzlich anders, stilistisch und inhaltlich, setzen der „Macht“ der aufgeklärten, patriarchalen Gesellschaft im Diskurs das „Begehren“6 entgegen. Die Rebellion der Geniedichter stellt viele vermeintliche Wahrheiten, Dogmen der aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaft, in Frage und zeigt deren fatale Folgen für das menschliche Zusammenleben in der Gemeinschaft auf. Die als oberste Maxime gesetzte Vernunftherrschaft als Autokratie absolut gesetzter Normen von bürgerlichen Verhaltensstandards wird als Punkt beschrieben, an dem sich Aufklärung in Repression verkehrt. So wird auch die bürgerliche Sexualmoral scharf kritisiert, da sich in ihr Gedanken aufgeklärter Menschlichkeit eher zu widersprechen scheinen. Sexualität eignet sich schließlich nicht nur in der aufgeklärten und der Sturm-und-Drang-Literatur als ein Gegenstand, an den sich Fragen von Macht, Gewalt und Herrschaft stellen lassen können. Im dieser Arbeit ist es also von Belang, wie die bürgerliche Moral in sexuellen Lebensbereichen die Protagonisten aus dem Drama des Sturm und Drang beengt, schließlich am Ende auch zu Grunde richtet und wie die Autoren diese Repression darstellen und der Kritik aussetzen. Der Sexualitätsdiskurs birgt auch Macht- und Herrschaftsstrukturen, die durch Literatur fiktional durchbrochen, durch utopische Entwürfe in Frage gestellt oder offen kritisiert werden können. Dazu werden die Dramen Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung sowie Die Soldaten von Jakob Michael Reinhold Lenz, Die Kindermörderin von Heinrich Leopold Wagner und schließlich Kabale und Liebe von Friedrich Schiller näher auf ihre Thematisierung von bürgerlicher Sexualmoral und eigenen Lösungsangeboten untersucht.
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Foucault: Die Ordnung des Diskurses. S. 11.
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2 Sturm und Drang – Dynamisierung und Binnenkritik der Aufklärung
Der Sturm und Drang ist die einzige Periode in der deutschen Literaturgeschichte, die sich nicht einfach adjektivisch ausdrücken lässt. Die Literatur der Aufklärung ist die aufgeklärte Literatur, die Literatur der Weimarer Klassik die klassische, aber was ist die Literatur des Sturm und Drang? Was zeichnet diese sehr kurzlebige und auf den deutschen Sprachraum beschränkte literarische Bewegung am Ende des 18. Jahrhunderts, inmitten des langen Zeitalters der Aufklärung, die keine Entsprechungen in Musik, Malerei oder Architektur besitzt, aus? Die auch als „‚Achtundsechziger’ des achtzehnten Jahrhunderts“7 bezeichnete Gruppierung junger Schriftsteller verstand sich selbst als die Avantgarde ihrer Zeit. Zeitgenössische Bezeichnungen lauten „junge Dichter“, „Genies“ oder „Originaldichter“.8 Ihre Werke sind deshalb „nur als Ausdruck eines durchdringend und umfassend neuen Lebensgefühls adäquat zu verstehen“9. An divergierenden Versuchen einer Einordnung in die Literaturhistorie hat es in der Forschungsgeschichte wahrlich nicht gemangelt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hob die dominierende Forschungsrichtung der Geistesgeschichte den Kontrast zum Rationalismus der Aufklärung hervor und sah den Sturm und Drang als unmittelbaren Vorläufer der deutschen Romantik oder aber als eine zu überwindende Vorstufe der Klassik, wobei der Vernunftidealismus der deutschen Klassik als Synthese aus aufgeklärtem Rationalismus und irrationalem Sturm und Drang zu denken sei. Seit den 1960er Jahren setzt sich jedoch immer mehr die Auffassung durch, dass die stümer- und drängerische Bewegung, ähnlich wie die Empfindsamkeit, zur Großepoche der Aufklärung zu rechnen sei. Trotz Kritik an vehementem Verstandesdenken, Gesellschaft und Zivilisation sowie überschwänglicher Gefühlsemphase werden immer wieder Diskurse der Aufklärung im Sturm und Drang aufgegriffen und literarisch verarbeitet. Ist der Einzelne in der aufgeklärten Weltauffassung noch an die Gesellschaft gebunden gewesen, so war der gesteigerte Individualismus des Sturm und Drang damit nicht mehr vereinbar. Sauder prägte in Anlehnung an die Forschungsergebnisse von Krauss, welcher den Sturm und Drang als „die Vollendung der Aufklärung, in keinem Fall aber [als] eine 7
Strobel, Jochen: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Sturm und Drang. Das große Lesebuch. Frankfurt a.M. 2011 S. 11. 8 Vgl. Luserke, Matthias: Sturm und Drang. Autoren – Texte – Themen (Reclams Universal-Bibliothek 17602). Stuttgart 1997. S. 10 9 Huyssen, Andreas: Drama des Sturm und Drang. Kommentar zu einer Epoche. München 1980. S. 13.
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gegenaufklärerische Bewegung“10 sieht, die Formel von der „Dynamisierung und Binnenkritik“11 der Aufklärung, welche auch im Folgenden als leitendes Motiv bestätigt werden soll. Das Verhältnis ist weder als bloße Kontinuität noch als rein dualistischer Gegensatz zu betrachten. Der Sturm und Drang bricht mit wesentlichen Aspekten der Aufklärung, stellt diese radikal in Frage, hält jedoch immer noch an Grundpositionen fest. Auch die Autoren des Sturm und Drang kommen aus dem Bürgertum und treten weiterhin für dessen Emanzipation ein. Was sie jedoch erkennen und was Horkheimer und Adorno später die Dialektik der Aufklärung nennen werden, ist der Moment, in dem Aufklärung in Repression umschlägt. Deshalb versuchen die jungen Geniedichter das kritische Potential der als zivilisationshistorische Vorlage dienenden Aufklärung gegen diese selbst zu wenden, gewissermaßen „Aufklärung der Aufklärung“12 zu betreiben. Bereits Herder erkennt 1769: „Alle Aufklärung ist nie ein Zweck, sondern immer ein Mittel; wird sie jenes, so ists Zeichen daß sie aufgehört hat, dieses zu seyn…“13 Der Sturm und Drang und vor allem auch die hier repräsentativ analysierten Dramen treiben gesellschaftliche und bürgerlich-moralische Widersprüche hervor und bringen diese gnadenlos zur Darstellung. Dabei gilt für sie: „Politische Fragen sind […] moralische Fragen.“14 Wegbereiter der Bewegung wie Johann Georg Hamann gelangten zur Einsicht, der Mensch sei ein Gefühlswesen: „Wenn unsere Vernunft Fleisch und Blut hat, haben muß […]; wie wollen sie es den Leidenschaften verbieten? Wie wollen Sie den erstgebornen Affect der menschlichen Seele dem Joch der Beschneidung unterwerfen?“15 Ein wesentliches Anliegen war also der Aufstand gegen die Unterordnung der Leidenschaften unter die Vernunft. Damit einher ging auch eine Rebellion gegen alle Regelpoetik, die von einer Genie- und Ausdruckspoetik abgelöst wurde.16 Hatte Lessing bereits mit seinen 10
Vgl. Krauss, Werner: Zur Periodisierung Aufklärung, Sturm und Drang, Weimarer Klassik. In: Manfred Wacker (Hrsg.): Sturm und Drang (Wege der Forschung 559). Darmstadt 1985. S. 81. 11 Sauder, Gerhard: Einführung. In: Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe 1.1: Der junge Goethe 1757–1775 1. Hg. v. Gerhard Sauder. München/Wien 1985. S. 756. 12 Luserke, Matthias: Lenz-Studien. Literaturgeschichte – Werke – Themen. St. Ingbert 2001. S. 22. 13 Herder, Johann Gottfried: Journal meiner Reise im Jahr 1769. In: Ders.: Werke in zehn Bänden 9.2: Journal meiner Reise im Jahr 1769. Pädagogische Schriften. Hg. v. Rainer Wisbert/Klaus Pradel. Frankfurt a.M. 1997. S. 77f. 14 Sauder, Gerhard: Die deutsche Literatur des Sturm und Drang. In: Europäische Aufklärung. II. Teil (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 12). Hg. v. Hein-Joachim Müllenbrock. Wiesbaden 1984. S. 363. 15 Hamann, Johann Georg: Chimärische Einfälle über den zehnten Theil der Briefe die Neueste Litteratur betreffend. In: Ders.: Sämtliche Werke 2: Schriften über Philosophie, Philologie, Kritik 1758 – 1763. Nachdr. d. historisch-kritischen Ausg. von Josef Nadler, Thomas-Morus-Presse im Herder-Verl. Wien 19491957. Wuppertal 1999. S. 164. 16 Vgl. Hiebel, Hans H.: Das „offene“ Kunstwerk als Signum der Moderne. In: Karin A. Wust (Hrsg.): J. M. R. Lenz als Alternative? Positionsanalysen zum 200. Todestag. Köln [u.a.] 1992. S. 182.
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Vorgängern gebrochen, indem er die strikte Einhaltung der drei Einheiten zugunsten einer einfachen Einheit der Handlung, welche die Nachvollziehbarkeit der Darstellung garantiert, fallen ließ, so empfinden die Stürmer und Dränger gar eine durch Kausalität und Finalität bestimmte Handlungsstruktur im Drama und die Handlungseinheit als Ausdruck einer übergeordneten vernünftigen Ordnung als Begrenzung. Das Genie steht bei ihnen im Zentrum
des
künstlerischen
Schaffens
und
bedarf
selbst
keiner
einengenden
poetologischen Vorschriften mehr, die sich letztlich doch nur auf geschmackliche und moralische Werturteile gründen. Die jungen Dichter reagieren mit einer „regelrechten Enttabuisierungswut“17. Dennoch schätzte man das bürgerliche Trauerspiel Emilia Galotti, dem Goethe in den Leiden des jungen Werther ein Denkmal setzte und welches einer Reihe von Sturm-undDrang-Dramen in Figurengestaltung, Thematik und Konflikt als Vorbild diente. Überhaupt war das Drama die bedeutendste literarische Gattung im Sturm und Drang, wegen seinem Ausdrucksvermögen, seinem appellativen Charakter und der Möglichkeit, sich durch die Etablierung verschiedener Rollen, die gegeneinander ausgespielt werden, Themen kritisch von mehreren Seiten zu beleuchten. Was dabei neu in den Fokus gerät, ist die soziale Gebundenheit des Menschen, die eigenständiges Agieren verhindert. So klagt Lenz: „Wie denn, ich nur ein Ball er Umstände? ich –? ich gehe mein Leben durch und finde diese traurige Wahrheit hundertmal bestätigt.“18 Deshalb sind auch die großen Kerls im Drama des Sturm und Drang, die sich subjektiv im Recht wähnen und gegen objektives Unrecht kämpfen, allesamt zum Scheitern verurteilt. Sie werden von der Gesellschaft nicht nur eingeengt, sondern auch in die Katastrophe getrieben. Der Sturm und Drang hat also andere Ziele als die aufgeklärte Dramatik. „Auf Mitleid pochten [die hier ausgewählten] Stücke nicht – sie forderten Erkenntnis der Lage, Einsicht.“19
17
Luserke, Matthias/Marx, Reiner: Die Anti-Läuffer. Thesen zur SuD-Forschung oder Gedanken neben dem Totenkopf auf der Toilette des Denkers. In: Lenz-Jahrbuch. Sturm und Drang Studien 2 (1992). S. 133. 18 Lenz, Jakob Michael Reinhold: Über die Natur unseres Geistes. In: Ders: Werke und Briefe in drei Bänden 2. Hg. v. Sigrid Damm. München/Wien 1987. S. 619. 19 Sauder: Die deutsche Literatur des Sturm und Drang. S. 365.
8
3 Bürgerliche Sexualmoral im Jahrhundert der Aufklärung
Zahlreiche Studien wiesen bereits daraufhin, dass mit der Verbürgerlichung der Gesellschaft ein „völlig neuer Menschentyp“20 mit neuen zwischenmenschlichen Beziehungen, sozio-ökonomischen Verhältnissen und schließlich eine neue Haltung gegenüber Sexualität entstanden. Dennoch bleibt es umstritten, wie alt das antisexuelle Syndrom21 genau ist, wie es sich entwickelte und zu welchem Zweck jene strengen Sittlichkeitsnormen geschaffen wurden. Hier soll die Epoche der Aufklärung im 18. Jahrhundert und ihr Verhältnis zur Sexualität näher untersucht werden, wobei jedoch stets zu beachten ist, dass sich das Konstrukt Sexualität mit seinen zahlreichen Komponenten, Funktionen und Erscheinungsformen erst im 19. Jahrhundert herausbildete und so in den vorliegenden Quellen niemals von Sexualität explizit gesprochen wird. In den seit dem Mittelalter entstehenden Städten erwuchs ein Bürgertum, das durch immer weitere Differenzierung von Handwerk und Handel einen wachsenden Konkurrenzdruck sowie die Herausbildung des modernen Berufsbildes erfuhr. Man begab sich in der bürgerlichen Gemeinschaft in immer mehr Abhängigkeitsverhältnisse, doch blieben diese ausgedehnten zwischenmenschlichen Kontakte nur oberflächlicher Natur, da es stets nur Teilaspekte der Menschen waren, die miteinander in Verbindung traten. Dieser Desoziabilisierungsprozess wurde im 17. und 18. Jahrhundert immer stärker. Der Bürger schaffte nicht nur zu den Körpern des anderen, sondern auch zu seinem eigenen eine größere Distanz. So ist beispielsweise die Masturbation, welche in jener Zeit in zahlreichen Traktaten und mahnenden Schriften diskursiv verarbeitet wurde, eine typische Form desoziabilisierter Sexualität. Der Körper wurde nicht mehr als Lust-, nur noch als Leistungsorgan begriffen, wobei jede der Gemeinschaft unnütze Verschwendung von Leistungskraft abgewertet wurde. Die Leistungsmoral verbot das lustvolle Erleben von Sexus und Eros. Der Lustaspekt von Sex wurde noch bis ins 20. Jahrhundert hinein bei der sexuellen Aufklärung verschwiegen. Gleichzeitig setzte im Zuge des Aufschwungs aufklärerischer Ideen das Projekt ein, die autonome Vernunft als das eigentliche menschliche Wesen zu etablieren. Dieser beträchtliche Fortschritt im Prozess der Zivilisation brachte den Wandel vom Fremdzwang zum 20
Ussel, Jos van: Sexualunterdrückung. Geschichte der Sexualfeindschaft. Hamburg 1970. S. 7. Man spricht von einem antisexuellen Syndrom, wenn nur Komponenten der Sexualität akzeptiert sind, die im Rahmen der Ehe und dem Zweck der Fortpflanzung dienen. Vgl. ebd. S. 8. 21
9
Selbstzwang22 mit sich, eine ansteigende Selbstdomestikation und eine verstärkte Kontrolle leiblicher und seelischer Regungen durch eine interne Überwachungsfunktion des Selbst, die Freud später das „Über-Ich“23 nannte. Dadurch, dass der Mensch seine Beziehungen zur Natur und seinen Mitmenschen eigenständig steuert, indem er seine Triebe reguliert, sollte rationales Denken gewährleistet sein, und damit die Voraussetzung für die Vernunftherrschaft des Menschen über die Welt. Das Sexuelle, welches freilich als eine der animalischsten und deshalb irrationalsten Triebregungen wahrgenommen wurde, verwehrt demnach aufgeklärtes, rationales Denken und musste eingedämmt werden, vor allem durch eben jene Mechanismen des Selbstzwangs. Norbert Elias weist neben der Selbstdisziplinierung mitsamt Affekt- und Triebregulierung sowie -modellierung auch das Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschranken, das Absenken der Frustrationstoleranz, schließlich auch die Intimisierung von Körperfunktionen und Sexualität24 als Aspekte des Zivilisationsprozesses im Jahrhundert der Aufklärung aus.25 Der Emanzipationsprozess des Bürgertums im Jahrhundert der Aufklärung ging dazu mit einer Abgrenzung vom Feindbild Adel einher. Man exponierte ökonomische Tüchtigkeit und moralische Tugendhaftigkeit als Werte und war darauf bedacht, sich auf diese Weise als moralisch überlegen zu präsentieren, auch durch die Opferung der Sexualität, weshalb die Sexualitätsproblematik immer auch im Kontext der Auseinandersetzungen zwischen Adel und Bürgertum zu sehen ist. Gerade in dieser Zeit wurde die diskursive Sexualkonstruktion „zu einer treibenden Kraft in der Selbst- und Fremdinterpretation des bürgerlichen Individuums“26. Adlige lebten in der Regel ein zügelloses, ausschweifendes (voreheliches) Sexualleben. Vom umfangreichen und kostspieligen Mätressenwesen des württembergischem Herzog Karl Eugen, welcher zudem einen besonderen Platz in Schillers Biographie einnimmt, wusste schon der venezianische Abenteurer und Schriftsteller Giovanni Giacomo Casanova zu berichten: „Alle Tänzerinnen [am Hofe] waren hübsch, und rühm22
Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes.; 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt a.M. 1976. 23 Freud, Sigmund: Das Ich und das Es. In: Ders.: Freud-Studienausgabe 3: Psychologie des Unbewußten. Hg. v. Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey. Frankfurt a.M. 1975. S. 296. 24 Vgl. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation 1. S. 261f. 25 Zum kritischen Umgang mit Norbert Elias Zivilisationsentwurf mahnt Köstlin, Konrad: Die „Historische Methode“ der Volkskunde und der „Prozeß der Zivilisation“ des Norbert Elias. In: Dieter Harmening/Erich Wimmer (Hrsg.): Volkskultur - Geschichte - Region. Festschrift für Wolfgang Brückner zum 60. Geburtstag. Würzburg 1990. S. 58-76. 26 Eder, Franz X.: Sexuelle Kulturen in Deutschland und Österreich. 18.–20. Jahrhundert. In: Ders./Sabine Frühstück (Hrsg.): Neue Geschichten der Sexualität. Beispiele aus Ostasien und Zentraleuropa 1700-2000 (Querschnitte. Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte 3). Wien 2000. S. 45.
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ten sich, den gnädigen Herrn zum mindesten einmal glücklich gemacht zu haben.“ 27 Der bürgerliche Körper wurde nun in Abgrenzung zum Adligen neu entworfen. So ist auch die allmähliche, schrittweise Ausbildung der bürgerlichen Kleinfamilie mit ihren vielen Intimisierungsprozessen durchaus auch als Reaktion auf höfische Existenzweisen, die bürgerliche Arbeitsamkeit geringschätzten, und einen von Promiskuität und Mätressenwirtschaft geprägten aristokratischen Lebenswandel. Auch in der Familie wuchs die Distanz zwischen ihren Mitgliedern, vor allem zwischen der Eltern- und Kindgeneration. Die Familie wird zur wichtigsten Instanz der Vermittlung von Werten und Normen, Moral und Tugend. „Die Unterordnung unter den kategorischen Imperativ der Pflicht ist von Anfang an ein bewußtes Ziel der bürgerlichen Kleinfamilie gewesen.“28 In der Familie wurde der Erziehung der Kinder, deren Anpassung an das geltende Normen- und Wertesystem, eine besondere Bedeutung eingeräumt. Dabei war es laut Carl Friedrich Bahrdts Handbuch der Moral für den Bürgerstand vorgesehen, dass der Vater die Funktion eines „Befehlshabers über die Kinder“29 übernimmt. Die kategorische Fremdbestimmung des Kindes durch die Eltern und vor allem den Vater wird dabei durch die höhere elterliche Vernunft legitimiert.30 Das
Glückseligkeitspostulat
der
Aufklärung,
welches
das
Erlangen
der
gesamtgesellschaftlichen Glückseligkeit31 zum wichtigsten Ziele des Menschen macht, wobei dieser wiederum durch sein eigenes Verhalten zur deren Erfüllung beisteuern kann, forderte für sich selbst die strikte Unterordnung des Einzelnen unter die Mehrheit. Der „Weg zur Glückseligkeit“ ist bei Gellert vor allem „die Tugend“32. Und wie die erotische Freiheit oft in Widerspruch zu kollektiven Zielen der Gesellschaft zu treten scheint und deshalb reguliert werden muss, so sieht auch der Gewinner einer Preisfrage aus dem Jahre 1980, in der es um Kindsmord in Verbindung mit Unzucht ging, der Jurist Johann Gottlieb
27
Casanova, Giovanni Giacomo: Geschichte meines Lebens. 12 Bände 6. Frankfurt a.M. [u.a.] 1964. S. 76. Horkheimer, Max: Autorität und Familie. Paris 1936. S. 389. 29 Bahrdt, Carl Friedrich: Handbuch der Moral für den Bürgerstand. Tübingen 1789. S. 310. 30 Vgl. Wolff, Christian: Vernünfftige Gedancken Von den Würckungen Der Natur. Halle 1739. S. 90. 31 Zu verschiedenen zeitgenössischen Definitionen von Glückseligkeit vgl. Lehmann, Johannes F.: Glückseligkeit. Energie und Literatur bei J. M. R. Lenz. In: Inge Stephan/Hans-Gerd Winter (Hrsg.): „Die Wunde Lenz“. J. M. R. Lenz. Leben, Werk und Rezeption (Publikation zur Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 7). Bern 2003. S.285f. 32 Gellert, Christian Fürchtegott: Moralische Vorlesungen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Kritische, komm. Ausg. 6: Moralische Vorlesungen. Moralische Charaktere. Hg. v. Sybille Späth. Berlin/New York 1992. S. 58. 28
11
Benjamin Pfeil, durch den unehelichen Sex die „allgemeine bürgerliche Glückseligkeit“33 bedroht. „Feindselige Affekte“34 auf der anderen Seite verhinderten Vernunft und Glückseligkeit.
Zwischen
Tugend
und
Glückseligkeit
bestünde
schließlich
ein
Belohnungszusammenhang, der die Aufklärer zu jener rigorosen Moralität antrieb. Ebenso wie Arbeitsamkeit ließe sich auch Tugendhaftigkeit nur durch vernünftiges Denken und Handeln erreichen. Die Gefühlswelt ist also gänzlich der Verstandeswelt untergeordnet. Bei Kant soll die Sinnlichkeit „nur die Dienerin des Verstandes“35 sein. Und Verstand wiederum bedingt gemäß dem cartesianischen Dualismus, demzufolge Körper und Geist als zwei verschiedene und unabhängig voneinander existierende Substanzen kausal miteinander wechselwirken,36 einen intakten Körper, der sich nicht sexuell verausgaben darf. Leidenschaften, vor allem sexuelle Begierden, verhindern Ratio, vernünftiges Handeln und schließlich Leistungsvermögen. So schreibt Christian Fürchtegott Gellert: „Diese Herrschaft [über die Begierden] besteht in dem Vermögen der Seele, unsre natürlichen Begierden ihren Absichten und Gegenständen gemäß, vorsichtig und Weise zu regieren und anzuwenden.“37 Auch laut dem Theologen Johann Christian Bährens ist die „Vernunft […] die einzige glückliche Leidenschaft, die wir ohne Einschränkung und allezeit mit völliger Sicherheit genießen können; […] Der edle Saft [hingegen] ist vom Schöpfer bestimmt, unserm Körper Stärke und Kraft zu geben, und den Überfluß sollen wir allein in den Umarmungen einer treuen Gattin verlieren.“38 Die Auslebung der sexuellen Triebe sollte eben nur dort stattfinden, wo sie gesellschaftlich reguliert werden konnten, in der Institution der Ehe. Auch für Kant ist ausschließlich die Ehe der Platz für den „wechselseitige[n] Gebrauch, den ein Mensch von eines anderen Geschlechtsorganen und Vermögen macht“39. Außereheliche Sexualität wurde wiederum strikt bekämpft. Gellert warnt die männliche Jugend in seinen Lehren eines Vaters für seinen Sohn, den er auf die Akademie schickt vor übertriebener „Leidenschaft“ und „Wollust“: 33
Pfeil, Johann Gottlieb Benjamin/Klippstein, Johann Engel/Kreuzfeld, Johann Gottlieb: Drei Preisschriften über die Frage: Welches sind die besten ausführbarsten Mittel dem Kindermorde abzuhelfen, ohne die Unzucht zu begünstigen? Mannheim 1784. S. 46. 34 Basedow, Johann Bernhard: Elementarwerk. Mit den Kupfertafeln Chodowieckis u.a. Kritische Bearbeitung in drei Bänden 1. Hg. v. Theodor Fritzsch. Leipzig 1909. S. 492. 35 Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Königsberg 1798. S. 143. 36 Vgl. Descartes, René: Die Leidenschaften der Seele. Französisch–deutsch (Philosophische Bibliothek 345). Hg. u. übers. v. Klaus Hammacher. Hamburg 1984. S. 5. 37 Gellert: Moralische Vorlesungen. S. 197. 38 Bährens, Joh[ann] Chr[istian] Fr[iedrich]: Versuch über die Vertilgung der Unkeuschheit. Halle 1785. S. 13. 39 Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten 1: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Königsberg 1798. S. 106.
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Setze also, mein Sohn, auch bei dem erlaubtesten Umgange mit dem andern Geschlechte, der für sich den angenehmen Sitten zuträglich ist, setze, sage ich, itzt und künftig noch ein edles und geheimes Misstrauen in Dein Herz; und zweifle nicht, daß wenn Dich die Neigung zu einer Person von der Pflicht Deines Fleißes, von der Liebe der Wissenschaften, von der Seite Deines Freundes und von dem Gebete abzieht, daß sie, sage ich, bald für Dich verderblich seyn werde, wofern sie es nicht schon ist.40
Hatte Gellert in seinen Rührkomödien noch das Ideal der Zärtlichkeit gepriesen, so kehrt er hier seine bürgerlichen Bedenken gänzlich nach außen, indem er Sinnlichkeit und Fleiß als einander ausschließend darstellt. Derber und weniger einfühlsam begegnet der Pädagoge Johann Heinrich Campe demselben Thema in Form einer Regel: Hüte dich, jemals mündlich oder schriftlich den Ton einer empfindsamen Zärtlichkeit mit ihnen [den Frauenzimmern] anzustimmen; fest überzeugt, daß die geistige Seelenliebe zwischen jungen Personen von verschiedenem Geschlechte über kurz oder lang sich in die gröbste und schändlichste Sinnlichkeit aufzulösen pflegt. […] Wirst du aber dennoch einen besondern Hang zu einer Person weiblichen Geschlechts bei dir gewahr: so vermeide doch ja jede Gelegenheit, mit ihr allein zu sein, vornehmlich aber jede Gelegenheit zu irgend einer Berührung ihres Körpers, weil das Feuer der Wollust in diesem Stück dem elektrischen Feuer gleicht, welches hervorprasselt, so bald der elektrisierte Körper angerührt wird. […] Glaube mir, diese Leidenschaft wil, wie jede andere, in der Geburt erstikt sein, wenn sie nicht in kurzer Zeit uns über den Kopf wachsen und mit unserm Verstande davon laufen soll. Principiis obsta!41
Auch Campe wertet Gefühle und „Sinnlichkeit“ gegenüber vernünftigem Handeln, „dem festen Vorsaze, der Tugend immer treu zu bleiben“ und der „Ehrbarkeit“ der Person ab. Enthaltsam und tugendhaft zu sein, seine sexuellen Begierden zu zügeln ist also eine Frage der Ehre; diese wiederum erhält man durch gesellschaftliche Akzeptanz. Die Gesellschaft greift hier sehr stark in das Sexualleben des Einzelnen ein und erzielt durch ihre Normen großen Einfluss auf ihre Mitglieder. Auch laut dem philantrophischen Pädagogen Johann Bernhard Basedow ist es „sehr gemeinnützig, daß Hurerei und Ehebruch unerlaubt sein“42. In seiner Schulenzyklopädie, dem Elementarwerk, erzählt der Volkserzieher eine Geschichte vom Zeitvertreib junger Leute. Dabei wird sexuelles Begehren als „giftige Krankheit“ betitelt, mit „Bier, Wein, Karten, Tabakspfeifen“ assoziiert und dabei dem „Fleiße“, dem „Studieren“43 und der Vernunft gegenübergestellt. Wer seinen körperlichen Bedürfnissen gehorche, werde faul und erreiche nichts im Leben.
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Gellert, Christian Fürchtegott: Lehren eines Vaters für seinen Sohn, den er auf die Akademie schickt. In: Ders.: Sämtliche Schriften. 10 Teile in 5 Bänden 2/3. Hildesheim 1968. Repr. Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1769. S. 245f. 41 Campe, Johann Heinrich: Theophron, oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Tübingen 1789. S. 213ff. 42 Basedow: Elementarwerk. S. 203. 43 Basedow: Elementarwerk.. S. 193f.
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Wie Gellert, Campe und Basedow gezeigt haben, ist der Blick des aufgeklärten Bürgers, der seine Triebe im Zaum hält, der des Mannes, des Patriarchats. Doch auch und besonders für die weiblichen Mitglieder der Gesellschaft gibt es strikte Vorschriften. In seinen Väterlichen Ratschlägen für bürgerliche Töchter widmet sich Campe dem idealen weiblichen „Gemüths=Charakter“44. Die jungen Frauen sollen sich diesen mühsam erarbeiten und durch die Nachahmung des mütterlichen Vorbildes, also innerhalb der bürgerlichen Kleinfamilie, lernen. Insgesamt zählt er elf Haupttugenden auf, wobei Keuschheit und Schamhaftigkeit als die ersten und wichtigsten genannt werden, weil „nicht bloß des Weibes ganze Ehre, sondern auch ihre ganze Glückseligkeit davon abhängt“45. Ganz der zeitgenössischen Sexualmoral entsprechend erklärt Campe die beiden wichtigsten Regeln, denen der menschliche Fortpflanzungstrieb unterworfen sein müsse: Er solle solange unterdrückt werden, „bis der Mensch an Leib und Seele zu seiner völligen Reife gekommen ist“46 und des Weiteren niemals außerhalb der Ehe erweckt und befriedigt werden. Für Mädchen gilt: Dein jungfräulicher Leib müsse für dich selbst wie für Andere, ein Heiligthum seyn, bedeckt und beschützt vor entweihenden Blicken und vor entehrenden Berührungen […]. Vermeide jede Vertraulichkeit und besonders das höchst gefährliche Alleinseyn mit jungen Personen des andern Geschlechts, wäre es auch nur, um deine jungfräuliche Ehre, die dir von nun an über alles gelten muß, auch vor dem Schatten eines Verdachts zu sichern.47
Die „Reinigkeit des Herzens und der Gesinnungen“48, welche sich die jungen Frauen bewahren sollen, implizieren einen Zustand des Noch-nicht-vollführten oder Noch-nichtwissens. Mädchen galten noch wesentlich schutzbedürftiger als Jungen. Denn zum einen seien weibliche Individuen als weniger vernunftbegabt und nicht zum gleichen rationalen Denken fähig gewesen wie der Mann, zum anderen galten ihre Triebe als animalischer. Ihr Leben sei durch den Rhythmus der Geschlechtsfunktionen geregelt, sie haben keinen freien Willen, können sich noch schlechter beherrschen und ihrer Leidenschaften Herrin werden. Mädchen und Frauen litten vor allem unter den gesellschaftlichen und familialen Kontrollund Überwachungsmechanismen. Denn es war nicht nur ihre persönliche Angelegenheit, einen guten, tugendhaften Ruf aufzubauen bzw. zu erhalten, es ging dabei immer auch um den Ruf der ganzen Familie, welche sich nicht ins gesellschaftliche Abseits bewegen mochte. Soziale und auch ökonomische Interessen – so war ein guter Ruf schließlich förderlich für das Geschäft und eine genommene Jungfräulichkeit ein erheblich negativer 44
Campe, Johann Heinrich: Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Der erwachsenen weiblichen Jugend gewidmet. Leipzig 1809. S. 151. 45 Ebd. S. 159. 46 Ebd. S. 169. 47 Ebd. S. 178. 48 Ebd. S. 134.
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Faktor auf dem Heiratsmarkt, auf dem der Vater einerseits Brautgeld erhalten und andererseits die Zukunft seiner Tochter absichern wollte – spielten im Umgang mit Sexualität der Töchtergeneration eine große Rolle. Wie Campe im Theophron genauer ausführt, genügt schon nur der Schatten eines Verdachts, um die Sittsamkeit einer „Weibsperson“ öffentlich zu bezweifeln oder sie als potentielle zukünftige Gattin abzulehnen: „Diejenige also, welche Verdacht erweckte, hat in den meisten Fällen ihn auch verdient, […] und sie gehört daher auch nicht zu denen, welchen du eine vorzügliche Achtung und Aufmerksamkeit erweisen musst.“49 Sexualmoral wurde also wiederum geschlechtsspezifisch gedacht. Theologische Dogmen von Geschlechterhierarchien wurden durch die aufgeklärte Naturrechtslehre abgelöst, welche jedoch dieselben Funktionen im Hinblick auf die Stellung der Frau übernimmt. „Sobald sich das Denken der Aufklärung dem Unterschied und dem Verhältnis der Geschlechter zuwendet, wird es zutiefst deterministisch und funktionalistisch“,50 indem die Frau auf Unvernunft, Schwäche und deshalb auf das Häusliche reduziert wird. Der moralische Diskurs hatte sogar enormen Einfluss auf andere Diskurse, vor allem auch auf den medizinischen. Sexualität in Form von gesteigerter erotischer Lust galt als Beweis für einen krankhaften körperlichen oder seelischen Zustand. Die theologischen Kategorien von gut und böse, welche nach aufgeklärtem Denken nicht mehr haltbar waren, verwandelten sich unter dem Druck der Moral in die medizinischen Kategorien von gesund und krank. Die Medizin gewann so eine kompensatorische Funktion in der Begründung und Aufwertung moralischer Normen.51 Vor allem der Onaniediskurs war von medizinischpathologischen Diagnosen geprägt, wobei „Selbstschwächung“ im Sinne von verschenkter Arbeitskraft die gängige zeitgenössische Bezeichnung für Masturbation gewesen ist. Als Folgen von zu früh ausgelebter und zügelloser Sexualität galten „Nervenkrankheiten, hypochondrische und hysterische, hämorrhoidalische und arthritische Beschwerden, Brustwassersucht und mehrere Arten chronischer Krankheiten“52. Karl Gottfried Bauer weist in seinem Werk Über die Mittel dem Geschlechtstriebe eine unschädliche Richtung zu geben
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Campe: Theophron. S. 39. Godineau, Dominique: Die Frau der Aufklärung. In: Michel Vovelle (Hrsg.): Der Mensch der Aufklärung. Frankfurt a.M./New York 1996. S. 327. 51 Vgl. Wernz, Corinna: Sexualität als Krankheit. Der medizinische Diskurs zur Sexualität um 1800 (Beiträge zur Sexualforschung 67). Stuttgart 1993. S. 286. 52 Bauer, Karl Gottfried: Über die Mittel dem Geschlechtstriebe eine unschädliche Richtung zu geben. Eine durch die Erziehungsanstalt zu Schnepfenthal gekrönte Preisschrift. Mit einer Vorrede und Anmerkungen von C. G. Salzmann. Leipzig 1791. S. 262. 50
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auf die Gefahren vom „vorzeitige[n] Erwachen der Geschlechtsreife“53, also jugendlicher Sexualität und deren Ausleben in einer Partnerschaft oder alleine hin: Die ganze Bestimmung des frühern jugendlichen Alters, der ganze Character von Jugendlichkeit, […] geht ferner durch vorzeitige Regungen und Befriedigung der Wollust zu Grunde. […] Das heitere, offene und unbefangene Wesen, die gänzliche Freyheit von niedergedrückten Sorgen und Beschwerden, […] das holde Gefühl der Unschuld, des edlen Zutrauns zu sich selbst […] – sie alle werden schon durch frühes Erwachen des Geschlechtstriebes geschwächt, ja gewissermaßen erstickt und, wie man leicht erahnen kann, durch wirkliche Befriedigung desselben in einem solchen Alter – geschehe sie durch Beyschlaf oder Selbstbefleckung – so gut als völlig vernichtet.54
Hier wird auch die allgemeine Tendenz von Pädagogen, Medizinern, Psychologen und Geistlichen erkennbar, die Kindheit als möglichst asexuelle Periode in der menschlichen Entwicklung zu halten.55 Die Unterdrückung von ausschweifendem Sexus oder auch nur Beschäftigung mit eigener Sexualität, welche über die reine Reproduktionsfunktion hinausgeht, wurde also psychologisch durch drohende Bestrafungen und das Beschwören verheerender Folgen für Körper und Geist vollzogen. Im Zuge dieser strikten Moralisierung wurden die adlige und die untere Gesellschaftsschicht abgewertet, wobei alle nicht-bürgerlichen Wertesysteme als unsittlich heruntergestuft wurden. Eingedämmte Sexualität sollte die Fähigkeit zum rationalistischen Denken der Menschen begünstigen, also zu deren Vervollkommung beitragen, dabei bürgerlich-ökonomische Machtansprüche stabilisieren, die Reproduktion der Machtträger sichern und ihren Teil zur Identitätsfindung in Abgrenzung zum Adel leisten. Die Lust sollte der allgemeinen Wohlfahrt dienen, weshalb sie der Reglementierung, Überwachung und Verbote bedurfte. Man könnte überspitzt meinen, „die Flucht vor der Sexualität scheint der Aufklärung eingeschrieben“.56
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Bauer: Über die Mittel dem Geschlechtstriebe eine unschädliche Richtung zu geben. S. 249. Ebd. S. 268ff. 55 Vgl. Eder, Franz X.: Prüderie oder holdes Gefühl. Zur Geschichte der Sexualität im 18. und 19. Jahrhundert. In: Beiträge zur historischen Sozialkunde 18/1 (1988). S.22. 56 Marx, Reiner: „Verführung ist die wahre Gewalt“. Zum aufgeklärten Diskurs über Sexualität. In: Ders./Stebner (Hrsg.): Ich und der Andere. S. 382. 54
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4 Aufbegehren gegen die sexuelle Repression
Die leidenschaftliche Beschäftigung der Bewegung des Sturm und Drangs mit dem Thema Sexualität ist unverkennbar. War die aufgeklärte Literatur war ein Ort der Disziplinierung von Leidenschaften gewesen, so nehmen die Geniedichter hingegen in zahlreichen Werken den zeitgenössischen Sexualitätsdiskurs sowie verwandte Themen auf und gehen dabei enttabuisierend gegen die Repression durch bürgerliche Moral vor, die sich explizit in der Sexualität manifestiert. Sie schildern das Scheitern von Versuchen frei ausgelebter Sexualität. Die anzustrebenden sexuellen Verhaltensweisen werden ex negativo propagiert, indem die bestehenden, dem Ideal der individuellen Selbstbestimmung nicht entsprechenden, repressiven Wertesysteme des Bürgertums die Versuche des sexuellen Aufbegehrens in der Vernichtung dessen Trägern enden lassen. Nur das Scheitern und Dysfunktionen von Sexuellem werden zur Darstellung gebracht. Folgen der sozialen und sexuellen Repression, die die Aufklärung produziert, sind Individuen, die zerstört werden oder sich selbst zerstören. Kindstötung oder Selbstkastration dienen dabei als symbolisches Ungeschehenmachen von Lust und Begehren, erzwungen durch den Schuldzusammenhang von Sexus und Sünde in der Moral des Bürgertums. Unerwünschte Kinder, deren Ermordung durch die Kindsmutter, scheiternde Familienkonstellationen, Selbstkastrationen als katastrophale Lösungsversuche oder aber scheinbar harmonische, karikierende Schlussszenarienn unterlaufen patriarchal bürgerliche Lösungsangebote, die im Schoße der sittsamen Ehe, der empfindsamen Kleinfamilie und der Beschränkung der Sexualität auf die reine Reproduktion münden. Dabei geht es in der Hauptsache um Sexualität mit Kindesfolge und/oder Standesbeschränkungen, also konfliktträchtige Sexualität. Der Onaniekomplex, welcher freilich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den dominanten Sexualitätsdiskurs schlechthin darstellte, bleibt hingegen komplett ausgespart.57 Der Zusammenhang von Schuld und Sexualität wird durch die strikten Klassendistinktionen verschärft, wobei auch der Adel und seine sexuelle Welt in ihrer Skrupellosigkeit und Dekadenz gespiegelt werden. So wie die Genies die Emanzipation der emotionalen Leidenschaften forderten, bekämpften sie ebenfalls die Unterdrückung sexueller Triebregungen. Der Mensch solle sich in sei57
Zumindest wird die Masturbation nicht offensichtlich thematisiert. Käser liest Lenzens Hofmeister hingegen sehr wohl im Kontext des Onaniediskurses. Vgl. Käser, Rudolf: "Die jungen Herren weiß und roth." J. M. R. Lenz' Drama „Der Hofmeister“ im Kontext medizinischer, juristischer und moraltheologischer Diskurse des 18. Jahrhunderts. In: Ders./Beate Schappach (Hrsg.): Krank geschrieben. Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin. Bielefeld 2014. S. 87-116.
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ner wirklichen Ganzheit ausbilden, also auch seine Sexualität entfalten können. Der zeitgenössische Tugendbegriff wird von Herder als Deckmantel für partielle menschliche Selbstverstümmelung erkannt: Zu viel Keuschheit, die da schwächt; ist eben so wohl Laster, als zu viel Unkeuschheit: jede Versagung sollte nur Negation seyn: sie zur Privation, und diese gar zum Positiven der Hauptugend zu machen – wo kommen wir hin? – […] Du bist tugendhaft gewesen: zeige mir deine Tugend auf. Sie ist Null, sie ist Nichts! Sie ist ein Gewebe von Entsagungen, ein Facit von Zeros.58
Der Sturm und Drang artikuliert so seine Kritik an rationaler Geringschätzung, empfindsamer Verharmlosung und sozial bedingter Unterdrückung von Leidenschaft und Geschlechtlichkeit. Autoren wie Lenz, der junge Goethe, Klinger, Wagner, der junge Schiller oder Heinse, welcher laut Gundolf in „brutale[r], fast hengstmäßige[r] Begehrlichkeit“ gar gänzlich „mit dem Phallos“59 denkt, sieht und fühlt und dessen Schaffen als Autor von Balet und Gerhard als „literarische Onanie“60 diffamiert wird, brechen ein Tabu und sprechen mehr oder weniger offen über Sexualität. Friedrich Maximilian Klinger schreibt in Anspielung auf den Helden seines Romans Orpheus: „Daß das Erections-Vermögen, oder die Standkraft, die Hauptkraft unserer Maschine sey, wer ist’s der hieran zweifle, er seye denn in Bambinos Lage?“61 Auch Wilhelm Heinse erklärt in einem Brief an Wieland, in dem er seine Petronius-Übersetzung gegen den Vorwurf der Immoralität verteidigt, sein Unverständnis gegenüber aufgeklärten Ansichten über erwachendes sexuelles Begehren: … ich werde den Unverständigen niemals begreiflich machen, daß man der unschuldigste Mensch sein, und doch in seinem zwanzigsten Jahre von Verzweiflung und brausender Jugend berauscht zu einer solchen Ausschweifung seinen Genius von elenden Menschen, deren Phantasie ein ewiger Cunnus [weibliches Geschlechtsorgan] ist, verführen lassen könne.62
Am deutlichsten wird jedoch wieder Klinger in seinen Betrachtungen und Gedanken: Das Widernatürliche und Gewaltsame unseres Zustandes in der bürgerlichen Gesellschaft zeigt sich nirgends stärker, als in der Unterjochung des Geschlechtstriebes, die uns religiöse und politische Gesetze auflegen und aus Wahn und noch mehr aus Not zur Tugend machen mußten. […] Und wenn das volle Erwachen eben dieses Triebes Tugenden, Talente und Genie erzeugt, erhöht und beflügelt, so gibt ihnen auch die gewaltsame Unterdrückung desselben sehr oft eine düstre, falsche, gefährliche Richtung. So rächt sich die Natur an der Gesellschaft durch ihre
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Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. S. 15. Gundolf, Friedrich: Shakespeare und der deutsche Geist. München/Düsseldorf 111959. S. 236. 60 Balet, Leo/Gerhard, E. [Eberhard Rebeling]: Die Verbürgerlichung der der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert. Hg. u. eingel. v. Gerd Mattenklott (Ullstein Buch 2995). Frankfurt a.M. [u.a.] 1972. S. 229. 61 Klinger, Friedrich Maximilian: Orpheus. Mit den Varianten der Bearbeitung Bambino’s … Geschichte. In: Ders.: Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe 9: Orpheus. Mit den Varianten der Bearbeitung Bambino’s … Geschichte (Neudrucke deutscher Literaturwerke. Neue Folge 64). Hg. v. Georg Bangen. Tübingen 2015. S. 580. 62 Heinse, Wilhelm: An Wieland, Halberstadt den 2ten Jenner 1774. In: Ders.: Sämtliche Werke 9: Briefe 1: Bis zur italienischen Reise. Hg. v. Carl Schüddekopf. Leipzig 1904. S. 178. 59
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Opfer […]. Hier spielt der unterdrückte Geschlechtstrieb immer die Hauptrolle, verschlingt oder umwölkt den Willen.63
Gleich zu Beginn macht er auf die Dialektik der bürgerlichen Moral, in dem Moment, wenn sie sich in die Repression eigenen Gesellschaftsmitglieder verkehrt, und gelichzeitig auf die systematische Erzeugung von Selbstzwang durch Normen und Tugenden aufmerksam. Und auch in den literarischen Texten des Sturm und Drang spielen der Geschlechtstrieb und die Sexualität eine Hauptrolle, „aber nicht deren anakreontische Verbrämung und Topisierung, sondern deren Scheitern wird gezeigt“.64 Die Kritik der jungen Autoren richtet sich an das Bürgertum und seine Moral. Das Scheitern der emanzipatorischen Hoffnungen und des tatsächlichen „Ausgang[s] des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“65 wird dargestellt. Die literarische Bewegung verwendet das kritische Instrumentarium der Aufklärung im Sinne einer Dynamisierung und Binnenkritik dieser gegen diese selbst, radikalisiert gleichzeitig aufgeklärte und emanzipatorische Positionen weiter. Schon Korff erkannte zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass der Kampf der jungen Schriftsteller gegen veraltete Dogmen „am deutlichsten zutage[tritt] in demjenigen Konflikte, der für die Dichter von Sturm und Drang eine ganz besondere Anziehungskraft besaß: in dem Kampfe um die Befreiung der Liebe von der Alleinherrschaft der bürgerlichen Geschlechtsmoral.“66 Luserke und Marx schlugen deshalb gar vor, die Zeichen SuD, die sonst als Chiffren den Sturm und Drang bezeichnen, „einen zivilisationshistorischen und d.h. sozial- und psychohistorisch begründeten Signifikantenwechsel“ hin zu „Sexualität und Diskursivierung“67 vollziehen zu lassen. Und wenn Clasen konsterniert, die Geniedichter seien „prüde“ gewesen, während sie am Prozess der bürgerlichen und schließlich menschlichen Identitätssuche mitwirkten und dabei Sexualität als einen „nicht-menschlichen, animalischen Trieb“68 aus dem geschlossenen Ganzen des Menschen verdammen, ist es Aufgabe dieser Arbeit, seine Worte schärfstens zurückzuweisen. Sexualität setzt in vielen Dramen des Sturm und Drang die Maschinerie der Handlung in Bewegung, kann dabei
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Klinger, Friedrich Maximilian: Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände. In: Ders.: Sämtliche Werke. Zwölf Teile in vier Bänden. Nachdr. d. Ausg. Stuttgart u. Tübingen 1842 4/12. Hildesheim/New York 1976. S. 252f. 64 Luserke/Marx: Die Anti-Läuffer. S. 138. 65 Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift 4 (1784). S. 481. 66 Korff, H[ermann] A[ugust]: Die Dichtung von Sturm und Drang im Zusammenhang der Geistesgeschichte. Ein gemeinverständlicher Vortragszyklus. Leipzig 1928. S. 64f. 67 Luserke/Marx: Die Anti-Läuffer. S. 133. 68 Clasen, Thomas: „Den Trieb haben doch alle Menschen.“ Sexualobsessionen in den Dramen des J. M. R. Lenz. In: Thomas Schneider (Hrsg.): Das Erotische in der Literatur (Gießener Arbeiten zur Neueren Deutschen Literatur und Literaturwissenschaft 13). Frankfurt a.M. [u.a.] 1993. S. 67.
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ganze Charaktere erfassen und deren Schicksal bestimmen. Die katastrophalen Enden verweisen dann nicht auf unmenschliche, böswillige Triebregungen, sondern vielmehr auf menschenunwürdige gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Unmündigkeit und Unterdrückung sind im Sturm-und-Drang-Drama der Preis für die patriarchal-bürgerliche Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Dabei verbindet sich Begehrensanalytik mit Machtanalytik, weil stets auf Machtstrukturen und Hierarchien hingewiesen wird, die sich explizit im Aushandeln sexueller Diskurse oder konkretem sexuellen Handeln manifestieren. Im Aufbegehren gegen die sexuelle Repression zeigt sich die Dynamisierung und Binnenkritik aufklärerischen Denkens, indem gegen die Mechanismen vorgegangen wird, die die bürgerliche Gesellschaft – um mit Horkheimer und Adorno zu sprechen – daran hindern, „in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten“, sodass sie „in eine neue Art von Barbarei versinkt“69.
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Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. 192010. S. 1.
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Teil II: Die Dramen
5 Jakob Michael Reinhold Lenz
5.1 Sexualität im Werk Lenzens Der Dichter Lenz rebelliert nicht nur in seiner dramatischen Praxis und seinen aphoristisch niedergeschriebenen Ansätzen einer Poetik ganz im Gestus des Sturm und Drang gegen die Validität überkommener Formtraditionen der Aufklärung, „gleichzeitig zeichnet sich in seinem Ouvre eine veränderte Einschätzung bestimmter sozial-, moral-, und sexualethischer Probleme in der spätabsolutistischen Ständegesellschaft ab“70. Lenz beschäftigt sich auch in seinen theoretischen Schriften sehr umfangreich mit dem „Geschlechtertrieb“, „einer von denen die sich am wenigsten von allen menschlichen Trieben, der Vernunft unterordnen, oder dadurch leiten lassen“71, und dennoch „die Mutter all unserer Empfindungen“72 sei. Die sexuelle Begierde im Menschen schätzt Lenz hoch, nennt das körperliche Begehren, die Konkupiszenz, eine „Gabe Gottes“ und „nötig zu unserer Glückseligkeit“73. Jedoch wäre es an dieser Stelle falsch, Lenz als radikalen Emanzipator der Lust und ausschweifenden Auslebens der sexuellen Begierden zu betrachten. Ihm ging es immer um die Frage, wie es gelingen könne, „der Heftigkeit des […] Triebes Zuegel anzulegen und Einhalt zu thun“74. Körperliches Begehren begreift er als Quelle der „Energie, die durch richtigen vernunftgeleiteten Gebrauch zur Erkenntnis Gottes hinaufführt“75. Dafür soll es mäßig befriedigt, aber nicht „durch Vernachlässigung […] eingeschläfert und verringert“76 werden. Weiterhin verdammt er jede „gesetzeswidrige Befriedigung unserer Konku-
Wissmeyer, Monika: Gesellschaftskritik in der Tragikomödie: „Der Hofmeister“ (1774) und „Die Soldaten“ (1776) von J.M.R. Lenz. In: Matthias Luserke (Hrsg.): Jakob Michael Reinhold Lenz im Spiegel der Forschung (Olms-Studien 42). Hildesheim 1995. S. 368. 71 Lenz, Jakob Michael Reinhold: Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen. Faksimiledruck der Ausgabe Frankfurt a.M., Leipzig 1780. M. e. Nachw. hg. v. Christoph Weiß. St. Ingbert 1994. S. 51. 72 Ebd. S. 68. 73 Ebd. S. 5. 74 Ebd. S. 70. 75 Lehmann: Glückseligkeit. Energie und Literatur bei J. M. R. Lenz. S. 292. 76 Lenz, Jakob Michael Reinhold: Lenz an Johann Daniel Salzmann, Oktober 1772. In: Ders.: Werke und Briefe in drei Bänden 3. Hg. v. Sigrid Damm. München/Wien 1987. S. 289. 70
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piscenz“, denn diese „zerstört sie am Ende“77. In seinen Philosophischen Vorlesungen und im Catechismus stellt der Dichter deshalb Regeln zur Verfügung, die für einen geregelten und vernünftigen Umgang mit dem Sexualtrieb sorgen sollen. Es wird zu Selbstdisziplinierung sowie Berücksichtigung der „Existenz aller unserer Mitgeschöpfe“78 gemahnt, da Sexualität niemals Privat- sondern stets Sache der Gesellschaft sei. Die Triebe sollen ausgelebt werden, die ethische Ordnung allerdings gewahrt bleiben. Lenz weist auf die sozialen Folgen einer Aufhebung sozialmoralischer Restriktionen hin: „Wieviel zerrissene Ehen, wieviel sitzengebliebene Jungfrauen, […] wieviel andere schröckliche Geschichten, Kindermorde, Diebstähle, Giftmischereien, […] alle Bande des Staats gehen auseinander.“79 Vor- und außereheliche Sexualität sei ein „Laster“80. Den Platz für sexuelle Begierden sieht er in der „empfindsame[n] Liebe“81 und der gesellschaftlichen Institution Ehe: „Die Ehe ist die grosse von Gott etablierte Ordnung, in der wir diesen Trieb mäßig stillen dürfen.“82 Anscheinend kann sich auch Lenz, der rigiden Moralismus und eine autoritär patriarchale Grundeinstellung im Elternhaus kennenlernte, dem aufgeklärten Diskurs über Sexualität und Sinnlichkeit nicht ganz entziehen. Doch nun sind wir Widersprüche und Brüche bei der Person Jakob Michael Reinhold Lenz gewohnt. Seine Äußerungen scheinen sich dabei nicht nur an den Mitteln der jeweiligen Textsorte zu orientieren. In Lenzens dramatischem Werk treten zwar immer wieder Versuche, die als moralisch schlecht angesehene Sexualität zu unterdrücken, wie durch Selbstgeißelung im Dramenfragment Catharina von Siena oder eben Selbstkastration im Hofmeister, doch bieten diese Texte auch immer jene Lesart an, in der der Fokus auf die Bedingungen und Gründe der Selbstdisziplinierungsversuche gelegt wird, auf das Bedürfnis des Bürgertums zum Selbstzwang, um Arbeitsamkeit zu erreichen und sich vom verwerflichen Verhalten der Aristokratie abzugrenzen. Keineswegs sind es immer nur die Fehlhandlungen Einzelner, sexuelle Ausschweifungen, die den tragischen Handlungsverlauf herbeiführen, sondern vielmehr die gesellschaftlichen Umstände. So bietet sich gerade die dramatische Textform an, durch „die Strategien mehrfacher und gespaltener Identifikation, […] vor allem aber die Möglichkeiten mimetischen Rollenspiels […], die Beschränkungen ei77
Lenz: Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen. S. 17. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Catechismus. Hg. v. Christoph Weiß. In: Lenz-Jahrbuch. Sturm-undDrang-Studien 4 (1994). S. 47. 79 Ebd. Lenz, Jakob Michael Reinhold.: Über die Soldatenehen. In: Ders.: Werke und Briefe in drei Bänden 2. S. 805. 80 Lenz: Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen. S. 59. 81 Ebd. S. 72. 82 Ebd. S. 61. 78
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gener Konzepte und Projektionen zu überspringen, einen Zugriff jenseits begrifflicher Vorgaben zu finden“83. Denn es ist nicht zu überlesen, dass der Sexualtrieb das Geschehen in Lenzens Dramen vorantreibt und die Personenkonfiguration maßgeblich bestimmt, wobei der Dichter Fehlhandlungen der Triebnatur hervorkehrt, doch indem dieser seine Utopien als groteske84, nicht zweckerfüllende Zustände, die das eigentliche Kernproblem des Stücks nicht aufzulösen vermögen, zeichnet, „ist Lenzens Dramaturgie auch ein Korrektiv seiner Theorie“85. In diesem Sinne integriert er auf der inhaltlichen Ebene auch dramatische Elemente der Selbstinfragestellung. In seinen Dramen gibt es keine bürgerlichen Helden mehr, keine Schuld des Einzelnen, sondern das Zusammenwirken gesellschaftlicher Mechanismen, die das Schicksal der Figuren determinieren. Neben dem Adel wird auch das Bürgertum Zielscheibe der Kritik, die emanzipatorischen Möglichkeiten werden gering geschätzt. Als Ergebnis seiner Gesellschaftsanalysen treten Resignation oder wirklichkeitsferne Idealvorstellungen als Ausflüchte auf, vor allem in Belangen der sexuellen Entfaltung des Individuums.
5.2 Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung (1774) Ein Hofmeister oder Privatinformator, wie es viele junge Intellektuelle des 18. Jahrhundert wurden, die nicht sogleich nach dem Universitätsstudium eine feste Pfarrstelle erhielten, war ein zumeist von einer adligen Familie eingestellter Hauslehrer zur Erziehung der Kinder. Hierbei musste er neben den Lehrinhalten im engeren Sinne – und entgegen seiner bürgerlichen Herkunft – auch Sozialstandards einer adligen Gesellschaftsschicht, wie Formen des gesellschaftlichen Umgangs oder eine umfassende musische Bildung, vermitteln, die er selbst aus seiner eigenen Erziehung nicht kannte. Er verdiente im Jahr durchschnittlich nicht mehr als 50 Taler bei freier Kost und Logie.86 Wie der Hofmeister von der Familie, bei der er in Diensten war, dabei behandelt wurde, hing allein von dieser ab, denn berufsständische Regeln, welche seine Rechte formuliert hätten, gab es nicht.87 Der HofmeisHallensleben, Silvia: „Dies Geschöpf taugt nur zur Hure…“. Anmerkungen zum Frauenbild in Lenz‘ „Soldaten“. In: Inge Stephan/Hans-Gerd Winter (Hrsg.): „Unaufhörlich Lenz gelesen …“. Studien zu Leben und Werk von J. M. R. Lenz. Stuttgart/Weimar 1994. S. 238. 84 Vgl. Kayser, Wolfgang: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Oldenburg 1957. 85 Sautermeister, Gerd: „Unsre Begier wie eine elastische Feder gespannt“. Der „Geschlechtertrieb“ in Lenzens Theorie, Lyrik und Dramatik. In: Études Germaniques 52 (1997). S. 97. 86 Vgl. Bruford, Walter Horace: Die gesellschaftlichen Grundlagen der Goethezeit. Germany in the eighteenth century. Mit Literaturhinweisen von Reinhardt Habel. Weimar 1979. S. 233. 87 Vgl. Fertig, Ludwig: Die Hofmeister. Ein Beitrag zur Geschichte des Lehrerstandes und der bürgerlichen Intelligenz. Stuttgart 1979. S.62ff. 83
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ter litt also unter einem sozialen Zwang, sich nicht über seine bürgerliche Herkunft und sozialdistinkte Lebens- und Verhaltensweisen hinwegzusetzen, unter einem ökonomischen Zwang, der in der Abhängigkeit von der adligen Familie bestand, und schließlich einem psychischen Zwang, der aus ersteren beiden resultierte. Eine nach Innen gerichtete strikte Affektkontrolle musste erzwungen werden, um die zwanghaft eingeengte Lebenssituation erträglich zu machen. Neben der Duldung aristokratischer Herrschaftsarroganz ging es auch um sexuelle Triebunterdrückung, besonders was die Frauen des Hauses, Mutter sowie Tochter, betraf. Lenz hat das Hofmeisterdasein in seinem Drama in erster Linie im Diskurs über die angemessene Erziehung von Kindern und Jugendlichen thematisiert, wobei es um den Gegensatz zwischen öffentlicher Schule und privater hofmeisterlicher Erziehung geht, aber auch im Diskurs über legitime und illegitime Formen der Sexualität. Er zeigt, dass immer auch, und besonders dann, wenn, wie beim Hofmeister Hermann Läuffer und seiner Schülerin Auguste von Berg, Individuen mit unterschiedlicher Standeszugehörigkeit aufeinandertreffen, besondere Machtstrukturen und -verhältnisse in diesen Diskurs eingeschrieben sind. Läuffer, die männliche Hauptfigur in Lenzens Drama, dem eine Anstellung als Adjunkt, Pfarrer oder Landschullehrer verwehrt bleibt, schickt sich an, nach der Vermittlung durch den Geheimen Rat von Berg, sich bei dessen Bruder, dem Major von Berg, als Hofmeister anstellen zu lassen. In I,3 spricht er bei der Majorin in ihrem Zimmer vor. Die Majorin befindet sich auf einem Kanapee, während die Regieangaben („Läuffer in sehr demütiger Stellung neben ihr sitzend“, I,3)88 implizieren, dass sie liegt oder sich zumindest in einer offenen, vielleicht aufreizenden Position neben dem jungen Mann befindet. Sie spielt mit Läuffer, fordert ihn auf, ihr „ein Kompliment aus der Menuet zu machen“ (I,3), unter dem Vorwand, es sei „zur Probe nur, damit [sie] doch sehe“ (I,3). Während der Adel hier das Vorrecht auf Freizügigkeit besitzt, hat der Bürger seine sexuellen Reize und Bedürfnisse nicht offen zur Schau zur stellen. Als der Graf Wermuth das Zimmer betritt, würdigt die Majorin den Hofmeister keines Blickes mehr und schickt ihn weg („Geh er auf sein Zimmer. Wer hat ihn gefragt?“, I,3). Bei dem ersten Gespräch mit dem Major gibt dieser wiederum dem Hofmeister klar zu verstehen, dass dessen Beziehung zur Tochter Gustchen unter keinen Umständen über die zwischen eines Lehrers und seiner Schülerin hinausgehen dürfe: „Ich bin Herr vom Hause, 88
Die Zitationen folgen der Ausgabe Lenz, Jakob Michael Reinhold: Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung (Suhrkamp BasisBibliothek 108). Hg. v. Werner Frizen. Frankfurt a.M. 2009.
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muß er wissen, und wer meiner Tochter zu nahe kommt – Es ist mein einziges Kleinod […] – Merk er sich das – und wer meiner Tochter zu nahe kommt oder ihr worin zu Leid lebt – die erste beste Kugel durch den Kopf.“ (I,4) Die Tochter wird als schützendwertes Objekt angesehen, freies und autonomes Handeln wird ihr nicht zugetraut. Äußere Einflüsse, die ganze Gesellschaft gilt als feindlich und verderblich. Diese hingebungsvolle Liebe, aber auch die strikte Überwachung der Tochter, ebenso wie die spartanische Strenge, welche der Sohn Leopold erleiden muss, zeichnen den typischen Erziehungsstil der patriarchalen Kleinfamilie aus, den Sørensen als „Doppelheit“ von „Furcht und Liebe“89 beschreibt. Wenn Läuffer also sein Amt als Hauslehrer ausführen möchte, muss er seine Triebe unterdrücken. Gustchen hingegen verabschiedet zur selben Zeit ihren Cousin und Geliebten Fritz, der nach Halle zum Studium aufbricht. In ihrer Verliebtheit versprechen die beiden sich bis zu Fritzens Rückkehr die Treue zu halten und bedienen sich dabei William Shakespeares Romeo and Juliet als literarischer Vorlage, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen („Fritz: […] ich versichere Sie, ich werd in allen Stücken Romeo sein, und wenn ich erst einen Degen trage! O ich kann mich auch erstechen, wenn’s dazu kommt.“, I,5). Ihre Unerfahrenheit bedingt diese Hilfestellung. Doch bereits Gustchen entlarvt sie als hohle Phrasen („Gehen Sie doch! Ja Sie werden’s machen, wie im Gellert90 steht: Er besah die Spitz’ und Schneide, und steckt’ ihn langsam ein.“, I,5). Die beiden haben bei ihrer Unterhaltung die stete Angst, dass Fritz’ Vater, der Geheime Rat, die beiden entdecken könne. Der Geheime Rat nimmt im ganzen Stück die Position der aufgeklärten Kritik ein, die letztlich allerdings nicht zu Änderungen bestehender Machtverhältnisse führt, sondern etablierte Bewusstseinsformen des aufgeklärten Absolutismus fortsetzt. Er spricht sich für individuelle Selbstbestimmung aus, verwehrt diese jedoch anderen. Staatsräson oder im kleineren Rahmen Loyalität dem Hausvater gegenüber sind für ihn die obersten Maxime. Er duldet die Liebschaft seines Sohnes mit seiner Nichte nicht und erteilt die Auflage, beiden dürfen sich nur noch offene Briefe in monatlichen Abständen zukommen lassen. Er nennt die beiden „einfältig“ und sagt, er „glaubt einen vernünftigeren Sohn zu haben“ (I,5). Fritz solle erst einmal studieren, vernünftig werden, damit er später einmal einen tüchtigen Staatsbür-
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Sørensen, Bengt Algot: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert. München 1984. S. 34ff. 90 Vgl. Gellert, Christian Fürchtegott: Der Selbstmord. In: Ders.: Werke 1. Hg. v. Gottfried Honnefelder. Frankfurt a.M. 1979. S. 47.
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ger abgeben könne. Sinnlichkeit hat erst einmal keinen Platz und als vernünftig gilt nur das, was der Patriarch vorgibt. So kommt es, dass sich Gustchen und ihr Hofmeister einander annähern. Läuffer klagt seiner Schülerin sein Leid, diese „faßt ihn an die Hand“ (II,2) und versucht ihn zu trösten. Daraufhin gerät Läuffer noch mehr in Rage („Lassen Sie mich – Ich muß sehen, wie ich das elende Leben zu Ende bringe, weil mir doch der Tod verboten ist –“, II,2). Offensichtlich ist es seine unterdrückte Leidenschaft, die er kaum noch zu zügeln in der Lage ist, als die junge Frau sich ihm nähert. In II,5 wiederholt sich eine Szene der beiden, doch nun hebt schon allein das Bühnenrequisit die Bedeutung einer erotischen Atmosphäre hervor. Gustchen liegt auf dem Bett, während Läuffer neben ihr sitzt. Der Gesprächston ist vertraut und direkt. Gustchen führt immer wieder seine Hand an ihre Lippen und küsst diese. Läuffer beschwert sich über sein immer geringer werdendes Gehalt von nunmehr „vierzig Dukaten“, Gustchen fühlt sich verlassen und einsam („Niemand fragt nach mir, niemand bekümmert sich um mich: meine ganze Familie kann mich nicht mehr leiden; mein Vater selbst nicht mehr: ich weiß nicht warum.“, II,5). Läuffer ist die einzige Person, die sie als Menschen und vor allem als Frau wertschätzt, doch auch ist es ihm von seinem Vater verboten, „Briefe mit [ihr] zu wechseln“ (II,5). „Die beiden Individuen befinden sich in einer extremen Lebenssituation, ihre Leidenschaft ist förmlich umstellt vom Erwartungsdruck der bürgerlichen Gesellschaft, die keine Beziehungsidentität zwischen Gustchen und Läuffer zulässt.“91 Das Aufbegehren der Leidenschaft gegen eine strikte repressive Sexualmoral bringt Gustchen auf den Punkt: „aber die Liebe setzt sich über Meere und Ströme, über Verbot und Todesgefahr selbst [hinweg]“ (II,5). Die Krisenhaftigkeit der Situation wird dann durch das von Läuffer hervorgebrachte Kastrationsmotiv auf die Spitze getrieben. Er befürchtet, es könnte ihm „gehen wie Abälard“ (II,5), einem Hauslehrer im 12. Jahrhundert, der nach einer Beziehung zu seiner Schülerin Heloisa, die schwanger wurde und ein Kind von ihm gebar, von ihrem Onkel entmannt worden ist. Läuffer ahnt schon Gustchens Schwangerschaft und fürchtet sich vor den Konsequenzen für das Liebespaar. Gustchen weist diese Befürchtung jedoch zurück („Meine Krankheit liegt im Gemüt – Niemand wird dich mutmaßen –“, II,5). Der Hofmeister hat also Angst davor, dass andere ihn kastrieren, weil er vorehelichen Geschlechtsverkehr mit seiner Schülerin gehabt hat, diese dabei ihre Reinheit, symbolisches Kapital des Vaters, verloren hat und weil die beiden gegen die Standesnormen verstoßen haben und eine unstandesgemäße Beziehung zwischen einem 91
Luserke: Lenz-Studien. S. 113.
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Bürgerlichen und einer Adligen ohne garantiertes Einkommen eingegangen sind. Gustchen hingegen lenkt vom Thema ab und fragt: „Hast du die Neue Heloïse gelesen?“ (II,5). Sie bezieht sich auf Jean-Jaques Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse, einen Briefroman, der sich zum Absolutismus des Gefühls bekennt und für die Liebesehe eintritt. Nicht nur hier und in der Eingangsszene mit Fritz spielt sie immer wieder auf literarische Texte an. Ihre Empfindsamkeit und ihr melancholischer Rückzug werden jedoch nicht die Fesseln der repressiven Moral ihres Umfeldes brechen können. Eine Liebesheirat über die Standesgrenzen hinweg war in der bürgerlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts schlichtweg nicht möglich. Auch an der Figur Gustchens und ihrem „Wirklichkeitsverlust“92 übt der Autor heftig Kritik. Die Szene endet, indem sich der Major der Kammer nähert und Läuffer flieht. Läuffers Angst soll indessen nicht ganz unbegründet sein. Der Major und seine Frau erfahren von der Liebschaft zwischen ihrer Tochter und dem Hofmeister und sind außer sich vor Wut („Hat er sie zur Hure93 gemacht?“, III,1). Gustchen läuft von ihrem Elternhaus fort und auch Läuffer flüchtet sich zum Dorfschulmeister Wenzeslaus, der ihm Unterschlupf gewährt. Wenzeslaus behilft sich mit einer diätischen, mäßigen Lebensführung, um seine Triebe, „die bösen Begierden“ (III,4) unter Verschluss zu halten und sein „Fleisch so zu bezähmen“ (V,3). Er werde so „dick und fett […] und lebe vergnügt“ (III,4). Hierbei spielt er auf die Beleibtheit eines Eunuchen an.94 Sexuelle Kontakte sind für ihn ein Tabu. Im Gegensatz zu Läuffer, dem diese Art der Triebmodellierung nicht gelang, kann Wenzeslaus deshalb jedoch dem Adel in Person des Grafen Wermuth kraftvoll und entschlossen gegenübertreten, als der Graf in die Schulstube eintritt, um den geflohenen Hofmeister zu verfolgen. Der Schulmeister droht dem Adligen sogar („Halt Herr! Die Kammer ist mein, und wo ihr nicht augenblicklich Euch aus meinem Hause packt, so zieh ich nur an meiner Schelle und ein halb Dutzend handfester Bauerkerle schlägt Euch zu morsch PulverGranatenstücken.“, III,2). Da er von Affekten und Leidenschaften nicht geschwächt wird, ist Wenzeslaus arbeitsam, „sein eigener Herr“ und hat „ein gutes Gewissen“ (III,4). Müsste 92
Huyssen: Drama des Sturm und Drang. S. 166. Die Wort „Hure“ bedeutete nicht nur eine weibliche Person, die „ihren Leib […] gegen Lohn, oder um Gewinnes willen, Preis gibt“, sondern auch „eine unverheurathetet geschwängerte Weibsperson“ oder einfach „jede weibliche Person, welche durch unerlaubten Beyschlaf die Keuschheit verletzt“. Vgl. Krünitz, Johann Georg: Hure. In: Ders.: Oekonomische Encyclopädie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft in alphabetischer Ordnung 26: von Huh bis Hur. Berlin 21791. S. 613f. Der Major zielt hier also auf die Unkeuschheit seiner Tochter ab. Später nennt der Major Gustchen – dann jedoch vielmehr reumütig – eine „Gassenhure“ (IV,1). „Hure“ wird auch in den Dramen Wagners und Schillers gebraucht, bei Ersterem wird natürlich auch auf die Schwangerschaft referiert. 94 Vgl. Mattenklott, Gert: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang. Stuttgart 1968. S. 136. 93
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er bei einem Adligen, den er für seine Immoralität verachtet, in Dienste treten, so stieße ihm sein Gewissen jeden Bissen des feisten Bratens „mit der Moral wieder in Hals zurück“ (III,4). Der Bürger Wenzeslaus lebt ein Leben nach strenger Enthaltsamkeit, nimmt seine Kraft dafür aus seiner Moral, die ihn dem Adel gegenüber in eine, zumindest in dieser Hinsicht, überlegene Position versetzt. Die befürchtete Gewalt seitens Gustchens Familie wird für Läuffer noch Realität werden, wenn zu einem späteren Zeitpunkt, als Gustchens bereits „ein ganzes Jahr“ (IV,1) von ihrem Elternhaus entfernt ist, der Major doch noch dem Aufenthaltsort seines ehemaligen Hofmeisters gewahr wird, diesen dort aufsucht und ihm mit einer Pistole eine Schusswunde zufügt. Doch Läuffer hat inzwischen die Moralvorstellungen hinsichtlich standesübergreifender Liebe und Sexualität gänzlich verinnerlicht und akzeptiert seine Strafe („Es ist der Major; ich hab’s an seiner Tochter verdient.“, „Ich habe weit weniger bekommen, als meine Taten wert waren.“, IV, 3). Bei Gustchen verhält es sich ähnlich, auch sie fand einen Unterschlupf. Das alte, blinde Bettelweib Marthe nahm sie und ihr neugeborenes Kind bei sich auf. Doch Gustchens „Gewissen“ (IV,2) befiehlt ihr, ihrem Vater, dem gegenüber sie Schuldgefühle empfindet, Nachricht von ihrem Verbleib zu übermitteln. Nicht die Sorge um ihr Kind, noch die Liebe zu Läuffer oder Fritz bewegen sie dazu, noch nicht ganz erstarkt den langen Weg zum nächsten Dorf auf sich zu nehmen, sondern die Schuld dem Vater gegenüber. Auch als sie völlig ausgezehrt auf der Wegstrecke liegen bleibt und sich in einem Teich das Leben nehmen möchte, spricht sie von der „Rechenschaft“ (IV,4) für ihre Verstoßen gegen die väterlichen und gleichzeitig gesellschaftlichen Gebote. Dabei tritt ganz deutlich die patriarchale Grundstruktur im Sexualitätsdiskurs zutage.95 Gustchen wird noch kurz vor dem Ertrinken von ihrem Vater gerettet und nach Hause gebracht werden. Die alte Marthe nimmt derweil das Kind und will dessen Mutter aufsuchen, wobei sie auf Läuffer im Schulgebäude trifft. Sie erzählt ihm, woher sie und das Neugeborene kommen. Als Läuffer das Kind erblickt, geht ihm „ein furchtbares Rätsel auf“ und er „fällt in Ohnmacht“ (V,1). Ob er sein eigenes Kind erkennt oder nur das Schicksal seiner ehemaligen Geliebten, ist hier nicht von großem Belang.96 Der Hofmeister hat schließlich
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Vgl. Luserke: Lenz-Studien. S. 116. Lappe analysiert ausführlich die Zeitebene des Dramas und macht darauf aufmerksam, dass Gustchens Kind nicht von Läuffer stammen kann. Vgl. Lappe, Claus O.: Wer hat Gustchens Kind gezeugt? Zeitstruktur und Rollenspiel in Lenz’ Hofmeister. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54 (1980). S. 14-46.; Ders.: Noch einmal zur Vaterschaftsfrage in Lenz’ Hofmeister. In: Ebd. S. 520-521. Schmiedt vermutet hingegen, Lenz könnte die genaue Dauer einer Schwangerschaft nicht gekannt haben. Vgl. Schmiedt, Helmut: Wie revolutionär ist das Drama des Sturm und Drang? In: Jahrbuch 96
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so oder so den sozialen Fall der adligen Tochter verursacht, da er ihr ihre Keuschheit nahm, sie also für den Heiratsmarkt wertlos gemacht, sie gesellschaftlich ruiniert und dabei auch noch die Standesgrenzen missachtet hat. Das uneheliche Kind unterstreicht nur noch einmal die soziale Dramatik von Gustchens Schicksal. Läuffer glaubt Gustchen nach Marthes Erzählung tot, er fühlt „Reue, Verzweiflung“ (V,3) und vollführt nun das an sich selbst, was er vorher noch als Bestrafung von anderen gefürchtet hatte: Er „kastriert“ (V,3) sich selbst. Wenzeslaus lobpreist Läuffer für dessen „so edle Tat“, dessen „Heldenvorsatz“ (V,3). Spätere Leser, für die Sexualität ein hohes Gut darstellte, begriffen Läuffers Akt der Kastration zumeist als Ausdruck hoher Lächerlichkeit – nicht zuletzt auch, weil Lenz in seinem tragikomischen97 Programm oft zu karikierenden Darstellungen98 greift – und bedienten sich der Allegorie des sich selbst schwächenden Bürgertums, anstatt die zeitgenössische Einschätzung, etwa in den Traktaten des livländischen Pfarrers Hupel,99 oder gar Lenzens eigene Ängste100 ernst zu nehmen. So war das Thema der Kastration als sakraler Akt für den Autor durchaus aktuell und bedeutet das, was „die Anthropologie der protestantisch-triebfeindlichen Aufklärung gedanklich vorgibt: die Abtrennung des Sexualtriebes vom Menschen“.101 Doch in jeden Fall richtet sich der autoaggressive Akt gegen die eigene Sexualität. Es wird versucht, Sexualität symbolisch auszuradieren und für die Zukunft abzutöten. Läuffer sieht seine Schuld in seinen Trieben begründet, ist sich zwar nicht sicher, ob er seine Selbstkastration nicht doch bereuen soll, doch schließlich hofft er „itzt wieder anfangen zu leben und zum Wenzselaus[, also zum desexualisierten Bürger,] wiedergeboren [zu] werden“ (V,3).
der Deutschen Schillergesellschaft 29 (1985). S. 52. Luserke sieht schließlich in der uneinheitlichen Zeitstruktur eine Durchbrechung dieser durch den Autor, der so sein Widerspruchsbegehren gegen die Aufklärungspoetik geltend macht. Vgl. Luserke: Lenz-Studien. S. 115. Anm. 24. 97 Lenz bezeichnet sowohl den Hofmeister als auch die Soldaten ursprünglich als Komödien im Sinne seiner eigenen Definition. Hier sich jedoch auf den von Guthke eingeführten Begriff der Tragikomödie gestützt, der eine qualitativ neuartige, synthetische Formvermischung zwischen Komödie und Tragödie bezeichnet. Vgl. Guthke, Karl S.: Lenzens Hofmeister und Soldaten. Ein neuer Formtypus des deutschen Dramas. In: Wirkendes Wort 9 (1959). S. 274-286.; Zelle, Carsten: Ist es eine Komödie? Ist eine Tragödie? Drei Bemerkungen dazu, was bei Lenz gespielt wird. In: Wust (Hrsg.): J. M. R. Lenz als Alternative? S. 138-157. 98 Vgl. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater. In: Ders.: Werke und Schriften 1. Hg. v. Britta Titel/Hellmut Haug. Stuttgart 1996. S. 342. 99 Dieser setzt sich auch für die gesellschaftliche Akzeptanz von Kastraten ein und postuliert deren recht auf Eheschließung. Vgl. Hupel, August Wilhelm: Vom Zweck der Ehen, ein Versuch, das Heyrathen der Castraten und die Trennung unglücklicher Ehen zu vertheidigen. Riga 1771.; Ders.: Origines oder von der Verschneidung, über Matth. 19. v. 10–12. Ein Versuch, zur Ehrenrettung einiger gering geachtetetn Verschnittener. Riga 1772. 100 Menz, Egon: Die Mutter, die Kurtisane. Anmerkungen zu Lenz. In: Lenz-Jahrbuch. Sturm und Drang Studien 6 (1996). S. 76. 101 Clasen: „Den Trieb haben doch alle Menschen.“ S. 65.
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Der Kastrat bleibt allerdings nicht gänzlich ohne Zärtlichkeit. Er verlobt sich mit der unschuldigen, liebenswerten Lise. Diese gibt sich damit zufrieden, dass Läuffer „bei [ihr] nicht schlafen“ (V,10) kann, denn Kinder möchte sie auch nicht haben. Jedoch wirkt sie äußerst naiv, kommunikationsunfähig und fast asexuell, fordert für sich keine erotische Liebe ein („So kann er doch wachen bei mir, wenn wir nur den Tag über beisammen sind und uns so anlachen und uns einsweilen die Hände küssen – Denn bei Gott! ich hab ihn gern.“, V,10). Wo keine Triebe herrschen, ist die Ordnung auch nicht gefährdet. Und doch bahnt sich an, dass sich der menschliche „Geschlechtertrieb“ nicht zügeln lässt, auch nicht beim Eunuchen Läuffer („Wenn man mir das Herz aus dem Leibe risse und mich Glied vor Glied verstümmelte und ich behielt’ nur eine Ader von Blut noch übrig, so würde diese verräterische Ader doch für Lisen schlagen.“, V,10). Diese Liebesidyllik wird vom Autor derart überzeichnet und grotesk dargeboten, dass sie sich nicht als annehmbare Lösung für das Sexualitätsproblem des Bürgers Hermann Läuffer lesen lässt.102 Auch die Handlung um Gustchen findet ein vermeintlich harmonisches Ende. Neben einem Lotteriegewinn von Fritzens Freund Pätus sowie dessen Verlobung, der Aussöhnung von Vater Pätus mit der verstoßenen Großmutter und der Versöhnung Fritzens mit seinem Vater, dem Geheimen Rat von Berg, der obersten patriarchalen Autorität des Stücks, kommt es auch dazu, dass Fritz sich des entehrten Gustchens und ihres unehelichen Kindes annimmt. Unter der Direktion des Geheimen Rates findet die „zärtliche Gruppe“ (V,11) zusammen, wird die sittliche Ordnung wiederhergestellt. Jenes Familien- bzw. Gesellschaftsgemälde wirkt jedoch eher „befremdlich“ und „artifiziell“103, wenn man es nicht gleich als „ironische Schlußpointe“104 oder utopischen Fluchtversuch105 lesen möchte. Die doppelte Zielrichtung der Kritik, sowohl Adel als auch Bürgertum treffend sowie die komische Charakterisierung der Figuren verstellen den Weg zu einem tragischen Schluss, während aber die gesellschaftlichen Umstände den Ausweg in die Komödie verbieten.106 Pätus’ Verlobte, die Jungfer Rehaar, die er zuvor in Leipzig „entehrt“ – und freilich somit auch „ihren Vater entehrt“ (IV, 6) – hat, und Gustchen werden in der Schlussszene stumm gehalten. Letztere Vgl. Eibl, Karl: ‚Realismus’ als Widerlegung von Literatur. Dargestellt am Beispiel von Lenz’ Hofmeister. In: Poetica 6 (1974). S. 463. Anm. 17. 103 Scherpe, Klaus R.: Dichterische Erkenntnis und „Projektmacherei“: Widersprüche im Werk von J.M.R. Lenz. In: Goethe-Jahrbuch 94 (1977). S. 222. 104 Wissmeyer: Gesellschaftskritik in der Tragikomödie. S. 373. 105 Vgl. Durzak, Manfred: Lenz‘ Der Hofmeister oder Die Selbstkasteiung des bürgerlichen Intellektuellen. Lenz‘ Stück im Kontext des bürgerlichen Trauerspiels. In: David Hill (Hrsg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Studien zum Gesamtwerk. Opladen 1994. S. 115. 106 Vgl. Huyssen, Andreas: Gesellschaftsgeschichte und literarische Form: J.M.R. Lenz’ Komödie Der Hofmeister. In: Monatshefte 71 (1979). S. 142. 102
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tritt am Ende zwar noch kurz hervor, doch die meiste Zeit über wurden die Frauen von Lenz gleichsam hinter die Bühne verbannt. Die vom Sexualitätsproblem Betroffenen, Entehrte und Unterdrückte, können keine eigene Lösung aushandeln. Die ständisch-väterliche Ordnung ist am Ende wiederhergestellt. So spricht Becker-Cantarino in Anlehnung an Brecht nicht zu Unrecht von der „Misere des Patriarchats in Deutschland“107, in dem die Frauen nur noch als „Projektionsfläche männlicher Wünsche“108 dienen. Auch Fritz, die verständnisvollste Figur im Stück, welcher jedoch schon bei seiner Vorstellung deutlich im patriarchalen Gestus auftritt und in Bezug auf geschlechtstypische Unbeständigkeit herrisch postuliert: „Nein, Gustchen, die Frauenzimmer allein sind’s.“ (I.,5), bestätigt seine männliche Ideologie, indem das Kind, dessen Geschlecht er noch nicht einmal kennt, fälschlicherweise109 für einen Jungen hält („mein süßer Junge!“, V,12). Verbindet man nun noch den Sexualitäts- mit dem Erziehungsdiskurs im Stück und erkennt, dass Gustchens Fall durch die hofmeisterliche Erziehung bedingt oder befördert wurde, so wird der Frauenkörper gänzlich zum Objekt des männlichen Theoretisierens, Diskutierens und mehr oder weniger einsichtigen Reflektierens degradiert. Eine zufrieden stellende Lösung des Sexualitätskonflikts, der in den Konflikt des nach Freiheit und Selbstbestimmung suchenden Individuums in einer reglementierenden und repressiven Gesellschaft eingebettet ist, ist hingegen nicht ohne die Betroffenen zu finden, denn schlussendlich bedeutet weder Läuffers Josephsehe mit Lise noch die Familienidylle in der Adelsgesellschaft einen Fortschritt gegenüber den Ausgangsbedingungen, die den tragischen Handlungsverlauf erst bedingt hatten.
5.3 Die Soldaten (1776) In Lenzens drittem großen Drama verarbeitet der Autor wie in vielen seiner Werke konkrete biographische Erfahrungen. Sein adliger Reisebegleiter Friedrich Georg von Kleist hatte drei Jahre zuvor ein Verhältnis mit der bürgerlichen Cleophe Fibich. Obwohl man eine im 18. Jahrhundert nicht unübliche Promesse de Mariage, mit der Übereinkunft, dass beim Rücktritt von der Verbindung eine Entschädigungssumme zu zahlen sei, aufsetzte, zog sich 107
Becker-Cantarino, Barbara: Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister. In: Interpretationen. Dramen des Sturm und Drang. (Reclams Universal-Bibliothek 8410). Stuttgart 21997. S. 34. 108 Luserke: Lenz-Studien. S. 281. 109 Die alte Marthe nannte das Kleinkind in V,1 „Suschen, mein liebes Suschen“. Dies deutet auf ein weibliches Geschlecht des Kindes hin oder aber Marthe benutzt einen Kosenamen wie „Süßchen“. Vgl. Voit, Friedrich: Erläuterungen und Dokumente. Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung (Reclams Universal-Bibliothek 8177). Stuttgart 2002. S. 52.
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von Kleist mit der Ausrede, die Einwilligung seiner Eltern einholen zu wollen, in seine kurländische Heimat zurück. Fibich hatte ihre bürgerliche Integrität verloren und ihre Familie wartete zudem vergebens auf die ausgemachte Entschädigung. Gemäß seiner Komödientheorie geht es dem Autor jedoch nicht um das Einzelschicksal jener Bürgerstochter, sondern um das Aufdecken gesellschaftlicher Missstände.110 So schreibt er Ende März 1776 an seinen Freund Herder, der das Stück zum Druck weitervermitteln sollte: „Betrügt er sie, so könnten die ‚Soldaten’ nicht bald genug bekannt gemacht werden um den Menschen zu zerscheitern oder zu seiner Pflicht vielleicht noch zurückzupeitschen.“111 Die Forschung machte vermehrt darauf aufmerksam, dass das Drama keine gängige Expositionsszene enthält, in der die handlungsführenden Charaktere vorgestellt und klar umrissen sowie Ausgangsbedingungen für die dramatische Handlung beschrieben werden. 112 In den beiden Szenen zu Beginn wird lediglich in zwei Unterredungen, jeweils zwischen Marie und ihrer Schwester Charlotte sowie Stolzius und seiner Mutter, eine Liebesbeziehung zwischen Marie und dem Tuchhändler Stolzius angedeutet. Beide scheinen sich sehr nach dem anderen zu sehnen. Stolzius stecke laut seiner Mutter „das verzweifelte Mädel im Kopf, darum tut er ihm so weh“ (I,2)113 und bei Marie wird deutlich, dass diese Beziehung noch sehr schüchtern von beiden angegangen wird, wenn die Schwester diagnostiziert, „er weiß ja doch, dass du verliebt in ihn bist, und dass du’s nur nicht leiden kannst, wenn ein andrer ihn nur mit Namen nennt“ (I,1), woraufhin Marie weinend die Kammer verlässt. Kontrastiv zu dieser Einführung verhält sich die nächste Szene, die der Baron Desportes gerade heraus mit Avancen an die Bürgerstochter beginnt („Was macht sie denn da, meine göttliche Mademoiselle?“, I,3). Während Stolzius gezwungen ist, seine Bekanntschaft mit Marie brieflich fortzusetzen, vermag der Mann von Adel sein Begehren klar zu äußern und sich sogar über den väterlichen Widerstand hinwegzusetzen, als er Marie in die Komödie einlädt. Das unterschiedliche Werbeverhalten markiert also deutlich den ständischen Unterschied zwischen den beiden Männern. Das Komödienmotiv ist bei Lenz bereits aus dem Neuen Menoza und dem Hofmeister bekannt. Das Theater als Raum der Ausgelassenheit dient der Tochter dazu, sich der strengen 110
Lenz, Jakob Michael Reinhold: Rezension des Neuen Menoza, von dem Verfasser selbst aufgesetzt. In: Ders.: Werke und Schriften 1. S. 419. 111 Lenz, Jakob Michael Reinhold: Lenz an Herder, Ende März 1776. In: Ders.: Werke und Briefe in drei Bänden 3. S. 416. 112 Vgl. McInnes, Edward: Jakob Michael Reinhold Lenz. Die Soldaten. Text, Materialen, Kommentar (Reihe Hanser Literatur-Kommentare 8). München/Wien 1977. S. 88. 113 Die Zitationen folgen der Ausgabe Lenz, Jakob Michael Reinhold: Die Soldaten. Eine Komödie. Anm. v. Herbert Krämer. Nachw. v. Manfred Windfuhr (Reclams Universal-Bibliothek 5899). Stuttgart 2004.
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väterlichen Überwachung zu entziehen. Mit der „Doppeldeutigkeit des Komödienbegriffs“ spielt der Autor hier insofern, als dass der abendliche Gang in die Komödie in Begleitung des Offiziers „für die jungfräuliche Tochter neben dem neuen ästhetischen Erlebnis eine Art Aufnahmeritual in die bürgerlich-patriarchalische Gesellschaft, […] die gesellschaftlich-kulturelle Ritualisierung einer Begehrenssituation“114 bedeutet. So beginnt hier auch für Marie zugleich ihr tragischer Weg in Lenzens (Tragi-)Komödie. Wesener weiß, dass seine Tochter ein frei zugängliches Objekt männlicher Begierden wird, wenn sie das geschützte väterliche Haus verlässt und das Theater besucht und genau hierin ist seine Abwehrhaltung Desportes gegenüber begründet („Nehmen Sie mir’s nicht ungnädig, davon kein Wort mehr. Meine Tochter ist nicht gewohnt, in die Komödie zu gehen, …“, I,3). Zudem fürchtet er sich vor dem Gerede der Leute, welches überhaupt erst bestimmt, ob eine junge Frau tugendsam und ihre Familie damit anständig ist oder nicht („…das würde nur Gerede bei den Nachbarn geben, und mit einem jungen Herrn von den Milizen dazu.“, „…und eh man sich’s versieht, wips ist ein armes Mädel in der Leute Mäuler.“, I,3). Der Vater impliziert schon, dass seine Tochter keine umfassende Kenntnis von der außerfamilialen Welt besitzt, was jedoch natürlich auf seine eigene strenge Erziehung zurückzuführen ist.115 Nebenbei wird hier zudem auf den unsittlichen Ruf der Soldaten verwiesen, welcher sich im weiteren Verlauf der Handlung noch bestätigen soll. I,4 stellt einen Disput zwischen einigen Offizieren, einem Hofmeister und einem Geistlichen dar, in dem es um Nutzen und Nachteile des Komödienspiels geht. Es zeigt sich, dass Lenzens Dramaturgie sich nicht nach einem gängigen Kompositionsschema entfaltet, sondern „der Bezug zu einem übergeordnetem Diskursschema“116 die Einzelszenen ordnet. Der Feldprediger Eisenhardt, Repräsentant einer aufgeklärten Weltauffassung und an vielen Stellen Sprachrohr des Autors, beklagt den Sittenverfall, der im Soldatenstand durch das Theater vorangetrieben wird, denn „einen wachsamen Vater zu betrügen, oder ein unschuldig Mädchen in Lastern zu unterrichten, das sind die Preisaufgaben, die dort gelöst werden“ (I,4). Seinen Ansichten nach wird ein Mädchen „niemals eine Hure, wenn sie nicht dazu gemacht wird“ (I,4). Die Offiziere begegnen dem mit patriarchaler Arroganz und machen die Frau für eine ungewollte Schwangerschaft oder Prostitution selbst verantwortlich. Ohne äußere Einflüsse, psychologische, gesellschaftliche oder ökonomische Ur114
Luserke: Lenz-Studien. S. 122. Sørensen sieht Marie deshalb moralisch im Folgenden von jeglicher Schuld freigesprochen. Vgl. Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit. S. 152. 116 Luserke: Lenz-Studien. S. 123. 115
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sachen zu beachten, unterstellt der Offizier Haudy, „eine Hure wird immer eine Hure, gerate sie unter welche Hände sie will“ (I,4). Desportes wird hierauf noch einmal zurückkommen, wenn er voller patriarchaler Herablassung behauptet, Marie sei „eine Hure vom Anfang an gewesen“ (V,3). Später unterhält sich der kritische Prediger Eisenhardt mit dem Hauptmann Pirzel. Im Gestus plakativer Nachdenklichkeit räsoniert Pirzel wie Seiffenblases Hofmeister im gleichnamigen Stück über den Menschen („das macht, weil die Leute nicht denken. Denken, denken, was der Mensch ist, das ist ja meine Rede.“, II,2). Ganz deutlich wird hier die Aufklärungskritik. Aufklärung verkehrt sich in ihr Gegenteil und ruft repressive Strukturen hervor. So führen auch letztendlich Pirzels diskursive Handlungen zu weiterer Unterdrückung, denn „allein in der Fähigkeit des Denkens sieht er ein Sublimat männlicher Sexualität“117. Das exklusiv männliche Denken kreist jedoch entweder, wie bei Pirzel, sinnlos um sich selbst oder verfolgt, wie bei den Offizieren, systematisch die Erfüllung eigener Gelüste. Schließlich hat auch Pirzel bei all seinem Denken, das Wertesystem seiner Zeit kritiklos verinnerlicht („Das geht alles mechanisch.“, III,4). Eisenhardt kritisiert hingegen ganz im Sinne des Autors die ungleiche Verteilung prüde-repressiver bzw. ausschweifend-zerstörerischer Sexualität: „Was die anderen [das Bürgertum] zu viel sind, ist der [der Soldatenstand] zu wenig.“ (III,4) Als Marie dem Vater in I,5 ihren Theaterbesuch mit dem Baron Desportes beichtet, diffamiert sie dieser als „Luder“, „Mätresse“, „gottlose“ und schlechte Seele“ (I,5). Auch die eigene Schwester beschimpft Marie als „gottvergeßne Allerweltshure“ (I,5). Derjenige Personenkreis, welcher unter der rigiden Sexualmoral und dem Patriarchalismus des Bürgertums im ausgehenden 18. Jahrhundert am meisten zu leiden hat, die jungen Bürgerstöchter, treten hier nicht füreinander ein oder handeln rührend wie noch Gellerts Zärtliche Schwestern, sondern schwächen sich gegenseitig. Charlotte hat das bürgerliche Wertesystem so für sich übernommen, dass sie es und auch ihre eigene Repression als naturgegeben und nicht aufhebbar empfindet. Anstatt dem adligen Offizier Vorwürfe zu machen, wendet sich bürgerliche Moral und Selbstverständnis gegen die Mitglieder der eigenen Gesellschaftsschicht. Weiterhin zeigt sich, dass die Offiziere, welche in der Person von Desportes die Hauptschuld an Maries Situation tragen, diese nicht nur durch ihr Handeln, sondern wie bei Haudy auch durch das Ausüben diskursiver Macht, indem sie selbst wiederum Schuld zuweisen und Moralurteile fällen, auf sich laden.
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Luserke: Lenz-Studien. S. 127.
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Später nimmt Wesener das Verbot für seine Tochter, mit Desportes Umgang zu pflegen, zurück. Nachdem Marie ihm an sie gerichtete Liebesverse präsentiert, weicht die drohende Gefahr, die Tochter könne verdorben und ins Unglück gestürzt werden, der Aussicht auf sozialen Aufstieg. Die Illusionen über sozial aufwärtsgerichtete Mobilität und die Hoffnung, Marie könne doch „noch einmal gnädige Frau werden“ (I,6), lassen Wesener seine sonst so strikten Moralvorstellungen vergessen und machen ihn mitschuldig an der Katastrophe. Die bürgerliche Moral erweist sich als doppelbödig. Es spiegelt sich typisches Verhalten bürgerlicher Mentalität wider, denn das Hauptanliegen ist lediglich, dass „die äußere Fassade der Ehrbarkeit nicht verletzt wird“.118 Dabei nimmt der Vater in patriarchaler Manier natürlich niemals die Zügel aus der Hand und erklärt: „Lass mich nur machen, ich weiß schon, was zu deinem Glück dient …“ (I,6). So ist er sogar gewillt, dem Mädchen einen beschwichtigenden Brief an Stolzius zu diktieren. Auch Marie befindet sich im Zwiespalt zwischen ihren Gefühlen und sozialem Ehrgeiz, sie gesteht: „Gott! Was hab ich denn Böses getan? – – Stolzius – ich lieb dich ja noch – aber wenn ich nun mein Glück besser machen kann – und Papa selber mir den Rat gibt, …“ (I,6). Spätestens hier ist „die wirkliche Komödie der Literatur […] die literarische Komödie der Wirklichkeit geworden“119. Desportes verfolgt seine Begehrensstrategie weiter, fördert gar Maries Illusionen eines sozialen Aufstiegs („… Sie sind für keinen Bürger gemacht.“, 2,III) und macht seine Privilegien einer frei ausgelebten Sexualität geltend, indem er, während Vater Wesener sich noch im Haus befindet mit dessen Tochter schäkert, mit ihr (spaßeshalber) ringt, woraufhin sie ihn kitzelt, um sich zu befreien.120 Es kommt zwischen den beiden zu „Geschrei und Gejauchz“ (II,3) im Nebenzimmer. Das Lied der alten Mutter Wesener schließt den zweiten Akt und deutet auf den tragischen Wandel, den die Handlung nehmen wird, an. Ihr Lied vom „Rösel aus Hennegau“ erinnert, nicht zuletzt da Des-
118
Wissmeyer: Gesellschaftskritik in der Tragikomödie. S. 375. Duncan macht für die Entscheidung Weseners die sozio-ökonomischen Triebkräfte einer wachsenden Interpendenz zwischen Adel und Bürgertum verantwortlich. Vgl. Duncan, Bruce: The Comic Structure of Lenz’s Soldaten. In: Modern Language Notes 91 (1976). S. 519. 119 Luserke: Lenz-Studien. S. 125. 120 Die Textstelle erhält eine deutlich ambivalente Haltung im Kontext der Handlung, wenn man bedenkt, dass das Kitzeln und andere bestimmte Handlungen in der Frühen Neuzeit als Verschleierungstaktiken in Notzuchtsverfahren fungierten, da so die Grenze zwischen Spiel und Gewalt verwischt werden konnte. Vgl. Roper, Lyndal: Oedipus and the Devil: Witchcraft, Sexuality and Religion in Early Modern Europe. London/New York 1994. S. 68.
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portes Marie zuvor „mit einer großen Stecknadel“ (II,3) stach, an Goethes Heidenröslein, in dem auf das Stechen das Brechen folgt.121 Später wird Desportes „weggelaufen“ (III,3) und Marie bei Stolzius’ Familie denunziert sein. Dessen Mutter schimpft die junge Frau eine „Metze“, „Hure“ und „Soldatenluder“ (III,2), der junge Tuchhändler ist hingegen die einzige Person im Stück, die bei Marie individuelle Unschuld und gesellschaftliche Determinanten, hinter denen eben ständebedingte Ungleichheit und die patriarchale bürgerliche Sexualmoral stehen, erkennt („… schimpft nicht auf sie, sie ist unschuldig, der Offizier hat ihr den Kopf verrückt.“, III,2; „Und müssen denn die zittern, die Unrecht leiden, und die allein fröhlich sein, die Unrecht tun!“, IV,11). Es kommt so weit, dass Wesener die siebenhundert Taler schweren Schulden des geflohenen Desportes begleichen muss, nur damit die Leute ihm nicht „das Haus in übeln Ruf […] bringen“ (III,3). Mit dem Verlust der Sittlichkeit, der Tugendhaftigkeit der Tochter, also dem symbolischen Kapital der Familie geht also auch der Verlust von ökonomischem Kapital einher. Der gute Ruf ist dem Familienoberhaupt sehr viel Geld wert. Marie hingegen hat die bürgerlichen Moralvorstellungen ihres Vaters nicht ganz verinnerlicht und sträubt sich dagegen, einen versöhnlichen Brief an Stolzius zu schreiben („Soll ich ihm denn vorlügen? (Fängt äußerst heftig an zu weinen, und wirft sich mit dem Gesicht auf einen Stuhl.)“, III,3). Hatte sie zu Beginn der Liason mit dem Offizier noch Gefühle für ihren bürgerlichen Geliebten, so hängt sie jetzt mehr an Desportes. Sie verspürt das Bedürfnis, ihre Sinnlichkeit individuell und selbstbestimmt auszuleben, und pocht auf dessen Erfüllung. Doch Marie wird bei ihrer Unternehmung schon sehr bald an die von der Gesellschaft gesteckten Grenzen stoßen. Sie versucht über Desportes’ Freund Mary an Ersteren zu gelangen. Diese Verbindung wird ihr später jedoch noch zu Schaden gereichen, denn die gemeine Bürgerstochter soll sich schließlich sexuell und im Allgemeinen passiv und duldsam verhalten. In III,8 betritt nun die Gräfin La Roche, angelehnt an Sophie von La Roche, bis heute als mustergültige Vertreterin weiblicher Aufklärung geltend, wohl die berühmteste deutschsprachige Autorin des ausgehenden 18. Jahrhunderts und Verfasserin des bedeutendsten
Niggl spricht hier von einer “Simultanführung der Stimmen” und vergleicht das Lied der Großmutter mit einem „kurzen Ausflug ins epische Theater“. Vgl. Niggl, Günter: Neue Szenenkunst in Lenzens Komödie „Die Soldaten“. In: Études Germaniques 52 (1997). S. 111. 121
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empfindsamen Romas Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771),122 die Bühne des Geschehens. Nachdem ihr Sohn, der junge Graf, ihr berichtet, dass er sich ebenfalls zu Marie hingezogen fühlt, verspricht sie ihm, sich ihrer anzunehmen, gar Maries „zärtlichste Freundin“ (III,8) zu werden. Lenzens Parallelisierungstechnik in der doppelten Konstellation von Mutter und Sohn sowohl im Bürgertum (Mutter und Stolzius) als auch im Adel (Gräfin und junger Graf) macht deutlich, dass die Thematik männlichen Begehrens keineswegs ständebedingt relevant ist.123 Zentrale Topoi von literarischer Empfindsamkeit werden genannt, um die Gräfin eben dort zu verorten. Der junge Graf habe ein „empfindliches Herz“, welches ihn zum „Mitleiden“ (III,8), der zentrale Begriff in Lessings Poetik des bürgerlichen Trauerspiels, bewegt. Das Spektrum der am Sexualitätsdiskurs partizipierenden Positionen wird mit der Gräfin La Roche und ihrem Sohn also um die empfindsame erweitert. Kann nun aber als Empfindsamkeit sublimierte Sexualität124 patriarchale sowie ständische Normen unterlaufen und das Sexualitätsproblem der jungen bürgerlichen Frau lösen? Zu Beginn erweckt es tatsächlich den Anschein, als wolle die Gräfin sich über Standesunterschiede hinwegsetzen. Sie bricht mit ihren adligen Verhaltensstandards und sucht die Bürgerliche selbst auf, um sich ihr als „beste Freundin“ (III,10) anzubieten. Sie beschwört die moralische Gleichheit der beiden Frauen („aber Sie können sich damit trösten, dass Sie sich Ihr Unglück durch kein Laster zugezogen.“, III,10). Die ganze Kommunikationssituation deutet jedoch von vorn herein auf ein Machtgefälle zwischen den beiden hin, das durch die zusätzliche sprachliche Infantilisierung Maries durch die Adlige („armes Kind“, „liebes Kind“, „unglückliches Mädchen“, III,10) nur noch verstärkt wird. Hinter der Fassade empfindsam verklärter Zärtlichkeit verbirgt sich jedoch eine Herrschaftsgeste, die dadurch markiert wird, dass La Roche moralische Werturteile ausspricht und Marie in die Rolle derjenigen drängt, die sich rechtfertigen muss („…ich bitte Sie, wie kamen Sie doch dazu, über ihren Stand heraus sich nach einem Mann umzusehen.“, III,10). Ohne, dass Marie eine Chance erhält, ihre Situation zu erklären, übt die Gräfin ganz klar diskursive Macht über sie aus und drängt sie von der Opfer- in die Täterinnenrolle („… Sie wollten von ih122
Vgl. Becker-Cantarino: Sophie von La Roche. In: Deutsche Dichter 3: Aufklärung und Empfindsamkeit. Stuttgart 1988. S. 247-253.; Loster-Schneider, Gudrun: Sophie La Roche. Paradoxien weiblichen Schreibens im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995. 123 Vgl. Luserke: Lenz-Studien. S. 128f. 124 In Anlehnung an Sauder wird hier Empfindsamkeit als sozial- und psychohistorisch begründetes Sublimat des Triebvermögens bürgerlicher Gesellschaftsschichten im 18. Jahrhundert verstanden. Vgl. Sauder, Gerhard: Empfindsamkeit - Sublimierte Sexualität. In: Klaus P. Hansen (Hrsg.): Empfindsamkeiten (Passauer Interdisziplinäre Kolloquien 2). Passau 1990. S. 167-177.
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resgleichen beneidet werden.“, III10). Marie fehle es an „demütige[m …] Geist“, doch es sei „nie zu spät, vernünftig zu werden“ (III,10, Hervorhebung M.L.). Vernunftgeleitetes Handeln wird trieb- und lustgeleitetem Handeln gegenübergestellt. Der kategorische Imperativ der Gräfin La Roche lautet demnach: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer patriarchalen, ständischen Gesetzgebung gelten könne.“125 Marie habe kein Anrecht, ihre sexuellen Bedürfnisse auszuleben und tut sie es doch, gilt dies nicht nur als liederlich, sondern ebenso als unvernünftig. Die Gräfin kriminalisiert Maries Begehren, erklärt es für illegitim, hält dabei gleichzeitig die sittliche und ständischgesellschaftliche Ordnung aufrecht. Moralisch-sittliches und politisch-gesellschaftliches Urteilen gehen Hand in Hand einher. In ihr artikuliert sich die Angst des Adels vor bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen. Sie wirft Marie vor, diese wolle „die Welt umkehren“ und zeigt dafür schließlich keinerlei Verständnis („Wo dachten Sie hinaus?“, III,10). Dennoch drückt sie das Mädchen „an ihre Brust“ (III,10) und stilisiert sich als ihre moralische Retterin, was letztlich geheucheltes Mitleiden, eine herablassende Herrschaftsgeste, bedeutet. Schließlich setzt die Gräfin ihr Vorhaben durch und Marie dafür „tausend Taler zur Aussteuer aus“ (III,10), dass diese als Gesellschafterin in ihre Dienste tritt. Die Weseners sollen so ihre Schuld begleichen können. Die Chance auf Rettung der Tugendhaftigkeit der Tochter bietet ebenso die Chance auf Wiederherstellung der ökonomischen Unversehrtheit der Familie. Sittlichkeit und Ökonomie zeigen sich erneut als eng miteinander verknüpft. Wo der Schulmeister Wenzeslaus im Hofmeister eine diätische Lebensführung zur Triebkontrolle empfiehlt, bietet die Gräfin La Roche die soziale und gleichzeitig auch sexuelle Isolation des Subjekts an. In Form von Unterdrückung des Begehrens sollen Verhaltensstandards an die Bürgerstochter weitergegeben werden. Das von der Gräfin proklamierte vernünftige Wesen dieser Maßnahme weist auf den zivilisationshistorischen Prozess von Fremdzwang in Selbstzwang hin. Die in die Situation verwickelten Männer, Wesener, der doppelmoralische Hausvater, und vor allen Desportes, der adligen Verführer, sieht die Gräfin mit keinerlei Schuld beladen. Sie erweist sich als „Apologetin des Patriarchats“126, die das repressive Wertesystem der ständischen, patriarchalen Gesellschaft, welchem Marie einerseits als Mitglied des Bürgertums und andererseits als Frau zum Opfer fällt, völlig in125
In Anlehnung an Immanuel Kants kategorischen Imperativ, den er als Grundgesetz seiner reinen praktischen Vernunft formulierte: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. Hg. v. Karl Vorländer. Leipzig 81922. S. 39. 126 Luserke: Lenz-Studien. S. 133.
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korporiert hat und in Form von diskursiver Macht reproduziert, indem sie dem Mädchen vorgibt, was moralisch erstrebenswert oder verwerflich ist. Die empfindsamen Lösungsangebote im Problem der sexuellen Unfreiheit Maries sind also ebenso untauglich wie in patriarchale und ständische Machtstrukturen eingebettet. Durch sie bleibt die Bürgerstochter ein Opfer der rigiden Sexualmoral. In IV,3 treibt Lenz die Kritik an der moralischen Empfindsamkeit La Roches weiter voran. Penibel überwacht sie Marie, durch Regeln und Vorschriften bedient sie sich Erziehungsmethoden der patriarchalen Gesellschaft, ist wie diese Kontroll- und moralische Instanz in einem. Das ungeplante Zusammentreffen Maries mit Mary im Garten – sonst klassischer Ort für Liebesszenen – deutet die Gräfin als „Rendezvous“ (IV,3), obwohl sie die Unterredung belauschte und der moralischen Standhaftigkeit Maries und ihrer Loyalität gewahr worden ist. La Roche ist die eigentlich unmoralische und nutzt ihre diskursive Herrschaft gnadenlos aus. Sie übernimmt die Funktion einer Benennungsmacht und kann so die Bestrafung ihres Schützlings aus sich selbst heraus legitimieren: „Ich verzeihe es dir niemals, wenn du wider dein eigen Glück handelst. Geh.“, IV,3). Sie schickt Marie fort. Obendrein obliegt es ihr, das Glück des bürgerlichen Mädchens zu definieren. Desportes kann dies in der nächsten Szene hingegen ganz für sich alleine tun: „Wenn sie [Marie] mir hierher kommt, ist mein ganzes Glück verdorben …“ (IV,4). In der wohl bis dahin kürzesten Szene der Dramengeschichte, in der lediglich Wesener zwei Sätze ausruft („Marie fortgelaufen –! Ich bin des Todes.“, IV,5), konstituiert sich die Peripetie des Stücks. Marie konnte den rigiden Vorschriften nicht mehr standhalten. Ein kleines Greifen nach der Erfüllung eigener Begierden rief die Maschinerie auf den Plan, die sie systematisch zu Grunde richten sollte. Der Vater ist verzweifelt, ruft: „Gott! – wer weiß, wo sie sich ertränkt hat!“ (IV,7). Ein von Desportes angeheuerter Jäger lauert der sich auf der Flucht befindlichen Marie derweil auf und will sie „erfrischen“ (IV,8). Lenz spielt hier mit seinerzeit gängigen Metaphern der Nahrungsaufnahme und deren Abstraktionen, kurz „Metaphern der ‚oralen Inkorporation‘“127. Dabei werden „nicht nur die Vorstufen erotischer Vergnügen, z.B. orale Genüsse, sondern alle Varianten sinnlicher Stimulation einschließlich eindeutig sexueller von der Metaphorik abgedeckt“ 128. Da diese Metaphern auch Aussagen über die (richtige) Dosierung bzw. das (richtige) Tempo der Nah-
127 128
Wernz: Sexualität als Krankheit. S. 165. Ebd. S. 170.
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rungsaufnahme/sexuellen Handlungen tätigen,129 erhält das von Wesener ausgesprochene „ertränkt“ einen weiteren deutlich negativen Bedeutungsinhalt. Der Jäger bezeichnet Marie weiterhin als „Wildpret“ (IV,8), was sich ebenfalls der gängigen metaphorischen Beschreibung der Beziehung zwischen Mann und Frau, bei der Frauen mit mehr oder weniger tauglichen Nahrungsmitteln, die als Ziel haben, den Mann zu stärken, äquivalent gesetzt werden.130 So wird auch Marie später zugeben: „Ich habe immer geglaubt, dass man von Brot und Wasser allein leben könnte.“ (V,2) Doch als sie ein Stück Brot in der Hand hält, wirft sie es mit den Worten „Ich kann’s nicht essen …“ (V,2) fort. Hallensleben konstatiert zwar richtig, dass Marie die Angemessenheit ihres eigenen Handelns im Gegensatz zu nahezu allen anderen Figuren im Stück nicht hinterfragt,131 doch schließlich bereut sie dennoch, dass sie das bürgerliche Wertesystem nicht bereits früher verinnerlicht hat, dass sie so naiv gewesen ist, zu meinen, sie hätte ein Anrecht auf einen eigenen Willen in ihrer Sexualität. Mary bezeugt, dass ihm „aller Appetit zu ihr“ vergangen sei, während Desportes sie als „Knochen“ (V,3) betitelt. Am Ende ist Marie für die beiden Männer eben kein Objekt der Begierden mehr, kann deren Hunger nach Fleisch nicht mehr sättigen. Marys Begehren entpuppte sich also auch als ein primär körperliches. Die Katastrophe deutet sich bereits am Ende des vierten Akts an, wenn Wesener, „weil ihm die Leute alles im Hause haben versiegeln wollen wegen der Kaution“ (IV,10), und seine Familie finanziell ruiniert sind. Marie zieht als „Bettelmensch“ (V,2) durch die Gegend und Stolzius bringt mit allerletzten Kräften sich selbst und den Verführer Desportes ums Leben. Er hätte auch einfach Marie aufsuchen, ihr Kind annehmen und mit ihr zusammen leben können, doch ein glattes Ende kam für Lenz nicht in Frage. Schließlich blitzt doch auch beim bürgerlichen Stolzius, der freilich nicht umsonst seinen Namen trägt, aber sonst doch so frei vom verhängnisvollen sexuellen Wertesystem seines Standes geblieben ist, eine gebrochene bürgerliche Ehre hindurch („… und ich bin Stolzius, dessen Braut du zur Hure machtest. Sie war meine Braut.“, V,4, Hervorhebung M. L.). Nicht, wie so oft im bürgerlichen Drama des 18. Jahrhunderts, lässt der Autor Marie ebenso wie Gustchen sterben. Hatte sich bei Emilia Galotti, Srara Sampson oder Louise Miller „die Reinheit [der weiblichen Seele] nur um den Preis des Todes“132 beweisen können, überlebt Marie und trifft auf ihrem Vater. Nach einem kurzen emotionalen Widersehen „wälzen sich [beide] 129
Wernz: Sexualität als Krankheit. S. 169f. Vgl. ebd. S.166ff. 131 Vgl. Hallensleben: „Dies Geschöpf taugt nur zur Hure…“. S. 230. 132 Stephan, Inge: „So ist die Tugend ein Gespenst“. Frauenbild und Tugendbegriff im bürgerlichen Trauerspiel bei Lessing und Schiller. In: Lessing Yearbook 1985. S. 1-20. 130
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halb tot auf der Erde. Eine Menge Leute versammeln sich um sie, und tragen sie fort.“ (V,4). Das Ende wirkt grotesk. Die Familie ist abgesehen von Vater und Tochter gänzlich in den Hintergrund getreten. 133 Das Stück endet dann mit einer Unterredung zwischen der Gräfin La Roche und dem Obrist Graf von Spanheim. Letzterer möchte, getroffen von Maries Schicksal, Wesener „alle seine Schulden bezahlen, und noch tausend Taler zu seiner Schadloshaltung obenein“ (V,5). Die Gräfin bedient sich eines empfindsamen Verhaltensmusters, „sie weint“ (V,5), doch erkennt keine Mitverantwortung. Wie der Geheime Rat kann sie nur reden, lässt aber keine Taten folgen. Nun greift der Autor den zeitgenössischen Soldatendiskurs wieder auf, der auch bereits früher im Stück thematisiert worden ist, denn auch die Gräfin erkennt: „Das sind die Folgen des ehlosen Standes der Herren Soldaten.“ (V,5) Damit weist sie auf die Ehe als zentralen Ort für legitime Sexualität und Instanz der Triebkontrolle der bürgerlichen Gesellschaft hin. Ohne die Ehe werde der Mensch amoralisch und verfalle seiner Triebnatur. Mit dem Vorschlag des Obristen (in der ersten Fassung: der Gräfin), „eine Pflanzschule von Soldatenweibern“ (V,5) anzulegen, empfiehlt sich Lenz als Militärreformer. Junge Frauen sollen demnach als Geschlechtsobjekte zur Triebabfuhr der männlichen Soldaten dienen und somit die staatliche und gesellschaftliche Ordnung stützen. Jedoch verliert der Vorschlag der Soldatenhuren an Bedeutung, wenn man beachtet, dass Lenz stets in erster Linie für die Soldatenehe eintrat.134 Seine Konzeption dieser Ehen, bei der die Frauen allerdings ebenfalls nur auf „ihre sexuelle und reproduktive Funktion beschränkt und dazu noch ihrer Kinder beraubt“135 werden, ist ein Feld, dass hier jedoch nicht mehr umrissen werden kann.136
133
Vgl. zur untergeordneten Rolle bzw. zum Verschwinden der Mutter gegen Ende des Dramas Kaarsberg Wallach, Martha: Emilia und ihre Schwestern: Das seltsame Verschwinden der Mutter und die geopferte Tochter. Lessing, Emilia Galotti, Lenz, Hofmeister, Soldaten, Wagner, Kindermörderin, Schiller, Kabale und Liebe, Goethe, Faust, Egmont. In: Helga Kraft/Elke Liebs (Hrsg.): Mütter – Töchter – Frauen. Weiblichkeitsbilder in der Literatur. Stuttgart/Weimar 1993. S. 53-72. Ähnlich wird es sich in den Dramen Wagners und Schillers verhalten. 134 In seiner Schrift Über die Soldatenehen vermeidet Lenz jegliches auf Prostitution anspielendes Vokabular und betont die Bedeutung der Institution Ehe. Vgl.: Lenz: Über die Soldatenehen. S. 787-829. So schrieb er ebenfalls an Herder: „Was die letzte Szene betrifft, […] könnte allen verdrießlichen Folgen durch Weglassen oder Veränderung einiger Ausdrücke des Obristen begegnet werden. Z. E. das mit den Konkubinen, medischen Weibern, könnte ganz wegfallen und der Obriste dafür lieber von Soldatenweibern sprechen.“ Vgl. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Lenz an Herder, 20. 11. 1775. In: Ders.: Werke und Briefe in drei Bänden 3. S. 353. 135 Wilson, W. Daniel: Zwischen Kritik und Affirmation. Militärphantasien und Geschlechterdisziplinierung bei J. M. R. Lenz. In: Stephan/Winter (Hrsg.): „Unaufhörlich Lenz gelesen …“. S. 59. 136 Vgl. zu Lenzens Militärreformen ebd.; Hempel, Brita: Lenz’ „Loix des femmes Soldats“: Erzwungene Sittlichkeit in einer „schraubenförmigen Welt“. In: Stephan/Winter (Hrsg.): „Die Wunde Lenz“. S. 373-387.;
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Wie im Hofmeister verbindet Lenz auch in seinen Soldaten Herrschafts- und Sozialkritik mit bestimmten gesellschaftlichen Diskursen. Neben dem hier fokussierten Sexualitätsdiskurs ist vor allem die zeitgenössisch sehr kontrovers diskutierte Problematik der Soldaten im Stück zentral. Noch stärker als im Hofmeister bildet der Sexualitätsdiskurs die Handlungs- und Gesprächsebene, auf der die weibliche Protagonistin Marie Wesener gleich fünffach als Objekt männlicher Begierden fokussiert wird. Stolzius, ihr bürgerlicher betrogener Liebhaber, Desportes, ihr adliger Verführer sowie Mary, ebenfalls ein Offizier beim Militär, buhlen um die Gunst der jungen, unerfahrenen Bürgerstochter. Auch der empfindsam schwärmende Graf La Roche entwickelt Gefühle für sie, wobei ihm „Sublimierung als Verschleierung des Triebziels“137 dient und der namenlose Jäger verfällt beim Anblick Maries geradezu in Vergewaltigungsphantasien. Gegenüber jenen „Begehrensformen einer patriarchalen Gesellschaft, die nur männliche Gewalt kennt“138 ist es Marie jedoch versagt autonom zu handeln. Zu Anfang war ihr geboten, sich der väterlichen Erziehung, später dann den Tugendidealen der Gräfin La Roche, unterzuordnen. Im Sexualitätsdiskurs konstituiert sich also Lenzens tragikomisches Programm, das Tragische in der Handlung und das Komische in den agierenden Personen, wodurch, wie schon im Hofmeister, ein eindeutiges Ende nicht erzielt werden kann und die Kritik sowohl Adel als auch Bürgertum trifft.139 Die Handlung besteht in der Verfügungsgewalt männlicher, aristokratischer Sexualität. Die tragisch handelnden Personen, Wesener, Stolzius und vor allem Marie, die als weibliches Individuum doppelt betroffen ist, können sich nicht gegen diese Gewalt wehren, da sie sich nicht wehren dürfen. Die von Kant am Ende des Jahrhunderts postulierte Freiheit des Willens140 ist nicht die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit einer bürgerlichen Frau. In sexuellen Handlungen und Aussagen reproduzieren sich gesellschaftliche und patriarchale Herrschaftsinteressen. So erkannte Lenz zutreffend, dass „Macht […] in die menschliche Natur geschrieben [ist]“.141 Und nicht zuletzt „dieser Befund macht [ihn] zweifelsohne zu einem der scharfsichtigsten Diagnostiker seiner Zeit“142.
Hill, David: Die Arbeiten von Lenz zu den Soldatenehen. Ein Bericht über die Krakauer Handschriften. In: Stephan/Winter (Hrsg.): „Unaufhörlich Lenz gelesen …“. S. 118-137. 137 Sauder: Empfindsamkeit. S. 147f. 138 Luserke: Lenz-Studien. S. 135. 139 Zur Beziehung zwischen Lenzens Poetik und seiner Sozial- und Gesellschaftskritik vgl. Wissmeyer: Gesellschaftskritik in der Tragikomödie. 140 Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (Philosophische Bibliothek 505). Hg. v. Jens Timmermann. Mit einer Bibliogr. v. Heiner Klemme. Hamburg 1998. S. 622. 141 Lenz: Über die Soldatenehen. S. 789. 142 Luserke: Lenz-Studien. S. 129.
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6 Heinrich Leopold Wagner
6.1 Exkurs: Der Kindsmord im 18. Jahrhundert Das Verbrechen der Kindestötung und dssen öffentliche Diskussion sind nicht erst ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert und generell sind Aussagen über die Häufigkeit des Auftretens außerordentlich schwierig zu fällen, da Kriminalstatistiken im modernen Sinne fehlen und die Anzahl unaufgeklärter Fälle als sehr hoch eingeschätzt wird,143 doch es spricht eine Reihe von Erkenntnissen dafür, dass in jener Zeit die Zahl der Kindsmorde signifikant anstieg.144 Eine zeitgenössische Definition der Tat wurde erstmals 1737 schriftlich dokumentiert: Kinder-Mord ist, wenn eine Mutter ihr unter den Hertzen getragenes Kind jämmerlich umbringet. Eine Anzeige eines Kinder-Mords ist, ein dick gewesener und wieder abgelegter Leib, ingleichen wenn eine Weibs-Person allein niedergekommen/ und spricht, sie habe ein todtes Kind zur Welt gebracht, und die Zeit so lange her ist, daß das Kind wohl hat leben können. 145
Es wird ersichtlich, dass das reine Verdachtsmoment ausreichte, um untrügliche Anzeichen für einen erfolgten Kindsmord vorzubringen. Doch die Beschäftigung mit dem Kindsmord zur Zeit der Aufklärung berührt nicht nur rechts-, kriminal- und religionsgeschichtliche Aspekte,146 sondern es wird stets auch ein komplexes Bündel von Themen wie die vor- und außereheliche Sexualität, Verführung und Vergewaltigung, Konflikte zwischen Liebesund Konvenienzbeziehung sowie schließlich gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen, die die soziale Stellung der Kindsmutter, des unehelichen Kindes und auch des Kindsvaters miteinschließen, verhandelt, sodass Luserke deutlich den „Zusammenhang zwischen Sexualität und Verbrechen“ 147 betont. Die Carolina, die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, formuliert als erstes Strafgesetzbuch Bestrafungen für die Tötung von Neugeborenen. Die Regelstrafe ist das Ertränken, zur Abschreckung wurde jedoch auch das Pfählen, Lebendigbegraben oder das Reißen mit glühenden Zangen empfohlen. Auch zur Folterung beim Leugnen der Tat
143
Vgl. Wächtershäuser, Wilhelm: Das Verbrechen des Kindesmordes im Zeitalter der Aufklärung. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung der dogmatischen, prozessualen und rechtssoziologischen Aspekte. Berlin 1973. S. 109f. 144 Vgl. ebd. S. 113.; Schwarz zeigt dies am Beispiele Nürnbergs auf. Vgl. Schwarz, Manfred: Die Kindstötung vom qualifizierten zum privilegierten Delikt. Berlin 1935. S. 42ff. 145 Zedler, Johann Heinrich: Kinder=Mord. In: Ders.: Großes vollständiges Universal-Lexikon. Repr. Nachdr. 15. Graz 1961. Sp. 650. 146 Vgl. Wächtershäuser: Das Verbrechen des Kindesmordes im Zeitalter der Aufklärung. S. 28. 147 Luserke: Sturm und Drang. S. 220.
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wird angehalten.148 Nicht zu Unrecht wird die Carolina als „Ausgangspunkt des neuzeitlichen Strafrechts“149 bezeichnet, denn auch im Jahrhundert der Aufklärung wurde der Kindsmord nicht nur in der Regel durch Enthauptung mit dem Schwert geahndet, sondern auch verschiedene Methoden der Folterung waren noch üblich. Die drastischen Maßnahmen sind jedoch nicht nur der Dringlichkeit der Bestrafung geschuldet, auch die Abschreckung im Sinne einer Präventivmaßnahme war von Bedeutung, um ein strenges sexualmoralischen System aufrechtzuerhalten. So erzählt der Volksaufklärer Rudolph Zacharias Becker 1788 im Kapitel „Was dabey heraus kommt, wenn Bauersmädchen sich mit vornehmen Herren gemein machen“ seines Noth- und Hilfsbüchlein für Bauersleute 1788 die Geschichte einer jungen Frau, die von einem adligen Offizier geschwängert und sitzengelassen wird, daraufhin ihr Neugeborenes im Backofen verbrennt und schließlich mit einer lebenslangen Haft im Zuchthaus bestraft wird.150 Der voreheliche Geschlechtsverkehr, ein unstandesgemäßer obendrein, sei also die Wurzel allen Übels. Sittsamkeit und Standesbewusstsein hätten in der Geschichte die Gräueltat verhindern können. Damit steht für die zeitgenössischen Diskutanten des Kindsmord in aller Regel fest, „verbotene Sexualität [habe] nur eines zur Folge: die Tötung des dabei gezeugten Kindes“.151 Die Ursachen für die Straftat lagen in den demütigenden Strafen für Unzuchtsdelikte152, in der zu erwartenden Armut, da die betroffene Frau zumeist ihre Anstellung verlor und verstoßen wurde, in Ehehindernissen, die nicht nur später die Kindsmütter mit einem Bastardskind zu erwarten hatten, sondern die auch die Kindsväter, welche oft Soldaten, zu arm oder minderjährig waren, betrafen, und schließlich in der drohenden Diskriminierung des unehelichen Kindes, dem bestimmte Rechte von vornherein verwehrt blieben und welches eine geächtete Stellung in der Gesellschaft einnehmen würde.153 Die Schande, die ein Weiterleben im der Gesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts beinahe unmöglich machte, der Ehrverlust und die internalisierten bürgerlichen Verhaltensnormen bildeten die psychologische Grundlage für den Kindsmord. Schon Pestalozzi bezeugte, dass die meisten Kin148
Vgl. Artikel 35, 36: Von heymlichem Kinder haben, vnd tödten durch jre mütter, gnugsam anzeygung. In: Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen Römischen Reichs von 1532. Hg. u. erläutert v. Friedrich-Christian Schroeder. Stuttgart 2000. S. 41.; Artikel 41: Straff der weiber so jre kinder tödten. In: Ebd. S. 82f. 149 Radbruch, Gustav: Zur Einführung in die Carolina. In: Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532. Hg. u. erläutert von Gustav Radbruch/Arthur Kaufmann. Stuttgart 1978. S. 3. 150 Vgl. Becker, Rudolph Zackarias: Noth- und Hilfsbüchlein für Bauersleute. Nachdr. d. Erstausg. von 1788. Hg. v. Reinhart Siegert. Dortmund 1980. S. 199ff. 151 Luserke/Glaser: Lustverbot und Kindsmord. S. 220. 152 Vgl. Pilz, Georg: Deutsche Kindsmordtragödien: Wagner – Goethe – Hebbel – Hauptmann (Analysen zur deutschen Sprache und Literatur). München 1982. S. 12. 153 Vgl. Ebd. S. 12ff.
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destötungen ein Ausdruck äußerster Verzweiflung waren, in die die zumeist jungen Frauen durch die rigiden Vorschriften, das Ausleben ihrer Sexualität betreffend, getrieben worden seien.154 Die Schuld bei solchen Delikten traf stets die patriarchal unterdrückte Frau, und das gilt nicht nur für den Kindsmord, sondern ebenfalls für den vorangegangenen Beischlaf, den sie aufgrund moralischer Schwachheit zu verantworten hatte. Der Kindsvater hatte in der Regel im schlimmsten Fall mit einer Anklage wegen eines Unzuchtsdelikts zu rechnen. Adlige brauchten sich vor Schande erst gar nicht zu fürchten, denn uneheliche Kinder konnten in Klöstern untergebracht und ein sozialer Abstieg mit finanziellen Mitteln vereitelt werden. „Der psychohistorische Aspekt läßt sich also vom sozioökonomischen nicht trennen.“155 Von den Schriftstellern des Sturm und Drang ließ es sich indes kaum einer nehmen, den Kindsmord, welcher Eingang in nahezu alle wichtigen Gattungen der literarischen Strömung fand, zu thematisieren.156 Die Thematik war prädestiniert für die im Sturm und Drang typische Affirmation gegen Normen und die Orientierung der Kunst an der Wirklichkeit. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie der Dichter Heinrich Leopold Wagner das Kindsmordthema verarbeitet und deutlich in Beziehung zu zeitgenössischen sexualmoralischen Normen setzt.
6.2 Die Kindermörderin (1776) Neben dem Hofmeister und den Soldaten ist Die Kindermörderin das bedeutendste soziale Drama im Sturm und Drang. Wagners Originalfassung wurde nach der Veröffentlichung lediglich in Pest und in Pressburg aufgeführt und erst 1904 in Berlin wieder unverändert auf die Bühne gebracht. Zeitgenossen nannten das Stück „unanständig und unmoralisch“157, einige Szenen seien „schmutzig und plump“158 sowie keuschen Augen und Ohren nicht zuzumuten.
154
Vgl. Pestalozzi, Heinrich: Über Gesetzgebung und Kindermord. In: Ders.: Werke in acht Bänden. Gedenkausgabe zu seinem 200. Geburtstage 4: Schriften aus der Frühzeit 1765-1783. Hg. v. Paul Baumgartner. Erlenbach-Zürich 1945. S. 440ff. 155 Luserke: Sturm und Drang. S. 223. 156 Eine Auflistung mitsamt inhaltlicher Kurzvorstellungen sämtlicher Werke bei Weber, Beat: Die Kindsmörderin im deutschen Schrifttum von 1700–1795 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 162). Bonn 1974. S. 18ff. 157 Lessing, Karl Gotthelf: Auszüge aus K.G. Lessings Bearbeitung (1777). In: Heinrich Leopold Wagner: Die Kindermörderin (Reclams Universal-Bibliothek 5698). Hg. v. Jörg-Ulrich Fechner. S. 89.
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Um einen Eindruck davon zu erhalten, wie der Kindsmord zu Beginn des 18. Jahrhunderts als kulturelles Deutungsmuster, also „als Elemente der Weltdeutung mit möglicher Handlungsanbindung“159, fungierte, bietet sich ein Blick auf den Bänkelsang Bewegliche Abschieds=Worte160, indem die historische Kindermörderin Johanna Susanna Riedeln angeklagt wird. Die Bedeutung der sittlichen und religiösen Ordnung, welche wiederhergestellt werden muss, sowie die Verwerflichkeit der Tatursache, der vorehelichen Sexualität, werden betont („Unzucht war auch mein Verderben / Daß ich itzt durchs Schwerdt muß sterben“). Die Tat wird geradezu urböse und unmenschlich besetzt, von „Satans=Trieben“ ist die Rede. Die Morität verdeutlicht, was passiert, wenn sich junge Frauen nicht an den bürgerlichen Tugendkatalog halten. Luserke sieht Wagners Kindermörderin in diesem Kontext als „einen Punkt des kulturellen Wandels von Denk- und Handlungsnormen an“161. Inwiefern der Dichter also den Kindsmord anders als seine Zeitgenossen zu deuten wusste, soll im Folgenden genauer untersucht werden. Der erste Akt des Dramas spielt im Gelben Kreuz, einem Bordell in Straßburg. Der Lieutenant von Gröningseck führt Frau Humbrecht und deren achtzehnjährige Tochter Evchen in das Zimmer hinein. Der Lieutenant und die Mutter nehmen die Masken vom zuvor besuchten Ball ab und er „zieht Evchen die Maske auch ab“ (I)162. In diesem Moment wird der symbolische Verzicht auf gesellschaftlich normierte Verhaltensstandards, die für die Frauen berechenbar gewesen wären, vollzogen. Die von der Gesellschaft sanktionierte Moral scheint außer Kraft gesetzt. Von Gröningseck weist sich von Anfang an durch sprachliche Überlegenheit aus. Er macht schmeichlerische Komplimente, sagt er „hab[e] jede Minute gezählt“ (I), die er bereits im Hause des Metzgers Martin Humbrecht zur Miete wohnt, täuscht Bescheidenheit vor („Noch aber bin ich nicht Hauptmann, und ich laß mich nicht gern mehr schelten, als ich bin.“, I) und versetzt die Frauen in den Glauben, nicht in 158
Lessing: Auszüge aus K.G. Lessings Bearbeitung (1777). S. 94. Bollenbeck, Georg: Von der Gefährlichkeit eines Deutungsmusters. Der Streit um „Bildung“ und „Kultur“ während der Wahlrechtsdebatte im preußischen Abgeordnetenhaus (1910). In: Der Deutschunterricht 46/4 (1994). S. 34. 160 Der vier Seiten lange Text liegt nur noch in einem Exemplar vor. Vgl. Bewegliche Abschieds=Worte, Womit Johanna Susanna Riedeln, (Als solche wegen verübten Kinder=Mords nach Urthel und Recht mit dem Schwerdt vom Leben zum Tode gebracht wurde). Dresden 1726. Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung. (Signatur 17. In: Fy 7910 R). (URL: http://digital.staatsbibliothekberlin.de/werkansicht/?PPN=PPN656084707&LOGID=LOG_0001. Letzter Zugriff am 20.06.2015.) 161 Luserke, Matthias: Heinrich Leopold Wagner: Die Kindermörderin. In: Interpretationen. Dramen des Sturm und Drang (Reclams Universalbibliothek 8410). Stuttgart 21997. S. 161-196. Eine ausführliche Untersuchung zu dem Thema liegt vor in Luserke, Matthias: Kulturelle Deutungsmuster und Diskurstransformationen am Beispiel des Themas Kindsmord zwischen 1750 und 1800. In: Lenz-Jahrbuch. Sturm-und-Drang-Studien 6 (1996). S. 198-229. 162 Die Zitationen folgen der Ausgabe Wagner: Die Kindermörderin. 159
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einem anrüchigen Etablissement, sondern einem „honetten Haus“ (I) zu sein. Wenn Evchen seine Aufdringlichkeiten zurückweist, egalisiert er ihre Vorwürfe durch seine Redemacht („Zank nicht Evchen! Zank nicht!“, I). Ihre Mutter ist hingegen ganz geblendet von dem jungen, frechen Militär („Er ist zum Fressen der kleine Narr man muß ihm gut seyn, …“, I). Weiterhin degradiert von Gröningseck die junge Frau durch „sprachliche Infantilisierung“163 („mein Kind“, „mein Liebchen“, „Kleine“, „Närrchen“, I), während er die Mutter wiederholt „mein Weibchen“ (I) nennt. Durch das Wort schafft sich der adlige Mann eine väterliche Gewalt, die keinen Widerspruch duldet und letztlich auf die Erfüllung seiner Begierden abzielt.164 Er will sich lediglich des begehrten Körpers des Mädchens, die ihm ein „Spielwerk“ (III) ist, bemächtigen und tut dies auch. Evchens Mutter packt er um den Leib und „stellt sie zwischen seine Beine“, „hält sie [vom Aufstehen] ab“ und „küßt“ (I) beide Frauen mehrfach. Die Tochter versucht er gar mit seinem Blick zu bannen, „sieht ihr starr in die Augen“ (I). Der traditionell männlich konnotierte Blick165 macht sein fixiertes Ziel zum Objekt und vermittelt das Potential an Macht bzw. Gewalt, die jederzeit freigesetzt werden kann.166 So nimmt auch Evchen das Starren des Lieutenants als Bedrohung wahr und fordert ihn auf, es zu unterlassen: „Ums Himmelswillen sehn sie mich nicht so an; ich kanns nicht ausstehn.“ (I) Als der Lieutenant den Tisch umstößt und damit das Licht erlischt, gibt er vor dieses zu suchen, nutzt die Dunkelheit jedoch um Evchen anzufassen. Das Licht wahrer Aufklärung geht aus und die Unmenschlichkeit wächst an. In der Zwischenzeit hat der Verführer Frau Humbrechts Betäubung veranlasst. Die Prostituierte Marianel, die ebenfalls eine Verführte des Lieutenants ist, hilft ihm dabei, indem sie ein spezielles Pulver in den Punsch der Humbrechtin mischt. Marianel betont zwar ihr schlechtes Gewissen bei der Tat, doch die Erwähnung, ein „großer Thaler“ (I) sei ihre Belohnung, lässt ihr praktisch keine andere Wahl. Die Prostituierte ist ökonomisch vom gesellschaftlich höher Gestellten abhängig. Dieser diffamiert sie noch („Einer Hur ist niemals zu trauen –“, I), woraufhin sie seine Aussage relativiert („Keinem Schelmen auch nicht, Luserke, Matthias: Körper – Sprache – Tod: Wagners ‚Kindermörderin’ als kulturelles Deutungsmuster. In: Erika Fischer-Lichte/Jörg Schönert (Hrsg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Göttingen 1999. S. 206. 164 Vgl. Luserke: Heinrich Leopold Wagner: Die Kindermörderin. S. 176. 165 Vgl. Lauretis, Teresa de: Rethinking Women’s Cinema: Aesthetic and Feminist Theory. In: Dies. (Hrsg.): Technologies of Gender. Bloomington, Indiana 1987. S. 133. 166 Vgl. Denzin, Norman K.: The Cinematic Society: The Voyeur’s Gaze. London [u.a.] 1995. S. 46. Im Kontext von Lessings Emilia Galotti spricht Wild gar von „vergewaltigenden Blicken“. Vgl. Wild, Christoph: Der theatralische Schleier des Hymens. Lessings bürgerliches Trauerspiel „Emilia Galotti“. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74/2 (2000). S. 200. 163
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und wenn keine Hurenbuben wären; so gäbs lauter brave Mädels.“, I). Die Ähnlichkeit zu Feldprediger Eisenhardts Ansichten in den Soldaten ist offensichtlich. Nur lässt Wagner hier die untersten Gesellschaftsschichten explizit artikulieren, wie patriarchale Sexualmoral mit der Unterdrückung weiblicher Individuen zusammenhängt. Die Sozialkritik nimmt so noch drastischere Züge an. Als von Gröningseck dann anfängt, Evchen zu bedrängen und zu küssen, erwidert diese erneut: „ich will nicht“ (I). Sie „sträubt sich, reißt sich los und läuft der Kammer zu“, der Lieutenant eilt ihr nach und „schmeißt die Kammertür zu“ (I). Das Eindringen des Mannes in die Kammer deutet hinsichtlich der zeitgenössischen räumlichen Konzeption des weiblichen Körpers167 bereits das Folgende voraus. Was folgt, ist „inwendig Getös“ (I) – so die Regieanweisungen. Während Luserke klar für eine Vergewaltigung plädiert, indem er sich auf die Regieanweisungen und die vorangegangenen Dialogfetzen stützt,168 sieht Mabee eine Verführung mit einer Mitschuld Evchens, welche „mit dem sexuellen Akt ihren Drang nach Freiheit zum Ausdruck gebracht“169 habe. Die Regieanweisungen haben hier jedoch keinerlei Beweisfunktion, denn Begriffe solcher Art hatten im literarischen Diskurs und insbesondere bei der Darstellung sexueller Akte ihre Eindeutigkeit als Zeichen eines gewaltsamen Übergriffes mit unschuldigem Opfer bereits verloren.170 Wenn Evchen später sagt, sie sei „verführt“ und „übertölpelt“ (VI) worden, oder im Anschluss an die Tat klagt, sie sei „zur Hure gemacht“ oder „zu Fall gebracht“ (I) worden, so macht sie sich lediglich den regulierenden Sprachgebrauch des Mannes zu eigen. Auch eine Verführung ist hier nicht eindeutig zu erkennen. Peters hebt hingegen genau diese Ambivalenz der Situation hervor,171 denn die Ungenauigkeit der Angaben bezüglich der Frage, ob eine Verführung oder eine Vergewaltigung vorliegt, weist auf eben die Problematik in der Rechtssprechung jener Zeit hin, die es für Frauen nahezu unmöglich machte, vor Gericht an ihnen verübte sexuelle Gewalt nachzuweisen. So wurde der gerichtsmedizinische Diskurs über Notzucht, welche auf physischer Gewalt basiert, maßgeblich durch das sogenannte „Axiom der Un-
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Vgl. Wernz: Sexualität als Krankheit. S. 63ff. Vgl. Luserke: Heinrich Leopold Wagner: Die Kindermörderin. S. 177. 169 Mabee, Barbara: Die Kindesmörderin in den Fesseln der bürgerlichen Moral: Wagners Evchen und Goethes Gretchen. Woman in German Yearbook. Feminist Studies in German Literature & Culture 3 (1986). S. 35. 170 Vgl. Künzel, Christine: Dramen hinter den Kulissen: Anmerkungen zur Repräsentation sexueller Gewalt bei Lenz, Wagner und Lessing. In: Stephan/Winter (Hrsg.): „Die Wunde Lenz“. S. 343f. 171 Vgl. Peters, Kirsten: Der Kindsmord als schöne Kunst betrachtet. Eine motivgeschichtliche Untersuchung der Literatur des 18. Jahrhunderts (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 350). Würzburg 2001. S. 64. 168
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möglichkeit der Vergewaltigung einer Frau ohne zusätzliche Hilfsmittel“172 geprägt und die vergewaltigte Frau mitsamt des Täters vor Gericht zumeist wegen Unzucht, also vorehelicher sexueller Handlungen, für schuldig befunden,173 da eine Verführung die Mitschuld beider Beteiligten implizierte. Eine vergewaltige Frau hatte vor Gericht insgesamt kaum Chancen auf Gerechtigkeit. Die moralische Schwachheit der Frau wurde in der Rechtssprechung institutionalisiert und somit auf eine neue Ebene gehoben – ein weiterer Aspekt der planmäßigen Abschreckung vor unsittlichem Verhalten, welcher allerdings seine Wirkung verfehlte. Marianel und die Wirtin des Hauses „stellen sich […] als hörten sie nichts“ (I). Die unterdrückten Teile der Gesellschaft konnten sich untereinander keine Hilfe leisten, denn nur die Sorge um das eigene ökonomische Fortkommen war oberste Priorität. Der verführende Adlige wird bei seinem unmoralischen Spiel nicht weiter gestört. Nachdem Evchen aus der Kammer herausstürzt, spricht sie aufgeregt von „Schande“, „beleidigte[r] Tugend“ und nennt sich selbst eine „Gefallene“ (I) – Begriffe, welche dem kodierten Wortschatz des zeitgenössischen Diskurses um vor- und außereheliche Sexualität angehören und gleichzeitig die Bedrohung des sozialen Falls vor Augen führen, dem verführte oder gar vergewaltigte Frauen ausgesetzt waren, wenn die Tat bekannt wird. Von Gröningseck schwört Evchen, sie heiraten zu wollen, wenn er erst Major geworden sei, denn er erkenne nun in ihr sein „Engelskind“ (I). Der skrupellose Verführer wird bereits am Ende des ersten Aktes zum tugendhaften Liebhaber. Dieser nur zu oft von Kritik gescholtene charakterliche Wandel des Lieutenants174 zeigt schlichtweg ein gängiges Verhaltensmuster von Soldaten bei erotischen Abenteuern. Wenn die Triebe ihn übermannen, kennt er nur noch Eines und „wenn der Soldat Eyerweck hat, frißt er kein Kommißbrod.“ (I). Auch Wagner bedient sich wie Lenz der Nahrungsmetaphorik bezüglich des Frauenkörpers und des sexuellen Aktes. Erst nachdem die leiblichen Begierden gestillt sind, erkennt er in seinem Opfer das weibliche, schätzenswerte Subjekt. Dieses ist nun jedoch von ihrem „Ehrenschänder“ (I) abhän-
Lorenz, Maren: „Da der anfängliche Schmerz in Liebeshitze übergehen kann“. Das Delikt der „Notzucht“ im gerichtsmedizinischen Diskurs des 18. Jahrhunderts. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 5/3 (1994). S. 336. Vgl. als zeitgenössische Quelle Müller, Johann Valentin: Entwurf der gerichtlichen Arzneywissenschaft nach juristischen und medizinischen Grundsätzen, für Geistliche, Rechtsgelehrte und Aerzte 1: Von den Materialien, welche denen Ehegerichten zur Entscheidung vorgelegt werden. Frankfurt a.M. 1796. S. 337. 173 Ein von Künzel herausgegebener Sammelband beschäftigt sich ausführlich mit juristischen Deutungen von Vergewaltigungen und Verführungen, also Notzuchts- und Unzuchtsdelikten. Vgl. Künzel, Christine (Hrsg.): Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung. Definitionen und Deutungen sexueller Gewalt von der Aufklärung bis heute. Frankfurt a.M./New York 2003. 174 Vgl. Pilz: Deutsche Kindsmordtragödien. S. 34 172
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gig und muss sich auf sein (Ehren-)Wort verlassen, um nicht ihre Ehre zu verlieren. Und wie der Major im dritten Akt schon richtig für seine Zeit konsterniert, ist „lieber das Leben als die Ehre verloren“. Der zweite Akt stellt nun die Familie Humbrecht in ihrer Wohnstube vor. Diese ist „bürgerlich meubliert“ (II), vor allem das Klavier deutet eindeutig auf das kleinbürgerliche Milieu hin. Der Vater Martin Humbrecht wird als Vertreter der alten Ordnung charakterisiert, der streng auf Standesunterschiede achtet und selbstbewusst auf die Ehre seines Standes pocht („Ich habe auch einen Stand, und jeder bleib bey dem Seinigen“, II). Das müßige Treiben „der vornehmen Herren und Damen“ (II) beäugt er kritisch. Versuche einer Lockerung der Sitten und Umgangsformen oder auch nur modische Neuerungen lehnt er ab, so auch den Ballbesuch von Ehefrau und Tochter: Es gehört sich aber nicht für Bürgersleut […] Handwerkstreiber, Bürgerstöchter sollen die die Nas davon lassen; […] brauchen nicht noch ihre Ehr und guten Namen mit aufs Spiel zu setze. – – Wenn denn vollends ein zuckersüßes Bürschchen in der Uniform, oder ein Barönchen, des sich Gott erbarm! ein Mädchen vom Mittelstand an solcher Örter hinführt, so ist zehn gegen eins zu verwetten, daß er sie nicht wieder nach Haus bringt, wie er sie abgeholt hat. (II, Hervorhebung M.L.)
Humbrecht grenzt sich durch seine Moralität und Tugendhaftigkeit von der Aristokratie ab und überträgt seine Werte auch auf seine Tochter, die unter seiner rigiden Erziehung zu leiden hat. Der Mutter wirft Humbrecht vor, sie ließe ihrer Tochter „zu viel Freyheit“ (II) und lässt diese selbst „nie aus dem Haus“ (I). Es waren schließlich hauptsächlich die bürgerlichen Mädchen und Frauen, die die Tugendmoral „im wahrsten Sinne des Wortes verkörpern sollten“ (Hervorhebung im Original)175. Der weibliche Körper wurde zur Schwachstelle der Tugendlichkeit und bedurfte des Schutzes und der Überwachung des Mannes. Um das symbolische Kapital im Mädchenkörper zu schützen, benötigte es unter Umständen auch Formen der physischen Gewalt an eben jenem, sodass er Evchen, aber auch seiner Frau des Öfteren Gewalt androht („Blitz und Donner! […] so tret ich dir alle Ribben im Leib entzwey, daß dir der Lusten zum drittenmal vergehen soll.“, II). In der Spiegelgeschichte der anonymen Untermieterin der Humbrechts, welche ein uneheliches Kind von einem Soldaten erwartet, woraufhin der Hausvater sie ohne Umstände vor die Tür zu setzen gedenkt, wird Evchen der Strenge ihres Vaters und ihrem potentiellen eigenen Schicksal gewahr („Meine eigene Tochter litt ich keine stunde mehr im Haus, wenn sie sich so weit vergieng.“, II). Das entjungferte Mädchen erkennt am Ende des Aktes ihre 175
Künzel, Christine: Johann Heinrich Leopold Wagners Die Kindermörderin. Geschlechterkodierung und Rechtskritik im Sturm und Drang. In: Matthias Buschmeier/Kai Kauffmann (Hrsg.): Sturm und Drang. Epoche – Autoren – Werke. Darmstadt 2003. S. 206.
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prekäre Situation und zeigt, dass sie die Normen ihres Vaters vollständig verinnerlicht hat, auch wenn sie nicht in der Lage war, diese angemessen zu erfüllen („Seine eigne Tochter! – – in paar Wochen liegt mein ganzes Verdammungsurtheil! – Welch ein Schatz ist doch ein gutes Gewissen! – Das verlohren – alles verlohren!“, Hervorhebungen im Original, II). Humbrechts Ehefrau wird von Wagner äußerst negativ gezeichnet und so in eine Dramentradition fraglicher Hausmütter des 18. Jahrhunderts eingereiht. Sie lässt sich wie schon die Justizrätin in Die Reue nach der That von der Lebensform der höheren Schicht blenden, will im Gegensatz zu ihrem Mann den sozialen Aufstieg. Sie ist es auch, die Evchen mit auf den Ball und ins Gelbe Kreuz führt und so dem Verführer von Gröningseck aussetzt. Zudem wirkt sie naiv und simpel denkend („Das ist mir viel zu hoch, meine Herren; …“, II), zugleich provokant und überheblich („Spott wie du willst: ich bin und bleib doch, was ich bin.“, II). Indem Wagner der Humbrechtin eine Mitschuld an der Tragödie gibt, weil sie anfangs gegen die patriarchale Ordnung verstoßen hat, bleibt er aber doch auf gewisse Weise den alten Tugendidealen gleichsam verhaftet, kann sich selbst nicht gänzlich von dem lösen, was er kritisiert. Die Familie als entscheidendes Beziehungssystem rückt Die Kindermörderin ebenfalls in eine Traditionslinie des Bürgerlichen Trauerspiels, allerdings bricht Wagner mit der Konvention, die erste Szene in trauter Bürgerlichkeit spielen zu lassen. Finden die mittleren vier Akte in bürgerlicher bzw. die mittleren zwei gar in intimer Sphäre statt, so geschehen im Auftakt- und Schlussakt, welche hingegen in außerbürgerlichen Milieus platziert sind, wo also auch die bürgerliche (Sexual-)Moral außer Kraft gesetzt ist, die Katstrophe und ihr Auslöser. Auch hier findet der Autor keine Alternative zur reglementierenden patriarchalen Ordnung, wenn es um Sexualität und ihre Folgen geht. Dass er auf Außen- und Naturszenen vollkommen verzichtet, verstärkt weiterhindie Bedeutung der Binnenperspektive im Stück. Es geht um das „Interieur einer Seelenlandschaft“176 eines nicht nur physisch vom Verführer, sondern auch psychologisch von inkorporierten Werten und Normen in die Enge getriebenen Individuums. Später erneuert von Gröningseck sein Heiratsversprechen in der Unterhaltung mit dem Lieutenant von Hasenpoth. Dieser wiederum weist darauf hin, dass es „wider allen esprit de corps“ sei, wenn sich sein Kamerad „würklich in das Mädchen verliebt“ (III) habe. Das ausschweifende Sexleben des Adels findet in diesen Worten seinen besten Ausdruck. Das
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Luserke: Heinrich Leopold Wagner: Die Kindermörderin. S. 172.
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weitere Gespräch mit dem hinzukommenden Major entlarvt den Ehrenkodex des Soldatenstandes als höchst widersprüchlich. Da Duelle verboten sind, müsse man gegen dieses Gesetz verstoßen, um sich „nicht von jedem Holunken auf der Nase tanzen [zu] lassen“ (III). Vor allem der Soldatenstand wird wie schon bei Lenz als äußerst unmoralisch gezeichnet. Von Gröningseck erneuert Evchen gegenüber sein Versprechen, als er sich um Mitternacht einmal zu ihr ins Zimmer schleicht. Doch um mehr als ihre Angst kreist der nächtliche Dialog der beiden nicht. Das Mädchen wird geplagt von gesellschaftlichen Erwartungen an sie, die sie nicht erfüllen kann und den zu erwartenden Bestrafungen („sie […] überließen mich […] der Schande, die mich erwartet, dem Zorn meiner Anverwandten, der Wuth meines Vaters, …“, IV). Furcht und Entmündigung hat sie als Frau bereits zu verinnerlichen gelernt, weiterhin quält sie jedoch ihre Pflicht und Verantwortung, die sie als liebende Tochter ihrem Vater gegenüber empfindet („guter unglücklicher Vater! […] Sein Zorn ist mir fürchterlich, aber, Gott weiß es, seine Liebe noch mehr!, IV). Die Gewissensqual wegen des Vaters bezeichnet für eine unkeusch gewesene junge Frau im Zeitalter der Aufklärung durchaus „ein für die familiale Psychologie der Zeit charakteristisches Reaktionsmuster“177. Bezeichnenderweise ruft Evchen im vertrauten Gespräch mit der Mutter aus: „O wenn ich ein Mann wäre! […] Noch heute macht ich mich auf den Weg nach Amerika, und hälf für die Freyheit streiten.“ (IV) Die Stellung der unterdrückten Frau in der Gesellschaft lässt sich eben nur durch Veränderungen in Politik und Gesellschaft ändern. Amerika steht hier sinnbildlich für die Gleichheit aller Menschen. Gesellschaftliche Strukturen werden neben der Einzelschuld in Wagners Tragödie besonders betont. Damit lässt der Dichter das Mädchen das verlauten, was Lenz in seinen resigantiven Dramenschlüssen subtiler ausgedrückt hatte. Die utopischen Träume Evchens kontrastieren jedoch ihre reale Situation. Als eine Tochter bürgerlicher Herkunft ist sie zu Passivität und Ohnmacht verurteilt. Ihr Handeln beschränkt sich auf das Leiden, Verstellen, Warten und später das Flüchten. Der Magister stellt fest: „…, die Melancholie frißt sie noch auf; […] Youngs Nachtgedanken in der französischen Übersetzung sind jetzt ihr Lieblingsbuch.“ (III) The complaint, or night thoughts des englischen Dichters Edward Young fungiert als Topos für das mit Befreiungsdrang verbundene Genie. Doch Evchens Versuch, sich zu befreien, wird gänzlich fehlschlagen. Der fünfte Akt führt auf die Katastrophe zu. Von Hasenpoth lässt Evchen einen gefälschten Brief im Namen von Gröningsecks zukommen, dass dieser weder sein Heiratsversprechen 177
Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit. S. 139.
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einhalten noch zu ihr zurückkehren werde, und dem Magister einen Brief, der von einer Prostitution Evchens mit Schwangerschaftsfolge berichtet. Evchen flieht daraufhin in der Aussicht auf all die Folgen, die ein voreheliches Kind mit sich bringen würde und kommt bei der Lohnwäscherin Marthan, welche die „Gefallene“ mitsamt Neugeborenem trotz kärgster Armut bei sich aufnimmt. Im Dialog bietet die Frau aus der unteren Gesellschaftsschicht eine Lösung für den Problemkomplex vorehelicher Sexualität mit Kindesfolge an, der im deutlichen Gegensatz zum bürgerlichen Wertesystem der Zeit steht: „Was geschehn ist, ist geschehn, da hilft auch kein Greinen und kein Jammern!“ (VI) Zu proklamieren, dass das Geschehene nicht rückgängig zu machen ist, raubt der gesellschaftlichen Ächtung und der juristischen Verfolgung vorehelicher Sexualität den Sinn und klagt das Bestrafungssystem bürgerlicher Sexualmoral an. Eine andere Frau, die einen unehelichen Sohn gezeugt hat und welche Frau Marthan kennt, beschreibt die Lohnwäscherin als „kreutzbrave Frau“ (VI). Die Unehelichkeit des Kindes sagt demnach nichts über die Moralität der Mutter aus. Schließlich vermutet sie, nachdem Evchen ihr ihre wahre Identität verraten hat, das Mädchen sei „ganz gewiß […] verführt worden“ (VI), spielt damit auf die gängigen Ursachen vorehelicher Sexualität an und weist die Verführung des Mannes als die eigentlich zu verurteilende Tat aus. Marthan will in Absprache mit Evchen deren Aufenthaltsort Humbrecht melden und so die von ihm ausgeschriebene Belohnung kassieren. Während sie die junge Kindsmutter alleine lässt, geschieht die Tat, auf die bereits der Dramentitel referiert. Evchen „nimmt eine Stecknadel, und drückt sie dem Kind in Schlaf“ (IV). Sie rächt sich durch den Kindsmord am Kindsvater, der die Schuld sowohl an der Zeugung als auch an seinem vermeintlichen Verlassen der Kindsmutter besitzt („Dein Vater war ein Bösewicht, […] Da schlaf, Gröningseck!“, IV). Hier ist es von Belang, dass juristisch genau besehen, gar kein Kindsmord vorliegt. Dieser bezog sich in der allgemeinen Rechtsprechung auf ein Zeitfenster von einigen Stunden nach der Geburt.178 Im Falle Evchen Humbrechts hebt Wagner so die psycho-sozialen Gründe im Gegensatz zu den psycho-physischen Belastungen des Geburtsvorgangs als Tatursachen hervor. Humbrecht, Marthan, später der Magister und sogar noch von Gröningseck kommen zu spät zu Evchen, können die Katastrophe nicht mehr abwenden. Wagner parodiert hier das Muster eines harmonischen und empfindsamen Schlusstableuas. Im Gegensatz zu Lenzens Hofmeister führt die Tragikomödie nicht zu einem skuril anmutenden, vermeintlich glück178
Vgl. Künzel: Johann Heinrich Leopold Wagners Die Kindermörderin. S. 214.
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lichen Ende, sondern die Tragödie wird konsequent zu Ende geführt. Daran ändert auch nichts, dass von Gröningseck Evchen dennoch weiterhin heiraten möchte. Der Magsiter stellt bezüglich des Lieutenants fest: „Das alles war weder sein Vorsatz noch weniger seine Schuld –“ (IV), woraufhin Evchen erkennt, wie die aufgeklärte Gesellschaft über Kindsmord urteilt: „Desto schlimmer! So fällt die Schuld alle auf mich.“ (Hervorhebung im Original, IV) Selbst der kritische Magister, der in der Forschung sehr oft, doch nicht unproblematischerweise als „Sprachrohr des Sturm und Drangs“179 oder des Autor erkannt worden ist, verkennt die Ohnmacht des jungen bürgerlichen Mädchens, die ihr Handeln nahezu determiniert hat. Er nimmt den männlichen Verführer oder Vergewaltiger in Schutz, die sexuelle Gewalt befleckt dessen Ehre nicht, die Heiratsabsichten wiederum bestärken sie noch. Auch Humbrecht pocht auf die Heirat, damit seine Tochter nicht sexuell und somit auch gesellschaftlich entehrt ist: „Wenn er sie heyrathen, ihr die Ehre wieder geben will, ja!“ (IV) Seine Aussagen werden verständlich, wenn man bedenkt, dass er seines Eigentums, der Jungfräulichkeit seiner Tochter, beraubt wurde und die Tochter ihren Wert auf dem Heiratsmarkt verloren hat.180 Selbst von Gröningseck sieht Evchen als allein verantwortliche Schuldige an der Tragödie („Es wär nicht, wenn du mir getraut, deiner Melancholie dich weniger überlasen, etwas mehr an die Tugend geglaubt hättest –“, IV). Ironischerweise verhielt gerade er sich höchst untugendhaft im ersten Akt. Er fügt hinzu: „… oder ich etwas weniger.“ (IV) In diesem Fall hätte er jedoch nur die Möglichkeit gehabt, Evchen strenger zu überwachen und zu kontrollieren – eines der typischen Verhaltensmuster patriarchaler Erziehung, unter dem Bürgerstöchter zu leiden hatten. Genauso unangebracht wie seine Schuldzuweisung, ist sein Vorhaben, „bey der gesetzgebenden Macht selbst Gnade für sie auszuwürken“ (IV), denn von diesem Begnadigungsrecht machten schließlich die wenigsten Landesherren Gebrauch.181 Am Ende bleibt ihm nur die „Selbstrache“ (IV), die schon Stolzius‘ letzter Ausweg in den Soldaten gewesen ist. Evchen bleibt eine solche männliche, aktive Handlungsrolle hingegen verwehrt, sie sehnt sich nur nach Erlösung („auf dieser Welt geht mich nichts mehr an, …“, IV). Das Mädchen Werner, Johannes: Gesellschaft in literarischer Form. H. L. Wagners ‚Kindermörderin‘ als Epochen- und Methodenparadigma (Literaturwissenschaft – Gesellschaftswissenschaft. Materialien und Untersuchungen zur Literatursoziologie 28). Stuttgart 1977. S. 83. So ist der Magister neben seinen Reformgedanken, die ihn als Kritiker der alten Ordnung ausweisen, aufgrund seines pendantischen Gelehrtentums auch als Figur der Selbstkritik der jungen Schriftstellerbewegung zu sehen. 180 Neben der sozialen Entschädigung in Form einer Heirat wäre auch eine materielle Entschädigung in Form eine Geldzahlung möglich gewesen. Vgl. Künzel: Johann Heinrich Leopold Wagners Die Kindermörderin. S. 209f. Die Verschränkung von ökonomischen und sexualmoralischen Aspekten, auf die bei Schillers Kabale und Liebe genauer eingegangen werden soll, wird auch bei Wagner offensichtlich. 181 Vgl. Luserke: Heinrich Leopold Wagner: Die Kindermörderin. S. 187. 179
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hat den Diskurs der ethischen Normen vollständig verinnerlicht. Dieser Verinnerlichungszwang kann jedoch nur durch veränderte gesellschaftliche Normvorgaben gebrochen werden. Wagner begreift in seinem Drama das Geschlecht als soziale Kategorie, dessen Abwertung im 18. Jahrhundert er auf verschiedenen sozialen Ebenen darstellt. Er macht nicht nur durch die derbe Sprache des Hausvaters Humbrecht auf die Geschlechtsbevormundung und die Einschränkung bürgerlicher Frauen aufmerksam, sondern deckt durch Marianel auch den Zusammenhang von unterdrückter weiblicher Sexualität und männlicher Verfügungsgewalt auf. Anhand mehrerer betroffener weiblicher Personen, so ganz offensichtlich auch bei der Mieterin der Humbrechts, werden die Auswirkungen bürgerlicher Sexualmoral auf die Entfaltungsmöglichkeiten weiblicher Individuen gezeigt. Auf der anderen Seite kritisiert der Dichter in von Gröningsecks Auftritten im ersten, aber auch im letzten Akt die Immoralität des Adels, die sich in skrupelloser sexueller Verfügungsgewalt manifestiert. Kindsmord wird zur „Folge der geschlechtlichen Ausbeutung der Unterschicht durch die Oberschicht“182 und zum Ergebnis psychosozialer Zwänge, die von einer reglementierenden Gesellschaft, in kleinster und wichtigster Instanz der bürgerlichen Kleinfamilie, ausgehen. Der Themenkomplex Kindsmord ist also auch in den zeitgenössischen Sexualitätsdiskurs eingeschrieben. Evchens Aggression richtet sich nicht wie bei Läuffer gegen den eigenen Körper, sondern gegen das Produkt unerlaubter Sexualität, die nun ungeschehen zu machen versucht wird. Indem Wagners Drama „verschiedene Positionen alter und neuer Ordnung, von Tätern und Opfern gleichermaßen, diskursiv figuriert und damit einen Wandel kultureller Deutungsmuster erprobt“183, begehrt es gegen das moralische Wertesystem der bürgerlichen patriarchalen Ordnung im ausgehenden 18. Jahrhundert auf. Doch wie so oft im Sturm und Drang bietet auch Wagner weder in Evchens Handeln noch in den diskursiven Passagen des Magisters praktische Alternativvorschläge in der Sexualitätsproblematik an. Die Thematisierung vorehelicher Sexualität mit Kindesfolge auf die Art und Weise, wie Heinrich Leopold Wagner sie vornimmt, blieb in der aufgeklärten Gesellschaft ein Tabu. Kant fordert am Ende des Jahrhunderts immer noch die Todesstrafe für Kindsmord, wobei er „die Schande der Mutter“ durch „ihre uneheliche Niederkunft“184 besonders hervorhebt. Lessings Bruder, Karl Gotthelf, fertigte eine verträgliche Bühnenfassung des Stücks an, die 182
Jeck, Thiemo: Die Anfänge der Kriminalpsychologie. Zur Verbindung der Schönen Literatur und der Kriminologie in der Romantik und dem Sturm und Drang. Berlin 2010. S. 74. 183 Luserke: Heinrich Leopold Wagner: Die Kindermörderin. S. 188. 184 Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten 1: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Königsberg 1798. S. 234.
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er unter dem gleichen Titel wie das Originaldrama ein Jahr später veröffentlichte. Wagner reagierte wiederum mit der Parodie Evchen Humbrecht oder Ihr Mütter merkts euch!, in der der anstößige erste Akt gestrichen und der Kindsmord durch ein Happy End abgelöst wurde. Er beklagt ganz in Sturm-und-Drang-Manier, man hätte sein Stück „kastrirt“185, „verstümmelt, verhunzt, eignen Koth hineingeschissen“186.
7 Friedrich Schiller
Es ist nicht immer unproblematisch, Friedrich Schiller noch dem Sturm und Drang zuzurechnen, da er mit zeitlichem Abstand zur Hochphase der Strömung und ohne die typische Gruppenanbindung schrieb. Luserke bezeichnet seine Dramen deshalb als „Nachahmungsstücke“ und „Fremdkörper einer längst vergangenen literaturgeschichtlichen Periode“187. Hofmann schlägt vor, Schiller der Spätaufklärung als „eigenständige[r] Periode, in der literarische Mittel gefunden wurden, mit denen das kritische Instrumentarium der Aufklärung auf diese selbst angewendet“,188 zuzuordnen, wobei das Profil dieser Epoche noch der deutlichen Ausarbeitung bedürfe. Schiller ist im Geiste der Aufklärung erzogen worden, bedient sich auch einer aufklärerischen Wirkungsästhetik, doch werden bei dem jungen Dichter auch grundlegende Positionen der Epoche in Frage gestellt. Genau das macht ihn im Kontext dieser Studie Sturm-und-Drang-typisch, weshalb hier also bedenkenlos mit seinem dritten Jugenddrama Kabale und Liebe gearbeitet werden kann. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts bildeten sich auch in Schillers Heimat, im Herzogtum Württemberg, welches seit dem Westfälischen Frieden von 1648 protestantisch regiert wurde, erste pietistische Konventikel aus. Mit der Inthronisierung Carl Alexanders 1733 begann dann jedoch die Epoche einer katholischen Herrscherdynastie, welche mit einer der Hauptgründe war, dass sich eine geschlossene protestantische Landeskirche, die orthodoxe Kräfte und Frömmigkeitsbewegungen in sich aufnahm, als Gegengewicht zum katholi-
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Wagner, Heinrich Leopold: Berlin. In: Ders.: Die Kindermörderin. S. 143. Wagner, Heinrich Leopold: An den Maler Müller, 9. Febr. [17]77. In: Erich Schmidt (Hrsg.): Heinrich Leopold Wagner, Goethes Jugendgenosse. Jena 21879. S. 153. 187 Luserke: Sturm und Drang. S. 322. 188 Hofmann, Michael. Schiller. Epoche – Werk – Wirkung (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte). München 2003. S. 27. 186
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schen Landesherrn etablierte. Der Pietismus, welcher noch stärker als die lutherische Kirche die allgemeine Bildungsentwicklung beförderte, hatte nicht nur durch die elterliche Erziehung auch auf die Denkübungen des jungen Schillers einen gewichtigen Einfluss,189 der sich vor allem in dessen Liebesphilosophie herausstellen lässt.190 Dass vor allem die asketische Seite und der innerweltliche Arbeitsethos jener protestantischen Glaubensrichtung repressive Züge entfalten kann, zeigen die von Goethe herausgegebene Jugendbiographie Johann Heinrich Jung-Stillings und Karl Philipp Moritz‘ Anton Reiser. Bei der Beschäftigung mit Schillers Kabale und Liebe soll es um die rationalökonomische Seite der protestantischen Bewegung(en) mit Blick auf die bürgerliche (Sexual-)Moral gehen. Um den Zusammenhang einmal theoretisch zu fokussieren, wird zunächst mit Max Weber ein Klassiker der Soziologie kurz vorgestellt, um dann für die Interpretation von Schillers Dramatik fruchtbar gemacht zu werden.
7.1 Exkurs: Max Webers Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus In seiner berühmten Untersuchung aus dem Jahre 1904 analysiert Weber den Zusammenhang zwischen Religion und Wirtschaft, genauer gesagt zwischen Protestantismus191 und Kapitalismus. Der moderne Kapitalismus beruht auf ökonomischen, technischen, politischen, rechtlichen und sozialen Bedingungen, doch ist schließlich auch und vor allem „von der Fähigkeit und Disposition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensführung […] abhängig“192. Weber geht es dabei um eine wirtschaftliche Gesinnung, die eng mit der rationalen Ethik des asketischen Protestantismus verknüpft ist. Ausgangspunkt seiner Beobachtungen ist, dass Kapitalanhäufung und Unternehmertum in einem konfessionell gemischten Land wie Deutschland überwiegend protestantischen Charakter besitzen. Die Reformation begünstigte Entwicklungen wie den Abbau der Hemmnisse gegenüber dem ökonomischen Erwerbstrieb, die methodisch-rationale Temperierung des Er-
189
Vgl. Wiese, Benno v.: Friedrich Schiller. Stuttgart 31963. S. 53ff. Vgl. Schulze-Bünte, Matthias: Die Religionskritik im Werk Friedrich Schillers (Frankfurter Hochschulschriften zur Sprachtheorie und Literaturästhetik 7). Frankfurt a.M. [u.a.] 1993. S. 50f. 191 Die Ethik des Protestantismus betrachtet Weber als „historisches Individuum“, also als einen Komplex aus Zusammenhängen der historischen Wirklichkeit, welche in Anbetracht ihrer Kulturbedeutung begrifflich zu einem Ganzen zusammenwachsen. Vgl. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie 1. Tübingen 61972. S. 30. Kritiker werfen ihm immer wieder eine gänzliche Konstruktion seiner Untersuchungsphänomene vor. Vgl. Steiner, Hein: Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Frankfurt a.M. 2010. 192 Weber, Max: Vorbemerkung. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie 1. S. 12. 190
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werbs- und Konsumtriebs und vor allem eine rationale Lebensführung im Vergleich zum Katholizismus. Der „Geist der christlichen Askese“193 erlaubte es, Selbst- und Weltbeherrschung miteinander zu kombinieren. Ein Aspekt von Webers Theorie ist die Entstehung einer neuen protestantischen Berufsauffassung. Ihr Beginn liegt in der Reformation und genauer in der Bibelübersetzung Martin Luthers. Dessen Lehre befördert „die Schätzung der Pflichterfüllung innerhalb der weltlichen Berufe als des höchsten Inhalts, den die sittliche Selbstbestätigung überhaupt annehmen konnte“194. Innerweltliche Tätigkeit im Sinne von Berufsarbeit wurde also religiös aufgeladen und erlang sittlichen Wert. Auch die Arbeitsteilung wird von Luther betont, wenn er auf das paulinische „Jeder bleibe in der Berufung, in der er berufen wurde“195 verweist. Der Mensch sei zu Arbeit und Fleiß von Gott berufen worden. Die verschiedenen auf Luther zurückzuführenden Glaubensrichtungen, vor allem der Calvinismus, aber auch der Pietismus, der Methodismus sowie die aus den verschiedenen täuferischen Bewegungen hervorgegangenen Sekten verstärkten den Berufsgedanken und die Arbeitsmoral sogar. Die Frage, ob dem einzelnen Menschen die göttliche Gnade zu Teil werde, bleibt in diesen Strömungen wegen der Unergründlichkeit göttlicher Ratschlüsse unbeantwortet. Der Mensch ist auf sich allein gestellt und muss, um Selbstgewissheit zu erlangen, Gewissensforschung betreiben. Damit korrespondiert eine methodische, rationale und systematische Lebensführung, welche Selbstkontrolle und Selbstdisziplinierung verlangt. Ziel einer solchen Lebensführung war es, ein geordnetes Leben zu führen. Die rastlose Berufsarbeit dient letztendlich dem Gläubigen nicht dazu die Seligkeit zu erlangen, sondern dazu, eben „die Angst um die Seligkeit loszuwerden“196. Arbeiten wird für den Protestanten zum Selbstzweck, Ausruhen auf Erfolg und Reichtum, ebenso wie Muße, Luxus und auch „Fleischeslust“197 wiederum zum Frevel. Wo unbefangener Genuss ausbleibt, wird Profitanhäufung von allen traditionellen Fesseln psychologisch entlastet und stellt nunmehr keine Sünde dar. Verkörperung dieser Ethik und des Geist des Kapitalismus ist für Weber Benjamin Franklin, dessen Erfolgsethik durch Maxime wie Mäßigkeit, Genügsamkeit, Fleiß und nicht zuletzt Keuschheit geprägt war.198 Auch in Deutschland fand
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Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. S. 202. Ebd. S. 69. 195 Der erste Brief an die Korinther. In: Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Freiburg [u.a.] 1999. S. 1280 (= Kor 7,20). 196 Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. S. 110. 197 Ebd. S. 167. 198 Vgl. Franklin, Benjamin: Lebenserinnerungen. Hg. v. Manfred Pütz. München 1983. S. 123f. 194
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Franklins Lehre viele Anhänger. Kant bezeichnete ihn 1756 bereits als einen „Prometheus der neuern Zeit“199. Da der Katholik erkennt, dass er dem Anspruch eines vollständig sittlichen Lebens niemals gerecht werden wird, kann er sich durch das Bußsakrament der Beichte entlasten und gesteht sich implizit eine Unvollkommenheit zu. Im Protestantismus ist Frömmigkeitslehre strenger darauf bedacht, dass Ideal zu erreichen, da jenes Kompensationsmoment einer unsittlichen Lebensführung fehlt. Die innerweltliche Askese mit ihrer „nüchternen Selbstbeherrschung und Mäßigkeit, welche die Leistungsfähigkeit ungemein steigert“200, diese Werkheiligkeit wird zum Lebenszweck gesteigert. Für Weber steht fest, dass die protestantische Lebensauffassung der „einzig konsequente Träger“201 der bürgerlich ökonomischrationalen Lebensführung war. Wie die ökonomische Arbeitsmoral mit der Sexualmoral des Bürgertums korrespondiert, wird nun Thema bei der Beschäftigung mit dem Drama Kabale und Liebe des jungen Schillers sein.
7.2 Kabale und Liebe (1984) Kein anderes Drama Schillers als dessen einziges bürgerliches Trauerspiel hat in der Forschung so große Widersprüche, wie es zu lesen sei, hervorgetrieben. Die Interpretationen reichen von der Meinung, es handele sich um ein politisches Tendenzstück 202 oder die Tragödie eines Ständekonfliktes203, über die Lesart des Stücks als „Tragödie der unbedingten Liebe“204 bis hin zur Deutung, dass die „Tragödie des endlichen Menschen“205 überhaupt dargestellt werde. Janz versuchte wiederum, die soziologischen und theologischen Gehalte des Dramas in ihrem Ineinandergreifen zu deuten, wobei er auch auf die problematische Dialektik des Bürgertums und „die auffällige Affinität der Millerschen Moral zur Erwerbs-
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Kant, Immanuel: Betrachtung der seit einiger Zeit wahrgenommenen Erderschütterungen. In: Ders.: Kants Werke. Akademische Textausgabe 1: Vorkritische Schriften I. 1747-1756. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1902. S. 472. 200 Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. S. 53. 201 Ebd. S. 195. 202 Auerbach, Erich: Musikus Miller. In: Ders. (Hrsg.): Mimesis. Bern 21986. S. 382-399. 203 Heitner, Robert R.: A neglected Model for Kabale und Liebe. In: Journal for English and Germanic Philology 57 (1958). S. 72-85. 204 Koopmann, Helmut: Friedrich Schiller 1: 1759-1794 (Sammlung Metzler. Realien zur Literatur. Abteilung D: Literaturwissenschaft 50). Stuttgart 21977. S. 40. 205 Binder, Wolfgang: Schiller: „Kabale und Liebe“. In: Benno v. Wiese (Hrsg.): Das deutsche Drama vom Barock bis zur Gegenwart. Interpretationen 1: Das deutsche Drama vom Barock bis zur Romantik. Düsseldorf 1964. S. 270.
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sphäre“206 aufmerksam machte. Dieser sei genauer besehen höchst zweideutig. Und genau hier soll an die These Max Webers vom Denken des Bürgers nach ökonomischen Maximen angeknüpft werden. Schiller fokussiert und kritisiert in der Person des Hofmusikanten Miller die Doppelbödigkeit der bürgerlichen Moral hinsichtlich der sexuellen Repression ihrer Mitglieder, vornehmlich der Töchter. Doch wie in den Dramen Lenzens und Wagners zuvor und ganz im Stile des bürgerlichen Trauerspieles wird auch hier nicht nur das Bürgertum, sondern ebenfalls der Adel zur Zielscheibe der Kritik. Die Ausgangssituation erscheint zunächst klar: Bürgerliche Rechtschaffenheit steht korrupter Aristokratie gegenüber, die Bedrohung der unschuldigen Bürgerstochter steht exemplarisch für die potentielle Bedrohung an Leib und Leben, die jeder Gefolgsmann und jede Gefolgsfrau vom Fürsten zu gewärtigen hat. Doch auch der Bürgerstand wird in seiner Keimzelle, der Kleinfamilie vom Dichter ambivalent gestaltet und vorgestellt. Miller tritt als derber Hausvater vom Typ Martin Humbrecht in Erscheinung. Seine Rolle als Familienoberhaupt ist fraglos durch seinen Status als Geldverdiener legitimiert, Ehefrau und Tochter sind deshalb von ihm abhängig und ihm untergeordnet.207 Bei Liebesangelegenheiten seiner Tochter besitzt der Vater das Bestimmungsrecht. Louise ist nicht berechtigt, ihren Wunschpartner, hier den Adligen Ferdinand von Walter, Sohn des Präsidenten eines kleinen Duodezfürstentums, nach freiem Willen zu wählen. Der Vater hat gewissermaßen den „Absolutismus auf die Privatsphäre reduziert“208. Auch grenzt er sich wie Humbrecht stark von der höheren Gesellschaftsschicht ab, schimpft seine Morgenmantel tragende Ehefrau wegen des Genusses lasterhafter Luxusgüter aus und beteuert seine nüchterne Bodenhaftigkeit („Stell den vermaledeiten Kaffe ein, und das Tobakschnupfen, so brauchst du deiner Tochter Gesicht nicht zu Markt treiben. Ich hab mich satt gefressen, und immer ein gutes Hemd auf dem Leib gehabt, eh so ein vertrackter Tausend Sa Sa in meine Stube geschmeckt hat. […] und damit basta!“, I,1, Hervorhebung M.L.)209. Ebenso wie Odoardo Galotti und Martin Humbrecht macht Miller seine Frau auch für den Sittenverlust in seinem Haus und die Lage der gemeinsamen Tochter verantwortlich („Du hast es vor mir gewußt. Du hättest mir einen Wink geben können. Das Mädel hätt sich noch weisen lassen.“, II,4). Auch die Lokalisierung „zu Markt“ wird im Verlauf dieser Abhandlung und in HinJanz, Rolf-Peter: Schillers „Kabale und Liebe“ als bürgerliches Trauerspiel. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 20 (1976). S. 221. 207 Vgl. Horkheimer: Autorität und Familie. S. 64.; Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Neuwied/Berlin 41969. S.59. 208 Janz: Schillers „Kabale und Liebe“ als bürgerliches Trauerspiel. S. 213. 209 Die Zitationen folgen der Ausgabe Schiller, Friedrich: Kabale und Liebe. Ein bürgerliches Trauerspiel (Suhrkamp BasisBibliothek 10). Hg. v. Wilhelm Große. Frankfurt a.M. 122014. 206
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sicht auf den Heiratsmarkt im 18. Jahrhundert auch im Kontext der Expositionsszene noch höchst ambivalent zu lesen sein können. Schiller hängt allerdings nicht mehr derselben Illusion wie noch Lessing in seiner Miss Sara Sampson hinterher, dass Zurückgezogenheit in das Private eine Versicherung gegen Eingriffe des Staates gewähre. Wenn der Präsident mit seinem Gefolge in II,6 in der Wohnstube des Bürgers, „wo sonst nur die Freude zu Hause war“ (V,2) auftritt, sieht Letzterer generell das bürgerliche Recht im absolutistischen Staat bedroht, genauso wie die Tugend seiner sechzehnjährigen Tochter, als des Präsidenten Sohn eine Szene zuvor aufschlägt. „Die Sorge um die Unschuld, die ‚Reinheit‘ der Tochter, […] steht ein für die Sorge um die Unverletzlichkeit der bürgerlichen Privatsphäre; die Unberührbarkeit der Tochter symbolisiert unantastbare bürgerliche Rechte oder vielmehr solche, die Miller bislang für unantastbar hielt.“210 Weil sein eigener Machtbereich gefährdet ist, tritt Miller auch hier zweiseitig auf, „wechselweis mit für Wut mit den Zähnen knirschend, und für Angst damit klappernd“ (II,6). Tugendhaftigkeit würde ihm wie beim Schulmeister Wenzeslaus Selbstbewusstsein gegenüber dem Adel verschaffen können, doch eben diese steht nun schließlich gerade bei seiner eigenen Tochter auf dem Spiel. Millers, unter seiner Moral getarntes, ökonomisches Interesse lässt dieser aber vor allem im Umgang mit seiner Tochter durchblitzen. Seine Sorge um die Jungfräulichkeit Louises wird davon angetrieben, dass diese eine lukrative Partie, die eine Erweiterung der „Kundschaft“ (I,1) wäre, erhalten solle. Auch die Liebschaft mit Ferdinand stellt für Miller einen „Handel“ und „Kommerz“ (I,1) dar, jedoch als ein solcher, der seinem Geschäft schädigen könnte. Als ihn seine Frau auf die „Präsenter“ des Majors Ferdinand anspricht, gerät er völlig außer sich und vergleicht die Geschenke mit dem „Blutgeld“ (I,1) seiner Tochter, womit er gleichzeitig auf deren Entjungferung anspielt. Was zu Beginn ebenfalls durchscheint, ist der große Wert, den der Bürger Miller auf seinen guten Ruf in der Gesellschaft legt. In großer Sorge beklagt er: „Mein Haus wird verrufen.“ (I,1) Auch im Vieraugengespräch mit Louise, als er angesichts ihres drohenden Selbstmordes um das Seelenheil seiner Tochter besorgt ist, argumentiert er ganz in ökonomischer Manier. Er redet von „Barschaft von Liebe“ (V,3), Selbstmord sei „Diebstahl“ (V,1), doch nicht nur an Gott, auch an dem Hausvater: MILLER […] Du siehst, mein Haar fängt an grau zu werden. Die Zeit meldet sich allgemach bei
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Janz: Schillers „Kabale und Liebe“ als bürgerliches Trauerspiel. S. 213.
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mir, wo uns Vätern die Kapitale zu statten kommen, die wir im Herzen unsrer Kinder anlegten – Wirst du mich darum betrügen, Louise? Wirst du dich mit dem Hab und Gut deines Vaters auf und davon machen? LOUISE […] Nein mein Vater. Ich gehe als Seine große Schuldnerin aus der Welt und werde in der Ewigkeit mit Wucher bezahlen. (V,1, Hervorhebungen M.L.)
Louise ist Millers lebende Versicherung im Alter, welche ihm materielle Güter zurückerstatten wird. Miller investiert sein ganzes Leben lang in seine Tochter, seine Kapitalanlage. Deren Tugendhaftigkeit ergo Keuschheit ist sein symbolisches Kapital und manifestiert sich letztlich im guten Ruf der Familie, der den wirtschaftlichen Erfolg befördert, ebenso wie in Louises Heiratsfähigkeit. Denn nur mit einem anständigen, arbeitsamen Schwiegersohn kann sich der Musiker einen ruhigen Lebensabend vorstellen und Tugendhaftigkeit führt schließlich zu einem hohen Preis auf dem Heirats-Markt. Hier wird die Sexualität der Bürgerstochter mit dem Ziel eines finanziellen Zuwachses begründet. Dabei hat Louise aber nicht auf die „Schlaraffenwelt“ (I,1) des Adels zu schielen, um den Wohlstand zu sichern. Durch Sittsamkeit und Tugend soll sie unter Beweis stellen, „daß die Familie zumindest ihrem Ethos nach zu den wohlhabenden Bürgern gehört“.211 Auch Louise erkennt und versteht den notwendigen Zusammenhang zwischen Sexualmoral und Ökonomie und so entsagt sie der gemeinsamen Flucht mit Ferdinand und appelliert an ihren Geliebten: „Ich habe einen Vater, der kein Vermögen hat, als diese einzige Tochter – der morgen sechzig alt wird –“, III,4, Hervorhebung M.L.). Auch Louise hat nicht nur eine fest gefügte soziale „ewige Ordnung“ (III,4) mit ihren Standesgrenzen, sondern auch das bürgerliche Wertesystem internalisiert und fühlt sich dem Vater gegenüber stärker verpflichtet als der Neigung ihres Herzens und ihrer Triebe. Sie weiß schließlich auch ganz genau um den Zusammenhang zwischen symbolischem und ökonomischen Kapital: „Ich bringe nichts mit mir, als meine Unschuld, […] Ich werde dann reich sein.“, I,3, Hervorhebung M.L.). Seinen objektiven Ausdruck findet das (Besitz-)Verhältnis von Vater und Tochter darin, dass Miller, wenn auch nur zögerlich, den Beutel voller Goldmünzen, den ihm Ferdinand für den „dreimonatelangen glücklichen Traum von seiner Tochter“ (V,5) hinwirft, annimmt. Miller, „unterdessen mit unverwandten Augen auf das Gold hingeheftet, voll Entzückung“ (V,5), ist sichtlich erfreut über den Handel, den er soeben geschlossen hat. Zwar lässt er dem Major immer noch nicht seine Tochter, aber wahrer Bürgerstolz sieht dennoch anders aus. Am Ende wird auch er wie seine Gattin, Wesener in den Soldaten und Frau Humbrecht in der Kindermörderin vom Traum nach sozialem Aufstieg beeinflusst. Noch
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Janz: Schillers „Kabale und Liebe“ als bürgerliches Trauerspiel. S. 222.
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denkt Miller, er hätte durch seine Intervention der Tochter den Geleibten ausgeschlagen, den er ihr nun mit Hilfe des Goldes zu ersetzen gedenkt. Als er angesichts der toten Louise und des sterbenden Ferdinands schließlich begreift, wie das Geldgeschenk gemeint war, beschwört Miller bestürzt, er lasse sich sein Kind nicht „abkaufen“ (V,8). Der Goldbeutel, am Ende auf der Bühne liegenbleibend, dient als überdeutliches Zeichen für das, was von Millers Seite die tragische Figur Louise mit in die Katastrophe getrieben hat: die Macht des Geldes und deren Auswirkungen auf bürgerliche Tugendhaftigkeit. Das Erwerbsstreben des Bürgertums gestaltet genauso wie das Bedürfnis nach Abgrenzung vom Adel das bürgerliche Wertesystem. Miller, der seinen Fleiß, seine Mäßigkeit, seine Gerechtigkeit und auch immer wieder seine Entschlossenheit betont – allesamt charakteristische Tugenden des protestantischen Bürgers, welche Max Weber beispielhaft an Benjamin Franklins Tugendkatalog herausarbeitet –, erwartet dasselbe ebenso von seiner Tochter, zuzüglich Keuschheit. Sexualität, die „zur […] Schwäche oder Schädigung deines eigenen oder eines fremden Seelenfriedens oder guten Rufes“212 führt, schwächt die Erwerbsfähigkeit, die für den Bürger im 18. Jahrhundert so zentral war. Ein weiteres Mal zeigt sich die bürgerliche Doppelmoral, indem Miller in I,2 im Gespräch mit Wurm noch das Idealbild von Liebe entwirft, von solcher, die sich nicht um die Bindung zum Vater schert. Als es dann ernst wird, setzt er jedoch alles daran, eben diese Bindung stärker sein zu lassen. Unter dem Druck feudaler Bedrohung verkehrt sich die Rechtschaffenheit des Bürgers und Hausvorstandes in der patriarchal geführten Kleinfamilie zur amoralischen Unterdrückung ihrer Mitglieder, auch und vor allem was den Lebensbereich der Sexualität betrifft. Die Interessen des Familienverbundes stehen der sexuellen Selbstverwirklichung der Tochter diametral gegenüber. Über den Erpressungsversuch des Vaters in V,1, Louise gleichzeitig vom Selbstmordversuch und Ferdinand abzubringen, erwidert diese: „Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt, als Tyrannenwut!“ Später wird Friedrich Schiller in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen schreiben, dass der Barbar derjenige ist, dessen „Grundsätze seine Gefühle zerstören“. „Der Barbar verspottet und entehrt die Natur …“213 Und auch der Bürger in Person vom Musikus Miller handelt, von seinen Grundsätzen geleitet, seinen Anvertrauten gegenüber unmoralisch und will so die Natur seiner Tochter, ihre Triebe und Sehnsüchte unterdrücken. 212
Franklin: Lebenserinnerungen. S. 124. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augstenburger Briefen (Reclams Universal-Bibliothek 18062). Hg. v. Klaus L. Berghahn. Stuttgart 2000. S. 17. 213
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Tatsächlich ist es neben der Verantwortung dem Vater gegenüber, welche Louise wie dieser in ökonomischem Vokabluar auszudrücken weiß, auch die Liebe zu ihm, die das Mädchen davon abhält, mit Ferdinand zu fliehen. Sie „liebt ihren Vater – bis zur Leidenschaft“ (III,1). Louise hat nicht nur die bürgerlichen Werte, sondern auch die Bedeutung der Standesgrenzen verinnerlicht. Über sich selbst urteilt sie angesichts ihrer Liebe zu Ferdinand: „ich bin ein schlechtes vergessenes Mädchen …“ (I,3) Es ist auf den zweiten Blick eben nicht primär die feudale Willkürherrschaft, die das Mädchen zu Grunde richtet, sondern das Spannungsverhältnis der beiden Verpflichtungen gegenüber Vater und Geliebten, die sie bis zur Vernichtung aufreiben. Der intrigante Wurm bringt ihr Verhängnis auf den Punkt: „Sie hat nicht mehr als zwo tödliche Seiten, durch welche wir ihr Gewissen bestürmen können – ihren Vater und den Major.“ (III,1) Doch Schillers Kabale und Liebe wäre kein bürgerliches Trauerspiel, wenn es nicht auch gegen den herrschenden Adel Akzente setzen würde. Dem Major Ferdinand von Walter wurde von der Forschung häufig angerechnet, er würde mit seiner Empfindsamkeit und Subjektivität dem inhumanen Adel bürgerliche Werte entgegensetzen, ein „Adelsdemokrat“214 sein. Doch sein Sturm-und-Drang-Temperament täuscht nur schwer über seinen wahren Charakter hinweg. Die absolut gesetzte Subjektivität des jungen Majors weist eindeutig aristokratisches Sozialverhalten215 und seine Empfindsamkeit ebenso elitäre Momente216 wie die der Gräfin La Roche auf. Seine unbedingte Liebe entpuppt sich als Eigenliebe, in Louise liebt er schließlich vor allem das Bürgermädchen. Ihre gesellschaftliche Stellung macht sie für ihn umso begehrenswerter („…Gefahren werden meine Louise nur reizender machen.“, I,4). „Die soziale Inferiorität der Geliebten ist eine Bedingung ihrer Ästhetisierung.“217 Seine Zuneigung zu Louise kann jederzeit in Eifersucht und Besitzansprüche umschlagen. Dass er sich von der Kabale so leicht täuschen lässt und nicht an Louises Treue glaubt, bezeugt dies. Auch er bedient sich Handelsmetaphern und betrachtet das Mädchen als seinen Besitz („Fodre sie mir nicht ab. das Mädchen ist mein.“, IV,4; „Mein bist du …“, II,5; „Du bist meine Louise. Wer sagt dir, daß du noch etwas sein solltest.“, I,4). Bereits die erste Begegnung der Liebenden ist wie ein Verhör inszeniert, in der Louise ihm Rede und Antwort zu stehen hat („Rede mir Wahrheit. […] Was hast du? Ge214
Müller, Joachim: Wirklichkeit und Klassik. Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte von Lessing bis Heine. Berlin 1955. S. 127. 215 Vgl. Martini, Fritz: Schillers „Kabale und Liebe“. Bemerkungen zur Interpretation des „Bürgerlichen Trauerspiels“. In: Der Deutschunterricht 4/5 (1952). S. 30ff. 216 Schon Sauder weist auf den Zusammenhang egalitärer und elitärer Züge der Empfindsamkeit hin. Vgl. Sauder, Gerhard: Empfindsamkeit 1: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974. S. 54f, 137. 217 Janz: Schillers „Kabale und Liebe“ als bürgerliches Trauerspiel. S. 215.
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schwind!“, I,4). Und auch seinen Fluchtplan kann Ferdinand nur entwerfen, da er über die die entsprechenden finanziellen Mittel verfügt. Der romantische Entwurf kommt eher einer adligen Kavalierstour als einer bürgerlichen Reise nahe. Schließlich sind bezeichnenderweise die Orte, welche dem Rückzug in die private Intimität, die „Natur“218 sein sollen, aber doch öffentliche Institutionen, „Tempel“ und „Kirche“ (III,4). Bei der Tötung Louises beruft sich Ferdinand auf Gott („Die obern Mächte nicken mir ihr schreckliches Ja herunter, die Rache des Himmels …“, V,6), ganz so wie üblicherweise bei der Legitimation feudaler Gewalt im noch nicht aufgeklärten Absolutismus. Hier zeigt sich auch, dass sich die religiöse und soziologische Dimension bei der Interpretation nicht ausschließen, dass Ersterer ebenso soziales Konfliktpotential inne wohnt. Auch Louise erkennt letztendlich, dass Ferdinand noch immer seinem Stand angehört: „… dein Herz gehört deinem Stande“ (III,4). Wie schon bei Desportes und von Gröningseck zeigt sich auch in Schillers Drama, dass der Adlige die (sexuelle) Verfügung über das bürgerliche Mädchen für sich beansprucht. Der Adlige ist nicht empathisch, dafür egoistisch und nur auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse und Triebe aus. Ferdinand steht ebenso für feudale Amoral wie sein intriganter Vater, Desportes oder von Gröningseck. Der Präsident, der zu seinem eigenen Wohlstand und für seinen eigenen guten Ruf eine Konvenienzheirat seines Sohnes fordert, betrachtet ebenso wie Ferdinand Louise als „Ding“, welches unter Umständen mit einer Abfindung abgegolten wird („… und bezahle die Skortationsstrafe für seine Dirne.“, I,5). Skortationsstrafen wurden bei Verführung einer Jungfrau oder anderen Unzuchtsdelikten verhängt. Hier wird deutlich, dass sich der, der über finanzielle Mittel verfügt, unsittliches Verhalten leisten kann. Weiterhin bezeichnet von Walter Louise als „Karolin“ und die geplante Vermählung seines Sohnes mit der Mätresse des Fürsten Lady Milford gilt ihm als ein „Kauf“ (I,5). Da sich jedoch auch neben den herrischen Männern ebenso die Frauen im Drama der aus der Erwerbsphäre entlehnten Metaphern bedienen – Lady Milford will Ferdinand „besitzen“ (II,1), mit Geld Louise bestechen und ihrem Kammerdiener Unrecht wiedergutmachen, Louise wird ihr zugestehen: „Jetzt ist er [Ferdinand] Ihnen!“ (IV,7) – spricht Fülleborn von Schillers Kritik an einer „inhumane[n] Form der ‚Verdinglichung‘“219 von Menschen und zwischenmenschlichen Beziehungen. Laut Elm kippe hier die Ständekritik in Sozialkritik, „denn aus 218
Zur Soziologie der metaphorischen Antithese von Natur gegen Unnatur im Sinne feudalen Lebens in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts vgl. Elias: Über den Prozess der Zivilisation 1. S. 20. 219 Fülleborn, Ulrich: Besitzen als besäße man nicht. Besitzdenken und seine Alternativen in der Literatur. Frankfurt a.M. 1995. S. 117.
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dieser Perspektive gesehen sind alle gleich“,220 zumindest alle Menschen, die um ihr ökonomisches Fortkommen besorgt sind. Es sind also die gestörten Beziehungen der Figuren untereinander, die durch die ökonomische Praxis korrumpiert sind, welche in die Katastrophe führen. Louises Reinheit ist für Miller existenziell. Da das wirtschaftliche Treiben Teil der Emanzipation des Bürgertums war, ließ sich auch nicht auf Tugendhaftigkeit verzichten, ebenso wie Ferdinands Staatsräson für den Präsidenten unverzichtbar ist. Liebe und Sexualität werden in wirtschaftlichen Kategorien gedacht. Und auch die empfindsame Liebesphilosophie ist nicht von Besitzdenken frei. Louises Widerstand gegen diese äußeren Einflüsse ist ein empfindsamer, religiöser und passiver. In ihrer Entsagung artikuliert sie gleichfalls ihr Verlangen nach sexueller Hingabe: „Ich will ja nur wenig – an ihn denken – das kostet ja nichts. […] Dies Blümchen Jugend – wär es ein Veilchen, und Er trät drauf, und es dürfte bescheiden unter ihm sterben! – Damit genügte mir Vater.“ (I,3) Die masochistischen Züge ihrer Liebe zeigen die Gewaltsamkeit auf, der sie bedarf, wenn sie das sexuelle Tabu brechen will. Dass sie den Tod als „Liebesgott“ (V,1) sieht, verdeutlicht ihr Beharren auf erotische Liebe. Ferdinand solle ihr „zur Freude“ (I,3) dienen. Eine andere Möglichkeit bleibt ihr nicht, ihre Sinnlichkeit gegenüber asketischer bürgerlicher Triebunterdrückung zu artikulieren. Ihr religiöses Denken dient der Kompensation einer unlösbaren Situation. Ihr Anspruch auf Selbstverwirklichung kollidiert zwischen rigoroser Moral und feudaler Verfügungsgewalt unter dem Deckmantel empfindsamer, absoluter Liebe und sie wird zwischen diesen Fronten, die eben keine Gegenpole bilden, da sie in Bezug auf Louise ähnliche Absichten haben, geradezu „zermalmt“221. Der junge Dichter Schiller artikuliert in seinem bürgerlichen Trauerspiel gleichermaßen Feudalismuskritik und bürgerliche Selbstkritik auf der Ebene der Sexualität einer Tochter aus dem bürgerlichen Milieu. Am Hausvater Miller zeigt sich, wie Ethik und Tugend in ökonomisches Kapital transformiert werden soll, da Reichtum, wie Max Weber aufgezeigt hat, als Belohnung der Tugendhaftigkeit angesehen wurde. Bürgerliche (Sexual-)Moral wird hier in ihrer Dialektik gespiegelt, wenn sie sich angesichts der Sehnsucht nach sozialem Aufstieg und unter dem Druck feudaler Macht zur Unterdrückung der Mitglieder der
220
Elm, Theo: Das soziale Drama. Von Lenz bis Kroetz (Reclams Universal-Bibliothek 17645). Stuttgart 2004. S. 100. 221 Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit. S. 189.
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eigenen Gesellschaftsschicht verkehrt. Somit steht Schiller in der direkten Tradition des Sturm und Drang, von Lenz und von Wagner.
8 Resümee und Ausblick
Alle drei hier vorgestellten Sturm-und-Drang-Dichter eint, dass sie sich auf das zeitgenössische Hier und Jetzt beziehen und dass ihre scheiternden Hauptcharaktere tendenziell, aufgrund der Bedingungen, die ihnen die gesellschaftlichen Institutionen und Konventionen ihres Lebensbereiches stellen – und dabei gehören sie freilich alle nicht den sozial schwächsten Milieus an –, unfähig sind, ihre persönliche Glückseligkeit zu erlangen. Thema in allen vier Dramen sind die sexuellen Bedürfnisse der Menschen und deren fehlende Möglichkeiten, diese zu befriedigen. Gustchen von Berg und Hermann Läuffer, Marie Wesener, Evchen Humbrecht und Louise Miller, sie alle pochen auf ihre persönliche sexuelle Glückseligkeit und versuchen, ihre Wünsche zu artikulieren, gehen jedoch letztlich hilflos unter. In allen Dramen sind es die Standesgrenzen, die einer Liebes- oder auch einer sexuellen Verbindung im Wege stehen, auch wenn bereits Möglichkeiten des Widersetzens der Standesgebundenheit angedeutet werden, indem der Major von Berg vom Kauf eines Adelsbriefes spricht, Desportes ein Heiratsversprechen aufsetzen muss oder von Gröningseck schließlich doch versucht Evchen vor ihrer Bestrafung zu retten. Dennoch tragen die Standesdistinktionen einen erheblichen Anteil zum Konflikt bei. Die Stände- und Adelskritik ist offensichtlich. Die Werke reihen sich auch in die Tradition des bürgerlichen Trauerspiels ein, wenn der Adel in seiner Amoral gezeigt wird, wenn er lügt, herablassend redet, leere Versprechungen macht, skrupellos handelt oder vergewaltigt, aber ebenso, wenn bürgerliche Werte auf ihren moralischen Gehalt geprüft werden. So scheint auch Odoardo Galottis Reaktion bei der Tötung seiner Tochter, lediglich um sie zu beschützen, durchaus überzogen gezeichnet worden zu sein. Doch wo Lessings Emilia noch Mitschuld gegeben wird („Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine. […] Ich stehe für nichts.“, V,7)222, betonen Lenz, Wagner und Schiller vor allem die Normen setzenden gesellschaftlichen Institutionen und 222
Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti (Reclams Universal-Bibliothek 45). Hg. v. Jan D. Müller. Stuttgart 1987. S. 77.
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nicht zuletzt die patriarchale Kleinfamilie in der Schuldfrage. Das bürgerliche Trauerspiel vermag zwar gesellschaftliche Problemkonstellationen auf die Bühne zu bringen, doch während noch eindeutige tragische Lösungen am Ende stehen, exponiert Lenzens Tragikomödie die Unmöglichkeit einer endgültigen Lösung dieser Konflikte und verharrt in erschreckender Ambivalenz. In den Elterngenerationen herrscht schließlich auch vornehmlich deformierte Liebe, die sich in Streitereien, Drohungen oder Kommunikationsproblemen offenbart. Am deutlichsten wird die Majorin, die ihrem Ehemann sexuelles Vermögen im ehelichen Bett abspricht („Neulich hatt er wieder einmal den Einfall bei mir zu schlafen, und da ist er mitten in der Nacht aus dem Bett aufgesprungen und hat sich – He he, ich sollt’s Ihnen nicht erzählen, aber Sie kennen ja die lächerliche Seite von meinem Mann schon.“, II,6), wodurch ein großer Sinnaspekt der Ehe in der aufgeklärten Gesellschaft und damit auch die einzige legitime Möglichkeit, den Trieben nachzugehen, wegfallen. Der Major, Wesener, Humbrecht und Miller stellen allesamt die Prinzipien ihres Standes und auch ihre sozialen Ambitionen über die Bedürfnisse der Töchter. Die autoritären Familienstrukturen werden geradezu „in ihrer Intransigenz und Beschränktheit porträtiert“223. Dabei werden die Hausväter teilweise ignorant, restriktiv und herrisch, aber auf der anderen Seite auch liebevoll gezeichnet. Sie sind es zwar, die maßgeblich dazu beitragen, dass ihre Töchter am Ende den totalen sozialen Fall erleiden oder gar sterben, indem ihre rigiden sexualmoralischen Vorstellungen keine Auswegmöglichkeiten für die gepeinigten Mädchenseelen offen lassen, doch auch hier können die Autoren sich nicht ganz von der Kleinfamilie als Form der Organisation und Reglementierung bürgerlichen Lebens im häuslichen Kontext lösen. Noch immer werden den Vätern schützende und zärtliche Eigenschaften zugesprochen. Auch werden die Humbrechtin und die Millerin schuldiggesprochen, da sie gegen die patriarchale Ordnung verstoßen. In den Darstellungen empfindsamer Passivität Louises in Kabale und Liebe oder die verklärte Empfindelei Gustchens im Hofmeister werten die Autoren auch jene Komponente bürgerlicher Moral, die diese passiven Verhaltensweisen bei den jungen Frauen als fetischisiertes Tugendideal pries, ab. „Schiller und Lenz sehen, daß Empfindsamkeit und Sinnlichkeit nicht voneinander zu trennen sind, greifen also indirekt die dualistische Liebesauf-
223
Huyssen, Andreas: Das leidende Weib in der dramatischen Literatur von Empfindsamkeit und Sturm und Drang: Eine Studie zur bürgerlichen Emanzipation in Deutschland. In: Monatshefte 69/2 (1977). S. 163.
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fassung der Aufklärung an.“224 Auffällig ist auch, dass in allen Dramen vernünftiges Handeln und Appelle an die Vernunft in Abgrenzung zu Affekten mit patriarchaler Herrschaftspraxis und zeitgenössischer Ständegesellschaft verflochten sind. Selbst von Gröningseck mahnt Evchen unmittelbar nach seiner Untat, sie solle „Raison annehmen“ (I), ebenso wie der Geheime Rat seinem Bruder diagnostiziert: „Deine Wut macht dich unmündig.“ (III,2) Die Stürmer und Dränger lehnen die Vernunft allerdings nicht ab, sie wollen, dass Vernunft nicht auf Kosten von Freiheit verwirklicht wird. Was die Machtträger der bürgerlichen Gesellschaft vernünftig und sittsam nennen, führt zu jenen „Nöte[n] bürgerlicher Individuen, die aus der Repression der eigenen Gesellschaftsschicht resultieren“.225 Weiterhin wollen sie den gegenseitigen Ausschluss von Ratio und Sexus aufheben; Sexualität solle als Teil der menschlichen Natur nicht nur anerkannt, sondern auch in seiner Produktivkraft geschätzt werden. Der sich selbst kastrierende Läuffer akzeptiert eben diesen Teil seiner selbst nicht mehr, ebenso wenig, wie die Gesellschaft Zeugnisse verbotener Sexualität akzeptiert. Aus diesem Grund bleibt auch Evchen nichts anderes übrig, als ihr Kind zu töten, wollen Gustchen und Louise sich selbst das Leben zu nehmen. Die Konfrontation des eigenen Begehrens mit der väterlichen Moral lässt keine Möglichkeiten der Selbstverwirklichung zu, drängt nur in Richtung seelischer und körperlicher Zerstörung. Die Emanzipation des Bürgertums mit Hilfe von ökonomischer Tugendhaftigkeit und Moralität vollzog sich nicht nur auf die Kosten von Sinnlichkeit überhaupt, sondern vor allem auf die der weiblichen Mitglieder der Gesellschaft. Frauengestalten standen im 18. Jahrhundert schon oft im Zentrum des dramatischen Konflikts; im Sturm und Drang wird dabei in Anfängen auf ihre unterprivilegierte Lage in Gesellschaft und Familie aufmerksam gemacht. Sie werden im Hofmeister nicht zu Wort gelassen und bei Wagner gleich ganz offensichtlich männlicher Verfügungsgewalt ausgesetzt. Als Schranken der Emanzipation der Frau wiesen sich eben jene bürgerliche Moralvorstellungen über Tugend und Triebkontrolle aus. Literatur, die sich der Emanzipation der Frau verschreibt, ist der Sturm und Dranmg allerdings nicht. Die Furien und Machtweiber in der Dramatik wie Adelheid von Walldorf in Goethes Götz von Berlichingen, Mathilde in Mahler Müllers Golo und Genovefa oder Solina und Gianetta aus Klingers Neuer Arria bzw. Otto gehören in der Regel dem Adel an. Sie haben Ehrgeiz und Machtansprüche, handeln autonom und selbstbewusst, doch werden dämonisiert und scheitern zumeist ebenso wie die passiv leidenden Frauen an der patriar224
Huyssen: Das leidende Weib in der dramatischen Literatur von Empfindsamkeit und Sturm und Drang. S. 165. 225 Luserke/Marx: Die Anti-Läuffer. S. 141.
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chalischen Gesellschaft. Charakteristisch ist hier, dass die Geniedichter die tragischen Enden der bösen Machtweiber, die eben noch stärker gegen die männlich dominierte Gesellschaft aufbegehren, wiederum noch konsequenter herausarbeiten. Huyssen kommt so zu dem Ergebnis, das leidende Weib repräsentiere die Ohnmacht und Passivität des deutschen Bürgertums am Ende des 18. Jahrhunderts.226 Forderte die Empfindsamkeit die Emanzipation des Gefühls, so geht es im Sturm und Drang um die Befreiung der (sexuellen) Leidenschaften und des Begehrens. Es wäre zu überlegen, ob man die Werke der jungen Dichtergeneration als Argumente gegen Foucaults Geschichte der Sexualität227 anführen, also als zivilisationshistorische Zeugnisse für die Repressionshypothese228 nutzen könnte – eine Überlegung, die künftiger Bearbeitung bedürfe. Es scheint zwar, wie in Foucaults Ausführungen postuliert, evident, dass der Sexualitätsdiskurs aus Machtinteressen installiert worden ist, um Sexualität zu funktionalisieren. Allerdings ist es äußerst problematisch, das Bürgertum in jener Zeit als Repräsentant der Macht anzusehen, da es sich doch gerade erst in seiner Selbstdarstellung in Abgrenzung vom Adel zu emanzipieren versucht. Und diese Umkehrung der adligen Verhaltensweisen, zu der man angehalten war, musste nun zwangsläufig zu repressiven Umgang mit bürgerlicher Sexualität führen. Es zeigt sich in jedem Fall, wie die Charaktere im Drama unter aufgeklärter diskursiver Macht zu leiden haben, wie jenes als vernünftig galt, was sich zuvor aus kontingenten Machtwirkungen herausbildete und wie die jungen Genies den 226
Vgl. Huyssen: Das leidende Weib in der dramatischen Literatur von Empfindsamkeit und Sturm und Drang. S. 170. 227 Foucault konkretisiert in seinem Spätwerk Sexualität und Wahrheit, was es genau mit der Ordnung des Diskurses auf sich hat und untersucht die Beziehungen von Macht, Wissen und Sexualität. Er leugnet zwar nicht die vielen Verbote und Unterdrückungen von Sexualität, doch diese Vorgänge gehen über reine Repression hinaus. Er stellt die These auf, dass es im Interesse von Macht und Machtträgern liege, Sexualität nicht zu unterdrücken, sondern sie vielmehr erst auf vielfältige Art und Weise zu diskursivieren, in Formen des Redens und Schreibens zu bringen. Die Unterdrückung von Sexualität sei laut ihm Teil einer übergeordneten Diskursstrategie und erst das Reden über ihre Unterdrückung befördere befreiendes und kritisches Reden. Diese Diskurse der Sexualität haben wiederum nicht die Repression von Sexualität, aber die Legitimation von Macht zum Ziel. Sexualität sei in Macht eingeschrieben. Vgl. Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit 1: Der Wille zum Wissen. Übers. v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter. Frankfurt a.M. 1977. Für das 18. Jahrhundert unterscheidet Foucault „vier große strategische Komplexe“, die „um den Sex spezifische Wissens- und Machtdispositive entfalten“: Die „Hysterisierung des weiblichen Körpers“, die „Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens“, die „Psychiatrisierung der perversen Lust“ und die „Pädagogisierung des kindlichen Sexes“. Vgl. Ebd. S. 126. Selbst das permanente Reden und Schreiben über die lasterhafte Onanie sieht er dabei als Versuch, neues Begehren zu produzieren. Allerdings lässt sich hier einwenden, dass nicht mehr nur von Diskursivierung gesprochen werden kann, wenn die aufgeklärten Erzieher ihre Zöglinge konkret überwachen oder drangsalieren. 228 Die Vertreter der Repressionshypothese sehen, dass wir uns historisch in Bezug auf Sex von einer relativ offenen Periode seit dem 18. Jahrhundert zu der Unterdrückung von Sexualität bewegen. Im Gegensatz zu Foucault wird in der Verneinung von Sexualität und auch im ständige Reden und Schreiben in der Literatur darüber ein zentraler Schaltmechanismus für allgemeine Unterdrückung, aber auch zugunsten der Ausbreitung des Kapitalismus gesehen. Vgl. ebd. S. 14.
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Versuch wagen, gegen diese Macht aufzubegehren. Wenn Korff den Unterschied des Sturm und Drang zur Geschlechtsmoral der Aufklärung allerdings darin begründet sieht, dass die Genies das Recht auf außerehelichen Geschlechtsverkehr bekunden,229 übersieht er dabei die dennoch existierende Bindungen der jungen Literaten an das eigene Standesbewusstsein. Sie konnten letzten Endes im Kampf gegen den Adel nicht auf bürgerliche Tugendideale verzichten. Auch indem der Sturm und Drang den Adel mitsamt seinen dekadenten sexuellen Tendenzen derart negativ zeichnet, bleibt er seiner Standesgebundenheit verhaftet. Er bietet keine praktischen Alternativen für die Sexualitätsproblematik des Bürgertums an. Deshalb bleiben die bürgerlichen Werte der einzige Ausweg und die Repression der bürgerlichen Individuen kann nicht durchbrochen werden. Die Möglichkeit für ein Gelingen des Auslebens von körperlichen Leidenschaften ist jedoch allenfalls in antikisierten, utopischen und eben nicht-bürgerlichen Gesellschaften, wie am Ende von Heinses Ardinghello möglich. Die Flucht aus der Wirklichkeit bezeugt aber eben die Unmöglichkeit der individuellen Freiheit des Sexuellen in der bürgerlichen Gesellschaft am Ende des 18. Jahrhunderts. Festzuhalten bleibt schließlich, dass sich die Stürmer und Dränger für die Leidenschaften, für Sinnlichkeit und Sexualität als Teil des ganzen Menschen einsetzen und gegen die Unterdrückung durch bürgerliche Werte und Moralvorstellungen vorgehen. Auch wenn es nicht immer explizit um Sexuelles geht, so arbeiten die Geniedichter häufig mit einem Begriff von Liebe, wie er sich vor allem auch in den Leiden des jungen Werther abzeichnet, der eine Art Verschmelzung von Gefühl, Sinnlichkeit und Sexualität anstrebt.230 Es sind ihre tiefsten Bedürfnisse, die die scheiternden Individuen zu artikulieren und zu erfüllen versuchen. Dabei soll ungeschönt auf der Bühne gezeigt werden, welch unmenschliche Auswirkungen scheinheilige Moral besitzen kann. Sexualität soll durch Diskursivierung von einem diffamatorischen Zugang befreit werden. Wagner klagt die Doppelmoral seines Standes an: „Jetzt ist es Mode tugendhaft scheinen zu wollen, vielleicht wird man es einmal …“231 Anders als die junge Dichtergeneration hält es der alte Aufklärer Lessing jedoch, wenn es um das „Unglücke ganz guter, ganz unschuldiger Personen“ geht, in über229
Vgl. Korff, H[ermann] A[ugust]: Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassischromantischen Literaturgeschichte 1: Sturm und Drang. Reprint der 8., unveränderten Aufl. Leipzig 1966. Darmstadt 1988. S. 238. 230 Vgl. Wust, Karin A.: „Wilde Wünsche“: The Discourse of Love in the Sturm und Drang. In: David Hill (Hrsg.): Literature of the Sturm und Drang. Rochester/Suffolk 2003. S. 219. 231 Wagner, Heinrich Leopold: Aus der Vorrede zu den Theaterstücken 1779. In: Ders.: Die Kindermörderin. Ein Trauerspiel. Nebst Scenen aus den Bearbeitungen K.G. Lessings und Wagners. Hg. v. Erich Schmidt. Heilbronn 1883. S. 110.
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heblich-doppelmoralischer Manier für „höchst nötig, daß wir an die verwirrenden Beispiele solcher unverdienten schrecklichen Verhängnisse so wenig wie als möglich erinnert werden. Weg mit ihnen von der Bühne! Weg, wenn es sein könnte, aus allen Büchern mit ihnen!“232
232
Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie (Reclams Universal-Bibliothek 7738). Hg. v. Klaus L. Berghahn. Stuttgart 1999. S. 405.
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10 Versicherung Eides Statt
Ich, Maximilian Lippert, ES0228449600, wohnhaft auf dem Taubenacker 19, 40668 Meerbusch, versichere an Eides Statt durch meine Unterschrift, dass ich die vorstehende Arbeit selbständig und ohne fremde Hilfe angefertigt und alle Stellen, die ich wörtlich oder annähernd wörtlich aus Veröffentlichungen entnommen habe, als solche kenntlich gemacht habe, mich auch keiner anderen als der angegebenen Literatur oder sonstiger Hilfsmittel bedient habe. Ich versichere an Eides Statt, dass ich die vorgenannten Angaben nach bestem Wissen und Gewissen gemacht habe und
dass die Angaben
der Wahrheit entsprechen und ich nichts
verschwiegen habe. Die Strafbarkeit einer falschen eidesstattlichen Versicherung ist mir bekannt, namentlich die Strafandrohung gemäß § 156 StGB bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bei vorsätzlicher Begehung der Tat bzw. gemäß § 163 Abs. 1 StGB bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bei fahrlässiger Begehung.
Ort, Datum
Unterschrift