Bürgerbeteiligung an Großprojekten: Ausdruck lebendiger Demokratie oder das Lernen, die bittere Pille zu schlucken? Von Oscar W. Gabriel
I. Bürgerbeteiligung: Ein Mittel zur Konfliktbewältigung bei der Planung von Großprojekten? In den letzten Jahren löste die Planung und Realisierung von Großprojekten in Deutschland starke politische Kontroversen aus. Dies gilt insbesondere für wirtschaftsnahe Infrastrukturprojekte. Im spektakulärsten Fall, dem Projekt Stuttgart 21, zieht sich der Planungsprozess bereits über ein Vierteljahrhundert hin. Mehrere Planfeststellungsverfahren, zahlreiche, lange andauernde öffentliche Debatten über die Vorzüge und Nachteile des Projekts, eine aufwändige Faktenschlichtung, mehrere Kommunal- und Landtagswahlkämpfe und nicht zuletzt ein Volksentscheid schufen bisher keine endgültige Klarheit in der Frage, ob das Projekt realisiert werden oder doch noch scheitern wird.1 Die in den letzten Monaten erneut aufgeflammte Kostendebatte könnte die befriedende Wirkung des Volksentscheids vom 27.11.2011 konterkarieren und erneut eine Kontroverse über die Sinnhaftigkeit des Bahnhofsumbaus auslösen, in der allerdings kaum noch neue Argumente ausgetauscht werden dürften. Im Rückblick erweist sich Stuttgart 21 als Paradebeispiel einer missglückten Infrastrukturplanung. Weitere Vorgänge wecken in der Öffentlichkeit, bei den Entscheidungsträgern und in der Wissenschaft Zweifel daran, ob Großprojekte künftig noch in der bisherigen Form geplant und ausgeführt werden können. Die mehrfach verschobene Inbetriebnahme des Willy Brandt-Flughafens in Berlin, die Verzögerungen und Kostensteigerungen beim Bau der Hamburger Elbphilharmonie, das Scheitern der geplanten Erweiterung des Münchener Flughafens in einem Volksentscheid und die ungewisse Zukunft des Pumpspeicherwerks Atdorf nach weitgehend erfolglosen Runden Tischen illustrieren die Schwierigkeiten bei der Planung und Realisierung großer Infrastrukturprojekte. Einige Kritiker ___________ 1
Vgl. im Einzelnen: Stuckenbrock 2013; Gabriel/Schoen/Faden-Kuhne 2014.
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bezweifeln grundsätzlich die Notwendigkeit solcher Vorhaben und möchten deren Realisierung durch eine Mobilisierung der Öffentlichkeit verhindern. Andere dagegen setzen auf einen Ausbau von Bürgerbeteiligung als Mittel zur Vermeidung von Fehlern im Planungsprozess und als Weg zu besseren Planungsergebnissen.2 Wieder andere bezweifeln, ob eine erweiterte und qualitativ verbesserte Bürgerbeteiligung allein dazu beitragen könne, die vorhandenen Planungsprobleme zu lösen. Vermutlich beschleunigt eine breitere und intensivere Partizipation der Bevölkerung Planungsprozesse nicht, sie trägt nicht dazu bei, Kostensteigerungen zu vermeiden, sie schließt das Auftreten sachlicher Planungsfehler nicht aus und sie bietet auch keine Garantie dafür, dass Konflikte über die Ziele, Mittel und Verfahren der Planung vermieden, eingedämmt oder zumindest in geordneter Form ausgetragen werden. Über die Ursachen und Folgen der offenkundigen Schwierigkeit, in Deutschland große Infrastrukturprojekte zu realisieren, liegen bisher nur lückenhafte empirische Informationen vor.3 Bei einer Auswertung der wenigen empirisch fundierten Einzelfallstudien über die Rolle der Bürgerbeteiligung bei der Planung spezifischer Großprojekte bleibt unklar, ob und in welchem Maße die vorliegenden Befunde über den Einzelfall hinausgehende allgemeine Erkenntnisse vermitteln. Auch die Ergebnisse der empirischen Partizipationsforschung im Allgemeinen4 helfen bei der Identifikation der Bedingungen erfolgreicher Bürgerbeteiligung nur bedingt weiter, weil sie sich erstens nicht auf die spezifische Form der Beteiligung an Planungsprozessen beziehen und weil sie zweitens zwar wichtige Aufschlüsse über die Bestimmungsfaktoren politischer Partizipation geben, sich aber allenfalls am Rande mit den Konsequenzen und Erfolgsbedingungen des bürgerschaftlichen Engagements beschäftigen. Weitere Umstände erschweren allgemeine Aussagen über den Erfolg der Beteiligung an der Planung und Realisierung von Projekten: die am Planungsprozess beteiligten Akteure verfolgen unterschiedliche Ziele und dürften schon allein aus diesem Grunde unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wann Beteiligung erfolgreich war. Da politische Partizipation darauf zielt, Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen,5 bemisst sich ihr Erfolg primär an der Durchsetzung der Ziele, die die politische Aktivität ausgelöst haben. Für Planungsprozesse bedeutet dies, dass die Befürworter eines Projekts seine Realisierung durchsetzen, während die Gegner genau dies verhindern. In Null-SummenKonstellationen dieser Art setzt eine Seite ihre Ziele durch, während die andere damit scheitert. Gewinner und Verlierer gibt es sowohl in der Bevölkerung als auch bei den politischen Entscheidungsträgern. Allerdings wird politische Par___________ 2 3 4 5
Claus u.a. 2013: 6f; Geissel/Newton 2012. Entsprechende Hinweise bei Ewen u. a. 2013: 21; Kubicek/Lippa/Koop 2011: 23ff. Vgl. zusammenfassend: van Deth 2008; Gabriel 2004; Steinbrecher 2009. Kaase 1997: 160.
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tizipation nicht ausschließlich als instrumentelles, auf die Durchsetzung von Zielen gerichtetes Handeln verstanden, sondern sie wird mit weiteren Zwecken in Verbindung gebracht, beispielsweise mit dem Erwerb und der Vertiefung von Wissen und Urteilsfähigkeit, der Stärkung des politischen Selbstbewusstseins, der Vermittlung politischer Fertigkeiten, der Bildung von Vertrauen zwischen den beteiligten Akteuren, dem Wecken von Verständnis für die Position der Gegenseite oder der an die Qualität politischer Prozesse gebundenen Legitimierung von Entscheidungen.6 Selbst in instrumenteller Perspektive kann ein Erfolg darin bestehen, dass die endgültige Entscheidung den Präferenzen einer größeren Zahl von Akteuren entspricht als die ursprünglich geplante. Ob solche Ziele durch bürgerschaftliche Beteiligung erreichbar sind und in welchem Maße dies gilt, hängt von zahlreichen Faktoren ab, von denen die folgenden besonders wichtig zu sein scheinen: die Verfügbarkeit von Partizipationsrechten, die Charakteristika der eingesetzten Beteiligungsverfahren, die Art der Planungsprobleme und die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, unter denen Beteiligungsverfahren stattfinden, insbesondere die Einstellungen und Verhaltensweisen der in den Beteiligungsprozess eingebundenen Akteure. Mit der Analyse dieser Bedingungen erfolgreicher Bürgerbeteiligung an der Planung von Großprojekten beschäftigt sich dieser Beitrag.
II. Charakteristika von Konflikten über die Planung und Durchführung von Großprojekten und ihre Implikationen für das Beteiligungsverhalten 1. Planung und Partizipation unter den Bedingungen des Pluralismus von Präferenzen Konflikte über die Planung und Durchführung großer Infrastrukturprojekte sind weder in Deutschland noch in anderen Demokratien eine neuartige Erscheinung. Ebenso wie gegen diese Vorhaben protestieren Menschen gegen die Globalisierung, gegen die Finanzkrise und die Banken, gegen Tierversuche, gegen die Einschränkung sozialstaatlicher Leistungen, gegen schlechte Zukunftsaussichten für junge Menschen oder für höhere Investitionen in das Bildungssystem. Wie Ernst Fraenkel bereits am Beginn der 1930er Jahre in seiner Kritik an monistischen Gemeinwohlvorstellungen betonte, gehören politische Konflikte und aus ihnen resultierende Proteste zum Alltag pluralistischer Demokratien. Sie stellen keine atypischen oder gar pathologischen Erscheinungen im politischen Leben dar, sondern ergeben sich aus der Pluralität der Interessen ___________ 6 Ausführlich: Parry/Moyser/Day 1993: 286ff; vgl. auch: Gabriel 2013: M15ff; Kubicek/Lippa/Koop 2011: 25ff; Renn 2013: 75ff.
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und Wertvorstellungen von Individuen und gesellschaftlichen Gruppen. Diese unterschiedlichen Ideen und Präferenzen werden in Demokratien als legitim und gleichberechtigt anerkannt. Demokratische Institutionen und Verfahren schaffen die Möglichkeit, Konflikte in einem fairen und offenen Wettbewerb friedlich und in einer geregelten Form auszutragen.7 Nach Dahl8 institutionalisieren freiheitliche Demokratien die Prinzipien von Wettbewerb und Partizipation und sorgen auf diese Weise dafür, dass sich die Inhaber politischer Führungspositionen responsiv gegenüber den Bürgern verhalten. Als konstitutive Merkmale der Demokratie sollten die genannten Prinzipien sämtliche politischen Entscheidungen, auch Entscheidungen über die Realisierung von Großprojekten, leiten. Diese sind mit einem Legitimitätsproblem konfrontiert, wenn sie ständig gegen den erklärten Willen der Mitglieder der politischen Gemeinschaft durchgesetzt werden müssen. In der politischen Praxis tritt bei der Verwirklichung des demokratischen Ideals der Responsivität allerdings das Problem auf, dass ein einheitlicher Wille aller Mitglieder der politischen Gemeinschaft nicht existiert, so dass verbindliche Entscheidungen meist nur im Einklang mit den Präferenzen eines Teils der Bevölkerung stehen. Doch selbst eine Ausrichtung der Entscheidungen am Willen der Mehrheit kann Probleme mit sich bringen, wenn die nicht berücksichtigte Minderheit durch die getroffene Entscheidung ihre politischen Wertvorstellungen verletzt sieht oder wenn sie sich dauerhaft in einer Minderheitenposition befindet. Da sich in den modernen Gesellschaften in den letzten Dekaden eine wachsende Pluralität von Werten und Normen entwickelt hat,9 stößt das Mehrheitsprinzip als Entscheidungsregel an seine Grenze. Es entsteht ein zunehmender Druck auf die Führungsgruppen, politische Entscheidungen durch Verhandlungen zwischen möglichst vielen Gruppen auf eine breite Basis zu stellen und auf diesem Wege eine möglichst große Akzeptanz für Lösungsvorschläge zu erreichen. Weil parlamentarische Mehrheitsentscheidungen auf Grund eines Wandels der politischen Kultur moderner Demokratien diese Akzeptanz häufig nicht finden, ist ein wachsender Bedarf an konsensualen Problemlösungen entstanden, zu dessen Befriedigung bürgerschaftliche Beteiligung, insbesondere in Form dialogorientierter Verfahren,10 beitragen soll.
2. Wertekonflikte und Partizipation an der Planung von Großprojekten Bei der Planung und Durchführung großer, insbesondere wirtschaftsnaher Infrastrukturprojekte produziert der Pluralismus von Präferenzen in Verbindung mit den begrenzten Möglichkeiten, bei kontroversen politischen Entscheidungen allen Präferenzen gerecht zu werden, fast regelmäßig Akzeptanzprobleme. Projekte dieser Art erweisen sich als kontrovers, konfliktträchtig und Kompromisslösungen schwer zugänglich. Das Konfliktpotenzial ist vor allem deshalb groß, weil die Projekte und die mit ihrer Realisierung verbundenen Folgen den soziokulturellen und politischen Wertvorstellungen vieler Menschen zuwiderlaufen. Etliche Umfragen dokumentieren den in der Bevölkerung vorhandenen Dissens über solche Projekte. In einer im Jahr 1999 durchgeführten Umfrage stimmten 61 Prozent der Befragten dem Ausbau des Frankfurter Flughafens zu, eine starke Minderheit war dagegen. Drei Jahre später lag der Anteil der Befürworter um zehn Prozent niedriger, so dass sich eine zahlenmäßig fast gleich große Gruppe von Anhängern und Gegnern des Projekts gegenüberstanden.11 Die Verteilung der Einstellungen zur Inbetriebnahme des Flughafens BerlinSchönefeld kommentierte die Berliner Zeitung vom 27.1.2012 wie folgt: „Laut einer neuen Forsa-Umfrage im Auftrag der Berliner Zeitung vertreten 50 Prozent der Hauptstädter die Ansicht, es wäre besser gewesen, wenn es bei den früheren drei kleinen Flughäfen geblieben wäre. Lediglich 43 Prozent der Befragten halten die Entscheidung für einen einzigen Standort für richtig.“12
Ein ähnlich großer Dissens zeigte sich in den Einstellungen zu Stuttgart 21. In der Stadt Stuttgart sprach sich im Jahr 1997 jeder vierte Befragte gegen das Projekt aus, 38 Prozent votierten dafür und 37 Prozent waren unentschieden. Mit dem Näherrücken des Beginns der Bauarbeiten stellte sich eine wachsende Polarisierung der Einstellungen ein. 2008 war der Anteil der Kritiker fast so groß (36 %) wie der der Befürworter (38%), dagegen war die Zahl der Unentschlossenen und Ambivalenten zurückgegangen.13 Diese starke Polarisierung der Einstellungen blieb während des gesamten Zeitraums zwischen dem September 2010 und dem Dezember 2011 bestehen, vor allem im zeitlichen Umfeld des Volksentscheides über das S21-Kündigungsgesetz. In abgeschwächter Form zeigte sie sich auch im Stuttgarter Umland und in den übrigen Teilen Ba___________ 11
http://www.flughafen.unser-forum.de/?show=WKdj, letzter Zugriff am 23.5.2013. http://www.berliner-zeitung.de/berlin/exklusiv-umfrage-der-berliner-zeitung-mehr heit-der-berliner-lehnt-neuen-flughafen-ab,10809148,11525706.html, letzter Zugriff am 23.5.2013. 13 Die Umfragen in den Jahren 1997 und 2008 wurden von der Abteilung Politische Systeme und Politische Soziologie des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart unter der Projektleitung des Verfassers im Auftrag der Bahn AG (1997) bzw. der Stuttgarter Nachrichten (2008) durchgeführt. Befragt wurden 1505 (1997) bzw. 1081 (2008) Personen. 12
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den-Württembergs und wurde durch das Ergebnis des Volksentscheides nur unwesentlich verändert.14 Die Ergebnisse der jüngsten Stuttgarter Bürgerumfrage bestätigen die unverändert fortbestehende Kontroverse: Im August 2013 wurden 37 Prozent Befürworter und 39 Prozent Gegner ermittelt, 20 Prozent der Befragten waren unentschieden.15 Tabelle 1 Einstellungen zu Stuttgart 21 vor und nach dem Volksentscheid in der Stadt und Region Stuttgart und den übrigen Landesteilen (Angaben: Prozentanteile) Stadt Stuttgart Vorher
Nachher
Umland Stuttgart Vorher
Nachher
Rest BaWü Vorher
Nachher
sehr positiv
18
18
17
19
14
15
eher positiv
22
24
23
25
23
25
teils-teils
20
22
23
21
28
27
eher negativ
16
18
20
21
17
17
sehr negativ
23
18
16
15
16
14
w.n./k.A.
1
1
1
1
3
1
948
246
954
249
1901
485
N
Frage: „In Baden-Württemberg wird seit langem über das Projekt Stuttgart 21 diskutiert. Wie beurteilen Sie persönlich das Projekt Stuttgart 21 alles in allem? Würden Sie sagen sehr positiv, eher positiv, teils-teils, eher negativ, sehr negativ?“ Quelle: Universität Stuttgart, Abt. Politische Systeme und Soziologie des Instituts für Sozialwissenschaften im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung von SWR und StZ; Oktober/November 2011.
Noch eindrücklicher manifestieren sich die Gegensätze über die Realisierung eines großen Infrastrukturprojekts in den Einstellungen der Bürger zum Bau des Pumpspeicherwerks Atdorf. Die in Abbildung 1 wiedergegebenen Daten lassen eine außergewöhnlich starke Polarisierung der Einstellungen erkennen. Nur wenige Bürger standen dem Projekt ambivalent oder indifferent gegenüber, dagegen bezog die Hälfte der Befragten eine extrem negative oder eine extrem positive Position zu ihm. Bemerkenswert ist dabei, dass die zwischen der ersten und der zweiten Befragung durchgeführte Moderation an dieser Verteilung nichts änderte.16 Es ist sehr ungewöhnlich, dass in Einstellungsstudien eine derart starke, im Zeitverlauf stabil bleibende Polarisierung ermittelt wird.
___________ 14
Vgl. Tabelle 1 sowie Gabriel/Schoen/Faden-Kuhne 2014: Abbildungen 15 und 16. http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.buergerumfrage-stuttgart-die-zustimmung-zu-stuttgart-21-ist-gesunken.457152dc-0d77-41b7-902b-904beb971daf.html, letzter Zugriff am 24.8.2013. 16 Nähere Informationen bei Ewen u.a. 2013: 102ff., bes. Abb. 3, S. 114. 15
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Abbildung 1: Zustimmung zum Bau des Pumpspeicherwerks (Angaben: Prozentanteile) Frage: „Die Meinungen über den geplanten Bau des Pumpspeicherwerks Atdorf gehen weit auseinander. Bitte sagen Sie uns erst einmal ganz allgemein, wie sehr Sie für oder gegen den Bau des Pumpspeicherwerks sind. Mit den Kästchen dazwischen können Sie Ihre Meinung abstufen.“ Skala reicht von -5 „voll und ganz dagegen“ bis +5 „voll und ganz dafür“. Fälle gewichtet. Gültige Fälle: Welle 1: 799, Welle 2: 505. Quelle: Universität Stuttgart, Abt. Politische Systeme und Soziologie des Instituts für Sozialwissenschaften im Rahmen des Forschungsprogramms BWplus; Juni-Dezember 2011.
Die Schärfe der Kontroversen über die Notwendigkeit und Erwünschtheit großer Infrastrukturprojekte ergibt sich aus der Art der bei diesen Projekten auftretenden Konflikte. Diese haben im Regelfall weniger spezifische Sachfragen wie die Projektkosten, die Verbesserung der Verkehrsverbindungen oder eine sicherere Energieversorgung zum Gegenstand. Zwar sind auch diese Detailfragen umstritten, aber in den Konflikten über solch spezifische Probleme manifestieren sich gegensätzliche, oft unvereinbare Wertvorstellungen. Schwartz (2007: 169) bezeichnet Werte als „deeply rooted, abstract motivations that guide, justify and explain attitudes, norms and actions”.
Diese Wertekonflikte weisen nach Schwartz eine starke affektive Komponente auf, sie definieren von Individuen oder Kollektiven als erstrebenswert betrachte Ziele, gelten in zahlreichen Handlungsbereichen, fungieren als Standards bei der (moralischen) Bewertung von Personen, Ereignissen oder Politiken, werden entsprechend ihrer Bedeutsamkeit in eine Rangordnung gebracht und leiten bzw. steuern das Verhalten von Individuen und Gruppen.17 Sie drehen sich um die Frage, was eine lebenswerte Gesellschaft ausmacht und welche Ziele verfolgt bzw. welche Maßnahmen realisiert werden sollen, um eine lebenswerte Gesellschaft zu erhalten oder zu schaffen. Diese Eigenschaften sind für die Sprengkraft in Wertekonflikten verankerter tagespolitischer Auseinandersetzungen verantwortlich. Wie die international vergleichende Werteforschung breit und detailliert belegt, ist der Prozess der Modernisierung von Gesellschaften mit einem Wandel ___________ 17
Schwartz 2007: 170f.
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und einer Pluralisierung der Wertvorstellungen verbunden.18 Die empirische Forschung datiert den Beginn des Wertewandels – präziser sollte man von seiner Beschleunigung und wachsenden Breitenwirkung sprechen – auf die 1960er Jahre. Die Bezeichnungen dieses Vorganges variieren zwar, im Kern beschreiben die vorliegenden Analysen des Wertewandels aber ähnliche Sachverhalte. Inglehart19 diagnostiziert einen Bedeutungsverlust materialistischer und einen Bedeutungsgewinn postmaterialistischer Werte. In einer Fortentwicklung dieser Konzeption beschreiben Inglehart und Welzel eine Polarisierung zwischen traditionellen und rational-säkularen bzw. Überlebens- und Selbstverwirklichungswerten.20 Wie auch immer man den Wandlungsprozess etikettiert und im Detail beschreibt, er hat die Vorstellungen der Bevölkerung davon, wie eine gute Gesellschaft beschaffen und wie ihre wichtigsten Teilsysteme von der Familie über die Arbeit bis hin zur Politik gestaltet sein sollen, grundlegend verändert. Im Zuge des Wertewandels veränderten sich nicht zuletzt die Einstellungen der Bevölkerung zu der für eine lebenswerte Gesellschaft erforderlichen Infrastruktur. In der Phase des Wiederaufbaus Europas nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren die Wertvorstellungen des weitaus größten Teiles der Bevölkerung auf technischen Fortschritt, wirtschaftliches Wachstum, wirtschaftliche Prosperität und soziale Sicherheit ausgerichtet. Hinzu kam der Wunsch nach Schutz vor inneren und äußeren Bedrohungen. Diese Ziele bestimmten die Erwartungen der Bürger an die Politik. Sie standen im Grundsatz nicht zur Disposition und bildeten zugleich die Leitlinien der Regierungspolitik. Zwischen Wählern und Gewählten bestand ein Wachstums- und Prosperitätskonsens, der das Einverständnis einschloss, die zur Erreichung der als erstrebenswert eingestuften Ziele benötigte Infrastruktur zu schaffen. Dazu gehörte der Bau von Straßen, Eisenbahnlinien, Bahnhöfen, Flughäfen und Einrichtungen zur Energieversorgung. Konflikte drehten sich nicht darum, ob die genannten Ziele erstrebenswert und die zu deren Realisierung zu schaffenden Einrichtungen notwendig seien. Sie bezogen sich primär auf die Frage, wie man den technischen Fortschritt und das wirtschaftliche Wachstum fördern und seine Erträge gerecht verteilen könne. Die Planung und der Betrieb der zur Förderung von Wachstum und Prosperität notwendigen Einrichtungen waren kein Gegenstand des politischen Streits, insbesondere kein Gegenstand parteipolitischer Konflikte. Van Deth beschreibt diese Synthese von Verteilungspolitik und Technikgläubigkeit als „conventional social democratic images of social and political order.“21 ___________ 18 Zusammenfassend: van Deth/Scarbrough 1995a; Inglehart/Welzel 2005; Klages 1988. 19 Inglehart 1971; Inglehart 1997. 20 Vgl. auch: Klages 1988; Schwartz 2007; van Deth/Scarbrough 1995a; Gerhards 2005. 21 Van Deth 2013: 74f.
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Diese Vorstellung von der wünschenswerten Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen begann sich in den 1960er Jahren zu ändern. Neben bzw. vor die bis dahin vorherrschenden Wachstums- und Prosperitätsziele traten seither emanzipative Lebensstil- und Selbstverwirklichungswerte.22 Diese priorisieren die Gleichberechtigung aller Menschen – unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer ethnischen Herkunft und ihrer Schichtzugehörigkeit, die Toleranz für andere Lebensweisen, auch für bestimmte Formen abweichenden Verhaltens, die Befürwortung innergesellschaftlicher und internationaler Solidarität, die gewaltlose Regulierung von Konflikten, einen schonenden Umgang mit natürlichen Ressourcen, eine gesunde Umwelt und ein qualitatives statt eines quantitativen Wachstums. Ein wichtiges Element des postmaterialistischen oder emanzipativen Wertesystems bildet der Anspruch auf das Recht zur aktiven Mitgestaltung des gesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens für alle, die an sozialem und politischem Engagement interessiert und hierzu bereit sind.23 Auf Grund der breiten Akzeptanz dieser neuen Wertorientierungen gelangten in Europa und in den USA neue tagespolitische Themen auf die politische Agenda, unter denen seit den 1970er Jahren der Kampf gegen die militärische und zivile Nutzung der Kernenergie eine exponierte Position einnimmt.24 Bis zu dem in Deutschland im Frühjahr 2011 vollzogenen Ausstieg aus der Erzeugung von Kernenergie waren die politischen Vorstellungen der Antikernkraftbewegung und die von ihr initiierten Protestaktionen gegen die Kernenergie ausdrücklich von der Präferenz für Lebensstilwerte und von der Ablehnung traditioneller Wachstums- und Prosperitätsziele getragen. Als Gegenbild zu diesem als überholt verstandenen Fortschrittskonzept entwickelte die Alternativbewegung die Idee eines ökologischen Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft. Anders als zunächst in Ingleharts Theorie des Wertewandels postuliert, vollzog sich dieser Prozess nicht als Verdrängung traditioneller durch neue Werte. Vielmehr existieren in modernen Gesellschaften die traditionellen und neuen Wertesysteme nebeneinander. Dieser Sachverhalt bringt weit reichende politische Konsequenzen für das politische Leben mit sich.25 Er führt zu gegensätzlichen Forderungen an die Politik, impliziert divergierende Realitätssichten und entwickelt – auch in tagespolitischen Fragen – eine große Sprengkraft. Die auftretenden Konflikte über große Infrastrukturprojekte reflektieren in einer markanten Weise den Gegensatz zwischen Selbstverwirklichungs- und ___________ 22 23 24 25
Van Deth/Scarbrough 1995b. Inglehart 1997: 42ff., 276ff.; Inglehart/Welzel 2005: 15ff.; van Deth 2013: 74f. Dalton 2006: 100ff.; Inglehart 1997: 252ff. Vgl. auch Klages 1988; Schwartz 2007; Sniderman u.a. 1996.
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Lebensstilwerten auf der einen Seite und Wachstums- und Prosperitätswerten auf der anderen Seite.26 Da sie in moralischen Überzeugungen verankert sind und sich nicht um teilbare Güter drehen, sind sie einer Lösung durch Mehrheitsentscheidungen oder durch Kompromisse nur schwer zugänglich.27 In dieser Ausgangslage sind die politischen Entscheidungsträger mit dem Problem konfrontiert, dass die Befürworter von Prosperitätszielen Infrastrukturprojekte aus Nützlichkeitserwägungen unterstützen, während die Befürworter von Lebensstilwerten sie aus moralischen Gründen ablehnen. Selbst wenn die Planungen im konkreten Fall spezifische individuelle Interessen tangieren, z.B. die von Grundstücksbesitzern, Anliegern oder potenziellen Nutznießern wirtschaftlicher Erträge, oder wenn die Einstellung zu einem Infrastrukturprojekt in Einzelfällen eine Abwägung seiner Vorzüge oder Nachteile einschließt, überlagern die beschriebenen Wertekonflikte häufig die projektspezifischen Einstellungen, laden sie moralisch auf und erschweren ihre Lösung. Dies gilt selbst für solche Entscheidungen, die in einem formal einwandfreien demokratischen Verfahren zustande gekommen sind. Die Eigenschaften eines in divergierenden Wertvorstellungen verankerten Streits über Großprojekte lassen sich gut am Beispiel der Auseinandersetzungen über Stuttgart 21 und über das Pumpspeicherwerk Atdorf illustrieren. Abgesehen von der in dieser Hinsicht schwer interpretierbaren Bewertung der Projektkosten wird eine Befürwortung dieser beiden Projekte typischerweise von Argumenten getragen, die auf die Förderung von Prosperitäts- und Wachstumszielen zielen. Dagegen speist sich die Ablehnung der Projekte aus lebensstilbezogenen Argumenten. In der Auseinandersetzung über Stuttgart 21 manifestiert sich diese Konstellation in den folgenden Argumentationsstrukturen. Je größer die Bedeutung ist, die die Befragten der Gefährdung der Mineralquellen durch den Bahnhofsumbau zusprechen, desto stärker lehnen sie das Projekt ab. Auf der anderen Seite nehmen die Vorbehalte gegen Stuttgart 21 in dem Maße ab, in dem die Befragten den Nutzen des Projekts an seiner Bedeutung für die Schaffung neuer Arbeitsplätze messen (Abbildung 2).
___________ 26 Vgl. mit explizitem Bezug zur kommunalen Infrastrukturpolitik: Gabriel u.a. 1992; Gabriel/Brettschneider 1997, bes. 61ff. 27 Weßels 1991.
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Ablehnung von Stuttgart 21
5,00 4,50 4,00 3,50 3,00 2,50 2,00 1,50 1,00 Sehr wichtig Eher wichtig
Teils/teils
Eher unwichtig
Sehr unwichtig
Wichtigkeit des Arguments Neue Arbeitsplätze
Gefährdung Mineralquellen
Abbildung 2: Bedeutsamkeit von Prosperitäts- und Lebensstil-Issues für die Ablehnung von Stuttgart 21. Fragewortlaut: Einstellung zu Stuttgart 21 wie in Tabelle 1. „In der Diskussion um Stuttgart 21 gibt es viele Argumente. Einige davon haben wir für Sie zusammengefasst. Sagen Sie mir bitte für jedes einzelne, ob Sie dem Argument zustimmen oder es ablehnen. Die Mineralwasserquellen in Stuttgart werden durch die Bauarbeiten gefährdet. Stuttgart 21 schafft viele neue Arbeitsplätze. Stimmen Sie diesem Argument zu oder lehnen Sie es ab: Ja/Nein? Und dann hätte ich noch gerne gewusst, wie wichtig es für Ihre Entscheidung bei der Volksabstimmung ist: Sehr wichtig, eher wichtig, teils/teils, eher unwichtig, sehr unwichtig?“ Quelle: Universität Stuttgart, Abt. Politische Systeme und Soziologie des Instituts für Sozialwissenschaften im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung von SWR und StZ; Oktober/November 2011.
Noch klarer tritt dieses Argumentationsmuster bei der Beurteilung des Pumpspeicherwerks Atdorf zu Tage (Abbildung 3). Dessen Notwendigkeit ziehen vor allem diejenigen Bürger in Zweifel, die der Gefährdung der Trinkwasserqualität und der Mineralquellen durch das Projekt sowie dem Landschaftsschutz eine wichtige Rolle zuweisen. Die Betonung der Bedeutsamkeit einer sicheren Stromversorgung und der Stärkung der regionalen Wirtschaftskraft hat den gegenteiligen Effekt auf die Einstellungen zum Bau des Pumpspeicherwerks. Je wichtiger diese beiden Gesichtspunkte den Befragten sind, desto positiver stehen sie dem Vorhaben gegenüber. In der Bewertung beider Projekte zeigt sich somit eine gleichartige Frontstellung zwischen den Befürwortern von Prosperitäts- und Wachstumszielen und Lebensstilfragen. Die Projektgegner stützen ihre Position nicht auf Zweckmäßigkeitserwägungen, sondern auf Lebensstilwerte, während die Befürworter den mit dem Projekt verbundenen (ökonomischen) Nutzen in den Vordergrund stellen. Für beide Seiten reflektiert die Einstellung zu Infrastrukturprojekten grundlegende Vorstellungen von der Art der Gesellschaft, in der sie leben wollen. Sie greifen zur Beurteilung der Projekte auf unterschiedliche Standards zurück, und insbesondere die Veranke-
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rung der Policypräferenz in moralischen Überzeugungen verleiht den Konflikten ihre Schärfe.
Abbildung 3: Bedeutsamkeit von Prosperitäts- und Lebensstil-Issues für die Ablehnung des Pumpspeicherwerks Atdorf. Frage: „Wie wichtig sind Ihrer Meinung nach folgende Probleme, für die der Runde Tisch eine Lösung finden muss? Bitte kreuzen Sie an, wie wichtig Sie die Lösung dieses Problems finden“. Schutz von Natur und Landschaft; Sicherung der Trinkwasserversorgung und der Heilquellen; Verbesserung und Sicherung der künftigen Stromversorgung; Stärkung der Wirtschaftskraft der Region. Überhaupt nicht wichtig, nicht besonders wichtig, Teils/teils, Wichtig, sehr wichtig. Wegen der teils kleinen Fallzahlen wurden die Antwortvorgaben wie folgt zusammengefasst. Nicht wichtig: überhaupt nicht wichtig und nicht besonders wichtig; wichtig: Wichtig und sehr wichtig. Quelle: Universität Stuttgart, Abt. Politische Systeme und Soziologie des Instituts für Sozialwissenschaften im Rahmen des Forschungsprogramms BWplus; Juni-Dezember 2011.
3. Die parteipolitische Überformung der Konflikte über Infrastrukturprojekte Als Folge des Wertewandels diagnostizieren viele Beobachter in den modernen Gesellschaften das Entstehen neuer politischer Konfliktlinien („Cleavages“), auf deren Grundlage es zu einer Neuformierung der europäischen Parteiensysteme komme. Diese Annahme ist seit Jahrzehnten empirisch gut belegt: Wie zahlreiche Studien zeigen, sahen die Anhänger der „neuen Werte“ in den 1980er Jahren ihre politischen Präferenzen nicht hinlänglich gut von den etablierten Parteien vertreten und schlossen sich deshalb zu neuen links-alternativen Parteien zusammen. Diese traten mit dem Ziel in den politischen Wettbewerb
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ein, die Themen der „Neuen Politik“ prominent auf der politischen Agenda zu platzieren und verfolgten ihr Anliegen durch die Kandidatur bei Wahlen und die Mitarbeit in Parlamenten, im Bedarfsfall aber auch durch die Initiierung und Unterstützung außerparlamentarischer Aktivitäten, die sich gegen die „Alte Politik“ und deren Repräsentanten richteten. Aus dieser neuen Wettbewerbssituation resultierte mit einer gewissen Zwangsläufigkeit eine intensive politische Auseinandersetzung zwischen den Verfechtern der Alten und der Neuen Politik.28 In unserem Zusammenhang geht es allerdings nicht um eine Analyse der Bedeutung der Ausbreitung von Selbstverwirklichungswerten und die damit verbundene Aufwertung der Themen der Neuen Politik für das Entstehen linksalternativer Parteien. Wichtig sind vielmehr die Implikationen der neuen politischen Konfliktlinien für die Auseinandersetzung über die Infrastrukturpolitik und die Beteiligung der Bürger an der Planung von Infrastrukturprojekten. Diese Implikationen sind mehrfacher Art. Da die Präferenz von Selbstverwirklichungswerten den Wunsch nach mehr Mitsprache der Bürger bei politischen Entscheidungen einschließt, brachte deren Aufwertung und Ausbreitung wachsende Partizipationsansprüche der Öffentlichkeit an der Gestaltung der Politik mit sich. Diese richten sich mit besonderem Nachdruck auf die Durchsetzung der Ziele der Neuen Politik und beziehen zusätzliche Durchschlagskraft aus der Wahrnehmung, dass die Inhaber politischer Führungspositionen den traditionellen Wachstums- und Prosperitätszielen verpflichtet seien.29 In dieser Gemengelage traten die neu formierten und etablierten Parteien als politische Unternehmer auf, machten die Ziele der Neuen bzw. Alten Politik zu ihren Anliegen und mobilisierten die Öffentlichkeit für deren Durchsetzung. In der Auseinandersetzung über die Planung von Infrastrukturprojekten treffen Koalitionen aus Bürgern, Parteien und Interessengruppen aufeinander, von denen die einen dem Wachstums- und die anderen dem Lebensstilparadigma verpflichtet sind.30 Die ohnehin vorhandenen Konflikte verschärfen sich weiter, wenn sie durch parteipolitische Auseinandersetzungen und einen Kampf um politische Machtpositionen überlagert werden. Eine solche Konstellation zeigt sich auch im Konflikt über Stuttgart 21. Seit der Stuttgarter Oberbürgermeisterwahl 2004 war das Thema Gegenstand einer parteipolitischen Kontroverse zwischen der CDU und den Grünen, die in der Folgezeit immer stärker auf die Landesebene übergriff. Im baden-württembergischen Landtagswahlkampf 2011 gehörte das Bahnhofsprojekt zu den ___________ 28 Dalton/Flanagan/Beck 1984; Dalton 2006: 167ff., 201ff., 223ff.; Inglehart 1983; Weßels 1991, 1997. 29 Inglehart 1979. 30 Weßels 1991.
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wichtigsten Streitfragen und drängte die bis dahin stets dominierenden Wirtschaftsthemen in den Hintergrund.31 Die von der CDU und den Grünen getragene Frontstellung zwischen Befürwortern und Gegnern des Bahnhofsumbaus und die ambivalente Position der SPD in dieser Frage spiegelten sich in den Einstellungen der Wählerschaft der drei Parteien mit kaum zu überbietender Klarheit wider. Sechs von zehn Wählern der Grünen lehnten das Projekt ab, nur jeder zehnte Grünenwähler befürwortete es. Nahezu spiegelverkehrt findet sich diese Verteilung der Einstellungen zu Stuttgart 21 in der Wählerschaft der CDU, in der mehr als sechzig Prozent Zustimmung zum Projekt erkennen ließen, während die Gegner nur eine kleine Minderheit bildeten. Die SPD-Wähler waren uneinig und beurteilten Stuttgart 21 sogar noch kontroverser als die Bevölkerung insgesamt (Abbildung 4). 100,0% 90,0% 80,0%
11%
13%
5% 11% 31%
16%
24%
20% 22%
70,0%
16%
60,0% 50,0%
36%
29%
29%
20% 36%
40,0% 30,0%
25%
23%
27%
28%
20,0% 10,0%
26% 8%
15%
13%
5%
0,0% Keine
SPD
sehr positiv
CDU
eher positiv
12%
Bündnis Andere Partei 90/Die Grünen
teils-teils
eher negativ sehr negativ Abbildung 4: Einstellung zu Stuttgart 21 in der Wählerschaft der Parteien und unter den Nichtwählern (Angaben: Prozentanteile). Quelle: Universität Stuttgart, Abt. Politische Systeme und Soziologie des Instituts für Sozialwissenschaften; Oktober 2011.
Wie die Beispiele zeigen, manifestieren sich in den Einstellungen zu Infrastrukturprojekten oft gegensätzliche Vorstellungen von der wünschenswerten Entwicklung der Gesellschaft und der individuellen Daseinsgestaltung. Sie verbinden sich mit unterschiedlichen Wahrnehmungen der Realität und erfahren durch eine parteipolitische Überformung eine zusätzliche Zuspitzung, die durch ___________ 31
Gabriel/Kornelius 2011: 796.
Bürgerbeteiligung an Großprojekten
15
eine konfliktorientierte Berichterstattung der Massenmedien weiter verschärft wird. Da die Auseinandersetzungen zudem typischerweise in einer weit fortgeschrittenen Phase des Planungs- und Entscheidungsprozesses auftreten und die Protagonisten des Konflikts sich in der Öffentlichkeit exponiert haben, sind Kompromisse in der Sache kaum noch möglich. Dem Entstehen einer derartigen Konstellation können frühzeitig eingeleitete, offene und faire Beteiligungsverfahren vorbeugen. Sie können bei den Konfliktparteien die Überzeugung generieren, in einem fairen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess grundsätzlich die Chance zu haben, mit ihren Anliegen zum Zuge zu kommen. Wesentlich schwieriger, wenn auch nicht völlig aussichtlos, sind dagegen Bemühungen, eine bereits eskalierte politische Auseinandersetzung durch institutionalisierte Verfahren der Bürgerbeteiligung zu entschärfen oder sie sogar zu befrieden.
III. Bürgerbeteiligung als Ausweg aus den Konflikten? Angebot von und Nachfrage nach Partizipation an der Planung von Infrastrukturprojekten in Deutschland 1. Partizipationsbedarf und Partizipationsbereitschaft bei öffentlichen Planungen Die Werte der „Neuen Politik“ manifestierten sich nicht allein in der Forderung nach einer Neuausrichtung der Inhalte staatlicher Politik, sie schlossen von Anfang an auch den Wunsch nach einer erweiterten Einflussnahme der Bürgerinnen und Bürger auf die Gestaltung der Politik ein. Demnach beurteilen viele Bürger die Qualität politischer Maßnahmen und Programme nicht allein unter substanziellen, sondern auch unter prozeduralen Aspekten. Sie machen ihre Zustimmung zu einem Vorhaben einerseits von dessen inhaltlichen Merkmalen abhängig, andererseits aber auch davon, ob sie eine Möglichkeit hatten, Einfluss auf dessen Planung zu nehmen. Der Wunsch nach erweiterten Beteiligungsrechten, die große und im Zeitverlauf gewachsene Bereitschaft, an der Gestaltung des gesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens mitzuwirken und die breite Nutzung der vorhandenen Beteiligungsmöglichkeiten sind in der empirischen Forschung breit und differenziert dokumentiert.32 Bei einem Blick auf einzelne Beteiligungsformen ergibt sich allerdings ein differenziertes Bild. Die Bereitschaft, sich dauerhaft als Mitglied an eine Organisation zu binden, nahm in den letzten Dekaden ebenso ab wie die Beteiligung an Parlamentswahlen. Ein langfristiger Anstieg ___________ 32 Vgl. die Zusammenfassung bei van Deth 2008; Norris 2002; für Deutschland: Gabriel 2010; Gabriel/Völkl 2005.
Oscar W. Gabriel
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ist dagegen bei der Beteiligung an legalen Protestaktionen zu verzeichnen. Nach den Ergebnissen der seit 2002 im zweijährigen Turnus durchgeführten Erhebungen des European Social Survey blieben das Niveau und die Formen des politischen Engagements der Bundesbürger in den letzten zehn Jahren relativ stabil. Ein in Anbetracht des anspruchsvollen Verfahrens zur Messung des politischen Engagements bemerkenswertes Ergebnis des European Social Survey besteht allerdings darin, dass mehr als 80 Prozent der befragten Bundesbürger angaben, sich innerhalb des letzten Jahres an einer politischen Aktivität bzw. an der vorausgegangenen Bundestagswahl beteiligt zu haben. Lässt man die Wahlbeteiligung unberücksichtigt, dann verringert sich dieser Anteil. Dennoch berichteten im Durchschnitt aller Erhebungen mehr als 50 Prozent der Befragten, sich im letzten Jahr an irgendeiner politischen Aktivität beteiligt zu haben. Mehr als zehn Prozent waren nach ihren Angaben an vier oder mehr politischen Aktivitäten beteiligt.33 Leider sind das Ausmaß und die Qualität der Beteiligung an Planungsverfahren kaum erforscht. Dies betrifft insbesondere Daten über die Entwicklung der Partizipationswünsche und die tatsächliche Beteiligung. Wichtige Informationen hierüber liefert eine im August 2012 im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung durchgeführte bundesweite Repräsentativerhebung.34 In Übereinstimmung mit den Befunden der allgemeinen Partizipationsforschung dokumentiert sie ein breites Interesse an einer Beteiligung an Planungsprozessen. Nach dem Ergebnis dieser Studie sprachen sich 84% der Befragten dafür aus, den Bürgern mehr Mitsprachemöglichkeiten bei der Planung und Durchführung von Infrastrukturvorhaben einzuräumen.35 Besonders stark ausgeprägt war der Partizipationswunsch im Falle einer direkten Betroffenheit bzw. bei Vorhaben in der Region (91 bzw. 90%), bei Vorhaben im betreffenden Bundesland wurde er geringer (72%). Nur eine Minderheit wünschte Mitsprachemöglichkeiten jenseits der Grenzen des eigenen Bundeslandes (17%, tabellarisch nicht ausgewiesen). Die Angaben über die favorisierte Form der Beteiligung bestätigen ebenfalls die Erkenntnisse der allgemeinen Partizipationsforschung, denen zufolge die Beteiligungsbereitschaft mit dem durch die Aktivität verursachten Aufwand sinkt. Eine Mehrheit der Befragten könnte sich die aktive Beteiligung bei Veranstaltungen und die Beschaffung von Informationen vorstellen, zu einem dau___________ 33
Vgl. dazu: Gabriel/Völkl 2005; Gabriel 2010: 180ff.; Gabriel 2011: 23ff.; Steinbrecher 2009. 34 Die Befragung wurde am 17./18.8.2012 von TNS Emnid nach dem CATIVerfahren durchgeführt. Befragt wurden 1003 Personen. Der Verfasser ist der Bertelsmann-Stiftung für den Zugang zu den Originaldaten dieser Umfrage zu großem Dank verpflichtet. 35 Fragewortlaut: „Die Planung und Durchführung von Infrastrukturvorhaben liegt bisher bei der Verwaltung und den Behörden. Sollten in Zukunft auch die Bürger mehr Mitsprachemöglichkeiten haben?“
Bürgerbeteiligung an Großprojekten
17
erhaften Engagement ist dagegen nur eine Minderheit bereit (Tabelle 2). Immerhin ein Drittel der Befragten würde nach eigenen Angaben vier oder fünf der angebotenen Beteiligungsformen nutzen, wobei die Partizipationsbereitschaft mit dem Bildungsniveau steigt und bei Männern stärker ist als bei Frauen (tabellarisch nicht ausgewiesen). Tabelle 2 Bereitschaft zur Beteiligung an Infrastrukturplanungen in Deutschland, 2012. Anteil …auf Veranstaltungen mit anderen Bürgern über 65 Infrastrukturplanungen zu diskutieren …mich intensiv einzuarbeiten und mir die notwendigen Informationen zu besorgen
53
…im Internet über Infrastrukturplanungen mit 51 anderen Bürgern zu diskutieren …einen Teil meiner Freizeit für die Beteiligung an Infrastrukturvorhaben aufzuwenden …mich bei Infrastruktur langfristig zu engagieren, zum Beispiel in Form von Bürgerinitiativen
49
34
nichts davon
15
weiß nicht, keine Angabe
1
N
1003
Fragewortlaut: „Wie stark sind Sie dazu bereit, sich zu engagieren und sich an Infrastrukturplanungen zu beteiligen? Welchen der folgenden Aussagen stimmen Sie zu? Ich bin bereit,…“ Quelle: Bertelsmann Stiftung (2012).
Wie aus der Alltagspraxis bekannt ist und aus Tabelle 3 hervorgeht, darf die Bereitschaft zur Beteiligung nicht mit tatsächlicher Beteiligung gleichgesetzt werden. Bei sämlichen in den Tabellen 2 und 3 zusammengestellten Aktivitäten, liegt die tatsächliche Aktivität erheblich niedriger als die potenzielle. Bei den vergleichbaren Beteiligungsformen (Versammlungsbesuch, Bürgerinitiative) beträgt die Differenz zwischen Beteiligungspotenzial und Beteiligung fast zwanzig Prozentpunkte. Dennoch bestätigen die Daten für den spezifischen Fall der Beteiligung an Planungsverfahren einen aus der allgemeinen Partizipationsforschung bekannten Sachverhalt: Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung ist politisch aktiv. Dabei beschränken die meisten ihr politisches Engagement auf solche Aktivitäten, die einen relativ geringen Aufwand verursachen. Fast die Hälfte hat schon einmal eine Bürgerversammlung bzw. Anhörung als Möglich-
Oscar W. Gabriel
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keit zur Einflussnahme genutzt, die Teilnahmequote bei Behördenkontakten, der Beteiligung an Protestaktionen und der Mitarbeit in Bürgerinitiativen liegt zwischen zehn und zwanzig Prozent. Die Planung oder Realisierung eines Projekts in der Region, in der die Befragten leben, stimuliert das politische Engagement: Fast die Hälfte bleibt inaktiv, wenn in der betreffenden Region kein Projekt vorgesehen ist oder durchgeführt wird. Dieser Anteil sinkt auf etwa ein Drittel, wenn entsprechende Planungen anstehen. Allerdings kommt die Mobilisierung der Öffentlichkeit nicht allen hier untersuchten Aktivitäten zu Gute, sondern sie fördert vor allem die Beteiligung an Anhörungen oder Protestaktionen (vgl. Tabelle 3). Tabelle 3 Art der Beteiligung an Infrastrukturplanungen in Deutschland, 2012. Projekt Kein Insgesamt Projekt Bürgerversammlung oder Anhörung
56
43
46
Protestiert
25
17
19
Schriftlicher Behördenkontakt
18
17
17
Bürgerinitiative
14
15
15
nichts davon
36
48
45
N
1003
Fragewortlaut: „Was von dem Folgenden haben Sie während der Planung oder der Umsetzung von Infrastrukturmaßnahmen in Ihrer Region schon mal gemacht?“ Antwortvorgaben: „an einer Bürgerversammlung oder Anhörung teilgenommen, dagegen protestiert, mich schriftlich an die Behörde gewendet, mich einer Bürgerinitiative angeschlossen.“ Quelle: Bertelsmann Stiftung (2012).
Wie die politische Partizipation im Allgemeinen, erweist sich die aktive Mitwirkung an Planungsprozessen als kumulative Aktivität. Wenn Bürger sich für eine aktive Beteiligung entschieden haben, dann kombinieren sie mit hoher Wahrscheinlichkeit verschiedene Aktivitäten miteinander. Dies ist insofern eine wichtige Erkenntnis, als der Protest gegen ein Infrastrukturprojekt eben nicht mit einem Rückzug aus den traditionellen Beteiligungsverfahren oder einem Fernbleiben von ihnen einhergeht. Vielmehr besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Protestierer an Versammlungen teilnehmen, Politiker bzw. Verwaltungen kontaktieren und sich in Bürgerinitiativen engagieren. Allerdings sind nicht alle Bürger gleich stark engagiert. Nach den Ergebnissen der im Jahr 2012 durchgeführten Umfrage über die Beteiligung an Planungsprozessen bilden die Inaktiven mit einem Anteil von 46 Prozent die größte Gruppe unter den Befragten, 29 Prozent beteiligen sich an einer Aktivität – zumeist handelt es sich dabei um die Teilnahme an Anhörungen – und jeweils 14 Prozent gaben an, sich an zwei bzw. an drei oder vier Aktivitäten beteiligt zu haben (tabellarisch nicht
Bürgerbeteiligung an Großprojekten
19
ausgewiesen). Mehr als ein Zehntel der Bürgerinnen und Bürger schöpft in Planungsprozessen nahezu das gesamte Reservoir politischer Einflussmöglichkeiten aus. Die wenigen über die Beteiligung der Bürger an spezifischen Planungsverfahren vorliegenden Daten bestätigen im Grundsatz die in Tabelle 4 wiedergegebenen Befunde. Mehr als die Hälfte der Bürger, zum Teil weitaus mehr, waren im Umfeld von Stuttgart 21 und der Planung des Pumpspeichwerks Atdorf politisch aktiv, insbesondere im letztgenannten Fall war das Partizipationsniveau in den vier unmittelbar von der Planung betroffenen Gemeinden außerordentlich hoch (vgl. Tabelle 4). Allerdings fiel die generelle Aktivität im Vergleich mit dem projektspezifischen Engagement in den beiden Fällen sehr unterschiedlich aus. Obgleich die Erhebung im Einzugsbereich des Speicherwerks Atdorf während der Durchführung des Runden Tisches stattfand, hielt sich die Mobilisierungskraft dieser Veranstaltung in engen Grenzen. Nur 15 Prozent der Befragten berichteten von auf das Projekt bezogenen politischen Aktivitäten, während 84 Prozent angaben, sich generell politisch betätigt zu haben oder zu betätigen. Am Ende des Prozesses lag der Anteil mit 12 Prozent sogar noch etwas niedriger. In den vier untersuchten Gemeinden löste der Runde Tisch somit keinen Anstieg der politischen Aktivität aus.36 Im Kontext von Stuttgart 21 ist eine vergleichende Analyse der allgemeinen mit der projektspezifischen Partizipation nur für das Jahr 1997 möglich. Zu diesem Zeitpunkt verlief die öffentliche Debatte über das Thema zwar bereits kontrovers, die Realisierung des Projekts lag aber noch in weiter Ferne. Dennoch berichtete etwa die Hälfte aller politisch aktiven Befragten über spezielle Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Bahnhofsprojekt. Wenn man sich der Analyse einzelner Aktivitäten zuwendet, entfallen durchgängig die meisten Angaben auf die Beteiligung an Unterschriftenaktionen, die Artikulation von Präferenzen und den Meinungsaustausch bei Versammlungen oder Anhörungen sowie Politiker- und Verwaltungskontakte. Die eingeführten Formen der Beteiligung an Planungsprozessen stoßen erkennbar auf Nachfrage bei den Bürgern, es bleibt aber offen, ob sich die Teilnahmequote durch eine effektivere Gestaltung der Verfahren erhöhen ließe. Die Daten zum Beteiligungspotenzial deuten auf eine solche Möglichkeit hin.
___________ 36 Angaben nach: Universität Stuttgart, Abt. Politische Systeme und Soziologie des Instituts für Sozialwissenschaften im Rahmen des Forschungsprogramms BWplus; JuniDezember 2011 bzw. Universität Stuttgart, Abt. Politische Systeme und Soziologie des Instituts für Sozialwissenschaften; Oktober 2011.
Oscar W. Gabriel
20
Tabelle 4 Art der Beteiligung an ausgewählten Planungsverfahren in Deutschland PSW Atdorf
PSW Atdorf
(1997)
allgemein
projektbezogen
85
87
82
n. e.
n. e.
n. e.
n. e.
80
n. e.
Meinungsäußerung auf Versammlung
17
22
8
44
12
Politikerkontakt
20
24
11
26
8
Verwaltungskontakt
n. e.
n. e.
n. e.
46
11
Unterschriftenaktion
40
49
17
74
14
Demonstration
10
n. e.
n. e.
23
7
Bürgerinitiative
10
11
3
21
9
Aktive insgesamt
56
49
23
84
15
S 21 allgemein (2011)
S 21 allgemein (1997)
S 21 projektbezogen
Politische Gespräche
n. e.
Informationsveranstaltungen
Fragen: S21_1997: „Wenn Sie allgemeine politische Anliegen durchsetzen wollen: Haben Sie zu diesem Zweck schon einmal mit Politikern gesprochen; sich an Unterschriftensammlungen beteiligt; in einer Bürgerinitiative mitgearbeitet; in offiziellen Veranstaltungen Ihre Meinung gesagt? Ja/Nein/k.A.“ „Haben Sie im Zusammenhang mit „Stgt. 21“ schon einmal mit Politikern gesprochen; sich an Unterschriftensammlungen beteiligt; in einer Bürgerinitiative mitgearbeitet; in offiziellen Veranstaltungen Ihre Meinung gesagt? Ja/Nein/k.A.“ S21_2011: „Haben Sie im letzten Jahr die folgenden Dinge getan, um politisch Einfluss zu nehmen? In einer Bürgerinitiative mitgearbeitet; an einer Demonstration teilgenommen; zu einem Politiker Kontakt aufgenommen; an einer Unterschriftenaktion teilgenommen; in einer politischen Versammlung meine Meinung gesagt: Habe ich getan/Habe ich nicht getan/Weiß nicht/Keine Angabe.“ PSW Atdorf: „Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Dinge in Deutschland zu verbessern oder dafür zu sorgen, dass sie sich nicht verschlechtern. Bitte sagen Sie für jede der folgenden Möglichkeiten, ob Sie das in den letzten fünf Jahren schon einmal gemacht haben? Kontakt zu einem Politiker aufnehmen; Kontakt zu einer Verwaltung in Bund, Land oder Gemeinde aufnehmen; In einer Bürgerinitiative oder Aktionsgruppe mitarbeiten; An einer Unterschriftenaktion teilnehmen; An einer Demonstration teilnehmen; Sich in einer Versammlung an öffentlichen Diskussionen beteiligen: Habe ich schon gemacht/ Habe ich noch nicht gemacht“ „Und wie ist das in Bezug auf das Neubauprojekt? Engagieren Sie sich selbst aktiv für oder gegen den geplanten Neubau des Pumpspeicherwerkes? Ja/Nein.“ Frage wurde als Filter bei der Analyse einzelner Aktivitäten benutzt. Quellen: Universität Stuttgart, Abt. Politische Systeme und Soziologie des Instituts für Politikwissenschaft; Juni 1996. Universität Stuttgart, Abt. Politische Systeme und Soziologie des Instituts für Sozialwissenschaften; Oktober 2011. Universität Stuttgart, Abt. Politische Systeme und Soziologie des Instituts für Sozialwissenschaften im Rahmen des Forschungsprogramms BWplus; Juni-Dezember 2011.
Wie aus der Partizipationsforschung bekannt ist, steigt die politische Aktivität mit dem sozioökonomischen Status, dem politischen Interesse, der Internalisierung von Partizipationsnormen, der politischen Urteilsfähigkeit und dem Gefühl politischer Kompetenz. Politisch Aktive sind zudem in den mittleren Al-
Bürgerbeteiligung an Großprojekten
21
tersgruppen und unter den Männern überrepräsentiert, soziales Engagement fördert politische Aktivität.37 Die Bertelsmann-Studie über die Bürgerbeteiligung an der Planung und Realisierung von Infrastrukturprojekten bestätigt die von der Partizipationsforschung vorgelegten Erkenntnisse über das Sozialprofil der politisch Aktiven (tabellarisch nicht ausgewiesen), sie enthält aber keine Daten über Beteiligungsmotive und die Einbindung der Aktiven in soziale Netzwerke. Auf Grund der durch die Datenlage vorgegebenen Begrenzungen wird abschließend am Fallbeispiel der Beteiligung an politischen Aktivitäten im zeitlichen Kontext des Runden Tisches Atdorf die Bedeutung soziodemografischer Faktoren, allgemeiner politischer Einstellungen sowie projektbezogener Dispositionen für das Ausmaß politischer Aktivität unter den Bürgern der vier betroffenen Gemeinden untersucht und dargestellt. Ausweislich der in Tabelle 5 enthaltenen Daten sind für die politische Beteiligung in diesem spezifischen Kontext die aus der Partizipationsforschung bekannten Faktoren maßgeblich. Die größte Rolle für die Zahl der zur politischen Einflussnahme ausgewählten Aktivitäten spielt das allgemeine politische Interesse, gefolgt von der Priorisierung von Lebensstil- gegenüber Wachstumszielen. Eine ungefähr gleich große Rolle als Antriebskraft politischer Beteiligung spielen der Bildungsabschluss, die dem Thema „Pumpspeicherwerk“ zugeschriebene Bedeutung, das Gefühl politischer Kompetenz und die Überzeugung, im politischen System nicht vertreten zu sein. Besonders wichtig ist im Hinblick auf unsere Argumentation die Rolle der Wertorientierungen für die politische Aktivität. Je stärker die Bürger Lebensstilwerte (Schutz des Trinkwassers und der Mineralquellen, Schutz von Natur und Landschaft) gegenüber der Sicherung der Energieversorgung und der wirtschaftlichen Entwicklung der Region favorisieren, desto aktiver engagieren sie sich, auch bei einer Kontrolle anderer wichtiger Bestimmungsfaktoren politischer Partizipation. Die Zustimmung zum Bau des Pumpspeicherwerks oder seine Ablehnung spielen keine Rolle für die Intensität des politischen Engagements. Dies deutet auf eine gleich starke politische Mobilisierung bei Projektgegnern und Befürwortern hin. Die Schätzgüte des Erklärungsmodells ist mit einer Varianzreduktion von 27% als zufriedenstellend einzustufen.
___________ 37
U.a. Armingeon 2007; Gabriel 2004; van Deth 2008.
Oscar W. Gabriel
22
Tabelle 5 Bestimmungsfaktoren der Beteiligung an Planungsverfahren im Kontext des Runden Tisches zum Pumpspeicherwerk Atdorf.
B
Beta
Bildung
,17***
,12
Wichtigkeit Thema PSW
,20**
,11
Politikinteresse
,72***
,29
Politische Kompetenz
,22**
,10
Vertretenheit im pol. System
-,18**
-,09
Vorrang von Lebensstilwerten
,57***
,21
Konstante
-,48 n. s.
R2
,27***
N
742
Anmerkungen: *** F-Wert ist auf dem 99,9%-Niveau statistisch signifikant, ** F-Wert ist auf dem 99,0%Niveau statistisch signifikant, n. s. F-Wert ist auf dem 95,0%-Niveau statistisch insignifikant, Quelle: Universität Stuttgart, Abt. Politische Systeme und Soziologie des Instituts für Sozialwissenschaften im Rahmen des Forschungsprogramms BWplus; Juni-Dezember 2011.
Etwas schlechter lässt sich das Ausmaß der zur Einflussnahme auf den spezifischen Planungsprozess eingesetzten Aktivitäten erklären, und diese hängen stärker von projektspezifischen Faktoren ab als von allgemeinen politischen Einstellungen oder demografischen Eigenschaften der Bürger. Je bedeutsamer das Projekt für die Befragten ist, desto stärker engagieren sie sich in dieser Sache. Zu diesem Bild passt es auch, dass sich vor allem die politisch aktiven Gruppen auch speziell für oder gegen das Pumpspeicherwerk engagieren. Dabei sind die Projektgegner etwas stärker mobilisiert als seine Befürworter. Wenn man diese Größen in die Betrachtung einbezieht, verlieren nahezu alle allgemeinen Einflussfaktoren ihre direkte Bedeutung. Eine Ausnahme bildet der Genderfaktor, denn Frauen sind weniger oft unter den Aktiven zu finden als Männer.38 ___________ 38 Diese Ausführungen basieren auf den Ergebnissen einer logistischen Regressionsanalyse, die hier tabellarisch nicht ausgewiesen werden.
Bürgerbeteiligung an Großprojekten
23
Nach den vorliegenden Erkenntnissen der Partizipationsforschung ist nicht zu erwarten, dass alle Bürger sämtliche neuen Beteiligungsangebote nutzen werden. Bekanntlich beteiligen sich an allen Aktivitäten jenseits von Wahlen nur mehr oder weniger starke Minderheiten, die Mehrzahl der Aktiven ist vorrangig am Erwerb und Austausch von Informationen interessiert. Zudem belegen zahlreiche empirische Studien durchgängig die folgenden Sachverhalte: Erstens hängt politische Partizipation jeder Art von den individuellen Ressourcen, insbesondere vom Bildungsniveau ab, zweitens vom Vorhandensein beteiligungsrelevanter Motive wie dem politischen Interesse und dem Gefühl politischer Kompetenz und drittens von der Einbindung von Individuen in soziale Netzwerke. Dies hat zur Folge, dass vor allem sozial und politisch engagierte Menschen von neuen Beteiligungsangeboten Gebrauch machen. Als schwierig erweist sich dagegen die Aktivierung bisher politikferner Personen und Gruppen. Wie die wenigen hierzu vorliegenden Daten erkennen lassen, dürften diese allgemeinen Erkenntnisse der Partizipationsforschung auch für die Beteiligung an Großprojekten gelten. Sie ist sozial selektiv und zieht vor allem ressourcenstarke Bürger und politische Aktivisten an. Dieser Effekt wird umso stärker, je höher der mit der Beteiligung verbundene Aufwand ist. Als illusorisch dürfte sich auch die von manchen gehegte Erwartung erweisen, durch die Schaffung erweiterter Beteiligungsmöglichkeiten an der Planung von Infrastrukturprojekten die Proteste gegen diese einzudämmen. Vielmehr konnte empirisch belegt werden, dass viele Menschen die Beteiligung an Protestaktivitäten als eine von mehreren nebeneinander praktizierten Formen der Einflussnahme auf Planungsprozesse ansehen. Sie protestieren nicht nur dann, wenn sie andere Formen der Einflussnahme nicht mehr nutzen, sondern setzen Protestaktionen ergänzend zu diesen ein. Diese Sachverhalte sprechen nicht gegen eine erweiterte Bürgerbeteiligung, jedoch sollte man sie im Blick behalten, wenn man die Forderung nach dem Ausbau bürgerschaftlicher Beteiligungsrechte an der Planung von Großprojekten erhebt. 2. Partizipative Arrangements, ihre Relevanz für die Bürgerbeteiligung an der Planung von Großprojekten und ihre Anwendung in der Praxis Die Beteiligung der Bürger an der Politik und deren Erfolg hängen nicht allein von der Nachfrageseite des politischen Prozesses, d.h. von den Ressourcen und Motiven der Bürger ab, sondern auch von der Gestaltung der Angebotsseite. Diese umfasst die institutionelle Regelung der Beteiligungsrechte und Beteiligungsarten ebenso wie die für die Praxis der Bürgerbeteiligung maßgeblichen Einstellungen und Verhaltensweisen der Entscheidungsträger und der Akteure in den Planungsbehörden. Die institutionellen Regelungen und die Beteiligungspraxis können Partizipationswünsche wecken, sie können die Partizipationswilligen zur Beteiligung ermutigen und ihnen die Ausübung der Beteili-
Oscar W. Gabriel
24
gungsrechte erleichtern, sie können Versuche einer aktiven Einflussnahme auf die Politik aber auch erschweren oder sogar unterbinden. Anders als die Bedeutung von Ressourcen, Motiven und partizipationsfördernden Netzwerken für die politische Aktivität der Bevölkerung, über die umfassende empirische Erkenntnisse vorliegen, ist die Wirkung der Angebotsseite für das Partizipationsverhalten empirisch bislang kaum erforscht,39 dies gilt auch für Deutschland.40 Dennoch kann die Annahme, dass partizipationsfreundliche Verfassungsbestimmungen und gesetzliche Regelungen das Ausmaß und die Effektivität der bürgerschaftlichen Einflussnahme auf die Politik beeinflussen, zumindest Plausibilität beanspruchen. Allgemeine, gleiche und institutionell garantierte Rechte zur politischen Beteiligung gehören unstrittig zu einer Demokratie und sind in den Verfassungen und Gesetzen demokratischer Staaten garantiert.41 Somit kann sich die Forderung nach einer Institutionalisierung allgemein zugänglicher und gleicher Partizipationsrechte der Bürger in sämtlichen Bereichen des politischen Lebens auf die Verfassungsprinzipien der Demokratie und der Volkssouveränität stützen. Dies gilt grundsätzlich auch für die Bürgerbeteiligung an der Planung von Großprojekten. Zugleich muss sich die Qualität der vorgesehenen Regelungen daran messen lassen, ob und in welchem Maße sie es der Bevölkerung ermöglichen, effektiven Einfluss auf politische Entscheidungen auszuüben. Entgegen der unzutreffenden Einschätzung, die Politik in Deutschland weise große partizipative Defizite auf,42 existiert in Deutschland im Bund, in den Bundesländern und in den Gemeinden ein stark ausdifferenziertes, vielgestaltiges System von Beteiligungsrechten. Es umfasst vier große Kategorien von Beteiligungsformen, die institutionell unterschiedlich stark geregelt sind und in verschiedenen Beteiligungskontexten eine unterschiedlich große Rolle spielen:
Das Recht zur öffentlichen Artikulation von Präferenzen, das eine unverzichtbare Voraussetzung responsiven Handelns darstellt, denn Präferenzen, die nicht artikuliert werden, kann die politische Führung nicht erkennen und bei ihren Entscheidungen berücksichtigen,
das Recht zur Bildung von und Mitwirkung in Organisationen auf der Grundlage gemeinsamer Werte, Interessen und politischer Präferenzen, wodurch individuelle Machtressourcen gebündelt werden und auf diese Weise ein größeres Gewicht erhalten,
___________ 39
Vgl. auch Geissel 2012: 213ff. Für die USA vgl. Rosenstone/Hansen 1993; Verba/Schlozmann/Brady 1995: 369ff.; international vergleichend: Norris 2002: 58ff. 41 Van Deth 2008. 42 Von Arnim 2001; Heußner/Jung 2001; Wassermann 1989. 40
Bürgerbeteiligung an Großprojekten
25
das Recht zur Einflussnahme auf die Entscheidungen der politischen Führung, das die Entscheidungsträger zu responsivem Handeln veranlassen soll und schließlich
das Recht zur Mitwirkung an Fällen verbindlicher Entscheidungen über die Besetzung politischer Führungspositionen und die Regelung von Sachfragen.
Auf allen Handlungsebenen des politischen Systems sind umfangreiche und vielfältige Möglichkeiten zur Artikulation von Präferenzen, zur Mitarbeit in gesellschaftlichen und politischen Organisationen und zur Einflussnahme auf Entscheidungsträger sowie zur Mitentscheidung über die Besetzung politischer Führungspositionen vorhanden. Die Möglichkeit, an der Entscheidung über politische Sachfragen mitzuwirken, existiert vornehmlich in den Kommunen und der Gliedstaaten, aber dies hat Deutschland mit den meisten demokratischen Staaten gemeinsam. Allerdings erhält das deutsche Verfassungssystem nur in wenigen Fällen ausdrückliche Regelungen der Beteiligungsgegenstände, des Kreises der Partizipationsberechtigten, der anzuwendenden Beteiligungsformen sowie der Verfahrensabläufe und -resultate. Diese Ausnahmefälle betreffen die Ausübung unmittelbarer und verbindlicher Entscheidungsrechte durch die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen und beschränken sich selbst in diesen Fällen auf die Festlegung allgemeiner Prinzipien. Die Details aller Formen der bürgerschaftlichen Mitwirkung an der Politik, von der Ausübung des Stimmrechts bei Wahlen und Abstimmungen über die Mitwirkung in Parteien bis hin zur Beteiligung an der Bauleitplanung, werden in Gesetzen geregelt. Jedoch normieren auch diese die Beteiligungsverfahren nicht in allen Details. Sie beschränken sich in der Regel auf die Festlegung von Mindeststandards. Über diese kann die Beteiligungspraxis hinausgehen, muss dies aber nicht. Diese Aufteilung von Regelungen auf die Verfassung und Gesetze ist sachgerecht, weil die Verfassung sinnvollerweise nur allgemeine Grundsätze festlegen könnte. Verfassungsbestimmungen über die Details von Beteiligungsverfahren wären nicht nur unüblich, sondern auch kontraproduktiv. Sie würden die in einer sich wandelnden Gesellschaft von Zeit zu Zeit erforderliche Weiterentwicklung der institutionellen Arrangements erschweren. Der weitgehende Verzicht auf eine verfassungsrechtliche Festlegung von Partizipationsrechten ist also kein Spezifikum des deutschen Planungsrechts. Ebenso wenig kann man sagen, dass die vorhandenen Partizipationsklauseln keine einschlägigen Regelungen enthielten. Sowohl im Verwaltungsverfahrensgesetz als auch in zahlreichen Fachplanungsgesetzen finden sich Bestimmungen über die Beteiligungsrechte der Bürger.43 Es gibt nicht zu wenige ___________ 43
Vgl. Ziekow 2012.
26
Oscar W. Gabriel
rechtliche Regelungen. Auf Kritik stößt jedoch die Uneinheitlichkeit und Unübersichtlichkeit der existierenden Vorschriften und die restriktive Gestaltung der Beteiligungsrechte. Schwerpunktmäßig richtet sich diese Kritik auf die folgenden Sachverhalte:44 Die im Planungsrecht enthaltenen Partizipationsklauseln sehen vorwiegend Artikulations- und Kommunikationsrechte, d.h. einen Austausch von Informationen zwischen der Verwaltung und den von der Planung Betroffenen, vor. Sie enthalten aber keine Bestimmungen darüber, wie die Bürger den Verlauf und die Ergebnisse der Planung beeinflussen können. Die Beteiligungsrechte setzen erst in einer späten Phase des Planungsprozesses an. Dies impliziert, dass die Planung von Projekten in der Regel bereits weit fortgeschritten ist und dass sich die Entscheidungsträger auf eine bestimmte Variante festgelegt haben. Als Gegenstand bürgerschaftlicher Einflussnahme bleibt somit nur die Gestaltung einzelner Aspekte des Vorhabens („Wie?“). Die grundsätzliche Entscheidung über seine Realisierung („Ob?“) steht nicht zur Disposition. Diese Restriktion ergibt sich auch daraus, dass eine Rücknahme der Entscheidung über die Durchführung eines Vorhabens zu dem Zeitpunkt, zu dem die Beteiligung der Bevölkerung einsetzt, nur noch unter Inkaufnahme hoher politischer und finanzieller Kosten möglich wäre. Die Beteiligungsverfahren verfolgen das Ziel, eine sachgemäße und rechtlich einwandfreie Planung sicherzustellen. Sie schützen die Rechte und Ansprüche von Privatpersonen und Trägern öffentlicher Belange. Sie bieten aber keine Ansatzpunkte für das Austragen eines aus den zuvor beschriebenen Wertekonflikten resultierenden Dissenses über die politische Wünschbarkeit der geplanten Projekte und sind einer Klärung der damit verbundenen Streitfragen nicht zugänglich. Die meisten im Planungsrecht enthaltenen Regelungen schränken die Partizipationsrechte auf die von der Planung Betroffenen ein, die Institutionalisierung einer allgemeinen Öffentlichkeitsbeteiligung ist nicht ihr primärer Zweck. Auch wenn die vorhandenen institutionellen Regelungen nicht dazu geeignet sind, eine effektive bürgerschaftliche Mitsprache an der Planung von Infrastrukturprojekten und eine Einflussnahme auf den Verlauf und das Ergebnis von Planungsprozessen sicherzustellen, schließen sie das Erreichen dieses Zieles nicht per se aus. Institutionelle Regelungen setzen einen Rahmen für die Anwendung von Beteiligungsverfahren und legen Mindeststandards für diese fest, sie lassen für die tatsächliche Gestaltung von Beteiligungsverfahren jedoch einen breiten Spielraum. Dementsprechend wurden in der Planungspraxis zahlreiche „Tools“ entwickelt, die den Bürgern in verschiedenen Phasen eines Pro___________ 44 Vgl. z.B. Claus u.a. 2013: 32f.; 43, Gabriel 2013: M11, M21f.; Renn 2013: 90f.; Wegener 2013.
Bürgerbeteiligung an Großprojekten
27
jektzyklus die Möglichkeit geben sollen, ihre Präferenzen zu artikulieren, Argumente mit anderen Akteuren auszutauschen und Einfluss auf die planende Behörde und die politischen Entscheidungsträger auszuüben. Diese verschiedenen Beteiligungsformate gelangen in der politischen Praxis unabhängig davon zur Anwendung, ob sie institutionell geregelt sind oder informell gehandhabt werden. Über die Effektivität und Integrationsleistung dieser Verfahren liegen allerdings eher Erfahrungen mit Einzelfällen als systematische, unter kontrollierten Bedingungen gewonnene, durch die vergleichende empirische Erforschung einer großen Zahl von Fällen bestätigte Informationen vor.45 Deshalb ist es relativ schwierig, die Brauchbarkeit der aus diesen Untersuchungen abgeleiteten Empfehlungen für die Gestaltung der Partizipationspraxis zu beurteilen. In einer gut nachvollziehbaren Analyse der Erfolgsfaktoren von zwölf Fällen bürgerschaftlicher Beteiligung nehmen Kubicek, Lippa und Koop vor allem Merkmale der Angebotsseite in den Blick.46 Sie messen den Erfolg von Beteiligungsverfahren an den folgenden sieben Kriterien: (1) dem Gewinn lösungsrelevanter Informationen, (2) der Reichweite, d.h. der Zahl durch das Beteiligungsverfahren erreichten Personen, (3) der Inklusivität oder Nichtselektivität der Teilnehmenden, (4) dem Einfluss des Verfahrens auf das Ergebnis, (5) der Steigerung der Akzeptanz der Maßnahmen, (6) der Effizienz im Sinne einer angemessenen Kosten-Nutzen-Relation und (7) der Demokratieförderung, d. h. der Vermittlung demokratischer Einstellungen und Verhaltensweisen. Der Tatbestand, dass nach Auffassung der Projektbewerter in den untersuchten Beteiligungsverfahren keines dieser Ziele in vollem Umfang erreicht wurde und die Verfahren bei ihrer Realisierung unterschiedlich große Erfolge erzielten, kommt nicht überraschend. In den meisten Fällen wurden lösungsrelevante Informationen gewonnen und es wurde Einfluss auf das Ergebnis ausgeübt, demokratiefördernde Effekte stellten sich dagegen seltener und in geringerem Umfange ein. Die Erfolge beim Erreichen der anderen Ziele lagen zwischen den genannten Grenzfällen.47 Diese divergierenden Effekte sind bereits in den ___________ 45 Cain/Dalton/Scarrow 2008; Ewen u.a. 2013: 70ff.; Geissel/Newton 2012; Kubicek/Lippa/Koop 2011; Renn 2013: 81ff.; Smith 2009. 46 Kubicek/Lippa/Koop 2011; vgl. auch Geissel 2012: 210. 47 Kubicek/Lippa/Koop 2011: 57ff.
Oscar W. Gabriel
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Verfahren angelegt, denn diese dienen explizit dem Informationsgewinn und der Verbesserung der Einflussmöglichkeiten. Bei der Stärkung der demokratischen Orientierungen und Verhaltensmuster der beteiligten Akteure handelt es sich dagegen um einen erwünschten, aber nicht direkt in den Verfahren angelegten Nebeneffekt. Besonders interessant sind die Informationen darüber, welche Verfahrensmerkmale in welcher Weise zum Erfolg von Beteiligungsverfahren beitragen. Nach den von Kubicek, Lippa und Koop48 vorgetragenen Ergebnissen sind drei Charakteristika für den generellen Erfolg von Beteiligungsverfahren besonders wichtig: Klare Verfahrensziele, die Dringlichkeit des Themas, auf das sich das Beteiligungsverfahren bezieht und ausreichende Ressourcen für die Durchführung der Verfahren. Im Durchschnitt aller zwölf Projekte wurden diese drei Merkmale am häufigsten als Bedingungen erfolgreicher Beteiligung genannt. Die Transparenz des Verfahrens, die gezielte Mobilisierung der Öffentlichkeit, die Professionalisierung der Verfahren, eine aktive Einbindung der Entscheidungsträger in diese, die Integration der Verfahren in konventionelle politische Entscheidungsprozesse und das Angebot angemessener und zielgruppenspezifischer Verfahren nahmen die folgenden Positionen auf der Rangskala ein. Erstaunlicherweise rangiert die Selbstverpflichtung der Entscheidungsträger zur Umsetzung der Ergebnisse des Beteiligungsverfahrens auf dem letzten Platz. Eine frühzeitige Durchsetzung des Verfahrens und eine benutzerfreundliche Gestaltung der bereitgestellten Informationen wurden nicht genannt, obwohl sie in der Kritik an der derzeitigen Verfahrenspraxis relativ häufig als Desiderate einer erfolgreichen Beteiligung dargestellt werden. Kommentar [OWG1]: Bitte Umbruch so ändern, dass die Tabelle auf einer Seite steht
Tabelle 6 Erfolgsfaktoren von Bürgerbeteiligung Lösungsrelevante Informationen
Reichweite
Einfluss
Akzeptanz
Effizienz
Inklusivität
Demokratie
Gewichtete Summe
Quotient
Klare Ziele
1
1
1
1
1
1
1
34
1,00
Dringlichkeit
1
1
1
1
1
1
1
34
1,00
Ressourcen
1
0,83
1
1
1
1
1
32,98
0,97
Professionalisierung
1
0,83
1
1
0,80
1
1
31,98
0,94
___________ 48
Kubicek/Lippa/Koop 2011: 77ff.
Bürgerbeteiligung an Großprojekten
29
Formate
0,86
0,83
1
1
0,60
1
1
31
0,91
Aktivität Entscheidungsträger
0,86
0,83
1
0,80
0,60
0,75
1
28
0,82
Transparenz
0,71
0,66
1
0,80
0,80
0,75
0,50
25,93
0,76
Mobilisierung
0,71
0,66
0,80
0,80
0,60
1
1
25,93
0,76
Prozessintegration
0,43
0,66
0,80
0,40
0,80
0,5
0,50
19,97
0,59
Verbindlichkeit
0,29
0,50
0,80
0,60
0,60
0,5
0,50
18,03
0,53
7
6
5
5
5
4
2
34
Erfolgreiche Fälle
Anmerkung: Beim Vorhandensein eines Erfolgsfaktors in einem der untersuchten Fälle wird der Wert 1 zugewiesen, beim Nichtvorhandensein der Wert 0. Quelle: Nach Angaben in Kubicek/Lippa/Koop (2010)
Wie sich aus der Analyse der zwölf Einzelfälle ergibt, stellen die Festlegung klarer Ziele und die Dringlichkeit des Themas unverzichtbare Merkmale erfolgreicher Beteiligungsverfahren dar (Tabelle 6). Sie waren in allen erfolgreichen Verfahren gegeben und standen zu allen sieben Erfolgskomponenten in einer positiven Beziehung. Die Bereitstellung der für ein angemessenes Partizipationsverfahren benötigten Ressourcen, die professionelle Gestaltung des Verfahrens – gegebenenfalls auch durch das Einkaufen externer Expertise – und der Einsatz geeigneter, zielgruppenspezifischer Beteiligungsverfahren waren in nahezu allen erfolgreichen Verfahren gegeben. In mehr als drei Viertel aller untersuchten Fälle und Merkmale trugen ein transparentes Verfahren, eine gezielte Mobilisierung der Öffentlichkeit und eine Einbindung der Entscheidungsträger in den Beteiligungsprozess zum Erfolg der Verfahren bei. Demgegenüber waren die Verbindlichkeit der Ergebnisse und die Integration der Beteiligung in normale Verwaltungsabläufe und Entscheidungsprozesse von nachrangiger Bedeutung. Kubicek u.a. beschreiben diesen auffallenden Nexus zwischen Erfolgen und Prozessgestaltung wie folgt: „Wer sich beteiligt, möchte gerne wissen, worum es geht, was von ihm erwartet wird und was er tun kann. Wenn es nur um ein Meinungsbild geht und das klar kommuniziert wird, motiviert dies genauso wie eine Abstimmung, bei der letztendlich die Mehrheit entscheidet.“49
___________ 49
Kubicek/Lippa/Koop 2011: 79.
Oscar W. Gabriel
30
Die Bedeutsamkeit einer eindeutigen Festlegung der Funktion des Beteiligungsverfahrens betonen auch Claus u.a. (und empfehlen den Initiatoren bzw. Trägern, vor der Einleitung der Partizipationsverfahren zu klären, welchen Zielen das Verfahren dienen soll, welche Zielgruppen und Akteure erreicht werden sollen, wie die Rahmenbedingungen beschaffen sind, welche Ressourcen zur Verfügung stehen, welche Erwartungen andere Akteure an das Verfahren richten, welchen Einfluss die Öffentlichkeit hat und wie bindend die Verfahrensergebnisse für die zu treffende Entscheidung sind.50 Diese Forderungen können sich überwiegend auf die von Kubicek u. a. vorgelegten Erkenntnisse stützen. Die Forschung und die Politik würden sich auf einem wesentlich sichereren Terrain bewegen, wenn diese Feststellungen und Annahmen auf den Ergebnissen nicht nur auf Einzelfallanalysen, sondern auf einer breit angelegten, systematisch vergleichenden empirischen Forschung über die Effekte der Beteiligungspraxis für den Erfolg von Beteiligungsverfahren beruhten. Ein wichtiger Schritt zu solchen Erkenntnissen wären Metastudien mit dem Ziel, die vorliegenden Einzelfallstudien zu sammeln, ihre Methode zu dokumentieren und kritisch zu evaluieren und die Ergebnisse nach einheitlichen Kriterien aufzubereiten. Auf diese Weise ließe sich feststellen, über welche Verfahrensaspekte Erkenntnisse vorliegen, wie gut diese empirisch abgesichert sind und welche Folgerungen über Erfolgsfaktoren der Bürgerbeteiligung sich aus ihnen gewinnen lassen. Leider bleibt die Forschung hinter diesen Anforderungen weit zurück. Die wichtigste Datenquelle der empirischen Partizipationsforschung, die Auswertung repräsentativer Umfragen über die Formen, Bedingungen und Folgen der Bürgerbeteiligung, wird in Analysen der Bürgerbeteiligung an Planungsprozessen ebenfalls noch selten und unzulänglich genutzt. Die für die Planungspraxis bedeutsamen direktdemokratischen und deliberativen Beteiligungsformen wurden in Partizipationsstudien bisher nur selten erhoben, in den wichtigsten international vergleichenden Untersuchungen fehlen sie völlig. Zudem liefert die Forschung breite und detaillierte Informationen über viele Formen politischer Beteiligung und deren Determinanten, über die Effekte der politischen Partizipation ist aber nur wenig bekannt. Zudem fehlt es an Daten über die Einschätzung verschiedener Beteiligungsverfahren und -formate durch die Mitarbeiter der planenden Behörden, die Entscheidungsträger, die Partizipanten und auch die Nichtaktiven. Dennoch gibt es plausibel erscheinende Hinweise darauf, dass ohne eine frühzeitige, an die Zielfindung angebundene Beteiligung, klare Verfahrensziele, strukturierte und professionell durchgeführte Verfahren, eine gezielte Mobilisierung der Betroffenen sowie Verfahrenstransparenz eine erfolgreiche Beteiligung schwer zu realisieren sein wird.51 ___________ 50 51
IV. Schluss In den letzten Jahren scheinen die Widerstände großer Teile der Öffentlichkeit gegen die Planung und Realisierung großer Infrastrukturprobleme an Schärfe und Breitenwirkung gewonnen zu haben. Insofern ist es nachvollziehbar, dass in der Wissenschaft und in der Politik eine Debatte über die Möglichkeit geführt wird, diese Konflikte durch eine Veränderung von Planungsprozessen und Planungsinhalten zu domestizieren. In diesem Kontext setzen viele auf die befriedende Wirkung einer erweiterten und qualitativ verbesserten Bürgerbeteiligung an der Planung von Großprojekten. Worin diese befriedende Wirkung bestehen könnte, ist allerdings umstritten. Da die Konflikte vielfach aus gegensätzlichen Wertvorstellungen der Befürworter und Gegner von Großprojekten resultieren und die divergierenden, einander häufig ausschließenden Präferenzen sich mit unterschiedlichen Realitätssichten verbinden, ist die Erwartung, durch eine breitere und bessere Bürgerbeteiligung die bestehenden Einstellungsunterschiede zu beseitigen oder sie zu verringern, aus mehreren Gründen nicht realistisch. Ungeachtet aller kritisierten Mängel sind die bereits jetzt in Deutschland bestehenden Möglichkeiten zur Beteiligung an Planungsverfahren breiter und vielgestaltiger als oft behauptet wird. Zudem scheinen einige der kritisierten Schwächen der Beteiligungsverfahren aus der Sicht der Bevölkerung weniger gravierend zu sein als aus der von Wissenschaftlern und Politikern. Legt man die Angaben über das Partizipationspotenzial und die faktische Beteiligung an der Planung von Projekten zu Grunde, dann ist die Mehrheit der Befragten an guten und umfassenden Informationen über die geplanten Vorhaben interessiert und möchte die Möglichkeit haben, Präferenzen zu artikulieren. Gerade diese Beteiligungsmöglichkeiten sind im geltenden Planungsrecht gut ausgebaut. Reformen in diesem Bereich dürften deshalb eher gradueller als prinzipieller Natur sein und Fragen wie den Zeitpunkt der Bereitstellung von Informationen, die Qualität und Zugänglichkeit der Informationsmaterialien und das Ablegen von Rechenschaft über den Umgang mit den Ergebnissen von Beteiligungsverfahren betreffen. Diese Änderungen der Beteiligungspraxis würden vornehmlich die Voraussetzungen der Partizipation im Sinne politischer Einflussnahme verbessern, die direkten bürgerschaftlichen Einflussmöglichkeiten auf die Planung aber nicht vergrößern. Sie können dennoch einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Planungspraxis leisten, wenn es gelingt, die Urteilsfähigkeit der Bürger zu stärken, das Vertrauen zwischen den beteiligten Akteuren zu fördern und die Zufriedenheit mit dem Prozessverlauf zu erhöhen. Alle Formen der aktiven Einflussnahme auf den Planungsprozess und seine Ergebnisse gehören zu den aufwändigen und anspruchsvollen Beteiligungsformen, derer sich nach den Erkenntnissen der empirischen Partizipationsformen nur eine Minderheit der Partizipationsberechtigten bedient. Die politischen Aktivisten schöpfen alle verfügbaren Möglichkeiten aus, um ihre Forderungen zu
Oscar W. Gabriel
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artikulieren und durchzusetzen. Dieser Sachverhalt ist unter zwei Gesichtspunkten bedeutsam: Erstens rekrutieren sich die potenziellen Teilnehmer an Beteiligungsverfahren überproportional aus derjenigen Bevölkerungsgruppe, die ihren politischen Einfluss bereits auf traditionellen Wegen – über eine Mitarbeit in Parteien, Verbänden und Bürgerinitiativen sowie Versammlungsbesuchen, Verwaltungs- und Politikerkontakten – und über die Beteiligung an Protestaktivitäten ausübt. Zweitens erfolgt Bürgerbeteiligung an Planungsprozessen kumulativ, als zweckspezifische Kombination den Bürgern geeignet erscheinender Aktivitäten. Schon allein deshalb dürfte das Angebot zusätzlicher und effektiverer Beteiligungsformate in Planungsprozessen mit hoher Wahrscheinlichkeit Proteste gegen unerwünschte Vorhaben nicht verringern. Vielmehr werden die politisch aktiven Minderheiten weiterhin demonstrieren und zusätzlich an Anhörungen teilnehmen, Politiker und Verwaltungsmitarbeiter kontaktieren und andere Formen der Einflussnahme auf Planungen nutzen. Unter den in allen Demokratien gegebenen Bedingungen löst die Erweiterung bürgerschaftlicher Einflussmöglichkeiten auf Planungsprozesse einen doppelten Effekt aus. Auf der einen Seite trägt sie dem von Scharpf bereits vor langer Zeit vorgetragenen Petitum Rechnung, dass „über die Wahlbeteiligung hinaus Möglichkeiten der aktiven Partizipation an Entscheidungsprozessen eröffnet werden … , daß (sic) diese Chancen allen, die fähig (sic!) und bereit sind, sich aktiv zu engagieren, in der gleichen Weise zugänglich gemacht werden“.52
Auf der anderen Seite hat diese Form demokratischer Öffnung der politischen Prozesse jedoch den nicht wünschenswerten Nebeneffekt, den Bevölkerungsgruppen, die bereits einflussreich sind, noch mehr Einfluss zu gegeben, auf diese Weise das Ungleichgewicht zwischen den „political haves“ und den „political have nots“ zu verstärken, responsives Handeln der Führungsgruppen gegenüber den Belangen der Inaktiven weniger wahrscheinlich zu machen und auf diese Weise das Prinzip politischer Gleichheit zu verletzen.53 Das Spannungsverhältnis zwischen Partizipation und Gleichheit sollte in der Debatte über die Erweiterung von Beteiligungsmöglichkeiten in der Demokratie und über die Reform von Planungsprozessen berücksichtigt werden. Will man es abbauen, dann sollten partizipative Reformen verstärkt auf Beteiligungsverfahren setzen, die die bisher dominierende Selbstrekrutierung der Partizipanten durch eine Zufallsauswahl der Teilnehmer ergänzen.54 Die hier vorgelegten Ergebnisse erlauben keine einfache Antwort auf die im Titel des Beitrages angesprochene Frage nach dem demokratischen Ertrag einer ___________ 52
Scharpf 1970: 30, 66, Vgl. ausführlich: Schlozman/Verba/Brady 2012. 54 Vgl. hierzu die Darstellungen bei Geissel/Newton 2012; Renn 2013. 53
Bürgerbeteiligung an Großprojekten
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erweiterten Bürgerbeteiligung an Großprojekten. Beteiligung wird im Regelfall die Ursachen der Konflikte über Infrastrukturprojekte nicht eliminieren und aus Kritikern dieser Projekte Befürworter machen. Sie kann aber dazu führen, dass im Vorfeld einer Entscheidung stärker nach Alternativen und Kompromissmöglichkeiten gesucht wird, dass Argumente ausgetauscht werden, dass Verständnis für die Position der Gegenseite entsteht, dass demokratische Werte, Normen und Verhaltensmuster internalisiert werden, die ohne Beteiligung schwerer erlernt würden. Zu diesen Lernerfahrungen kann es auch gehören, dass Bürger Entscheidungen, mit denen sie nicht übereinstimmen, akzeptieren, wenn sie in einem fairen und transparenten Verfahren zustande gekommen sind. Wenn diese Effekte einträten, würde Bürgerbeteiligung an der Planung sowohl demokratische Potenziale aktivieren als auch das Bewusstsein vermitteln, dass es zu einer pluralistischen Demokratie gehört, gelegentlich auf der Seite der Verlierer zu stehen.
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Oscar W. Gabriel
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