Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der Geschichtsphilosophie der Antike und des Abendlandes, Bruxelles, 2015, 8-46.
1. Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch. DAVID ENGELS
Facultas philosophorum propria est, ut in rebus longe dissitis ac diversis similes videant rationes. Giambattista Vico
1. Einleitung. Als an der Université libre de Bruxelles im Wintersemester 2010/2011 nach langer Zeit erstmals wieder eine Vorlesung zur Geschichtsphilosophie eingeführt und dem Herausgeber vorliegenden Bandes anvertraut wurde, fand sich dieser sowohl mit der Situation konfrontiert, daß seine Studenten mit nahezu jeglicher Form philosophischen Denkens über Geschichte völlig unvertraut waren, als auch mit der Tatsache, daß die Geschichtsphilosophie selber aus verschiedenen Gründen in einer tiefen Krise zu stecken schien, so daß das vorliegende Projekt, eine Zusammenstellung einiger paradigmatischer Untersuchungen zu zyklischen und biologistischen geschichtsphilosophischen Ansätzen vorzulegen, als ein äußerst unzeitgemäßes Unternehmen wahrgenommen werden könnte, welches einer gewissen Legitimation bedarf. Die Krise des modernen Geschichtsdenkens erklärt sich dabei wohl zum einen dadurch, daß die Geschichtsphilosophie, ebenso wie die Philosophie selbst, seit einigen Jahrzehnten in die Gefahr geraten ist, als gewissermaßen abgeschlossene, historische Disziplin betrachtet zu werden; als eine Ansammlung von Texten, welche es im wesentlichen zu erläutern, kommentieren und kontextualisieren gilt, welche aber mit der ursprünglich zentralen Wahrheitsfrage nur noch wenig gemein haben. Hinzu kommt zum anderen die Tatsache, daß die allgemeine geschichtsphilosophische Diskussion seit mehr als einem halben Jahrhundert den Frontlinien des Kalten Krieges entsprechend in zwei antagonistische Schulen zerfallen zu sein scheint, welche beide allerdings den Status als „Geschichtsphilosophie“ ablehnen und vielmehr den Rang einer unphilosophischen, rein materialistischen Tatsachenwissenschaft beanspruchen.
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So herrschte auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs lange Zeit der dialektische Materialismus, welcher den Glauben an das notwendige Kommen der sozialistischen Zukunftsgesellschaft mit einer rein pragmatischen, das Geistige zugunsten des Materiellen verdrängenden Bewertung historischer Einzelvorfälle verband, während kurioserweise auf der anderen Seite der Grenze eine ganz ähnliche intellektuelle Konzeption das Denken der Historiker und Politiker prägte, nämlich die etwas widersprüchliche Kombination zwischen rationalistischer Fortschrittsgläubigkeit und dem Modell einer prinzipiell „offenen“ Geschichte, wie wir es etwa in exemplarischer Weise bei Karl Popper vertreten finden. Dieser verstieg sich in eine prinzipielle Ablehnung des ursprünglichen, also morphologisch argumentierenden Konzepts von Geschichtswissenschaft, welches er verwirrenderweise als „Historizismus“ bezeichnete (womit wesentlich Hegel und seine Schule gemeint sind) und dem er keinerlei Anspruch auf Formulierung wissenschaftlich allgemeingültiger Aussagen zugestand. Popper beharrte vielmehr auf der Singularität aller historischen Ereignisse und formulierte apodiktisch folgendes Credo, welches letztlich ja nur einer Neubelebung des Historismus des 19. Jh. gleichkommt: The hope […] that we may some day find the ‘laws of motion of society’, just as Newton found the laws of motion of physical bodies, is nothing but the result of these misunderstandings. […] But, it will be said, the existence of trends or tendencies in social change can hardly be questioned: every statistician can calculate such trends. […] The answer is: trends exist, or more precisely, the assumption of trends is often a useful statistical device. But trends are not laws. A statement asserting the existence of a trend is existential, not universal. […] And a statement asserting the existence of a trend at a certain time and place would be a singular historical statement and not a universal law. The practical significance of this logical situation is considerable: while we may base scientific predictions on laws, we cannot (as every cautious statistician knows) base them merely on the existence of trends. A trend (we may again take population growth as an example) which has persisted for hundreds or even thousands of years may change within a decade, of even more rapidly than that.1
Nachdem die politischen Ereignisse des späten 20. Jahrhunderts dem westlichen Gesellschaftsmodell zum Sieg verholfen haben, gelang es auch besagtem Geschichtsmodell, sich weitgehend zu einer überall vertretenen Einheitsschule zu entwickeln, welche dadurch umso dominanter geworden ist, daß sie die Selbstbezeichnung als „Geschichtsphilosophie“ grundsätzlich ablehnt und vielmehr, ganz ähnlich wie der sozialistische Materialismus im ehemaligen Osten, als rein „pragmatische“ Geschichtsbetrachtung aufgefaßt werden will. Die Absurdität einer solchen Selbstbezeichnung sollte natürlich jedem unvoreingenommenen Betrachter unmittelbar klar sein, sind die beiden Grundannahmen der gegenwärtig „gültigen“ Geschichtsphilosophie doch tief in der Vergangenheit abendländischen Geschichtsdenkens verankert und können 1
K. POPPER, The Poverty of Historicism, London, 1957, section 27.
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kaum als grundlegende wissenschaftsgeschichtliche „Neuheit“ betrachtet werden. Während so der insgeheim überall unterschwellig vertretene Glaube an den „Fortschritt“ als wichtigster Motor der Menschheitsgeschichte fraglos in der spezifischen Fortschrittsgläubigkeit wurzelt, wie sie sich seit dem 17. Jh. überall in Europa entwickelt und durch Denker wie Kant oder Condorcet klassischen Ausdruck gefunden hat, stellt die Annahme einer prinzipiell „offenen“ Geschichte, deren Abläufe – wenigstens im kleinteiligen Rahmen – letztlich nur der Gesamtheit der mehr oder weniger zufälligen individuellen Handlungen zu verdanken sind, ebenfalls eine seit alters her vertretene, vor allem im Historismus besonders prägende geschichtsphilosophische Position dar, so daß, wie gesagt, hinter der vordergründigen Absage Poppers an den „Historizismus“ letztlich nichts anderes steckt als die Rückkehr zum „Historismus“ und zu Rankes Wunsch, zu zeigen, „wie es eigentlich gewesen ist“. Beide Komponenten des gegenwärtigen, angeblich „unphilosophischen“ Geschichtsdenkens können also vom logischen Standpunkt aus keinerlei höhere Deutungshoheit beanspruchen als die meisten anderen, von den Fakten nicht überholten geschichtsphilosophischen Modelle, ringen doch offene wie geschlossene historische Denkmodelle miteinander, seit es überhaupt Denken über die Geschichte gibt, so daß alle ideologischen Siege hier nur vorübergehender Art sein können. Beide Positionen, Fortschrittsglaube und offene Geschichte, sind dabei nur auf den ersten Blick widersprüchlich, ebenso wie auch dialektischer Materialismus und „realistische“ Tatsachenbeschreibung eng zusammengehören, finden sich doch etwa seit Kants geschickter Engführung beider Konzepte individuelle Freiheit wie übergeordnete Notwendigkeit strukturell auf überzeugende Weise miteinander verbunden (wobei anstatt einer linear-teleologisch ausgerichteten Orientierung der Gesamtgeschichte durchaus auch andere Modelle eingesetzt werden könnten, ohne der Argumentation zu schaden): Die Geschichte welche sich mit der Erzählung dieser Erscheinungen beschäftigt, so tief auch deren Ursachen verborgen sein mögen, läßt dennoch von sich hoffen: daß, wenn sie das Spiel der Freiheit des menschlichen Willens im Großen betrachtet, sie einen regelmäßigen Gang derselben entdecken könne; und daß auf die Art, was an einzelnen Subjekten verwickelt und regellos in die Augen fällt, an der ganzen Gattung doch als eine stetig fortgehende, obgleich langsame Entwicklung der ursprünglichen Anlagen derselben werde erkannt werden können. So scheinen die Ehen, die daher kommenden Geburten und das Sterben, da der freie Wille der Menschen auf sie so großen Einfluß hat, keiner Regel unterworfen zu sein, nach welcher man die Zahl derselben zum voraus durch Rechnung bestimmen könne; und doch beweisen die jährlichen Tafeln derselben in großen Ländern, daß sie eben so wohl nach beständigen Naturgesetzen geschehen, als die so unbeständigen Witterungen, deren Ereignis man einzeln nicht vorher bestimmen kann, die aber im Ganzen nicht er-
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mangeln, das Wachstum der Pflanzen, den Lauf der Ströme und andere Naturanstalten in einem gleichförmigen, ununterbrochenen Gange zu erhalten.2
Dabei wird die gegenwärtig überall anzutreffende Hauptschule historischen Denkens sich eines Tages nicht nur dem Vorwurf aussetzen müssen, durch ihr nach außen hin vertretenes, scheinbar allgemeines Ablehnen geschichtsphilosophischer Argumentationen, hinter der sich ja nur die Ablehnung „anderer“ Argumentationen verbirgt, wertvolle geistesgeschichtliche Kontinuitätsfäden abgerissen und das Abendland in seinem verhängnisvollen Wachstums- und Fortschrittswahn bekräftigt zu haben, sondern die von ihr postulierte „offene“ Geschichtssicht gefährdet auch die gesellschaftliche und intellektuelle Stellung des Historikers an sich. Denn der Rückzug in eine Betrachtung der Ereignisse, „wie sie eigentlich gewesen sind“, mag zwar vom rein einzelwissenschaftlichen Standpunkt her ebenso komfortabel wie unproblematisch sein, läuft aber letztlich auf eine Apologie rein antiquarischer Geschichtsbetrachtung hinaus, welche dadurch auch gesamtgesellschaftliche Tragweite erhält, daß sie darauf bedacht ist, innerhalb der eigenen Disziplin keinerlei Opposition zu tolerieren, welche eine andere Perspektive auf die zusammengetragenen Fakten entwickeln könnte. Anders ausgedrückt: Dadurch, daß die Geschichtswissenschaft, mit Spengler gesprochen, sich selbst zur bloßen „Ameisenarbeit“ herabgewürdigt hat und aus Opposition gegen die „Gefahren“ der Geschichtsphilosophie die Möglichkeit bestreitet, die solchermaßen aufgehäuften Fakten überhaupt irgendwie sinnbringend für Gegenwart wie Zukunft zu deuten, ist eben diese Deutungshoheit keineswegs verschwunden, sondern hat sich vielmehr in die Kreise derer verlagert, welche erfahrungsgemäß hierzu am schlechtesten qualifiziert sind, da ihr Interesse an Geschichte unweigerlich von ebenso eigennützigen wie kurzsichtigen Zielsetzungen geprägt ist: Journalisten und Politiker. Daß eine solche, geschichtsphilosophisch motivierte Selbstabdankung der Geschichtswissenschaft auf lange Sicht hin tragische Folgen für die Disziplin an sich haben muß (und bereits hat, bedenkt man den geradezu spektakulären akademischen Schrumpfungsprozeß aller historischen Disziplinen und den konsequenten Abbau des Humboldt’schen humanistischen Bildungsideals), ist daher nur eine natürliche Konsequenz, mißt sich doch die Bedeutsamkeit einer wissenschaftlichen Disziplin an ihrem konkreten Nutzen für Gegenwart und Zukunft. Und welchen Nutzen soll dabei eine Geschichtsschreibung haben, welche auf prinzipieller „Offenheit“ besteht und somit bestreitet, daß Geschichte in Anbetracht der prinzipiell gleichbleibenden menschlichen Natur vielmehr durch die Wiederkehr repetitiver Strukturen geprägt ist, und daß es die eigentliche Aufgabe der Geschichtsschreibung sein müßte, durch Studium 2 I. KANT, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (urspr. in Berlinische Monatsschrift, November 1784, S. 385-411), Einleitung.
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der Vergangenheit eben diese Strukturen als solche kenntlich zu machen, um somit ihr Wiedererkennen in der Gegenwart und, im Rahmen des Möglichen, ihre Auswirkungen auf die Zukunft zu ermöglichen? Dies war jedenfalls die ursprüngliche Definition der Historie, denkt man etwa an Thukydides, dessen klassische Beschreibung des Nutzens der Geschichtsschreibung offensichtlich den Gegenpol dessen ausmacht, was seit einigen Jahrzehnten offizieller Konsens zu sein scheint: Zum Zuhören wird vielleicht diese undichterische Darstellung minder ergötzlich scheinen; wer aber das Gewesene klar erkennen will und damit auch das Künftige, das wieder einmal, nach der menschlichen Natur, gleich oder ähnlich sein wird, der mag es so für nützlich halten, und das soll mir genug sein: zum dauernden Besitz, nicht als Prunkstück fürʼs einmalige Hören ist es aufgeschrieben.3
2. Grundstrukturen deterministischen Geschichtsdenkens. Jede echte Geschichtsbetrachtung muß also in gewisser Weise die Möglichkeit, ja sogar Notwendigkeit einer analogen Wiederkehr identischer Strukturmuster annehmen, will sie nicht in bloße deskriptive und antiquarische Beliebigkeit verfallen und somit gleichzeitig auch ihre eigene Daseinsberechtigung auslöschen. Wer nun aber die Möglichkeit des Analogieschlusses als fundamentales Gesetz der Geschichtsdeutung gelten lassen will, muß notwendigerweise eine „deterministische“ Grundhaltung einnehmen, bedeutet doch die Akzeptanz der Annahme, daß aus analogen Grundvoraussetzungen analoge Folgen entstehen, nichts weniger, als historische Gesetzmäßigkeiten und somit Determinismen zu vermuten. Nun ist „Determinismus“ – zumindest in der hier zugrundegelegten, recht weitläufigen Auffassung des Begriffs – ein weites Feld, das die verschiedensten Interpretationen erlaubt. Nimmt man einmal komplexere, da aus vielfältiger Addition unterschiedlichster Vorstellungen gespeiste Fälle wie etwa theologische Heilsgeschichten aus, so lassen sich die verschiedenen geschichtsdeterministischen Denkschulen recht schnell auf einige wenige Grundmuster reduzieren, welche freilich keineswegs als (notwendigerweise simplistische) Reduktion der Komplexität historischen Denkens aufgefaßt werden sollen, sondern vielmehr als dynamische Grundbausteine, deren vielfältige Kombination, Interpretation und wechselseitige Bezugnahme erst den Reiz echter Geschichtsphilosophie ausmachen.
2.1. Fortschritt. Das erste deterministische Geschichtsmodell, das im Vorfeld ja auch bereits kurz besprochen wurde, geht von einem grundsätzlichen „Fortschritt“ in der Weltgeschichte aus, wobei dieser Fortschritt natürlich verschiedenster Art sein kann. So mag der Begriff „Fortschritt“ etwa auf den ethischen, technologischen, politischen, künstlerischen oder religiösen Bereich bezogen werden, fernerhin sowohl unbegrenzt als auch teleologisch auf ein festes Ziel zulaufend interpretiert werden und sich in verschiedensten Verlaufsformen äußern, etwa als lineares, exponentielles, dialektisches oder Stufenmodell, wobei im Falle des Stufenmodells auch vielfältige Kombinationen mit anderen deterministischen Grundstrukturen möglich sind, wie etwa dem Dekadenz- oder dem Biologismusmodell. Typische Beispiele für das Fortschrittsmodell liefern etwa die linearen Fortschrittstheorien Aristotelesʼ, Lucrezʼ oder Diodors; das teleologisch-theologische Stufenmodell der meisten monotheistischen Heilslehren, welches bei Joachim von Fiore eine bislang ungeahnte dialektische Kondensierung erfahren sollte; die naive Zukunftsgläubigkeit der „Querelle des Anciens et Modernes“ und des Aufklärungsdenken; und schließlich die Hegelʼsche Geschichtsdialektik mit ihren verschiedenen linken wie rechten Spielarten und Ausläufern bis hin zu Jaspers Achsenzeit, Fukuyamas „End of History“ und den meisten heute vorherrschenden geschichtsoptimistischen Ansätzen. Zur Verdeutlichung seien einige Zitate erlaubt. So mag man in erster Linie an Lucrez denken, der in Anlehnung an Epikur wohl das erste (erhaltene) Beispiel einer ausformulierten Fortschrittstheorie vorlegte, wobei die diesem inhärente Kritik am Fortschrittsgedanken, nämlich daß dieser an den grundlegenden Problemen der Menschheit nichts wesentlich ändere, sondern diese nur auf andere Ebenen verlagere, nahelegen dürfte, daß es sich hierbei schon um eine Reaktion auf frühere, positivere Wertschätzungen des Fortschritts handelt, wie wir sie ja zum Beispiel bei Xenophanes oder Sophokles finden. So heißt es bei Xenophanes noch: Nicht von Anfang an haben die Götter den Sterblichen alles Verborgene gezeigt, sondern allmählich finden sie suchend das Bessere.4 Lucrez hingegen erklärt: Denn was grade im Schwang, das gefällt und wirkt ja besonders, / Wenn man nicht vorher schon Schöneres hatte gesehen. / Wird dann später das Beßre entdeckt, so vernichtet es alles, / Was man früher geliebt: der Geschmack verändert sich eben. / So ward ihnen die Eichel verhaßt, so verließ man die alten / Lagerstätten, die Gräser und Laubwerk hatten gepolstert. / Ebenso fiel in Verachtung die frühere Kleidung aus Tierfell. / Einstmals mußte den Neid, wie mich dünkt, die Erfindung des Fellkleids / Wecken, so daß sein Träger von Meuchelmördern bedroht war. / Und doch mußt' es verschwinden und konnte nicht fürder mehr dienen, / Weil es im Hader des
Streits zerrissen und blutüberströmt ward. / Damals war es das Fell, jetzt bringt das Gold und der Purpur / Sorgen dem Leben der Menschen und stiftet bei ihnen den Krieg an. / Doch kommt größere Schuld, wie mich dünkt, auf unsere Rechnung. / Jene Söhne der Erde, die nackt und noch ohne die Felle / Waren, litten vom Prost; doch was schadet es uns, wenn dem Kleide / Fehlet der Purpur, verbrämt mit Gold und mit riesigem Zierat? / Könnte doch auch ein plebejisch Gewand vor der Kälte uns schützen! / So müht also das Menschengeschlecht sich umsonst und vergebens / Immerfort ab und verzehrt in den nichtigsten Sorgen sein Leben. / Leider versteht es ja nicht, der Besitzgier Schranken zu setzen / Und die Grenze, wieweit sich das wahre Vergnügen noch steigert. / Dies istʼs, was mit der Zeit das Leben ins offene Meer trieb / Und von Grund aus erregte die mächtigen Wogen des Krieges.5
Nun gilt allerdings zu bedenken, daß die epikureische Fortschrittslehre in typisch antiker Weise zwar das Streben nach Fortschritt als eine dem Menschen inhärente Gesetzlichkeit betrachtet, welche wesentlich für den Lauf der Geschichte verantwortlich ist, hieraus aber keineswegs ein Anwachsen seines persönlichen Glücks ableitet, welches eben zu allen Zeiten nur in der Abkehr von Ehrgeiz und Übertreibung gesucht werden kann. Ganz umgekehrt argumentiert etwa Polybios, der in der Einleitung zu seinem großen Geschichtswerk die im Vorderen Orient weitverbreitete, meist rein additive Abfolge großer Weltreiche als einen wesentlich dynamischen Prozeß begreift und mit dem stoisch geprägten Glauben an die göttliche Vorsehung in Verbindung bringt, welche auf eine immer größere wechselseitige Durchdringung von politischer Geschichte und naturhafter Gesetzmäßigkeit dränge und daher auch die Weltgeschichte allmählich auf einen Punkt absoluter Übereinstimmung zwischen natürlichem Weltganzen und harmonischer politischer Ordnung hinauslaufen lasse. Dies bringt ihn zu der Überzeugung, die Abfolge großer Reiche führe letztlich zur Herausbildung immer mächtigerer Staaten und schlußendlich, in Form des römischen Reiches, zur Zusammenfassung der gesamten Oikoumene unter die Herrschaft von Verstand und Sitte: Wie außerordentlich und wichtig aber der unserer Betrachtung zu unterziehende Gegenstand ist, wird alsdann am deutlichsten werden, wenn wir die berühmtesten der 5 LUCR. 5,1412–1435 (Übers. H. DIELS, 1924): Nam quod adest praesto, nisi quid cognouimus ante / suauius, in primis placet et pollere uidetur, / posteriorque fere melior res illa reperta / perdit et immutat sensus ad pristina quaeque. / Sic odium coepit glandis, sic illa relicta / strata cubilia sunt herbis et frondibus aucta. / Pellis item cecidit uestis contempta ferina; / quam reor inuidia tali tunc esse repertam, / ut letum insidiis qui gessit primus obiret, / et tamen inter eos distractam sanguine multo / disperiise neque in fructum conuertere quisse. / Tunc igitur pelles, nunc aurum et purpura curis / exercent hominum uitam belloque fatigant; / quo magis in nobis, ut opinor, culpa resedit. / Frigus enim nudos sine pellibus excruciabat / terrigenas; at nos nil laedit ueste carere / purpurea atque auro signisque ingentibus apta, / dum plebeia tamen sit, quae defendere possit. / Ergo hominum genus in cassum frustraque laborat / semper et {in} curis consumit inanibus aeuom, / ni mirum quia non cognouit quae sit habendi / finis et omnino quoad crescat uera uoluptas; / idque minutatim uitam prouexit in altum / et belli magnos commouit funditus aestus.
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früheren Reiche, die von den Geschichtsschreibern auf das Ausführlichste behandelt sind, mit der Herrschaft der Römer zusammenstellen und vergleichen. Es sind aber folgende, die eine solche Zusammenstellung und Vergleichung verdienen. Die Perser besaßen einst eine große Herrschaft und Macht; allein so oft sie die Grenzen von Asien zu überschreiten wagten, so wurde dies nicht bloß ihrer Herrschaft, sondern ihnen selbst gefährlich. Die Lakedämonier rangen lange Zeit nach der Oberherrschaft über die Griechen, und hatten dieselbe, nachdem sie endlich Meister geworden, kaum zwölf Jahre unbestritten inne. Die Makedonier herrschten in Europa von den Küsten des adriatischen Meeres bis an den Ister-Fluß, was als ein ganz geringer Teil des ebengenannten Weltteils erscheint; sodann aber fügten sie die Herrschaft über Asien hinzu, nachdem sie dem Reiche der Perser ein Ende gemacht. Allein so groß ihr Gebiet und ihre Macht zu sein schien, so ließen sie noch einen sehr großen Teil des Erdbodens unberührt. Denn um Sicilien und Sardinien und Libyen zu kämpfen, fiel ihnen niemals ein, und von den streitbarsten unter den westlichen Völkern Europas fehlte ihnen, im eigentlichen Sine des Wortes, sogar die Kunde. Die Römer aber, nachdem sie nicht einzelne Teile, sondern beinahe den ganzen Erdboden sich unterworfen, haben eine Herrschaft von solcher Größe aufgerichtet, daß die Mitwelt sie nur anstaunen kann, die Nachwelt aber niemals über dieselbe wird hinausschreiten können.6
In frühchristlicher Zeit sollte das Fortschrittsmodell dann auch auf die Entwicklung der Religionsgeschichte bezogen werden, um ein wirkungsvolles Argument gegen die weitverbreitete Idealisierung des heidnischen mos maiorum zu liefern, wie folgendes Zitat bei Clemens von Alexandrien verdeutlicht: Aber, sagt ihr, es ist nicht vernünftig, eine uns von den Vätern überlieferte Sitte umzustoßen. Ja, warum verwenden wir dann nicht auch unsere erste Nahrung, die Milch, an die uns doch unsere Ammen nach unserer Geburt gewöhnten? Warum vermehren oder vermindern wir das väterliche Vermögen und erhalten es nicht in der gleichen Größe, wie wir es überkommen haben? Warum lassen wir nicht mehr aus unserem Mund Speichel auf die Brust unserer Väter herablaufen oder vollführen
auch sonst noch all das, worüber man lachte, als wir noch kleine Kinder waren und unter der Leitung unserer Mütter aufgezogen wurden, sondern haben uns selbst, auch wenn wir keine guten Erzieher bekamen, zum Bessern verändert?7
In der Folge sollte sich die Idee des Fortschritts in breiten Teilen der abendländischen Geschichtsphilosophie einer fast unbeschränkten Wertschätzung erfreuen, welche spätestens seit der Aufklärung zu einem massiven Durchbruch gelangte und ihren Höhepunkt wohl bei Condorcet fand, welcher noch kurz vor seiner offiziellen Hinrichtung durch die Tribunale der Französischen Revolution diese letztere zusammen mit vielen weiteren historischen Ereignissen als Beweis für die Tatsache interpretierte, die Menschheitsgeschichte dränge unweigerlich und ohne Möglichkeit des Rückschritts auf eine volle Entfaltung aller menschlichen Talente: Tel est le but de l’ouvrage que j’ai entrepris, et dont le résultat sera de montrer, par le raisonnement et par les faits, qu’il n’a été marqué aucun terme au perfectionnement des facultés humaines ; que la perfectibilité de l’homme est réellement indéfinie ; que les progrès de cette perfectibilité, désormais indépendante de toute puissance qui voudrait les arrêter, n’ont d’autre terme que la durée du globe où la nature nous a jetés. Sans doute, ces progrès pourront suivre une marche plus ou moins rapide, mais jamais elle ne sera rétrograde ; du moins, tant que la terre occupera la même place dans le système de l’univers, et que les lois générales de ce système ne produiront sur ce globe, ni un bouleversement général, ni des changements qui ne permettraient plus à l’espèce humaine d’y conserver, d’y déployer les mêmes facultés, et d’y trouver les mêmes ressources.8
Einen auf den ersten Blick ähnlichen Ansatz scheint auch Hegel zu vertreten, wenn wir im folgenden auch sehen werden, daß zwischen seinem teleologischen, am Fortschritt orientierten Stufenmodell zum einen und seinen zyklisch-biologistischen Vorstellungen zum anderen größere Verbindungen bestehen, als man folgendem Zitat entnehmen könnte: Die Wiederbelebung in der Natur ist nur die Wiederholung eines und desselben; es ist die langweilige Geschichte mit demselben Kreislauf. Unter der Sonne geschieht nichts Neues. Aber mit der Sonne des Geistes ist es anders. Deren Gang, Bewegung, ist nicht eine Selbstwiederholung, sondern das wechselnde Ansehen, das der Geist sich in immer andern Gebilden macht, ist wesentlich Fortschreiten.9 7 CLEM., Protr. 89,1 (Übers. BKV): Ἀλλ' ἐκ πατέρων, φατέ, παραδεδοµένον ἡµῖν ἔθος ἀνατρέπειν οὐκ εὔλογον. Καὶ τί δὴ οὐχὶ τῇ πρώτῃ τροφῇ, τῷ γάλακτι, χρώµεθα, ᾧ δήπουθεν συνείθισαν ἡµᾶς ἐκ γενετῆς αἱ τίτθαι; Τί δὲ αὐξάνοµεν ἢ µειοῦµεν τὴν πατρῴαν οὐσίαν, καὶ οὐχὶ τὴν ἴσην, ὡς παρειλήφαµεν, διαφυλάττοµεν; Τί δὲ οὐκέτι τοῖς κόλποις τοῖς πατρῴοις ἐναποβλύζοµεν, ἢ καὶ τὰ ἄλλα, ἃ νηπιάζοντες ὑπὸ µητράσιν τε ἐκτρεφόµενοι γέλωτα ὤφλοµεν, ἐπιτελοῦµεν ἔτι, ἀλλὰ σφᾶς αὐτούς, καὶ εἰ µὴ παιδαγωγῶν ἐτύχοµεν ἀγαθῶν, ἐπανωρθώσαµεν; 8 N. de CONDORCET, Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (Paris, 1795, posth.), Einleitung. 9 G.W.F. HEGEL, Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte (posth.) in Sämtliche Werke, Bd. 9, hrsg. von G. LASSON, Leipzig, 21923, S. 48.
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Freilich ist dieser Fortschritt bei Hegel nicht linear-additiv, sondern wesentlich dialektisch, so daß jeder Entwicklungsschritt nicht nur inhaltlich an den vorherigen anschließt, sondern auch zunächst durch die Negierung, dann durch die Aufhebung auch eine qualitative Vertiefung des jeweiligen Ausgangspunktes ermöglicht; ein hochkomplexer Mechanismus, welcher, wie noch zu zeigen sein wird, vielfältige Möglichkeiten zur Anknüpfung an andere geschichtsphilosophische Muster liefert: Das Spekulative oder Positiv-Vernünftige faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf, das Affirmative, das in ihrer Auflösung und ihrem Übergehen enthalten ist. Die Dialektik hat ein positives Resultat, weil sie einen bestimmten Inhalt hat oder weil ihr Resultat wahrhaft nicht das leere, abstrakte Nichts, sondern die Negation von gewissen Bestimmungen ist, welche im Resultate eben deswegen enthalten sind, weil dies nicht ein unmittelbares Nichts, sondern ein Resultat ist. Dies Vernünftige ist daher, obwohl ein Gedachtes, auch Abstraktes, zugleich ein Konkretes, weil es nicht einfache, formelle Einheit, sondern Einheit unterschiedener Bestimmungen ist.10
Die scheinbare Bestätigung dieses Fortschrittsglaubens durch die technologischen Entwicklungen der letzten beiden Jahrhunderte hat dann den etwas kurzsichtigen Glauben daran, daß Weltgeschichte sich im wesentlichen auf die Aneinanderreihung „großer Erfindungen“ reduziere, zu einem verbreiteten Allgemeingut zumindest innerhalb der westlichen Welt gemacht, woran wohl auch die überall festzustellende, erschreckende Schrumpfung des historischen Horizonts des akademischen Betriebs nicht unschuldig sein dürfte, welcher mittlerweile auf naivste und reduktionistischste Weise das Studium der „Weltgeschichte“ auf eine „moderne“, letztlich rein westliche Epoche, und eine „vormoderne“ Epoche reduziert hat, welche dann den Rest der Welt und die letzten Jahrtausende behandelt.
2.2. Niedergang. Das zweite geschichtsphilosophische Grundmuster ist in gewisser Weise das Gegenteil des ersten und geht vielmehr von einem systematischen, in seiner genauen Beschreibung freilich ebenso dehnbaren Niedergang geschichtlicher Strukturen im Hinblick auf eine idealisierte Vergangenheit aus. Auch hier hängen die Definition dessen, was als „niedergehend“ vorgestellt wird, die teleologische Zielgerichtetheit der Entwicklung und die genaue Art des historischen Fortschreitens dieses Niedergangs von den jeweiligen philosophischen Grundannahmen der betroffenen Denker ab und erlauben daher, v.a. über den
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G.W.F. HEGEL, Enzyklopädie der Wissenschaften (urspr. Heidelberg, 1817), 1 §
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Umweg des Stufenmodells, vielfältige Varianten und Verbindungen zu den beiden anderen Grundmodellen. Das Niedergangsmodell begegnet uns im menschlichen Geschichtsdenken wohl erheblich früher als das Fortschrittsmodell und geht bereits weit in die Vorstellungswelt des alten Orients zurück. So findet sich überall im pharaonischen Ägypten oder im Zweistromland der Gedanke an eine idealisierte Frühzeit, in welcher Menschen wie Herrscher den Göttern in vielerlei Hinsicht nah verwandt waren, während der Rest der Geschichte als ein allmählicher Abfall von diesem Urzustand betrachtet wird, erinnert man sich etwa an die ständig abnehmende Lebenszeit der frühmesopotamischen Herrscher und der biblischen Patriarchen wie auch an die Sage der Vertreibung aus dem Paradies. Nun schließt ein solches Niedergangsmodell freilich nie den Traum von einer Rückkehr zur Harmonie des Ursprungs aus; ein Traum, welcher sich etwa im alten Ägypten im Trachten nach einer Wiederherstellung des Gleichgewichts der Maat niederschlug und später mit dem Glauben an das Kommen eines Messias verbunden wurde, und der sich im klassischen China in der nostalgischen Beschwörung daoistisch geprägter Utopien wie etwa der Sage vom „Pfirsichblütenquell“ des Tao Yuanming niederschlug. Diese heimliche Hoffnung auf eine endzeitliche Überwindung des Niedergangs mutierte in vielen altorientalischen wie indoeuropäischen Sagentraditionen zum Alptraum von Sintflut und Weltbrand, ohne welche man sich die Rückkehr zur Reinheit der Ursprünge nicht vorzustellen können schien. Die Kombination und Assoziation dieser verschiedenen Spielarten von Geschichtspessimismus und Hoffnung auf eine bessere Zukunft ermöglichten dann die Ausformung von ständig komplexer werdenden Heilsgeschichten, welche dem Geschichtsverlauf in seiner Gesamtansicht wieder einen optimistischeren Charakter zu geben wußten und zudem die Möglichkeit zyklischer Uminterpretation erleichterten. Wie im Fortschrittsmodell sehen wir also auch hier die extreme Dehnbarkeit scheinbar rein „linearen“ Geschichtsdenkens, welche freilich nicht vergessen machen darf, daß sich hinter der verwirrenden (und oft inhaltlich teilweise widersprüchlichen) Vielfalt verschiedenster Geschichtsbilder letztlich strukturell doch nur eine Assoziierung einiger weniger Grundmuster verbirgt. Das Niedergangsmodell finden wir auch an prominenter Stelle in der klassischen Antike wieder, gedenkt man der einflußreichen mythengeschichtlichen Dekadenzlehre Hesiods oder der Idealisierung des mos maiorum bzw. des patrios nomos im politischen Geschichtsdenken der Griechen und Römer; Geschichtsbilder, welche schließlich in gewisser Weise durch die Antikenbewunderung der Renaissance sowie breite Strömungen der neuzeitlichen Kulturkritik Rousseau’scher Observanz fortgesetzt werden sollten. Zitieren wir hier etwa zunächst folgende, überaus einflußreiche Passagen aus Hesiod:
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Wie aus gleicher Geburt geworden sind Götter und Menschen. / Golden war ja zuerst das Geschlecht der sprechenden Menschen, / das die Unsterblichen schufen, die hohen Olympos-Bewohner. / Jene waren zur Zeit des Kronos, der herrschte im Himmel. Und sie lebten wie Götter und hatten das Herz ohne Kummer, / ohne Plagen und Jammer. Sogar das klägliche Alter / nahte nicht, sondern immer an Füßen und Händen sich gleichend, / freuten sie sich am üppigen Mahl und kannten kein Unheil. […] / Wieder ein zweites Geschlecht, ein viel geringeres, schufen / silbern die Götter dann später, die hohen Olympos-Bewohner, / nicht dem goldenen gleich an Gestalt und nicht an Gesinnung. […] Nun erschuf ein andres Geschlecht von sprechenden Menschen / Zeus der Vater, ein drittes, aus Erz, dem silbernen ungleich, eschenentsprossen und wild und strotzend von Kraft. Sie betrieben / grausige Werke des Ares, vermessen [...]. / Aber als nun auch dieses Geschlecht die Erde bedeckte, / wieder ein anderes noch, ein viertes, auf nährender Erde, / Zeus der Kronide erschuf, und dies war gerechter und besser, / von heroischen Männern ein göttlicher Stamm, und sie heißen / Halbgötter, Vorfahren uns auf unermeßlicher Erde. […] / Müßte ich selber doch nicht ein Zeitgenosse der fünften / Männer sein, wär zuvor ich gestorben, später geboren! / Jetzt ja ist das Geschlecht ein eisernes; niemals am Tage / ruhn sie von quälender Mühe und Jammer, und immer die Nächte / reiben sie auf mit drückenden Sorgen, Geschenken der Götter. / Dennoch wird auch ihnen zum Unheil Freude gemischt sein. / Dann wird Zeus auch dieses Geschlecht der Menschen vernichten, / wenn sie bei ihrer Geburt schon graue Schläfen bekommen. Nicht ist der Vater den Kindern ähnlich, und sie nicht dem Vater.11
Eine ähnliche Grundhaltung sollte dann zahlreiche Geschichtsdenker bis in die Kaiserzeit prägen, welche sämtlich der festen Überzeugung waren, echte Harmonie ließe sich nur durch eine kompromißlose Rückkehr zu Lebensart und Gesellschaft der Altvorderen ermöglichen; eine konservative Grundhaltung, welche sich politisch in der Ablehnung einer jeden Reform, welche nicht als „Restitution“ eines früheren Zustands nachgewiesen werden konnte, niederschlug, und bei Tacitus die paradoxale Frucht einer Idealisierung selbst der 11 HES., Erga 108–115; 127–129; 143–146; 156–160 und 173-181 (Übers. A. VON SCHIRNDING, 1997): ὡς ὁµόθεν γεγάασι θεοὶ θνητοί τ' ἄνθρωποι. / Χρύσεον µὲν πρώτιστα γένος µερόπων ἀνθρώπων / ἀθάνατοι ποίησαν Ὀλύµπια δώµατ' ἔχοντες. / οἳ µὲν ἐπὶ Κρόνου ἦσαν, ὅτ' οὐρανῷ ἐµϐασίλευεν· / ὥστε θεοὶ δ' ἔζωον ἀκηδέα θυµὸν ἔχοντες / νόσφιν ἄτερ τε πόνων καὶ ὀιζύος· οὐδέ τι δειλὸν / γῆρας ἐπῆν, αἰεὶ δὲ πόδας καὶ χεῖρας ὁµοῖοι / τέρποντ' ἐν θαλίῃσι κακῶν ἔκτοσθεν ἁπάντων· / […] ∆εύτερον αὖτε γένος πολὺ χειρότερον µετόπισθεν / ἀργύρεον ποίησαν Ὀλύµπια δώµατ' ἔχοντες, / χρυσέῳ οὔτε φυὴν ἐναλίγκιον οὔτε νόηµα. / […] Ζεὺς δὲ πατὴρ τρίτον ἄλλο γένος µερόπων ἀνθρώπων / χάλκειον ποίησ', οὐκ ἀργυρέῳ οὐδὲν ὁµοῖον, / ἐκ µελιᾶν, δεινόν τε καὶ ὄϐριµον· οἷσιν Ἄρηος / ἔργ' ἔµελεν στονόεντα καὶ ὕϐριες· […] / Αὐτὰρ ἐπεὶ καὶ τοῦτο γένος κατὰ γαῖ' ἐκάλυψεν, / αὖτις ἔτ' ἄλλο τέταρτον ἐπὶ χθονὶ πουλυϐοτείρῃ / Ζεὺς Κρονίδης ποίησε, δικαιότερον καὶ ἄρειον, / ἀνδρῶν ἡρώων θεῖον γένος, οἳ καλέονται / ἡµίθεοι, προτέρη γενεὴ κατ' ἀπείρονα γαῖαν. / […] µηκέτ᾽ ἔπειτ᾽ ὤφελλον ἐγὼ πέµπτοισι µετεῖναι / ἀνδράσιν, ἀλλ᾽ ἢ πρόσθε θανεῖν ἢ ἔπειτα γενέσθαι. / νῦν γὰρ δὴ γένος ἐστὶ σιδήρεον: οὐδέ ποτ᾽ ἦµαρ / παύονται καµάτου καὶ ὀιζύος, οὐδέ τι νύκτωρ / φθειρόµενοι. χαλεπὰς δὲ θεοὶ δώσουσι µερίµνας: / ἀλλ᾽ ἔµπης καὶ τοῖσι µεµείξεται ἐσθλὰ κακοῖσιν. / Ζεὺς δ᾽ ὀλέσει καὶ τοῦτο γένος µερόπων ἀνθρώπων, / εὖτ᾽ ἂν γεινόµενοι πολιοκρόταφοι τελέθωσιν.
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„barbarischen“ Germanen tragen sollte, deren naturverbundene, unverfälschte Lebensart der Dekadenz des zeitgenössischen römischen Weltstaats entgegengehalten wurde. Es erstaunt kaum, daß dieses memento mori dann auch zur Grundstimmung der mittelalterlichen Gesellschaft werden sollte, welche trotz heilsgeschichtlichem Fortschrittsdenken über lange Jahrhunderte hinweg wesentlich vom Bewußtsein der eigenen Spätzeitlichkeit geprägt war und bereits lange Zeit vor der italienischen Renaissance die Gegenwart nur als müden Nachzügler antiker Größe empfand, wie sich etwa im berühmten, von John of Salisbury überlieferten Diktum des Bernard de Chartres widerspiegelt: Bernard de Chartres sagte, wir seien wie auf den Schultern von Riesen sitzende Zwerge, so daß wir zwar mehr und Entfernteres als diese sehen können, doch weder dank der Schärfe der eigenen Sehkraft, noch wegen der Größe des Körpers, sondern nur, weil wir durch die Größe der Riesen nach oben getragen und emporgehoben werden.12
Selbst im 18. Jh., also auf dem Höhepunkt zukunftsorientierten Fortschrittsoptimismus, sollten sich dann Stimmen finden, welche zwar auch an einer konstruktiven Mitarbeit beim Aufbau einer harmonischen Gesellschaft interessiert waren und in dieser Hinsicht durchaus an einen begrenzten Fortschritt glaubten, letztlich aber doch die Entwicklung der Menschheitsgeschichte als Niedergangsentwicklung erlebten, zumindest, was das individuelle Glück des Menschen betrifft. So erklärte etwa Rousseau: Le premier qui, ayant enclos un terrain, s’avisa de dire : ‘Ceci est à moi’, et trouva des gens assez simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile. Que de crimes, de guerres, de meurtres, que de misères et d’horreurs n’eût point épargnés au genre humain celui qui, arrachant les pieux ou comblant le fossé, eût crié à ses semblables : ‘Gardez-vous d’écouter cet imposteur ; vous êtes perdus, si vous oubliez que les fruits sont à tous, et que la terre n’est à personne.’ Mais il y a grande apparence, qu’alors les choses en étaient déjà venues au point de ne pouvoir plus durer comme elles étaient ; car cette idée de propriété, dépendant de beaucoup d’idées antérieures qui n’ont pu naître que successivement, ne se forma pas tout d’un coup dans l’esprit humain. Il fallut faire bien des progrès, acquérir bien de l’industrie et des lumières, les transmettre et les augmenter d’âge en âge, avant que d’arriver à ce dernier terme de l’état de nature.13
Fortschritts- und Niedergangsgedanke können einander also in vielerlei Hinsicht verbunden sein, da die Parameter dessen, was „fortschreitet“ bzw. „niedergeht“, einer komplexen Wertung unterliegen und durchaus miteinander in 12 JOHN OF SALISBURY, Metalogicon 3,4,46–50 (Übers. DE): Dicebat Bernardus Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes, ut possimus plura eis et remotiora uidere, non utique proprii uisus acumine, aut eminentia corporis, sed quia in altum subuehimur et extollimur magnitudine gigantea. 13 J.J. ROUSSEAU, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (urspr. 1755), Teil II.
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Einklang gebracht werden können. Und so erstaunt nicht, daß sich gerade im 20. und 21. Jh. angesichts der zunehmenden Fragwürdigkeit des inhaltlich weiterhin nicht bezweifelten Fortschrittsgedankens viele Stimmen erhoben haben, welche einer nostalgischen Sehnsucht nach der vermeintlich „heilen“ Zeit der „Vormoderne“ nachhängen; eine Sehnsucht, welche zum einen durchaus als wertvolles Korrektiv der Entartungen der Gegenwart interpretiert werden kann, zum anderen aber auch große Gefahren in sich birgt, da meist nicht erkannt wird, daß das scheinbare „Heil“ der Vergangenheit wesentlich von gesellschaftlichen und spirituellen Geistesverfassungen geprägt war, deren Wiederkehr gleichzeitig alle Grundvoraussetzungen aushebeln würde, auf denen die gegenwärtige westliche Welt gegründet ist.
2.3. Biologismus. Das dritte Modell schließlich, das im folgenden als „biologistisch“ bezeichnet werden soll, ist graphisch zwar wesentlich vom Gedanken der Kurve bestimmt, da es sich auf den ersten Blick aus einer Kombination beider vorher genannten Muster zusammensetzt, doch stellt es in vielerlei Hinsicht einen völlig eigenständigen Ansatz dar und dürfte wahrscheinlich erheblich älter als die beiden vorhergehenden Modelle sein. Tatsächlich wäre es verfehlt, eine biologistische Geschichtssicht als bloße Addition einer ersten, aufsteigenden Phase, an die sich ab einem gewissen Punkt eine zweite, absteigende schließen würde, zu fassen, werden Aufstieg und Abstieg ähnlicher historischer Faktoren hier doch nicht als eine wesentlich duale Dynamik gefaßt, sondern vielmehr als ein einziger, von Anfang an festgelegter Evolutionsprozeß, so daß die kausalen Grundlagen für den Abstieg bereits im Aufstieg selbst angelegt sind, und umgekehrt der Aufstieg in vielerlei Hinsicht nur dadurch möglich ist, daß schon von Anfang an der Abstieg mitgedacht wird. Nun zeigt eine genauere strukturelle Betrachtung der geschichtsphilosophischen Grundmuster, daß eine solche wellen- oder kurvenförmige Bewegung in sich dringender Interpretation bedarf, um in ihrem eigentlichen Sinn verstanden zu werden, weshalb wir jene Modelle lieber je nach Kontext und Intention als Manifestation eines von drei recht unterschiedlichen Sonderfällen betrachten wollen, welche freilich eng miteinander zusammenhängen: dem „biologistischen“ Modell (s.u.), dem „zyklischen“ Modell (2.4.) und dem Kompositfall der additiven Reihung von wiederholten Fortschritts- bzw. Niedergangsphasen (2.5.). Die „biologistische“ Geschichtsphilosophie gründet auf dem Lebensaltervergleich und nimmt an, daß gesellschaftliche Körperschaften sich nicht rationalanorganischen Gesetzen entsprechend entwickeln, sondern vielmehr einer vitalistischen Gesetzmäßigkeit unterliegen und daher notgedrungen Etappen
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wie Geburt, Wachstum, Reife, Alter und Tod durchleben; eine Ansicht, die wir bereits bei Platon ausgedrückt finden, welcher alle weltlichen Dinge den Gesetzen des Organischen unterwirft: Schwer zwar ist es, daß ein so eingerichteter Staat in Unruhe gerate; aber weil allem Entstandenen doch Untergang bevorsteht, so wird auch eine solche Einrichtung nicht die gesamte Zeit bestehen, sondern sich auflösen. Die Auflösung aber ist diese. Nicht nur den aus der Erde wachsenden Pflanzen, sondern auch den auf der Erde lebenden Tieren entsteht Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit der Seele und des Leibes, wenn Umwendungen einem jeden der Kreise Umschwung heranführen, kurzlebigen auch von kleinem Umfang, entgegengesetzten entgegengesetzte.14
Diese Lebensetappen können dabei auch in vereinfachender Weise als Genese, Aufstieg, Höhepunkt, Niedergang und Ende verstanden werden, wenn diese allzu mathematische Umschreibung nicht die vitalistische Gesetzmäßigkeit durch eine rein geometrische ersetzen und zudem auch einen wertenden Beiklang tragen würde, da sie notgedrungen je nach angesetztem Wertmaßstab den positiven Akzent der Entwicklung auf einen einzigen Entwicklungspunkt legt (etwa Minimum, Maximum oder Mittel), während der Lebensaltervergleich ja zumindest in der Theorie eine durchaus positive Würdigung aller Phasen als sui generis ermöglicht. Typische Beispiele für die Fruchtbarkeit der Übertragung des Lebensaltervergleichs auf das politisch-historische Feld finden sich vor allem in der Antike, denkt man an Platon, Cato, Cicero, Livius, Seneca, Florus oder Ammian, welche sich alle mit mehr oder weniger Überzeugungskraft bemüht haben, den Werdegang des einzelnen Menschen auf die historische Entwicklung des jeweiligen Gesamtstaates zu übertragen. So führt Cicero in seiner Staatsschrift das Beispiel Catos des Älteren an, welcher in seinem Geschichtswerk wohl als erster das Wachsen des römischen Staates mit der Entwicklung eines Einzelmenschen verglichen habe, allerdings offensichtlich ohne die sich daraus letztlich ergebenden düsteren Zukunftsperspektiven ins Auge gefaßt zu haben, folgen doch auf die Reife auch Alter und Tod: Deshalb wird meine Rede jetzt so, wie er es zu tun pflegte, den Ursprung des römischen Volkes aufsuchen. Gern nämlich gebrauche ich auch das Wort Catos. Leichter aber werde ich erreichen, was ich mir vorgesetzt, wenn ich euch unser Gemeinwesen
bei der Geburt, im Wachsen, in der Reife und schon in Festigkeit und Stärke zeige, als wenn ich mir irgendeines selbst ausdenke, wie Sokrates bei Platon.15
Ähnliches finden wir dann später auch im Denken der Renaissance, etwa bei Francis Bacon, welcher nicht nur den Aufstieg und Niedergang der großen Weltreiche mit den verschiedenen Altersstufen des Einzelmenschen vergleicht, sondern selbst die Entwicklung von Künsten und Wissenschaften mit dem Instrumentarium biologistischen Analogiedenkens behandelt: In the youth of a state, arms do flourish; in the middle age of a state, learning; and then both of them together for a time; in the declining age of a state, mechanical arts and merchandize. Learning hath his infancy, when it is but beginning and almost childish; then his youth, when it is luxuriant and juvenile; then his strength of years, when it is solid and reduced; and lastly, his old age, when it waxeth dry and exhaust.16
Von ganz ähnlichen Prämissen gehen dann ja auch Giambattista Vico, Nikolai Danilewksi, Oswald Spengler und Arnold Toynbee aus, wenn sie auch die obigen Ansätze auf alle ihnen bekannten Menschheitskulturen anwenden und nicht nur auf eine einzige, so daß die hieraus folgende Aneinanderreihung einzelner phasengleicher Kulturzyklen sie dazu zwingt, sich auch mit den Problemen der übergeordneten historischen Dynamik der Menschheitsgeschichte in ihrer Gesamtheit auseinanderzusetzen, wie wir im folgenden sehen werden. Während in den besprochenen Beispielen der Lebensaltervergleich nur die Einzelkultur definiert, kann er gleichzeitig durchaus auch auf die menschliche Gesamtgeschichte übertragen werden, wie wir dies etwa bei Hegel finden, und somit in gewisser Weise als alternative Betrachtungsweise einer ansonsten weitgehend stufenmäßig oder linearen Progression interpretiert werden: Das erste Zeitalter also, worin wir den Geist betrachten, ist mit dem Kindesgeiste zu vergleichen. Da herrscht die sogenannte Einheit des Geistes mit der Natur, die wir in der orientalischen Welt finden. [...] Das zweite Verhältnis des Geistes ist das der Trennung, der Reflexion des Geistes in sich [...]. Dieses Verhältnis spaltet sich in zwei. Das erste ist das Jünglingsalter des Geistes [...], die griechische Welt. Das andere ist das des Mannesalters des Geistes, [...] die Römerwelt. [...] Viertens folgt dann das germanische Zeitalter, die christliche Welt. Wenn man auch hier den Geist mit dem Individuum vergleichen könnte, so würde dieses Zeitalter das Greisenalter des Geistes heißen müssen. [...] Das Individuum gehört seiner Negativität nach dem Elemente an und vergeht. Der Geist aber kehrt zurück zu seinen Begriffen. [...] Dies ist die Versöhnung des subjektiven Geistes mit dem objektiven. Der Geist ist mit
15 CIC., Rep. 2,1,3 (Übers. K. BÜCHNER, 1952): Quam ob rem, ut ille solebat, ita nunc mea repetet oratio populi Romani originem; libenter enim etiam uerbo utor Catonis. facilius autem quod est propositum consequar, si nostram rem publicam uobis et nascentem et crescentem et adultam et iam firmam atque robustam ostendero. Quam si mihi aliquam, ut apud Platonem Socrates, ipse finxero. 16 Fr. BACON, Of Vicissitude of Things (1625).
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seinem Begriffe versöhnt, vereint, in welchem er sich zur Subjektivität entzweit, sich dazu aus dem Naturzustande herausgeboren hatte. – Dieses alles nun ist das Apriorische der Geschichte, dem die Erfahrung entsprechen muß.17
Hierbei sind Biologismus und Lebensaltervergleich strikt zu trennen von der Körpermetapher, welche zwar auch von einer Vergleichbarkeit politischer oder gesellschaftlicher Institutionen mit biologischen Entitäten ausgeht, diesen Vergleich aber statisch, nicht dynamisch auskleidet, da das Augenmerk nicht auf das Wachstum oder Vergehen des Körpers gerichtet ist, sondern vielmehr auf die Harmonie bzw. das Ungleichgewicht der einzelnen Körperteile und ihrer Funktionen. Alle Zustände, die sich vom Idealstaat entfernen, werden also nicht als evolutorische Prozesse begriffen, sondern vielmehr als Krankheiten oder Ungleichgewichte, die es im Sinne der „Gesundung“ des Staatskörpers so rasch wie möglich zu beseitigen gilt. Ein typisches Beispiel für einen solchen „statischen“ und notwendigerweise zutiefst konservativ eingestellten Biologismus, welcher weniger dem Bereich der Geschichtsphilosophie als vielmehr demjenigen der Institutionenlehre zuzuordnen ist, stellt die bei Titus Livius erhaltene Fabel des Menenius Agrippa dar, welche den Aufbau des römischen Staates mit der Zusammensetzung eines menschlichen Körpers vergleicht, aber keinerlei Interesse daran zeigt, diese Analogie durch Einbeziehung der Lebensaltermetaphorik auch dynamisch zu begreifen: Einst, als im Menschen noch nicht wie heute alles einheitlich verbunden war, als jedes der einzelnen Glieder des Körpers seinen Willen, seine eigene Sprache hatte, empörten sich die übrigen Glieder, daß sie ihre Sorge und Mühe und ihre Dienste nur aufwendeten, um alles für den Magen herbeizuschaffen. Der Magen aber liege ruhig mittendrin und tue nichts anderes, als sich an den dargebotenen Genüssen zu sättigen. Sie verabredeten sich also folgendermaßen: Die Hände sollten keine Speise mehr zum Munde führen, der Mund nichts Angebotenes mehr annehmen, die Zähne nichts mehr zerkleinern. Während sie nun in ihrer Erbitterung den Magen durch Aushungern bezwingen wollten, kamen die einzelnen Glieder alle zugleich mit dem ganzen Körper an den Rand völliger Erschöpfung. Da sahen sie ein, daß sich auch die Aufgabe des Magens durchaus nicht in faulem Nichtstun erschöpfte, daß er ebensosehr andere ernähre, wie er selbst ernährt werde. Er bringe ja das Blut, das durch die Verarbeitung der Speisen gebildet wird und durch das wir leben und bei Kräften bleiben, gleichmäßig auf die Adern verteilt in alle Glieder des Körpers. Indem er durch den Vergleich zeigte, wie dieser Aufruhr im Körper Ähnlichkeit hatte mit der Erbitterung des Volkes gegen die Väter, soll er die Gemüter umgestimmt haben.18
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HEGEL, Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm. 9], S. 136f. LIV. 2,32,9–11 (Übers. M. GIEBEL, 1987): Tempore quo in homine non, ut nunc, omnia in unum consentiant, sed singulis membris suum cuique consilium suus sermo fuerit, indignatas reliquas partes sua cura suo labore ac ministerio uentri omnia quaeri, uentrem in medio quietum nihil aliud quam datis uoluptatibus frui; conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent, nec os acciperet datum, nec dentes quae acciperent 18
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Sieht man einmal von der umfangreichen unmittelbaren Rezeption dieser bis ins 19. Jh. wirkmächtigen Fabel ab, könnte man zur Illustration des „statischen“ Biologismus auch auf die Wirtschaftslehre Quesnays verweisen, der in ganz ähnlicher Weise den Blutkreislauf des menschlichen Körpers mit den Güter- und Geldströmen der frühneuzeitlichen Staaten verglich.
2.4. Zyklizität. Vom Biologismus ist es nur ein kurzer Schritt zur Zyklizität, wobei der Begriff im folgenden (im Gegensatz zur gegenwärtigen, recht schwammigen Verwendung) im Sinne seiner Ableitung von κύκλος streng etymologisch gefaßt werden soll, also als Synonym zu einer strikt kreisförmigen Entwicklung, durch welche der Endpunkt einer Entwicklung prinzipiell zum Ausgangspunkt zurückführt, also nur durch die Chronologie, nicht aber die historische Form eine Weiterentwicklung geschichtlicher Dynamik impliziert. Die Nähe zum biologistischen, kurvenförmigen Entwicklungsmodell liegt auf der Hand, bedenkt man die wechselseitige mathematische Ableitbarkeit von Kreis und Kurve. Typisch hierfür ist etwa das zyklische Modell, das sich bei Vergil wiederfindet. Dieser biegt gewissermaßen die Hesiod’sche, stufenweise progressierende Dekadenzlehre unter dem Einfluß messianistischer Heilslehren zum Zyklus um, da ihm das Ende gleichzeitig auch wieder als Neubeginn gilt, interpretiert aber gleichzeitig die gesamte Entwicklung, welche bei Hesiod ja rein niedergehend war, durch die Analogie mit der Geburt und dem Wachsen eines Knaben ganz klar biologistisch, wobei nicht verhehlt sein soll, daß beide Modelle sich im Detail eigentlich widersprechen, gilt bei der Niedergangslehre doch der Beginn immer als Höhepunkt, während sich der Akzent für den Biologismus meist auf das Mannesalter verlagert. Interessant ist bei Vergil auch, daß die Geburt des Knaben nicht etwa das Aufkommen eines vollständig „neuen“ historischen Zyklus ankündigt, sondern die weitgehende Wiederholung des alten, soll doch selbst der Troianische Krieg sich erneut wiederholen: Musen Siziliens, laßt uns ein wenig Größeres singen! / Freut doch nicht jeden Gebüsch und ein niedriger Strauch Tamarisken. / Klingt von Wäldern mein Lied, seien wert auch des Konsuls die Wälder! / Letzte Weltzeit ist nun da cumaeischen Sanges; groß aus Ursprungsreine erwächst der Zeitalter Reihe. / Nun kehrt wieder die Jungfrau, kehrt wieder saturnische Herrschaft, / nun wird neu ein Sproß entsandt aus himmlischen Höhen. / Sei der Geburt nur des Knaben, mit dem die eiserne Weltzeit / conficerent. Hac ira dum uentrem fame domare vellent, ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem uenisse. Inde apparuisse uentris quoque haud segne ministerium esse, nec magis ali quam alere eum, reddentem in omnis corporis partes hinc quo uiuimus uigemusque, diuisum pariter in uenas, maturum confecto cibo sanguinem. Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres, flexisse mentes hominum.
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gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt, / sei nur, Lucina, du reine, ihm hold; schon herrscht dein Apollo. / […] Einige Spur aber bleibt noch zurück des Frevels der Urzeit, / treibt, mit Schiffen das Meer zu durchwühlen, Städte mit Mauern / rings zu beengen und Furchen tief zu reißen durchs Erdreich. / Neu kehrt wieder ein Tiphys und neu eine Argo, die wieder / Helden, erlesene, trägt, es gibt wieder andere Kriege, / und gen Troja wird wieder entsandt ein großer Achilleus.19
Ähnliches ließe sich auch von Nietzsche behaupten, dessen Konzept der „Ewigen Wiederkehr“ eine radikale Zirkularität impliziert, wenn diese auch freilich nicht als Muster für den historischen Gesamtablauf zu sehen ist, sondern nur, in positiver Umdeutung des Schopenhauer’schen Willenspessimismus, für die Erlebniswelt des Einzelmenschen: Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüßt sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit. […] Nun sterbe und schwinde ich, würdest du sprechen, und im Nu bin ich ein Nichts. Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber. Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder, in den ich verschlungen bin, – der wird mich wieder schaffen! Ich selber gehöre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft. Ich komme wieder, mit dieser Sonne, mit dieser Erde, mit diesem Adler, mit dieser Schlange – nicht zu einem neuen Leben oder besseren Leben oder ähnlichen Leben: – ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben, im Größten und auch im Kleinsten, daß ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre, – daß ich wieder das Wort spreche vom großen Erden- und Menschen-Mittage, daß ich wieder den Menschen den Übermenschen künde. Ich sprach mein Wort, ich zerbreche an meinem Wort: so will es mein ewiges Los –, als Verkündiger gehe ich zu Grunde!20
Nun ist, wie bereits erwähnt, klar, daß „Zyklizität“ und „Biologismus“ keine sich gegenseitig ausschließenden Modelle darstellen, sondern nur Nuancen ein und desselben zyklischen Grundgedankens, ist es doch seit jeher gang und gäbe, das Alter in seiner Gebrechlichkeit als Wiederkehr der Kindheit und
19 VERG., Ecl. 4,1–10 und 31–36 (Übers. J. und M. GÖTTE, 1972): Sicelides Musae, paulo maiora canamus. / Non omnis arbusta iuuant humilesque myricae; / si canimus siluas, siluae sint consule dignae. / Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas; / magnus ab integro saeclorum nascitur ordo. / Iam redit et Virgo, redeunt Saturnia regna, / iam noua progenies caelo demittitur alto. / Tu modo nascenti puero, quo ferrea primum / desinet ac toto surget gens aurea mundo, / casta faue Lucina; tuus iam regnat Apollo. / […] Pauca tamen suberunt priscae uestigia fraudis, / quae temptare Thetin ratibus, quae cingere muris / oppida, quae iubeant telluri infindere sulcos. / Alter erit tum Tiphys et altera quae uehat Argo / delectos heroas; erunt etiam altera bella / atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles. 20 Fr. NIETZSCHE, Also sprach Zarathustra (urspr. 1883-1886), Kap. „Der Genesende“.
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seiner Abhängigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeß zu fassen. Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger „kreisförmigen“ Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen, wie an zwei Beispielen deutlich werden dürfte. Denken wir zunächst etwa an Seneca, welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des römischen Reichs durch die Lebensaltermetapher zu begreifen sucht, zudem aber das Ende dieser Entwicklung, also das Alter, ganz klar als eine Art „zweite Kindheit“ auffaßt, also als eine Rückkehr zu den Ursprüngen, der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muß: Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt. Zunächst nämlich, sagte er, habe sie ihre Säuglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt, durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam erzogen worden war; danach ihre Kindheit unter den anderen Königen, durch die sie vergrößert und durch viele Künste und Lehren gebildet wurde; dann, als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann, die Knechtschaft nicht mehr ertragen und, nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe, lieber den Gesetzen gehorcht als den Königen; und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde, angefangen, zu vollen Kräften heranzuwachsen. Nachdem Karthago unterworfen worden war, welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war, streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand über den gesamten Erdkreis aus; und als alle Könige und Völker dem Reich unterworfen worden waren und keine Möglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand, verzehrte sie sich durch eben jene Kräfte, mit denen sie sich selbst besiegte. Dies war ihr erstes Alter, als sie, durch Bürgerkriege zerrissen, durch innere Unruhen unterdrückt, unter die Herrschaft eines Einzelnen zurückkehrte, sozusagen in eine neue Kindheit zurückfallend. Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war, welche sie unter der Führung und Eingebung Brutus’ erkämpft hatte, vergreiste sie solchermaßen, daß sie es nicht vermocht hätte, sich selbst aufrechtzuerhalten, wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben hätte. Doch wenn all dies wahr ist, was bleibt dann außer dem Tod, um auf das Alter zu folgen?21
21 LACT., Inst. 7,15,14–16 (Übers. DE): Non inscite Seneca Romanae urbis tempora distribuit in aetatis. Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse, a quo et genita, et quasi educata sit Roma ; deinde pueritiam sub exteris regibus, a quibus et aucta sit, et disciplinis pluribus institutisque formata : at uero Tarquinio regnante, cum iam quasi adulta esse coepisset, seruitium non tulisse, et reiecto superbae dominationis iugo, maluisse legibus obtemperare quam regibus ; cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata, tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere. Sublata enim Carthagine, quae tamdiu aemula imperii fuit, manus suas in totum orbem terra marique porrexit ; donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis, cum iam bellorum materia deficeret, uiribus suis male uteretur, quibus se ipsa confecit. Haec fuit prima eius senectus, cum bellis lacerata ciuilibus, atque intestino malo pressa, rursus ad regimen singularis imperii recidit, quasi ad alteram infantiam reuoluta. Amissa enim libertate, quam Bruto duce et auctore defenderat, ita consenuit, tanquam sustentare se ipsa non ualeret, nisi adminiculo regentium niteretur. Quod si haec ita sunt, quid restat, nisi ut sequatur interitus senectutem?
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Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick ähnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten, die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilosophischer Modelle ergeben. So ließe sich behaupten, daß Seneca seine biologistische Theorie in vielerlei Hinsicht „zirkulärer“ präsentiert als Spengler. Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift nämlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaßen „verminderte“ Stadien menschlicher Entwicklung, wobei die Parallelisierung zwischen den frührömischen Königen und den spätzeitlichen Kaisern, welche gewissermaßen als „Erzieher“ bzw. „Stützer“ des unreifen bzw. gleichsam verwelkten römischen Volkes dienen, diesen Eindruck einer kreisförmigen Rückkehr zu den Ursprüngen noch verstärkt. Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der „Ursprünglichkeit“ der Frühzeit nach, so daß die Jugend einer Kultur als verheißungsvoll und kräftig, das Alter aber als nachgeordnet erscheint, wozu noch die Tatsache kommt, daß die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem „kulturellen“ zu einem „zivilisierten“ Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt. So heißt es bei Spengler: Jede Kultur durchläuft die Altersstufen des einzelnen Menschen. Jede hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Männlichkeit und ihr Greisentum. Eine junge, verschüchterte, ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfrühe der Romanik und Gotik. Sie erfüllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hildesheimer Dom Bischof Bernwards. Hier weht Frühlingswind. „Man sieht in den Werken der altdeutschen Baukunst“, sagt Goethe, „die Blüte eines außerordentlichen Zustandes. Wem eine solche Blüte unmittelbar entgegentritt, der kann nichts als anstaunen; wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht, in das Regen der Kräfte und wie sich die Blüte nach und nach entwickelt, der sieht die Sache mit ganz andern Augen, der weiß, was er sieht.“ Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der frühhomerischen Dorik, aus der altchristlichen, das heißt früharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4. Dynastie beginnenden Alten Reiches in Ägypten. Da ringt ein mythisches Weltbewußtsein mit allem Dunklen und Dämonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld, um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins entgegenzureifen. […] Zuletzt, im Greisentum der anbrechenden Zivilisation, erlischt das Feuer der Seele. Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal, mit halbem Erfolge — im Klassizismus, der keiner erlöschenden Kultur fremd ist — an eine große Schöpfung; die Seele denkt noch einmal — in der Romantik — wehmütig an ihre Kindheit zurück. Endlich verliert sie, müde, verdrossen und kalt, die Lust am Dasein und sehnt sich — wie zur römischen Kaiserzeit — aus tausendjährigem Lichte wieder in das Dunkel urseelenhafter Mystik, in den Mutterschoß, ins Grab zurück.22 22 O. SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes, Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (als überarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923; vorher Bd. 1: Wien, 1918; Band 2: München, 1922), München, 131997, S. 144–145.
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2.5. Zusammengesetzte Modelle. Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgeführt, daß sich die vorgestellten Modelle, zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer „offenen“ Geschichte zählen kann, in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen. So ermöglicht eine offene, eine linear aufsteigende bzw. absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus, diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwicklungen zu fassen, welche selber anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulierung idealtypischer Abläufe konzentriert haben, welche nur in einem begrenzten historischen Rahmen Gültigkeit beanspruchen, während ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt. Es würde zu weit führen und wohl auch der inneren Komplexität und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden, hier alle denkbaren Kombinationsmöglichkeiten (also einer „offenen“, aufsteigenden, niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination „offener“, aufsteigender, niedergehender oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzuspielen, zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein dürfte, ebenso wie die Kombination einer „offenen“ Menschheitsgeschichte, die aus „offenen“ Grundkörpern bestehen würde. Immerhin sei in Anbetracht des übergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht, welche verschiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamtzusammenhang zu bringen suchen. So kann Geschichte als eine weitgehend additive, nicht-teleologische Folge unterschiedlicher, in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten gedacht werden, wie wir dies etwa bei Vico, bei dem freilich noch Spuren christlicher Teleologie zu finden sind, und vor allem bei Oswald Spengler sehen. So argumentiert Spengler zum einen, daß die Menschheitsgeschichte an sich kein „Ziel“ habe, ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise „offen“ sei; ihre Grundbestandteile aber, d.h. die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise, durch ein strikt biologistisches Muster geprägt seien, welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege, sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte übertragen lasse: Aber „die Menschheit“ hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig wie die Gattung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat. „Die Menschheit“ ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort. Man lasse dies Phantom aus dem Umkreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen überraschenden Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen. Hier ist eine unermeßliche Fülle, Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen, die bis jetzt durch ein Schlagwort, durch
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ein dürres Schema, durch persönliche „Ideale“ verdeckt wurde. Ich sehe statt jenes öden Bildes einer linienförmigen Weltgeschichte, das man nur aufrecht erhält, wenn man vor der überwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schließt, das Schauspiel einer Vielzahl mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoß einer mütterlichen Landschaft, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist, aufblühen, von denen jede ihrem Stoff, dem Menschtum, ihre eigne Form aufgeprägt hat, von denen jede ihre eigne Idee, ihre eignen Leidenschaften, ihr eignes Leben, Wollen, Fühlen, ihren eignen Tod hat.23
Interessanterweise sollte Spengler, stützt man sich auf die Fragmente seiner nie veröffentlichten Spätschrift „Frühzeit der Weltgeschichte“, in der Folgezeit diese „offene“ Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fortschrittsvorstellung nuancieren, welche zwar immer noch eine jegliche wechselseitige Beeinflussung der großen Kulturen ablehnt, die Entwicklungsstadien, welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten, aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt. Alternativ ist es auch möglich, die Folge einzelner, in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Körper als lineare Progression zu verstehen, welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt. So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs großer Weltreiche, welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit einzelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaßt werden. Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet. Interessanterweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildlichung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut körperhaft gefaßt, so daß hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und allgemeinem Niedergangsmodell vorliegt: Du, König, bist der König der Könige; dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht, Stärke und Ruhm verliehen. Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen, die Tiere auf dem Feld und die Vögel am Himmel in deine Hand gegeben; dich hat er zum Herrscher über sie alle gemacht: Du bist das goldene Haupt. Nach dir kommt ein anderes Reich, geringer als deines; dann ein drittes Reich, von Bronze, das die ganze Erde beherrschen wird. Ein viertes endlich wird hart wie Eisen sein; Eisen zerschlägt und zermalmt ja alles; und wie Eisen alles zerschmettert, so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern. Die Füße und Zehen waren, wie du gesehen hast, teils aus Töpferton, teils aus Eisen; das bedeutet: Das Reich wird geteilt sein; es wird aber etwas von der Härte des Eisens haben, darum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen. Daß aber die Zehen teils aus Eisen, teils aus Ton waren, bedeutet: Zum Teil wird das Reich hart sein, zum Teil brüchig. Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast, so heißt das: Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden; doch das eine wird nicht am ande23
SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes [Anm. 22], S. 28–29.
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ren haften, wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet. Zur Zeit jener Könige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten, das in Ewigkeit nicht untergeht; dieses Reich wird er keinem anderen Volk überlassen. Es wird alle jene Reiche zermalmen und endgültig vernichten; es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen. Du hast ja gesehen, daß ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Eisen, Bronze und Ton, Silber und Gold zermalmte. Der große Gott hat den König wissen lassen, was dereinst geschehen wird. Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlässig.24
Ganz anders argumentiert Hegel. In Anlehnung an Herder, der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte, eine jede Sprache „keimt, trägt Knospen, blüht auf und verblüht“,25 betrachtet Hegel die „Volksgeister“ als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus, sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung, welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der völligen Selbstreflexivität des Geistes in der Weltgeschichte hinausläuft: Der Volksgeist ist ein natürliches Individuum; als ein solches blüht er auf, ist stark, nimmt ab und stirbt. Es liegt in der Natur der Endlichkeit, daß der beschränkte Geist vergänglich ist. Er ist lebendig und insofern wesentlich Tätigkeit […]. Ein Gegensatz ist vorhanden, sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemäß […] ist. Sobald aber der Geist sich seine Objektivität in seinem Leben gegeben hat, […] so ist er […] zum Genusse seiner selbst gekommen, der nicht mehr Tätigkeit, der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist. In die Periode, wo der Geist
noch tätig ist, fällt die schönste Zeit, die Jugend eines Volkes […]. Ist das vollbracht, tritt die Gewohnheit des Lebens ein; und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt, so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst. Wenn der Geist des Volkes seine Tätigkeit durchgesetzt hat, dann hört die Regsamkeit und das Interesse auf; das Volk lebt in dem Übergange vom Mannesalter ins Greisenalter […]. Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden, im Innern und Äußern; es kann noch lange fortvegetieren. Es regt sich; aber diese Regsamkeit ist bloß die der besondern Interessen der Individuen, nicht mehr das Interesse des Volkes selbst. So sterben Individuen, so sterben Völker eines natürlichen Todes.26
Oder ähnlich: Es ist das Höchste für den Geist, sich zu wissen, sich nicht nur zur Anschauung, sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen. Dies muß und wird er auch vollbringen; aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe, eines anderen Geistes. Der einzelne Volksgeist vollbringt sich, indem er den Übergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht, und so ergibt sich ein Fortgehen, Entstehen, Ablösen der Prinzipien der Völker.27
Und schließlich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden, nicht im Sinne einer ewigen, rein additiven und somit, vom chronologischen Standpunkt her, wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulären Konstellation wie etwa bei Vergil oder, individualistisch, bei Nietzsche, sondern im Sinne einer kreisförmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken, welche jeweils unterschiedliche historische Ausprägungen erfahren. Ein typisches Beispiel hierfür ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian, der die chinesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift, welche jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen, dann aber naturgemäß früher oder später durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen. Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist, muß die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung führen: Die Herrschaft der Hia war ehrlich; als die Ehrlichkeit pervertiert wurde, benahmen die Menschen sich immer schlechter; deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) aufgrund ihrer Ehrfurcht; als die Ehrfurcht pervertiert wurde, verfielen die Menschen dem Aberglauben; deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewußtseins; als das Formbewußtsein aber pervertiert wurde, verfielen die Menschen der Frivolität. Um die Frivolität einzudämmen, ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit. Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis, welcher, einmal abgeschlossen, von neuem beginnt. Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewußtsein pervertiert worden. Die Herrschaft der Qin änderte daran nichts, sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam. 26 27
HEGEL, Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm. 9], S. 45–46. Ibid., S. 42.
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War dies nicht ein Irrtum? Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft, und der Zustand der Entartung, welche sie vorfand, war einfach zu beseitigen. Sie bewirkte, daß die Menschen nicht mehr so nachlässig waren, und erlangte daher das himmlische Mandat.28
Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisförmigen Entwicklung in sich selbst kreisförmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit, bedenkt man v.a. Polybios, den wir oben übrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben, welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie, Aristokratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete, bevor der Kreis sich schließt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt: Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind: drei, die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwähnt wurden, und drei denselben verwandte, ich meine die Alleinherrschaft, die Oligarchie und die Ochlokratie. Zuerst nun bildet sich, ohne geordnete Formen und ganz von selbst, die Alleinherrschaft; und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr, mit geordneten und verbesserten Formen, das Königtum. Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt, ich meine die Zwingherrschaft, so entsteht hinwiederum aus der Auflösung des Schlechten die Aristokratie. Und wenn diese, dem natürlichen Verlaufe zufolge, in Oligarchie sich verwandelt, und sofort die Menge, in Zorn entflammt, das Unrecht der Regierenden gerächt hat, so erzeugt sich die Volksherrschaft. Und aus der Überhebung und Gesetzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt, im Verlaufe der Zeiten, die Ochlokratie hervor. Die Wahrheit dessen, was ich aufgestellt, kann aber einer auf’s Deutlichste einsehen, wenn er auf die natürlichen Anfänge und Ursprünge und Umwandlungen der einzelnen Formen achtet. Denn wer jede einzelne in ihrem Entstehen kennen gelernt, kann allein auch das Wachstum und die Blüte und die Umwandlung der einzelnen, und das Ziel derselben, wann und wie und womit wieder jede sich enden wird, erkennen. Vorzüglich aber glaubte ich, daß diese Weise der Darlegung auf die römische Verfassung ihre Anwendung finden werde, bei der Naturhaftigkeit, die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet. […] In Folge davon, wenn sie einmal durch ihre törichte Ehrsucht das Volk an’s Geschenkenehmen gewöhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben, geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende, und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle. Sobald nämlich die Menge, die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung für ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist, einen hochstrebenden und kühnen, aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Führer erlangt hat, so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts. Und jetzt, sich zusammenrottend, wütet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor, bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschränkten Gebieters und Alleinherrn gerät. Dies ist der Kreislauf der Verfas-
28 SIMA QIAN, Shiji 9 [Gaotsu], Schluß; nach der Übersetzung von E. CHAVANNES, 1895–1904, S. 404f.
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sungen und dies die Ordnung der Natur, nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander übergehen und wieder zum Anfang zurückkehren.29
Und selbst bei Hegel, dessen einem Vexierspiel nahekommende, argumentative Komplexität wohl mittlerweile überdeutlich geworden sein dürfte, entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung, indem er sie gleichsam transzendiert, finden sich deutliche Ansätze zu einem Denken, welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiß und somit erstmals die bekannte Metapher vom „Kreis aus Kreisen“ auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat: Vermöge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar, in dessen Anfang, den einfachen Grund, die Vermittlung das Ende zurückschlingt; dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen; denn jedes einzelne Glied, als Beseeltes der Methode, ist die Reflexion-in-sich, die, indem sie in den Anfang zurückkehrt, zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist. Bruchstücke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften, deren jede ein Vor und ein Nach hat oder, genauer gesprochen, nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt.30
Diese doppelte Zirkularität ermöglichte in der Folge eine vielfache Ausdeutung. So läßt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen, die von Hegel
vertretene zirkuläre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung einzelner Kulturen zu beziehen, hierdurch also gewissermaßen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfüttern, ohne doch gleichzeitig anzunehmen, auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalität. Dies ist ein Ansatz, den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat: Gerade die Freiheit des Willens ist es, die über die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Barrieren führt, welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Höhepunkt zunehmend beschränken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom materiellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken. Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve, die schließlich kreisförmig an den Ausgangspunkt zurückführt. Der Weltgeist würde sich also nicht geradlinig entwickeln, sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen, in reiner Geistigkeit blühen und in der Aporie der Lebensunverträglichkeit des nackten Individualismus vergehen, ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen, dessen Interpretation ausgehend von einem neuen „Volksgeist“ ohnehin fehlerhaft sein muß.31
Gleichzeitig aber läßt sich der Hegelʼsche Ansatz des „Kreises von Kreisen“ auch mit einer übergeordneten Fortschrittsperspektive verknüpfen, wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkuläre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwicklung umwandelt, wie dies von Hösle in Bezug auf die Geschichte der abendländischen Philosophie entwickelt wurde: Die Geschichte der Philosophie des Abendlands, so soll hier also hypothetisch vertreten werden, verläuft sowohl dialektisch als auch spiralförmig. Sie besteht in ihrer Totalität aus mehreren Perioden oder Zyklen, die unter sich charakteristische Entsprechungen aufweisen; die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dialektisch, als diejenige Philosophie, die abschließend am Ende eines Zyklus erscheint, einen Fortschritt gegenüber jenen Philosophen darstellt, die ihr in demselben Zyklus vorangehen […].32
Als dritte Abwandlung dieses Musters eines „Kreis von Kreisen“ darf man dann die strukturell ebenfalls ähnlich gelagerte Annahme einer „Kurve von Kurven“ in Betracht ziehen; ähnlich, weil ja, wie eingangs erläutert, das biolo31 D. ENGELS, Ducunt fata volentem, nolentem trahunt. Hegel, Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59, 2009, S. 269–298, s. auch den Abdruck in diesem Band. 32 V. HÖSLE, Wahrheit und Geschichte. Studien zur Struktur der Philosophiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon, Stuttgart / Bad Cannstatt, 1984, S. 131f.
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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind, läßt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt. Neben Karl Baurs „Zeitgeist und Geschichte“ darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern: So kommt es, daß in diesem Buch die Anleitung gegeben wird, das Wissen der Geschichte zu errechnen. So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen herleiten, so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundströmungen der Zeiten, der großen Epochen, der Stile, hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhältnis untereinander begreifen können, die Folge der Stile. […] So scheint aus einer elementaren Gesetzmäßigkeit der Abwechslung zweier Zustände ein streng kausales Walten in der Welt postuliert. Doch wir werden sehen, wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt: Durch die Überlagerung unzähliger für sich kausaler Vorgänge nämlich tritt immer mehr das Unüberschaubare in die Welt.33
Nun wäre diese Aufzählung nicht vollständig, wenn wir nicht noch abschließend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als „zyklisch“ bezeichneten, eigentlich aber eher „sägezahnartigen“ Sonderfall behandeln würden, der vor allem in der traditionellen außer-europäischen Historiographie überaus gebräuchlich ist: nämlich die Interpretation von Geschichte als einer beständigen Folge einer Reihe von Dynastien, welche jeweils alle ähnlichen Entwicklungsmustern folgen. Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizität im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος, nämlich einer kreislaufartigen, „zirkulären“ Rückkehr zum tatsächlichen Ursprung, sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung. Diesem Modell zufolge wäre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen, welche meist dem Dekadenzprinzip folgen, demzufolge also der jeweils erste Herrscher gleichzeitig auch schon den Höhepunkt der jeweiligen Dynastie ausmacht, und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen, politischen oder religiösen Qualität stetig abnehmen, bis es schließlich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt. Ein typisches Beispiel hierfür ist ibn Khaldun, der, gestützt auf seine Betrachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14. Jh., bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhäuser wahrnahm, welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaftlich ärmlicher, aber sittlich-moralisch hochstehender Stämme zur politischen Macht begründet werden, dann im Laufe einiger weniger Generationen die ursprüngliche Energie verlieren, verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden. Interessanterweise begründet ibn Khaldun den unausweichlichen 33 Th. WANGENHEIM, Kultur und Ingenium. Eine fraktale Geometrie der Weltgeschichte, Waltersdorf, 2013, S. 10.
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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken, sondern gleichzeitig – leicht widersprüchlich – auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergänglichkeit der Dinge, bemüht also ebenfalls vitalistische Erklärungsmuster: Wisse, daß in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen – sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zuständen. Alle geschaffenen Dinge, so die Mineralien, Pflanzen, alle Tiere, bis hin zum Menschen und anderes, entstehen und vergehen auch. Das kann man mit eigenen Augen sehen. Das trifft ebenso auf die Zustände, insbesondere die den Menschen angehenden, zu. So entwickeln sich die Wissenschaften und werden dann wieder ausgelöscht, ebenso die Gewerbe und ähnliches. […] Rang und Wertschätzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende. Das verhält sich folgendermaßen: Der Schöpfer des Ruhmes weiß, was es ihn gekostet hat, diesen zu begründen, und er bewahrt die Wesenszüge, die Grundlage für die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren. Sein ihm nachfolgender Sohn, der unmittelbaren Umgang mit ihm hat, hört ihn hiervon berichten und lernt von ihm. Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zurück […]. Folgt die dritte Generation, so besteht ihr Los darin, nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu übernehmen. […] Wenn dann die vierte Generation kommt, so steht diese den anderen ganz und gar nach. Sie zerstört die Wesenszüge, die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten, schätzt sie gering und bildet sich ein, daß dieser Aufbau ohne Mühe und Anstrengung vonstatten gegangen sei.34
Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive, recht „offene“, da keinem übergeordneten Gesamtziel zustrebende Aneinanderfügung verschiedener Niedergangsszenarien; der scheinbar biologistische Grundcharakter, sieht man einmal vom Vergänglichkeitstopos ab, entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhäusern, welche jedesmal den Tiefpunkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils nächsten verbindet und somit ein scheinbares „Auf und Ab“ konstruiert, wo in der Darstellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Niedergangsszenarien vorherrscht. Eine solche „sägezahnartige“, da wesentlich auf binärem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwähnten, in biologistisch-zyklischem Denken verankerten „wellenförmigen“ Struktur, deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken, für das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt. Nun sei abschließend noch einmal betont, daß der obige kleine Überblick über einige sich gleichsam apriorisch aufdrängende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll, daß sich Geschichtsphilosophie insgesamt durch die Rückführung auf ihre Grundkomponenten „wegerklären“ ließe, noch selbst, daß diese Komponenten trennscharf genug seien, um we34
IBN KHALDUN, Muqaddima 2,15 (Übers. M. PÄTZOLD, 1992).
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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik „auf den Punkt“ zu bringen. Schon der häufige Verweis auf Platon, Polybios, Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem, sondern gleich mehreren geschichtsphilosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt, daß die eigentliche Attraktivität der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle „Bausteine“ liegt, sondern im Gegenteil in ihrer komplexen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache, daß Aufstieg, Niedergang, Biologismus und Zyklizität in vielfältiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden können, ohne sich gegenseitig auszuschließen. In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit, die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren, sondern die verschiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faßbares, gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwürdiges Modell umzuwandeln, welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist; und es dürften dabei wohl gerade jene Denker sein, welche, ohne tautologisch, widersprüchlich oder nichtssagend zu werden, eine größtmögliche Komplexität und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinstmöglichen Anzahl historischer Gesetzmäßigkeiten verbunden haben, welche der „Wahrheit“ der Sache am nächsten gekommen sein dürften.
3. Zum Inhalt dieses Bandes. In Anbetracht der Komplexität des übergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes – Biologismus und Zyklizität in der antiken und abendländischen Geschichtsphilosophie – seien einige methodologische Bemerkungen gestattet. Zum einen dürfte es kaum verwundern, daß es sich bei nachfolgender Zusammenstellung einzelner Beiträge nur um eine paradigmatische Annäherung an das Thema handeln kann, die keine wie auch immer geartete Vollständigkeit beansprucht; eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Präsentation wäre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen. Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch, sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenständiger Aufsätze, welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen geschichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu verdeutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen akademischen Disziplinen bedienen. Zudem sei präzisiert, daß die Auswahl der diskutierten Autoren und Konzepte verständlicherweise eher dem klassischen Kanon abendländischer All-
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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollständigkeit. Immerhin hat eine solche Selbstbeschränkung auf Antike und Abendland den Vorteil, die häufigen Querbezüge zwischen Autoren und Texten zu verdeutlichen und somit die Wiederkehr einer beschränkten Anzahl von Themen, Modellen und Streitfragen über die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen; eine inhaltliche Selbstbezüglichkeit, welche wohl nur schwer in diesem Maße zu erreichen wäre, wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen, Chinas oder der präkolumbianischen Welt erstreckt hätte. Schließlich und endlich sei betont, daß die Interpretation, welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie „Biologismus“ und „Zyklizität“ zukommen lassen, keineswegs immer identisch ist, sondern sich aus vielerlei, oft widersprüchlich scheinenden Inspirationen speist, so daß einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen, auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl vertreten, während andere nach außen hin zyklische oder biologistische Denkmuster zu verteidigen scheinen, letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemühen. So mag es für den Leser von Nutzen sein, den Inhalt der folgenden Aufsätze unter Berücksichtigung der obigen Überlegungen kurz zusammenzufassen, um sowohl Kontinuitäten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen, welche sonst gewissermaßen in den Übergängen von einem Aufsatz zum nächsten verschwinden würden. Es stellt sich zunächst die Frage, ab wann eigentlich überhaupt von der Existenz einer echten, sich selbst kritisch infragestellenden „Geschichtsphilosophie“ in der antik-abendländischen Literatur ausgegangen werden kann, und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken „über“ Geschichte bzw. um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt. Unter dieser Prämisse würde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein über die Mechanismen, sondern auch über den Sinn der Geschichte recht spät beginnen, da bis auf einige oberflächliche Überlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretierende Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmende Ansätze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind. Sylvain Delcomminette zeigt in seinem Beitrag „Présence et absence d’une philosophie de l’histoire chez Platon et Aristote. Cycles, dégénérescences et progrès“, daß zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyklischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt, beide sich aber zu keiner wirklich überzeugenden und kohärenten Position durchringen konnten oder wollten.
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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit, der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmähliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur über den Sinn seiner Tätigkeit, sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen, wenn eine solche Überlegung auch in den meisten Fällen kaum zu einer kohärenten geistig-philosophischen Durchdringung des historischen Stoffes an sich führen sollte, der bis auf einige bezeichnende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde. Diese Entwicklung sollte sich v.a. in der spätrepublikanischen Historiographie niederschlagen, als die ebenso unvermittelte Erfahrung der römischen Hegemonie wie ihres raschen Zusammenbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemäßer denn je scheinen ließ, wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie „Déterminisme historique et perceptions de déchéance sous la république tardive“ darstellt. Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Präsenz zyklischer und biologistischer Strukturen, wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezüge wie auch ihre jeweilige Abhängigkeit von den zeitgenössischen politischen Ereignissen gerichtet wird. Während das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spätrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster geprägt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt, teils einen rein biographischen Ansatz verfolgte, der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknüpft wurde, fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt, seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedrängt wurden, der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte, die hier angelegten Überlegungen aber in ungleich komplexerem Maße vertiefte. Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen, was sicherlich auch darauf zurückzuführen ist, daß Platon selbst, dessen Werke ja meist die Vorlage für die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten, diesen Problemen nur ein geringes und widersprüchliches Interesse beigemessen hatte, und zahlreiche der von ihm erwähnten Zeitfragen des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion über Geschichte an sich inspirierten. Trotzdem sind einige neuplatonische Überlegungen zum Verhältnis von Fortschritt, Niedergang und Zyklizität höchst innovativ. Daher ist es kaum erstaunlich, daß die neuplatonische Schule, wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz „Temporalité, dégradation et conversion. Les néoplatoniciens d’Athènes face à l’Histoire“ zu zeigen versucht, wesentlich Platons Äußerungen über den naturgesetzlichen Niedergang aller
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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaßen elitär-spätzeitlichen Selbstbewußtsein kombinierte; ein Geschichtspessimismus, der aber insoweit eine zyklische Nuancierung erfuhr, als zumindest einige Neuplatoniker an die Möglichkeit eines neuen zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten. Während Geschichte also vom spätantik-heidnischen Standpunkt aus bestenfalls Stagnation, schlimmstenfalls Niedergang bedeutete, wußte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die positive Dynamik der Heilsgeschichte, zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erlösers entgegenzusetzen. Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christlichen Historikern, welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-römische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bislang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Geschichte zu verknüpfen hatten, auf den ersten Blick kaum geeignet, wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden. In dieser Situation geschah dann der Rückgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche, wie sie sich nicht nur bei Daniel, sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand, allen voran bei Poybios, Dionysios von Halikarnassus oder Velleius Paterculus. Während Daniel die Abfolge dieser Weltreiche aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch überformt hatte, wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleologisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag, fand die Weltreichslehre bei Orosius, dem langfristig wohl einflußreichsten christlichen Historiker der Spätantike, insoweit eine interessante Abwandlung, als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknüpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als prädestinierte, wahrhaft zyklische Bewegung darstellte, wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag „On Moral Ends: Orosius and the Circle of Life in History” darlegt. Orosius, der über Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumindest der westlichen Christenheit bleiben sollte, leitet bereits weiter zum Fortleben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung. Diese beschränkte sich lange Zeit darauf, die in der Spätantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Übertragung des römischen Kaisertums auf die Könige Germaniens mit dem göttlichen Heilsplan, der erwarteten Rückkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu bringen; Zyklizität schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknüpfung zwischen Adam, Christus und dem wiederkehrenden Heiland möglich. Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore, wie Julia Eva Wannenmacher in „The Spiny Path of Salvation. Linear and
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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiore” zeigt. Zwar geht natürlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein; der weitgehende Verlust historischen Wissens über die klassische oder gar vorderorientalische Antike ermöglichte ihm hierbei aber eine überaus kreative Umdeutung des zur Verfügung stehenden Materials, so daß bei Joachim gleich drei Ansätze historischen Denkens vorliegen: Zum einen die Übertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich, dann der Versuch, Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen, und schließlich die Lehre von der trinitären Struktur der Weltgeschichte, welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeordnet ist und als Abfolge dreier überlappender Kreise mit vielfältigen wechselseitigen Bezügen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte. Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renaissance bzw. ihr veränderter Stellenwert führten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts. In Anbetracht der Menge des verfügbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit mußte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend „überwunden“ geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen, und konnte zum anderen, wenigstens in der Anfangszeit, nur um den Preis sehr synkretistischer Geschichtsbilder gelingen, war die Fülle verschiedenster ideologischer Ansätze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Daher mußte die Wiederentdeckung des zyklischen Denkens der Antike, welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien, auch zu einem verstärkten Interesse an Problemen zirkulärer oder biologistischer Geschichtsinterpretation führen, wie sich v.a. im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte. In „L’histoire cyclique. Machiavel et l’aristotélisme de la Renaissance“ zeigt Thamar Rossi Leidi, wie komplex sich gerade hier der Einfluß Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizität der Welt, der Einfluß Aristotelesʼ mit der Frage nach der Rolle der „Notwendigkeit“ in der Geschichte und schließlich der Einfluß Polybiosʼ mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben, und inwieweit die von Machiavelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Lösung eher einem Kompromiß als einer wirklichen Symbiose gleichkommt. Der Aufschwung der frühneuzeitlichen Staatenwelt, der Einfluß der Reformation und der großen Entdeckungsfahrten und schließlich die beginnende Industrialisierung des 18. Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschränkten „Fortschritt“ für lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendländischen Geschichtsphilosophie erheben. Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen, daß sich schon recht früh grundlegende Zweifel an der Natur jenes „Fortschritts“ offenbaren sollten; ein Fortschritt, welcher zu-
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mindest bei Giambattista Vico, dem bedeutendsten Theoretiker geschichtsmorphologischen Denkens vor Oswald Spengler, eher als eine wesentlich spätzeitliche und ephemere Besonderheit der europäischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen, jugendlichen Aufschwungs. So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag „Fondements métaphysiques et institution épistémologique de la philosophie moderne de l’histoire chez Giambattista Vico“, in welchem Maße Vico viele Standpunkte des modernen Transzendentalismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philosophischen Hermeneutik vollzogen hat. Hierbei sollte es die Deutung der Geschichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein, welche Vicos Theorie eine überragende argumentative Kohärenz verlieh, zumal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermöglichte, die zentrale Rolle der „Vorsehung“ als wichtige Triebkraft menschlichen Handels während der vorphilosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen. Eine jede Untersuchung über die Entwicklung abendländischer Geschichsphilosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen, nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und für alle späteren Generationen maßgeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit, sondern auch trotz bzw. aufgrund der Tatsache, daß bei Kant nur wenig Platz für zyklische Geschichtsstrukturen übrigbleibt. In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Hösle, in seinem Aufsatz „The Place of Kant’s Philosophy of History within the History of the Philosophy of History” nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten, sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Geschichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen, also zu zeigen, inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle, welche von einer Vielfalt verschiedenster Ansätze geprägt waren, brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren. Und wenn Kants eigene Position auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken geprägt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammenwachsen der Welt bezog, sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundlegung seiner Darstellung spätere Historikern glauben machen, aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere, irrationale oder vitalistische Folgerungen ziehen zu können. Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel, sondern vielmehr Goethe gesehen. Und tatsächlich ist der Einfluß Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts kaum zu überschätzen, wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen, seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschränkt und gerade jene Abhandlungen, welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen, wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespräche mit Eckermann, weitgehend in Vergessenheit
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geraten sind. In „‘Ein schaffender Spiegel.‘ Das Geschichtsbild Goethes“ unternimmt Alexander Demandt es, die oft sehr verstreuten Äußerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen. Zentral ist hierbei die bereits im „Faust“ zutage tretende Ablehnung rein antiquarischer Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmächtigkeit des Vergangenen auf Person und Persönlichkeit des Historikers. Freilich verschloß sich Goethe zeitlebens dem Versuch, ein zusammenhängendes System der Weltgeschichte zu skizzieren; viele Äußerungen und vor allem das Forschen nach der „Urpflanze“ lassen jedoch deutlich werden, daß Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyklisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah. Das Stichwort „Goethe“ leitet damit fast zwangsläufig über zu seinem großen Zeitgenossen Hegel. Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt, derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne, bevor dann im absoluten Vernunftstaat jene utopische Zeit beginne, in welcher diese Selbstwerdung schließlich vollzogen sei und das Zeitalter der „Nachgeschichte“ beginne – eine arg vereinfachende Sichtweise, welche dadurch noch stärker ins Auge fällt, daß Hegel häufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird, um dessen metaphysische Unzulänglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen. Daß die tatsächliche Sachlage erheblich komplizierter ist, versucht der Verfasser dieser Zeilen in „‘Ducunt fata volentem, nolentem trahunt.ʼ Hegel, Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus“ zu zeigen. Hier wird unternommen, zum einen die bislang immer unterschätze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen, zum anderen, die meist ignorierte Bedeutung, welche der biologistischen Entwicklung der „Volksgeister“ als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt, herauszuarbeiten, um die methodologische Grundlage für eine mögliche Verbindung zwischen Dialektik und Biologismus zu schaffen. Der intellektuelle Einfluß Spenglers auf das Denken des 20. Jahrhunderts kann wohl kaum überschätzt werden; ein Einfluß, der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war, sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesellschaft erreichte, so daß die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Prüfstein weltanschaulicher Gesinnung werden mußte und die zeitgenössische Gesellschaft tief polarisierte, galt es doch, sich der Frage zu stellen, inwieweit Fortschritt, Technik und Demokratie als Chancen für einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als vorübergehende Alterserscheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren wären. Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik stärker gehadert als Thomas
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Mann, wie Barbara Beßlich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel „Zauberhafter Untergang. Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophie“ zeigt: Auf eine kurze, aber intensive Anlehnungsphase Manns an Spenglers Denken, die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ zu verorten ist, folgt, wiederum zeitgleich mit dem ebenso späten wie überraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik, die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre, sondern auch der Person Spenglers selbst; eine Dialektik von Annahme und Ablehnung, welche vor allem durch den „Zauberberg“ tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat. Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20. Jahrhunderts, und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publikum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdrängt worden sind, erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler, dessen Verbindung von konservativem Imperialismus, preußischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anrüchig schien. Nur selten jedoch wurde versucht, das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren, und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie „Der verschlafene Frimaire des Arnold Toynbee“ historisches Neuland, indem er versucht, die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohärenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen. Hierauf stellt sich natürlich zwangsläufig die Frage: „Und heute?“ Freilich hat der vorläufige Sieg des Konzeptes einer „offenen“ Geschichte, verbunden mit einer nur verschämt eingestandenen, unterschwelligen Fortschrittsgläubigkeit, nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie, sondern generell kritisches Denken über historische Gesetzmäßigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Übung herabgestuft. Schon die Bezeichnung allen Denkens, welches sich abseits der gegenwärtigen Hauptschule bewegt, als „Ideologie“ verrät den bereits erwähnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialistischen Geschichtsphilosophie, welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden möglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis rückwärtsgewandten „ideologischen“ Denkens abqualifiziert. Daß dies auch und gerade die Hegel’sche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkörpern betrifft, macht Christoph Brüll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel „Unter Ideologieverdacht. Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P. Huntingtons Clash of Civilizations in Deutschland“ deutlich.
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Nach dieser kurzen Übersicht über den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik, welche die einzelnen Beiträge von den Ursprüngen geschichtsphilosophischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit verbindet, bleibt nur zu hoffen, daß vorliegende Arbeiten, obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend überwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendländischer Geistesgeschichte betreffen, trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klärung der dringenden Zeitfragen liefern können, denen unser Kontinent augenblicklich ausgesetzt ist. Denn gerade in den Krisenzeiten, welche Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts durchlebt, und welche erstmals seit fast 300 Jahren den traditionellen Glauben an den „Fortschritt“, an das friedliches Zusammenwachsen der „Menschheit“ und an die Schlüsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Glück und Freiheit infrage stellen, vermag allein die Rückbesinnung auf andere, geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklärungsmuster der Weltgeschichte, eine überzeugende methodische Grundlage zu schaffen, um den eurozentrischen Wahn einer „vormodernen“ und einer „modernen“ Epoche durch adäquatere Modelle abzulösen, welche dem doppelten Anspruch genügen, sowohl den außereuropäischen Völkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit zu verhelfen, als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmählichen Niedergang der abendländischen Welt sinnvoll in ein Gesamtkonzept kultureller Dynamik einzuordnen.
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Report "Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der Geschichtsphilosophie der Antike und des Abendlandes, Bruxelles, 2015, 8-46. "