Die Inhalte und Ziele sowie der praktische und religiöse Charakter von Bildung und Ethik im Islam werden durch Aussagen im Koran sowie im Hadith grundsätzlich definiert. Darüber hinaus werden die betreffenden Prinzipien in zahlreichen Sprichwörtern, Aphorismen und Weisheitssprüchen im vom Islam geprägten Schrifttum thematisiert. Wissenschaftliche Erörterungen zu Fragen der Bildung und Ethik sind in einer Vielzahl arabischer und persischer Schriften enthalten, insbesondere in Werken zu Philosophie, Theologie, Literatur und Mystik aus der klassischen Periode des Islams (9.–13. Jahrhundert). Die wechselseitige Verknüpfung von Bildung und Ethik, wie sie vor allem die klassischen islamischen Konzeptionen widerspiegeln, weist dabei deutliche Bezüge u. a. zu den Grundsätzen des antiken griechischen Begriffs der paideia (»Erziehung«, »Bildung«) auf, welche im Islam rezipiert und weiterentwickelt wurden. Diese Tatsache gilt es festzuhalten, auch wenn die Konzeptionen und Argumentationen zu Bildung und Ethik in der Antike vornehmlich philosophisch, im Islam dagegen bis heute mehrheitlich religiös geprägt sind. In der Gegenwart werden für die Debatten um Bildung und Ethik zunehmend auch elektronische Medien genutzt. Diese aktuellen Diskussionen unterstreichen einerseits die grundsätzliche Bedeutung der klassischen Aussagen zur islamischen Bildung und Ethik. Sie reflektieren anderseits aber auch die vielfältigen Herausforderungen, denen sich die gesellschaftlichen Kräfte in der islamischen Welt wie auch im Westen im Kontext von Globalisierung und Migration gegenübersehen.
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Das alte Arabien: von religiöser »Unwissenheit« zum Islam
Die Geschichte und Charakteristika der islamischen Bildung und Ethik sind vor dem Hintergrund des vorislamischen Arabiens zu betrachten. Die Poesie galt den alten Arabern als »das Register des Wissens« (dīwān al-ʿilm) und als »der höchste Ausdruck der Weisheit« (muntahā al-ḥikma), wie der Traditionarier und Philologe aus Basra, Ibn Sallām alǦumaḥī (st. um 846), feststellte. Ein Dichter (šāʿir) wurde aufgrund seiner poetischen Kunstfertigkeiten geschätzt, vermittels derer er die hehren Werte und Bräuche seines Stammes in kunstvolle Worte kleidete. Darüber hinaus genoss er höchstes Ansehen auch als jemand, der ein besonderes, von höheren Mächten inspiriertes Wissen besaß.1 1 Siehe Ibn Sallāms Einleitung zu seinem Standardwerk Ṭabaqāt fuḥūl aš-šuʿarāʾ (»Die Klassen der Meister unter den Dichtern«), 24; sowie Fück: »Das Problem des Wissens«, in ders.: Vorträge über den Islam, 13–15.
Koran und Hadith: göttliche Lehre und prophetische Weisheit
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Gleichwohl bezeichnen die Muslime die Ära vor dem Aufkommen des Islams retrospektiv als die Zeit der »Unwissenheit« (ǧāhilīya). Die Verhältnisse im alten Arabien waren von Paganismus, Polytheismus und einem ausgeprägten Streben nach Verwirklichung des Einzelnen im Rahmen des Stammesverbandes gekennzeichnet. Sie werden in der späteren Zeit von den Muslimen mit Anarchie, Unkultur und Barbarei und folglich mit den Antithesen zu Ordnung, Kultur und Zivilisation gleichgesetzt. Der Islam mit seiner neuen Lebensweise wiederum repräsentiert für seine Anhänger deshalb in natürlicher und vollkommener Weise die hohen Ziele von Bildung und Ethik und gilt ihnen als ein Synonym für Aufklärung, Menschlichkeit und kulturellen Fortschritt. Die in der klassischen Zeit des Islams zu komplexen Gedankensystemen ausgearbeiteten Konzeptionen zu Bildung und Ethik beruhen vor allem auf zwei Prinzipien: der Idee lebenslangen Lernens als einer religiösen Pflicht sowie dem Grundsatz der Korrelation von Wissen und Handeln, verbunden mit dem ethischen Anspruch, dass das erworbene Wissen nicht allein dem Individuum, sondern der Gemeinschaft der Muslime bzw. der Menschheit insgesamt zugutekommen solle. Auf dieser Grundlage bestehen die Hauptziele islamischen Lehrens und Lernens darin, dass der Mensch eine solide Allgemeinbildung erlangt und dass er sich mit den Wertevorstellungen des Islams vertraut macht bzw. sein Leben und Wirken darin fest verankert. Diese Doppelfunktion von Wissensvermittlung und Wissenserwerb im Islam soll sicherstellen, dass sich der Einzelne aktiv sowohl für das Wohl seines privaten Umfeldes als auch zum Vorteil des Gemeinwesens einsetzt. Der frühislamische Rechtsgelehrte Abū Ḥanīfa an-Nuʿmān b. Ṯābit (st. 767) definiert den Begriff der Bildung in einer für die klassische islamische Gelehrsamkeit repräsentativen Weise, wenn er sagt, »[tiefgründiges] Verstehen (fiqh) bedeutet für die Menschen zu begreifen, was [sie in dieser Welt] tun dürfen und was sie tun müssen.«2 Doch »Wissen ohne einen praktischen Nutzen (das sich also nicht in adäquaten Handlungen niederschlägt) ist fruchtlos.« Der für seine Arbeiten zur Erziehung bekannte Burhān ad-Dīn azZarnūǧī (st. um 1223), kommentiert Abū Ḥanīfas Begriffsbestimmung, indem er die darin inhärenten ethischen Aspekte hervorhebt: »Der Mensch muss darauf achten [zu erkennen], was ihm im Hinblick auf das Diesseits und das Jenseits nützlich ist und was ihm schadet. Er sollte sich für das rechte Verhalten entscheiden, damit sein Verstand und sein Wissen [am Tage des Jüngsten Gerichts] nicht gegen ihn aussagen und seine Strafe dadurch vergrößert wird.«3
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Koran und Hadith: göttliche Lehre und prophetische Weisheit
Im Koran besitzen Aussagen zu Bildung und Ethik große Bedeutung. Im Hinblick auf die Bildung wird zunächst grundsätzlich festgestellt, dass Gott der erste und höchste Lehrer der Menschheit sei, »der den Gebrauch des Schreibrohrs gelehrt hat, den 2 Az-Zarnūǧī: Kitāb taʿlīm al-mutaʿallim, 65. Zur Grundbedeutung des rechtlich besetzten Begriffes fiqh im Sinne von »Verstehen«, »Wissen« und »Intelligenz«, siehe Goldziher/Schacht, »Fiḳh«, in: EI2 II/885. 3 Az-Zarnūǧī: Kitāb taʿlīm al-mutaʿallim, 65.
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Bildung und Ethik im Islam
Menschen lehrte, was er [zuvor] nicht wusste« (K 96:4–5).4 Mit diesen Worten, die in der muslimischen Tradition mehrheitlich als die ersten koranischen Offenbarungen erachtetet werden, erhielt Muḥammad den Auftrag, im Namen seines Herrn Worte Gottes zu »verlesen« bzw. »vorzutragen«, um die Menschheit über Gottes Botschaft zu unterrichten (K 96:1–5). Zahlreiche koranische Passagen unterweisen in Angelegenheiten des Glaubens und der religiösen Praxis. Ausdrücklich betont wird dabei, dass nur diejenigen, die ein gewisses Maß an Bildung erworben hätten, die Botschaft des Korans bzw. seine Warnungen und Belehrungen verstünden. In diesem Sinne wird die rhetorische Frage gestellt: »Sind [denn etwa] die Wissenden den Nichtwissenden gleich[zusetzen]?«, die sogleich beantwortet wird: »Nur diejenigen, die Verstand haben, lassen sich mahnen!« (K 39:9). Gleichermaßen heißt es, dass die idealen religiösen und politischen Führer nur diejenigen seien, denen Gott ein »Übermaß an Wissen und körperlichen Vorzügen verliehen« habe (K 2:247). Die generelle Wertschätzung von Schreibe- und Lesekenntnissen wird im Koran, dem »ersten Buch« des Islams, ausdrücklich betont: »Ihr Gläubigen! Wenn ihr … ein Schuldverhältnis eingeht, dann schreibt es auf! Und ein Schreiber soll [es] in eurem Beisein aufschreiben. … Und kein Schreiber soll sich weigern zu schreiben, so wie Gott es ihn gelehrt hat. Er soll schreiben. … Und lasst es euch nicht verdrießen, es aufzuschreiben, [sei die Summe] klein oder groß … !« (K 2:282).5 Neben spirituellen, rituellen und rechtlichen Aussagen besitzen ethische Grundsätze eine zentrale Bedeutung in der koranischen Botschaft. Sie sind konkret in dem Sinne, dass jede Handlung des Menschen als Dienst an Gott und mithin als Glaubensakt zu verstehen sei. Der Koran sei geoffenbart worden, um die Menschen im Glauben, in Gottesfurcht und moralischem Verhalten zu unterrichten und sie vor Selbstzerstörung zu bewahren (K 2:195; 25:63–76). Deshalb habe Gott dem Menschen die Fähigkeit gegeben, mit dem Verstand zu unterscheiden, was »sündhaft« bzw. unrecht und was »gottesfürchtig« bzw. recht ist (K 91:8). Einen besonders hohen Status kommt hierbei der zweimal im Koran enthaltenen Auflistung von Gottes Geboten und Verboten (K 17:22–39; in Kurzform in 6:151–3) zu, welche als die »Geburtsurkunde der islamischen Ethik« gelten darf. Diese Listen von Geboten und Verboten weisen in Inhalt und Form deutliche Bezüge zum biblischen Dekalog auf. In Sure 17:22–39 heißt es dazu: Setz nicht [dem einen] Gott einen anderen Gott zur Seite … ! Zu den Eltern [sollst du] gut sein! … Gib dem Verwandten, was ihm zusteht, ebenso dem Armen! … Falls du dich von ihm abwendest, … dann sprich [wenigstens] begütigend zu ihnen! … Mach nicht, dass deine Hand [gleichsam] an deinen Hals gefesselt ist (d. h. sei freigebig)! … Tötet nicht eure Kinder aus Furcht vor Verarmung! … Sie zu töten ist eine schwere Verfehlung! Lasst euch nicht auf Unzucht ein! … Tötet niemand, den [zu töten] Gott verboten hat … ! Tastet nicht [unrechtmäßig] das Vermögen der Waise an … !
4 Zitate aus dem Koran folgen in diesem Kapitel der Übersetzung Rudi Parets. 5 Siehe im weiteren Fück: »Das Problem des Wissens«, 12–20; Walker: »Knowledge and Learning«, 1– 5; sowie Günther: »Teaching«, 200–05.
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Gebt, wem ihr zumesst, volles Maß und wägt mit der richtigen Waage … ! Geh nicht einer Sache nach, von der du kein Wissen hast! Gehör, Gesicht und Verstand (wörtl.: Herz) – für all das wird [dereinst] Rechenschaft verlangt; und schreite nicht ausgelassen [und überheblich] auf der Erde einher … ! Das ist [etwas] von dem, was dein Herr dir an Weisheit eingegeben hat. Setz nicht [dem einen] Gott einen anderen Gott zur Seite … !6
Auf das Engste mit diesen Ge- und Verboten verbunden ist für Muslime die Weisung, »das Rechte zu gebieten und das Verwerfliche zu verbieten« (al-amr bi-l-maʿrūf wa-n-nahy ʿan al-munkar).7 Bekannte, als kanonisch erachtete Prophetentraditionen, die eine starke ethische Konnotation besitzen und rechtsrelevanten Status erlangt haben, sind u. a.: »Füge kein Leid zu und vergelte Leid nicht mit Leid«, »die Taten werden nach ihren Intentionen beurteilt« und »die Beweislast liegt beim Ankläger und der Angeklagte muss einen Eid auf seine Unschuld schwören«.8 Die generelle Bedeutung des Korans für Bildung und Ethik im Islam hebt der berühmte rationalistische Korankommentator und Philologe aus dem heutigen Turkmenistan, Ǧār Allāh az-Zamaḫšarī (st. 1144), in exemplarischer Weise hervor, wenn er feststellt, der Koran sei ein Buch, das »durch Beweise und Argumente spricht, … ein Buch, das – anders als alle anderen Bücher – von jedem Menschen und an jedem Ort verlesen [und verstanden] werden kann.«9 Der Hadith, das umfangreiche Korpus der dem Propheten Muḥammad zugeschriebenen Aussprüche und Handlungen mit Berichten und Erzählungen über sein Leben, stellt die wichtigste Sammlung der für Muslime autoritativen Lehrsätze zu Religion und Lebenspraxis dar.10 Diese Leitfäden zu den Handlungsweisen, Werten und Normen des Propheten und seiner engsten Gefährten (sunna) gelten für die Mehrheit der Muslime nach dem Koran als die maßgeblichsten Quellen zur Rechtsfindung und persönlichen Lebensführung. Alle diese Werke – und zwar auf sunnitischer wie schiitischer Seite gleichermaßen – enthalten zahlreiche konkrete Anweisungen zu Lehre und Lernen, Bildung und Erziehung sowie zu Ethik und Moral. Oft zitierte Prophetenworte wie »Strebe nach Wissen, selbst wenn es in China wäre!« und »Die Suche nach Wissen ist für Männer und Frauen gleichermaßen Pflicht« unterstreichen, dass der Wissenserwerb im Islam prinzipiell weder geographische oder kulturelle Grenzen kennt noch geschlechterspezifisch ist. Mehr noch, die Erziehung von Mädchen sei sogar ein besonderes Verdienst, denn »ein Vater, der seine Tochter unterrichtet und erzieht sowie ihr eine gute Schulbildung und Erziehung ermöglicht, bleibt von der Hölle verschont.«11 Die Anordnung des Propheten, dass die »Person mit dem fundiertesten Verständnis des Buches Gottes und der 6 Günther: »O People of the Scripture«, 28–58; sowie ferner Izutsu: Ethico-Religious Concepts in the Qurʾān, 16–22. 7 »Ihr gebietet, was recht ist, und verbietet, was verwerflich ist« (K 3:110); dazu ausführlich Cook: Commanding Right and Forbidding Wrong. 8 Badar: Islamic Law (Sharia), 441. Die Übersetzung des hier in Rede stehenden Ausdrucks lā ḍarar walā ḍirār folgt dem Verständnis von az-Zuhailī: al-Waǧīz fī uṣūl al-fiqh (»Abriss zu den Grundlagen der islamischen Jurisprudenz«), 227; zum Bedeutungsfeld dieses rechtsrelevanten Grundsatzes siehe Ibn Raǧab al-Ḥanbalī: Lā ḍarar wa-lā ḍirār. 9 Az-Zamaḫšarī: al-Kaššāf, 95f. 10 Zum Hadith vgl. den Beitrag von Jens Scheiner in diesem Band. 11 Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī: Fatḥ al-bārī bi-šarḥ Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, 443.
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Bildung und Ethik im Islam
größten Erfahrung in der Auslegung [der Heiligen Schrift die Menschen … im Gebet] führen« solle, drückt schließlich das Ideal eines hohen Bildungsgrades für religiöse Führer und gesellschaftliche Verantwortungsträger aus.
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Das »Goldene Zeitalter«: die islamische Zivilisation als Wissensgesellschaft
Die formelle Wissensvermittlung im frühen Islam (bis zum neunten Jahrhundert) fand vor allem in Lehrsitzungen und Studienzirkeln statt, die in den Moscheen oder Privathäusern der Gelehrten abgehalten wurden. Die »mündliche Unterweisung« war dabei die vorherrschende Form des Unterrichts.12 Der persönliche Kontakt zwischen dem Lehrer (bei den Mystikern auch dem »geistigen Führer«) und seinen Schülern, Studenten oder Novizen galt als Garant für die Authentizität des überlieferten Wissens. Die Vorstellung einer autoritativen, mündlichen Vermittlung von Wissen ist im Islam bis heute vor allem in den religiösen Disziplinen ein Grundprinzip des Unterrichts. Doch schon ab dem siebten Jahrhundert verwendeten Lehrer und Studenten in ihren Vorlesungen und Seminaren regelmäßig schriftliche Notizen und Materialsammlungen als Gedankenstützen. Die Einführung des vergleichsweise billigen Papiers bewirkte, dass ab dem neunten Jahrhundert das Buch ein besonders effektives, die islamische Kultur und Zivilisation schließlich prägendes Medium der Wissensbewahrung und des Wissenstransfers wurde.13 Ab dem neunten Jahrhundert entwickelte sich die islamische Zivilisation, deren Machtbereich sich mittlerweile von der Iberischen Halbinsel bis nach China erstreckte, zu einer regelrechten Wissensgesellschaft, die durch Dynamik und ein hohes Maß religiöser Toleranz sowie intellektueller Offenheit gekennzeichnet war. Darüber hinaus spielten einflussreiche Familien eine entscheidende Rolle bei der Einrichtung von Lehrinstitutionen, der Rekrutierung von Lehrpersonal sowie der finanziellen Unterstützung und Kontrolle der intellektuellen Eliten der mittelalterlichen islamischen Gesellschaften. Die rege, insbesondere von Syrisch und Arabisch sprechenden Christen (Angehörigen der Syrisch-Orthodoxen Kirche und der Apostolischen Kirche des Ostens) getragene Übersetzungstätigkeit vor allem von philosophischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Werken des antiken griechischen, iranischen und indischen intellektuellen Erbes führte zu einem enormen Aufschwung der Wissenschaften im Islam, der sich auch auf den mittelalterlichen Lehrbetrieb förderlich auswirkte.14 Sprachli12 Fück: Muḥammad ibn Isḥāq, 6. 13 Günther: Quellenuntersuchungen, 24–48. Zur Hochachtung der mittelalterlichen Muslime für das geschriebene Wort siehe Günther: »Praise to the Book«, 125–43; und Schoeler: The Genesis of Literature in Islam, 111–26. Ebenso Rosenthal: Knowledge Triumphant; Pedersen: The Arabic Book; und Endress: Organizing Knowledge. 14 Besonders illustrative Darstellungen zur Problematik bieten Biesterfeldt: »Hellenistische Wissenschaften und Arabisch-Islamische Kultur«, 9–37; sowie Hirschler: The Written Word in Medieval Arabic Lands.
Das »Goldene Zeitalter«: die islamische Zivilisation als Wissensgesellschaft
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che Disziplinen wie Grammatik, Dialektik und Rhetorik (einschließlich Recht und Ethik; das entspricht dem antiken Trivium) sowie mathematische Fächer wie Arithmetik, Geometrie, Astronomie und bisweilen auch Musik (das antike Quadrivium) wurden im nicht-institutionellen, philosophisch orientierten Wissenschaftsbetrieb des klassischen Islams gelehrt und durch das Studium der Naturphilosophie und Metaphysik ergänzt.15 Der institutionalisierte islamische Lehrbetrieb allerdings, wie er an den Medresen oder »Rechtshochschulen« erfolgte und z. T. auch heute noch erfolgt, setzte ganz andere Prioritäten. Hier wurde der Schwerpunkt des Unterrichts auf drei Bereiche der stark religionsbezogenen Disziplinen gelegt: die sogenannten »überlieferten Wissenschaften« (ʿulūm naqlīya), welche auf Koran und Prophetentradition beruhen; die »rationalen Wissenschaften« (ʿulūm ʿaqlīya), die sich auf vernunftgemäße Beobachtung, sinnliche Wahrnehmung und logische Deduktion stützen, sowie die »Grundlagen der islamischen Jurisprudenz« (uṣūl al-fiqh).
3.1 Bibliotheken, Akademien, Schulen Bagdad, die 762 gegründete Hauptstadt des abbasidischen Kalifats (750–1258), war die prosperierende kommerzielle, kulturelle und intellektuelle Metropole der mittelalterlichen islamischen Welt.16 Es war die Zeit äußerst fruchtbarer Aktivitäten in den Bereichen der Geistes- wie auch der Naturwissenschaften. Die weit über lokale Grenzen hinaus berühmten Akademien, die reich ausgestatteten Bibliotheken und die speziellen Forschungslaboratorien waren bemerkenswert frei von kulturellen, ethnischen und konfessionellen Beschränkungen. Das vom Kalifen al-Maʾmūn b. Hārūn ar-Rašīd (reg. 813–33) in Bagdad gegründete Bait al-Ḥikma (»Haus der Weisheit«) zum Beispiel war nicht nur die Bibliothek des Kalifen, sondern umfasste wohl auch ein astronomisches Observatorium. In Kairo etablierte al-Ḥākim, Kalif der schiitischen Dynastie der Fatimiden (reg. 969–1171), im Jahre 1005 ein Dār al-ʿIlm (»Haus des Wissens«), das vor allem den nicht-religiösen Wissenschaften gewidmet war.17
3.2 Elementare Bildung Die Elementarausbildung der Kinder ab dem Alter von sechs oder sieben Jahren erfolgte im frühen Islam in einer kuttāb oder maktab (»Ort für Schreiber«) genannten 15 Hendrich: Arabisch-Islamische Philosophie, 28; vgl. auch die Beiträge von Heidrun Eichner und Ulrich Rebstock in diesem Band. 16 Zu den Spezifika der Periodisierung der intellektuellen Geschichte des Islams im Vergleich zur europäischen Geistesgeschichte siehe Heinrichs: Orientalisches Mittelalter, 14. 17 Die Vorstellung, dass es sich bei dem Bagdader »Haus der Weisheit« um eine Art Übersetzerakademie handelte, in der gezielt professionelle arabische Übersetzungen philosophischer und naturwissenschaftlicher Werke des antiken griechischen Erbes angefertigt wurden, wie in der älteren Fachliteratur oft vermerkt wird, ist nicht hinreichend belegbar; vgl. dazu Gutas/Bladel: »Bayt al-Ḥikma«, 133–137. Siehe auch Halm: Die Kalifen von Kairo, 207f.
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Bildung und Ethik im Islam
Institution, der Grund- bzw. Koranschule. Der Unterricht fand entweder im Vorhof einer Moschee oder an einem für den Unterricht geeigneten, geschützten Ort in der Nähe oder auch im Haus des Lehrers statt. Konkrete und für den frühen Islam repräsentative Informationen zum Curriculum der Grundschulen vermittelt der Rechtsgelehrte Muḥammad Ibn Saḥnūn (st. 870) aus Kairouan/Tunesien in seinem Ādāb al-muʿallimīn (»Die Verhaltensregeln für Lehrer«). Als obligatorischer Lehrstoff werden hier genannt: die korrekte Rezitation des koranischen Textes sowie das Auswendiglernen des Korans bzw. zumindest einiger Passagen daraus, Lesen und Schreiben, die religiösen Normen und die Regeln des guten Benehmens als einer Verpflichtung gegenüber Gott. Unterrichtet werden sollten: Schreiben, Rechnen sowie die elementaren Grundlagen der arabischen Sprache und Grammatik; des Weiteren: arabische Dichtung, Sprichwörter, historische Berichte und Legenden der alten Araber sowie Redekunst. Die Grundschulen im mittelalterlichen Islam wurden vor allem von Jungen besucht. Die hauswirtschaftliche und mitunter auch intellektuelle Ausbildung von Mädchen erfolgte mehrheitlich innerhalb der Familie.18
3.3 Höhere Bildung Eine für die islamische Kultur und Zivilisation seit dem Ende des achten Jahrhunderts neben der Moschee zunehmend bedeutsame und bis heute kennzeichnende Institution der höheren religiösen Bildung ist die madrasa, eingedeutscht »Medrese«. Die klassische Medrese in ihrer Blütezeit vom 11. bis zum 14. Jahrhundert war eine Hochschule (bzw., wie man heute sagen würde, ein »College«), an der vor allem Verwaltungsbeamte auf den Staatsdienst vorbereitet wurden. Diese Zweckbindung der Medrese bestimmte ihr Curriculum, welches sich in erster Linie auf folgende Bereiche erstreckte: religiöse Studienfächer wie Koran, Hadith und Koranexegese; islamisches Recht, das einen Kernbereich des Studiums an der Medrese darstellte; arabische Sprache und nicht zuletzt Logik, d. h. zwei Fachgebiete, die als unentbehrlich für das Studium von Religion und Recht erachtet wurden. Medresen finanzierten sich, wie die bereits erwähnten Akademien, aus eigens dafür ins Leben gerufenen Stiftungen (Sing. waqf), welche Lehrkörper und Studenten finanziell unterstützten. Die Gebäude einer Medrese wiederum umfassten sowohl Unterrichts- als auch Wohnräume für Lehrkräfte und Studenten. Der Medrese stand ein leitender šaiḫ bzw. Professor vor. Die Lehrstühle wurden in der Regel durch wohlhabende Personen gestiftet, die oft über die Besetzung dieser Schlüsselposition entschieden. Die Berufungen von Gelehrten erfolgten nicht selten im kontroversen Ringen von Interessengruppen und Einzelpersonen, die durch ihre Spenden an die Stiftung einer Medrese auch Einfluss auf deren akademischen Betrieb zu nehmen versuchten. Der Herrscher beaufsichtigte die Berufungen, betrieb sie in 18 Landau: »Kuttāb«, 567–70; Günther: »Advice for Teachers«, 99–110; Baer: »Muslim Teaching Institutions«, 73–102; Hirschler: The Written Word, 82–123, enthält ein eigenes Kapitel zur Primarschulbildung in Ägypten und Syrien in der Zeit der Aiyubiden (reg. 1171–1250) und Mamluken (reg. 1250– 1517). Siehe darüber hinaus Biesterfeldt: »Lese- und Schreibunterricht im arabischen Sprachraum«.
Das »Goldene Zeitalter«: die islamische Zivilisation als Wissensgesellschaft
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der Regel aber nicht selbst aktiv. Er behielt sich allerdings die Ernennungen der Imām-Professoren in Medresen vor, die den großen Freitagsmoscheen angegliedert waren. Obwohl die Medresen im Mittelalter also durchaus eine politische Dimension besaßen, waren die Religionsgelehrten (ʿulamāʾ) in Bezug auf die Inhalte und Mechanismen der Tradierung von Wissen relativ frei und blieben weitgehend unbehelligt von Einmischungen durch die politischen Herrscher.19 Der Studienverlauf war informell und ohne Prüfungen für die Studenten. Sie besuchten eine Vorlesung (maǧlis, wörtl. »Sitzung«) oder einen den Vorlesungsstoff rekapitulierenden Studienzirkel (ḥalqa). Der Professor bestätigte die erfolgreiche Teilnahme am Studium eines bestimmten Textes durch ein Zertifikat (iǧāza), das dem Studenten nicht nur die erfolgreiche Teilnahme am Unterricht bescheinigte, sondern ihn autorisierte, den betreffenden Text seinerseits weiter zu tradieren bzw. selbst zu unterrichten. Die größte und berühmteste religiöse Hochschule sunnitischer Prägung im östlichen Machtbereich des klassischen Islams war die Niẓāmīya in Bagdad, die im Jahre 1066 vom seldschukischen Wesir Niẓām al-Mulk (st. 1092) gegründet wurde. Der bedeutendste dort tätige Lehrer jener Zeit war der schon zu seinen Lebzeiten berühmte Theologe, Rechtsgelehrte und Mystiker Abū Ḥāmid al-Ġazālī (st. 1111), der Vorlesungen vor mehr als 300 Studenten hielt und dieser Bildungseinrichtung mehrere Jahre lang als Rektor vorstand. Medresen schiitischer Ausrichtung prosperierten insbesondere in Iran unter der Dynastie der Safawiden (1501–1722).20 Die Fatimiden in Kairo allerdings hatten, wie oben erwähnt, schon viel früher Akademien gegründet. Letztere sollten offenbar als Gegengewicht zu den Medresen der sunnitischen Seldschuken im Irak dienen und dem wachsenden sunnitischen Einfluss im Bereich der Bildung entgegenwirken. Die Azhar (»Die Strahlende« oder »Die Blühende«) in Kairo wurde von den Fatimiden im Jahre 970 zunächst als Moschee für den Imām-Kalifen und dessen Hofstaat gegründet. Im Jahre 988 ordnete der Wesir Ibn Killis (st. 991) an, unmittelbar neben der Azhar-Moschee ein Gebäude für Lehrzwecke – insbesondere zum Unterricht im islamischen Recht – zu errichten.21 Mit der Machtübernahme durch die Aiyubiden (reg. 1171–1250) wurde die Azhar eine sunnitische Lehranstalt und ist es bis heute geblieben; sie entwickelte sich schließlich zur wohl wichtigsten religiösen Universität der islamischen Welt überhaupt. Asketen, Mystiker und Anhänger bestimmter theologischer Schulen bevorzugten für ihre Ausbildung eine Art »Konvent«. Größere Einrichtungen dieser Art werden als ḫānqāh bezeichnet; jene, die nur von den Anhängern eines bestimmten Meisters oder sogar von ihm alleine bewohnt wurden, werden zumeist zāwiya genannt. Diese Konvente werden in den Quellen spätestens ab dem zehnten Jahrhundert erwähnt 19 Vgl. Makdisi: The Rise of Colleges; Fück: »Die Rolle der Medresen im Bildungswesen des Islams«, 161– 84. Siehe darüber hinaus Berkey: The Transmission of Knowledge, 44–94; Chamberlain: Knowledge and Social Practice, 72–90, 106f.; Gilliot: »La transmission des sciences religieuses«, 327–51; Mottahadeh: Der Mantel des Propheten, 79–81; und Zaman: The Ulama, 60–86. 20 Mottahedeh: Der Mantel des Propheten, 81–90; Moazzen: Shiʿite Higher Learning, 36–73. 21 Vgl. Halm: The Fatimids, 44.
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Bildung und Ethik im Islam
und sind heute überall in der islamischen Welt anzutreffen. Im Unterschied zu den Medresen mit ihren formalisierten Lehrprogrammen sind Konvente räumlich kleinere und weniger strukturierte Bildungseinrichtungen, die als spirituelle Rückzugsorte auch der inneren Vervollkommnung dienen. Neben Bagdad und Kairo entstanden bedeutende Zentren für Lehre und Studium in Damaskus und Aleppo in Syrien; Basra, Hilla, Kerbela, Kūfa und Naǧaf im Irak sowie Qom, Maschhad, Isfahan und Farghana in Iran bzw. dem heutigen Usbekistan; des Weiteren in Kairouan und Tunis (mit seiner berühmten Zaitūna, einer Moschee und Universität aus dem achten Jahrhundert) im heutigen Tunesien sowie Fès in Marokko (mit der Qarawiyyīn, einer 859 gegründeten Institution, die eine Moschee und eine Medrese einschloss); sowie nicht zuletzt in Córdoba und Toledo in al-Andalus, dem zwischen 711 und 1492 muslimisch beherrschten Teil der Iberischen Halbinsel. Als die zwei wichtigsten schiitischen Zentren zur Vermittlung religiöser Bildung, die bis heute aktiv und einflussreich sind, erweisen sich Qom in Iran sowie Naǧaf im Irak. In Qom wurde im zehnten Jahrhundert ein »wissenschaftliches Zentrum« (ḥauza ʿilmīya) gegründet, sein Pendant in Naǧaf stammt aus dem elften Jahrhundert. Eine ḥauza ist ein theologisches Seminar mit dem Anspruch gemeinschaftlicher Bildung, das sich der Unterweisung und dem Studium der Geschichte der schiitischen Imame und des islamischen Rechts schiitischer Prägung verpflichtet fühlt. Weitere Unterrichtsfächer sind arabische Syntax, Rhetorik, Logik, Koranexegese, Hadith, Theologie und bisweilen Philosophie. Diese Lehreinrichtung entbehrt einer formellen administrativen Rangordnung, beruht aber auf einer strengen akademisch-klerikalen Hierarchie. Eine ḥauza folgt zwar keinem standardisierten Curriculum, ist aber von den drei großen Gebieten traditionellen religiösen Lernens geprägt, die gleichermaßen für die sunnitischen Medresen (s. oben) gelten. Allerdings besitzt im schiitischen Lehrbetrieb das Studium des Rechts aufgrund der zentralen Rolle des sogenannten muǧtahids, d. h. desjenigen Rechtsgelehrten, der qualifiziert ist, das Recht zu interpretieren und unabhängige Rechtsentscheidungen zu treffen, eine besonders zentrale Rolle. Studenten in einer ḥauza können ihre Studienfächer, den Studienablauf und die Studiendauer sowie ihre Professoren selbst wählen; sie studieren oft ein Leben lang, was den klerikalen Charakter der Einrichtung unterstreicht.22
3.4 Wissen und Identität: Bildung und Ethik im Verständnis religiöser Minderheiten Für Minderheiten wie Zaiditen, Ismāʿīliten und Ibāḍiten spielte und spielt das Streben nach Wissen aus ihrem religiösen Selbstverständnis heraus eine besonders wichtige Rolle. Den Zaiditen oder »Fünfer-Schiiten« beispielsweise, welche seit dem neunten
22 Litvak: »Iraq: Shiʿite Seminaries in Iraq«; al-Ġarawī: al-Ḥauza al-ʿilmīya fī n-Naǧaf al-ašraf; Subtelny/ Khalidov: »The Curriculum of Islamic Higher Learning in Timurid Iran«, 210–36; Mervin: »La quête du savoir«; zur Schia allg. s. den Beitrag von Rainer Brunner in diesem Band.
Das »Goldene Zeitalter«: die islamische Zivilisation als Wissensgesellschaft
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Jahrhundert vor allem im Jemen verwurzelt sind, ist es wichtig, dass ihr religiöser und politischer Führer, der imām und »Befehlshaber der Gläubigen« (amīr al-muʾminīn) herausragende intellektuelle und ethische Qualifikationen besitzt. Dazu zählen eine solide religiöse Bildung, ein hohes Maß an Frömmigkeit und Moral, physische Integrität und Mut ebenso wie die Fähigkeit zum iǧtihād, der »eigenständigen Rechtsfindung.«23 Für die ebenfalls schiitischen Ismāʿīliten wiederum stellen Wissen und Weisheit Geschenke Gottes dar, die der Menschheit durch die Propheten geoffenbart wurden. Die sechs Propheten, die nach der ismāʿīlitischen Doktrin göttliches Recht (šarīʿa) überbrachten – Adam, Noah, Abraham, Moses, Jesus und Muḥammad – sind diejenigen, welche der großen Mehrheit der Menschheit die »äußere (ẓāhir) Bedeutung« der Offenbarung übermittelten, während deren esoterischer, »innerer (bāṭin) Sinn« durch autorisierte Repräsentanten nur einer kleinen Elite bekannt wird. Mit Blick auf die Mission Muḥammads gelten den Ismāʿīliten Imāme sowie im weiteren deren Sendboten und Prediger (Sing. dāʿī) als die wichtigsten Lehrer der esoterischen Bedeutung göttlich geoffenbarten Rechts; sie sind die den Menschen zugänglichen Stifter von Wissen und Weisheit – ein Charakteristikum, das verdeutlicht, in welch hohem Maße die Aneignung von (religiösem) Wissen zum Kern der ismāʿīlitischen Identität gehört.24 Die sich auf eine eigene (also nicht-sunnitische und nicht-schiitische) Rechtsschule berufenden Ibāḍiten schließlich, deren Geschichte bis in die Frühzeit des Islams zurückreicht und die heute vor allem in Oman und Teilen Nordafrikas beheimatet sind, unternahmen als erste den bemerkenswerten Schritt, Wissen nicht nur einer Elite, sondern weiten Kreisen der Bevölkerung zugänglich zu machen. Ihr universalistisches Wissensverständnis führte dazu, dass sie den Bemühungen um Bildung zur Verbreitung ihrer Doktrin den Vorrang vor dem Einsatz militärischer Mittel, dem sog. »Heiligen Krieg«, gaben.25 Ab dem elften Jahrhundert, als den Ibāḍiten bewusst wurde, dass sie keinen eigenen Staat gründen konnten, entwickelten sie ihre sozialen und erzieherischen Strukturen in einer Weise, die sie vor der Assimilation durch andere Gemeinden schützen sollte. Eine Ratsversammlung von besonders »frommen, ihr Leben der Religion zuwendenden Männern« (azzāba) sicherte dabei nicht nur ihre soziale Unabhängigkeit, sondern sorgte sich auch um ihren Bildungsstand, ihre ethischen Werte und ihre spirituelle Reinheit.26
3.5 Humanistischer Anspruch von Bildung und Ethik im Islam: der Begriff des adab Ein zentraler Begriff, der die humanistischen Inhalte und Ziele von Bildung und Ethik im klassischen Islam repräsentiert, ist der arabische Ausdruck adab. Dieses Wort hatte im vorislamischen Arabien vor allem die Normen des korrekten Verhaltens umfasst 23 Haykel: Revival and Reform in Islam, 7. 24 Halm: The Fatimids, 17–22, 28f. 25 Schwartz: Die Anfänge der Ibaditen in Nordafrika, 66, 72–74, 95; siehe weiterhin Ḫulaifāt (Khleifat): an-Nuẓum al-iǧtimāʿīya wa-t-tarbawīya ʿinda l-Ibāḍīya, 91–94. 26 Ḥiǧāzī, Taṭawwur al-fikr at-tarbawī al-ibāḍī.
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und erfuhr in den ersten Jahrhunderten der islamischen Kultur eine beträchtliche Bedeutungserweiterung. Mit dem Aufkommen des Islams und dann vor allem zwischen dem neunten und dem elften Jahrhundert bedeutet adab intellektuelle Bildung und moralische Lebensführung im besten Wortsinne. Der Begriff bezieht sich jetzt auch auf die Fähigkeiten und Kenntnisse, die für bestimme Berufe nötig sind, auf das gute Benehmen und die gute Erziehung (der Kinder), auf einwandfreies moralisches Verhalten, höflichen Umgang und kultiviertes Auftreten.27 Spätestens ab dem neunten Jahrhundert steht der Begriff adab dann vor allem für die wichtige Kategorie von Texten in arabischer Sprache, deren doppelter Anspruch, die Leser zu unterweisen und zu unterhalten, in dem deutschen Begriff »schöngeistige Literatur« eine passende Entsprechung findet. Literarische Texte in arabischer, persischer und türkischer Sprache mit einem vordergründig didaktischen Anliegen stellen die sogenannten islamischen »Fürstenspiegel« dar, d. h. Bücher zu den ādāb al-mulūk, »den richtigen Verhaltensregeln der Könige [und Prinzen]«.28
3.6 Leuchttürme des Wissens: individuelle Gelehrsamkeit und kollektive Bildung Die vielfältigen Entwicklungen auf den verschiedenen Gebieten der Bildung und Ethik sollen im Folgenden anhand einiger für das weite Spektrum der mittelalterlichen islamischen Gelehrsamkeit repräsentativer Vertreter veranschaulicht werden. Auf den Gebieten der Geschichtsschreibung und der Koranexegese ragt vor allem Muḥammad b. Ǧarīr aṭ-Ṭabarī (st. 923) heraus. Er verfasste mit seinem monumentalen Ǧāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl āy alQurʾān (»Die umfassende Sammlung zur Erläuterung der Interpretation der Verse des Korans«) einen der bis heute am höchsten geachteten Korankommentare.29 Doch auch sein vielbändiges Geschichtswerk Taʾrīḫ ar-rusul wa-l-mulūk (»Die Geschichte der Propheten und Könige«), von dem mittlerweile eine vollständige englische Übersetzung vorliegt, besitzt zusätzlich zu seiner prinzipiellen Bedeutung für die historische und religiöse Bildung im Islam eine dezidiert politisch-ethische Dimension. Diese zeigt sich nicht zuletzt darin, dass der Autor die Quellen für imperiale Stärke und Verfall vor dem Hintergrund der schwindenden Macht der Abbasiden interpretiert und feststellt, dass dem islamischen Ge27 Lapidus: »Knowledge, Virtue, and Action«, 39–61. Zur klassischen arabischen Weisheitsliteratur, siehe Gutas: »Classical Arabic Wisdom Literature«, 49–86. 28 Besonders bekannte Werke dieses Genres sind: die von Ibn al-Muqaffaʿ (st. um 756) aus dem Mittelpersischen ins Arabische übersetzte und bearbeitete Sammlung von Tierfabeln mit dem Titel Kalīla und Dimna sowie das ihm zugeschrieben Kitāb al-adab as-saġīr (»Das kleine Buch über gutes Benehmen«); s. dazu den Beitrag von Beatrice Gründler, Verena Klemm und Barbara Winckler in diesem Band. Desweiteren sind zu nennen die Naṣīḥat al-mulūk Werke, d. h. Bücher mit dem Titel »Ratschlag für Könige« von dem bereits genannten Abū Ḥāmid al-Ġazālī sowie von Abū l-Ḥasan al-Māwardī (st. 1058), ʿAbd al-Malik ibn Muḥammad aṯ-Ṯaʿālibī (st. 1038) und Sibṭ Ibn al-Ǧauzī (st. 1257). Vgl. Black: The History, 108–14; Bosworth in Young (Hrsg.): Religion, Learning and Science, 165–67 (siehe hier auch zur Frage Authentizität des berühmten, al-Ġazālī zugeschriebenen Werkes); und Zakeri: Persian Wisdom in Arabic Garb. 29 Burton in Young (Hrsg.): Religion, Learning and Science, 46.
Das »Goldene Zeitalter«: die islamische Zivilisation als Wissensgesellschaft
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meinwesen immer dann höchste Gefahr drohe, wenn der Staat Probleme in dogmatischen Belangen nicht rechtzeitig erkenne und löse und insofern in seinem Festhalten am Monotheismus nachlasse. Der Kern von aṭ-Ṭabarīs Argumentation ist dabei, dass die »Ethik des Monotheismus« gerechte Regierungen und Steuern nicht nur fördere, sondern garantiere und damit den Erfolg der islamischen Gesellschaftsstruktur grundsätzlich sichere. Der Polytheismus hingegen öffne selbstgerechten Autoritäten, Korruption und allgemeinem Verfall des Gemeinwesens Tür und Tor. Aus diesen Gründen habe der Polytheismus in der Vergangenheit in politische Unruhen und den Niedergang ganzer Großreiche gemündet.30 Unter diesen Gesichtspunkten erweist sich aṭ-Ṭabarīs Geschichtswerk als ein opus magnum mit einem bemerkenswerten geschichtsphilosophischen und (in seiner analytischen Darstellung) weitblickenden didaktisch-ethischen Anspruch. Zahlreiche mittelalterliche Gelehrte haben sich in Werken unterschiedlicher Genres ausdrücklich mit Fragen der Ethik und Moral beschäftigt. Der Philosoph und Historiker Abū ʿAlī Aḥmad b. Muḥammad b. Yaʿqūb, besser bekannt als Miskawaih (st. 1030), gilt gemeinhin als der »Vater der islamischen Ethik«. Sein Hauptwerk zur Ethik trägt den Titel Tahḏīb al-aḫlāq (»Die Läuterung des Charakters«) und stellt den wohl umfassendsten Entwurf einer philosophisch begründeten Ethik in der islamischen Geistesgeschichte dar. Miskawaih betrachtet die Charakterbildung als eine »Kunstfertigkeit« (ṣināʿa), die erlernt werden kann und durch die es dem Menschen möglich wird, ohne besondere Anstrengung in allen Lebenslagen gut zu handeln. Der menschliche Charakter ist durch Disziplin, Ermahnung, Belohnung und Anleitung kultivierbar, doch kann dies nur im Rahmen seiner natürlichen Grundveranlagung erfolgen. In ausdrücklichem Anschluss an die antike Philosophie und an seinen Bagdader Lehrer Yaḥyā b. ʿAdī (st. 974), einen christlich-arabischen Gelehrten, ist auch für Miskawaih der Mensch ein von Grund auf soziales Wesen, das notwendigerweise seiner Mitmenschen bedarf. Nur im freundlichen Miteinander erreiche das Individuum seine wirkliche Bestimmung, die »Glückseligkeit« (saʿāda), allein auf diese Weise könne er Tugenden wie Großzügigkeit, Mäßigung und Gerechtigkeit voll entwickeln.31 Ebenso umfänglich haben sich später der bereits erwähnte Theologe und Mystiker Abū Ḥāmid al-Ġazālī sowie der bekannte Religions- und Rechtsgelehrte Šams adDīn Ibn Qaiyim al-Ǧauzīya (st. 1350), letzterer vor allem in seinem Werk al-Fawāʾid (»Nützliche Lehren [zu Frömmigkeit, Moral und Weisheit]«), zu Grundfragen der islamischen Ethik geäußert.32 Im Kontext der »Hauptziele des göttlich geoffenbarten Rechts« (maqāṣid aš-šarīa) wiederum definierte Abū Isḥāq aš-Šāṭibī (st. 1388) richtungweisend und bis in die Gegenwart aktuelle Grundsätze der islamischen Sozialethik.33
30 Janin, The Pursuit of Learning, 62. 31 Yaḥyā ibn ʿAdī/Griffith: [Tahḏīb al-aḫlāq] The Reformation of Morals, a parallel Arabic-English text; Miskawaih: Tahḏīb al-aḫlāq; engl. Übers. Zurayk: The Refinement of Character. 32 Siehe insbesondere Bauer: Islamische Ethik; und Ibn Qaiyim al-Ǧauzīya: Al-Fawāʾid: A Collection of Wise Sayings, 81ff. (zu Erkenntnis, Liebe, Frömmigkeit), 123ff. (zu Sünden), 132ff. (zum Gottvertrauen), 177ff. (zur Irrleitung), 220ff. (zu Rechtleitung und Barmherzigkeit). Siehe darüber hinaus Abul Quasem: The Ethics of al-Ghazālī; Abdul Samad: Al-Ghāzalī on administrative ethics; Ali: Sexual ethics and Islam; Donaldson: Studies in Muslim Ethics; sowie Stelzer: »Ethics«, 161–79. 33 aš-Šāṭibī: The Reconcilitation, bes. 10–19, 26–33, 103f.; siehe auch Sachedina: Islamic Biomedical Ethics 8–16, 30–45, 180–183.
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Bildung und Ethik im Islam
Pädagogik in klassischer und nachklassischer Zeit: Intellekt und Inspiration
Zwischen dem achten und sechzehnten Jahrhundert entwickelte sich ein umfassendes Schrifttum in arabischer Sprache, das sich mehr oder weniger explizit mit Fragen der Pädagogik und Didaktik befasste. Das früheste arabische Handbuch für Lehrer verfasste im neunten Jahrhundert der schon oben genannte tunesische Rechtsgelehrte Muḥammad Ibn Saḥnūn. Unter dem Titel Ādāb al-muʿallimīn (»Die Verhaltensregeln für Lehrer«) vermittelt diese Schrift zahlreiche konkrete Ratschläge für Lehrer an Grundschulen, die diverse, vor allem juristische und praktische Aspekte des schulischen Alltags betreffen: Anstellung und Gehalt des Lehrers, die Organisation des Unterrichts, die Arbeit mit seinen Schülern im Unterricht, Aufsichtspflichten und Verantwortlichkeiten für die Schüler in der Schule und auf dem Schulweg, gerechte Behandlung von Schülern, die Zulässigkeit von Strafen, die Ausstattung der Klassenräume und Unterrichtsmaterialien sowie schließlich Prüfungen und Graduierung.34 Der philosophische Theologe und Literat ʿAmr b. Baḥr al-Ǧāḥiẓ (st. 868) hob in seinem Kitāb al-muʿallimīn (»Das Buch der Lehrer«) u. a. die Notwendigkeit hervor, dass Lehrer die Schüler der höheren Klassen mit den Techniken der logischen Argumentation und Deduktion sowie mit einem guten schriftlichen Ausdruck vertraut machen. Das Lesen von Büchern wird ausdrücklich empfohlen, da es das kreative Denken fördere.35 Der Philosoph und Logiker Abū Naṣr al-Fārābī (st. 950) wiederum plädierte in seinem Werk Iḥṣāʾ al-ʿulūm (»Die Aufzählungen der Wissenschaften«) für einen Studienablauf, der die »einheimischen« (d. h. religiös-islamischen Fächer, die auf dem Koran und seiner Interpretation beruhten) ebenso wie die »fremden« Wissenschaften (d. h. die auf der griechischen Philosophie basierenden Fächer und weitere säkulare Disziplinen) umfasste. Die Idee eines integrativen Curriculums hatte einen bestimmenden Einfluss auf das Studium der Philosophen (und Mediziner), die dieser Auffassung in ihren informellen Studien- und Diskussionszirkeln weitgehend folgten. Als fester Bestandteil des formalisierten höheren Lehrbetriebes im Islam konnte sich diese Vorstellung aber nicht durchsetzen.36 Der Universalgelehrte Abū ʿAlī Ibn Sīnā (Avicenna, st. 1037) widmete sich vor allem der Kindererziehung. In seinem großen al-Qānūn fī ṭ-ṭibb (»Kanon der Medizin«) sprach er sich deutlich dafür aus, den Lernprozess insbesondere im frühen Kindesalter als eine angenehme und heitere Erfahrung zu gestalten. Darüber hinaus stellte er fest, dass ein stabiles emotionales Umfeld sowie die angemessene Berücksichtigung und der Schutz der physischen und psychischen Entwicklung des Kindes für den Lernerfolg und die geistige Entwicklung des Kindes insgesamt essenziell seien.37 Es gibt gute Gründe, in Abū Ḥāmid al-Ġazālī den wichtigsten »Architekten« des klassischen islamischen Bildungsdenkens zu sehen. Al-Ġazālī akzeptierte die griechische Logik 34 35 36 37
Pädagogik in klassischer und nachklassischer Zeit: Intellekt und Inspiration
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als ein neutrales Mittel des Lernens und empfahl deshalb auch den Studierenden der religionsbezogenen Fächer, einschließlich der Theologie und Rechtswissenschaft, sich damit vertraut zu machen und sie zu nutzen. Al-Ġazālīs reiche Lehrerfahrung spiegelt sich in zahlreichen Abhandlungen zur Rolle des Wissens sowie des Lehrens und Lernens wider. In seinem vielleicht wichtigsten Buch Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn (»Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften«) etwa rät al-Ġazālī Lernenden, zunächst ihre Seele »von schlechter Moral und tadelnswerten Eigenschaften zu reinigen«, um sich in einen für die Wissensaufnahme würdigen Zustand zu versetzen. Studierende sollten sich voll und ganz auf das Studium konzentrieren, nicht arrogant gegenüber einem Fach oder dem Lehrer sein, zunächst eine bestimmte Lehrmeinung studieren, bevor sie sich der Vielfalt wissenschaftlicher Meinungen öffnen, erst solides Wissen in einer Disziplin erlangen, ehe sie sich einer weiteren zuwenden und schließlich das Studium gut strukturieren und mit den wichtigsten Wissenszweigen zuerst beginnen. Sie sollten erlernen, den Nutzen der Wissenschaften und die Stärke ihrer Argumente zu beurteilen und nach spiritueller Vervollkommnung anstatt nach weltlicher Anerkennung und Vermögen streben. Den Lehrern wiederum empfiehlt al-Ġazālī, ihren Schülern gegenüber mitfühlend zu sein und sie »wie ihre leiblichen Kinder zu behandeln.« Sie sollten dem Vorbild des Propheten Muḥammad folgend unentgeltlich unterrichten, den Lernenden keinen guten Rat vorenthalten, sicherstellen, dass jeder Lernende auf dem ihm angemessenen intellektuellen Niveau arbeitet, und die Kinder und Jugendlichen durch freundliche Hinweise motivieren, statt durch direkte Kritik zu entmutigen. Lehrer sollten Lernerfolge und Freude am Lernen ermöglichen und Schüler und Studenten mit Lernschwierigkeiten ihren jeweiligen intellektuellen Fähigkeiten entsprechend unterrichten. Zu guter Letzt sei es wichtig, dass Lehrer die hohen ethischen Ansprüche selbst lebten, die sie im Unterricht vermitteln.38 Burhān ad-Dīn az-Zarnūǧī (st. erste Hälfte 13. Jh.) gab in seinem weitverbreiteten Werk Taʿlīm al-mutaʿallim ṭarīq at-taʿallum (»Die Unterweisung der Lernenden in der Methode des Lernens«) detaillierte Ratschläge zum Studium der Theologie, unter anderem zu den Lerninhalten, den Techniken des Lernens (bei denen das Wiederholen und Memorieren einen zentralen Platz einnehmen) sowie zum respektvollen Umgang von Lehrern und Lernenden miteinander. Wie viele seiner Zeitgenossen und auch spätere Gelehrte betonte er die Autorität von bereits gesichertem Wissen.39 Abū l-Walīd Muḥammad Ibn Rušd (Averroes, st. 1198), ein spanisch-arabischer Philosoph und Arzt, führte mit seinen Aristoteles-Kommentaren die rationalistische Richtung in der islamischen Philosophie zur Blüte. Der Kern seines Bildungsgedankens ist dabei, dass die Philosophie eine religiöse Pflicht für die kleine Schicht der Intellektuellen sei, während die Religion die breite Masse der Menschen in Wahrheiten instruiere. Doch vor allem in der Logik sah Ibn Rušd den Weg, auf dem der Mensch kraft seines Intellekts zur Erkenntnis gelangen kann. Diese und weitere Aussagen zu Bil38 Ibid., 376–80 zu al-Ġazālīs Katalog pädagogischer Ratschläge für Lernende (in 10 Punkten) und Lehrer (in acht Punkten); siehe auch Marmura: »Ghazali’s Attitude to the Secular Sciences«, 100– 11. 39 Az-Zarnūǧī: Kitāb taʿlīm al-mutaʿallim, 65 (engl. Übers. von Abel/Grunebaum: Instruction of the Student.)
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dungstheorien und zur Bedeutung des Verstandes im Bildungsprozess sind in Ibn Rušds berühmter Schrift Faṣl al-maqāl (»Die entscheidende Abhandlung«) enthalten.40 Der Historiker ʿAbd ar-Raḥmān b. Muḥammad Ibn Ḫaldūn (st. 1406) hat in seiner berühmten Muqaddima (»Prolegomena«) drei Arten theoretischen und praktischen Wissens unterschieden: a) das Wissen von den Essenzen, welches dazu führe, die Wirklichkeit hinter Phänomenen zu verstehen; b) das Wissen von der natürlichen Welt und der menschlichen Kultur, das die Menschen befähige, ihr Leben zu ordnen und die Welt, in der sie lebten, zu verstehen und zu kontrollieren; und schließlich c) das moralische Wissen, welches sich auf die menschliche Fähigkeit zu denken und Erfahrungen zu sammeln, beziehe. In diesem Zusammenhang betonte Ibn Ḫaldūn die Bedeutung von Erfahrung, sozialer Kompetenz und Kooperationsfähigkeit. An anderer Stelle geht er aber auch auf Wissen von den Naturphänomenen ein, welches notwendig sei, um auf die natürliche Umgebung Einfluss zu nehmen. Diese Kenntnis kontrastiert er mit ʿilm al-ʿumrān, dem »Wissen von der Zivilisation«, das für ihn, den man durchaus einen »Pionier der Soziologie« nennen darf, von besonderem Interesse ist. Darüber hinaus bietet Ibn Ḫaldūn umfassende Informationen zu verschiedenen Berufen bzw. Handwerken und wie diese zu erlernen bzw. auszuführen sind, zu den diversen Arten von Wissen und den Methoden des Unterrichtens sowie den verschiedenen Wissenschaften, inklusive der intellektuellen und literarischen Disziplinen, bis hin zu Traumdeutung und Magie.41 Mullā Ṣadrā (st. 1640), ein bedeutender zwölferschiitischer Denker und Pädagoge aus Schiraz, bestand hingegen darauf, dass wissenschaftliches Wissen mit intuitivem bzw. spirituellem Wissen ausgeglichen werden müsse. In diesem Sinne definierte er »Wissen« auch als eine Art »Modus der Existenz« (naḥw al-wuǧūd, wörtlich »Weg zum Sein«) und betonte den jenseitigen Aspekt des Lernens – eine Sichtweise, die bedeutenden Einfluss auf die Theorie und Praxis des religiösen Lernens späterer Generationen hatte.42 Im Gegensatz dazu plädierten andere philosophisch orientierte zwölferschiitische Kleriker wie ʿAlī al-Karakī (st. 1534) und Muḥammad Bāqir Sabzavārī (st. 1679) dafür, dass die Gebildeten in der Gesellschaft eine weniger weltfremde Haltung einnehmen sollten. Sie forderten die Religionsgelehrten ausdrücklich dazu auf, sich sozial zu engagieren und mit den politisch Mächtigen Umgang zu pflegen, um diese zu bilden und zu erziehen.43 Doch während die klassischen muslimischen 40 Günther: Averroes and Thomas Aquinas on Education, 4–10. Der vollständige Titel lautet Faṣl al-maqāl wa-taqrīr mā baina š-šarīʿa wa-l-ḥikma min al-ittiṣāl (»Die entscheidende Abhandlung und die Feststellung dessen, was das göttlich geoffenbarte Recht und die Philosophie verbindet«); eine englische Übersetzung besorgte G. Hourani: On the Harmony of Religion and Philosophy; Übertragungen ins Deutsche erfolgten durch F. Schupp: Die entscheidende Abhandlung (zweisprachige Ausgabe mit historischer Einführung) sowie F. Griffel: Maßgebliche Abhandlung (mit wertvollen Ausführungen zur Rezeptionsgeschichte des Textes bis ins 20. Jahrhundert). 41 Black: The History, 165–82 (»Ibn Khaldun: The Science of Civilizations and the Governance of Islam«), insbes. 166f. Ibn Ḫaldūn: The Muqaddimah (englische Übersetzung von F. Rosenthal), insbes. 2:309– 463 sowie Bd. 3. Ibn Ḫaldūn entwickelte ein soziologisches Modell, in dem er u. a. das gesellschaftliche Zusammenleben in der Unterscheidung von nomadischen und sesshaften Lebensweisen analysierte. 42 Kalin: Knowledge in Later Islamic Philosophy, xv, 118–35; Rustom: The Triumph of Mercy, 55f. 43 Moazzen: Shiʿite Higher Learning, 42f. (zu al-Karakī) und 241–43 (zu Sabzavārī).
Die Zeit der Erwachens: Aufklärung, Druckerpresse und Reform
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Denker vor allem den Logos und den Geist innovativer Forschung zusammen mit dem Streben nach Perfektion und menschlicher Exzellenz betonten, neigten Gelehrte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit eher dazu, den Schwerpunkt auf die inhaltliche Unantastbarkeit des einmal etablierten Wissens sowie dessen formell korrekte Überlieferung zu legen.44 Die meisten Texte des vormodernen islamischen Schrifttums beschäftigen sich ausschließlich mit der Bildung männlicher Schüler. Vereinzelten Aussagen vor allem in den historischen und biographischen Quellen ist allerdings zu entnehmen, dass Mädchen und Frauen nicht vollständig vom elementaren und höheren Unterricht ausgeschlossen wurden bzw. dass sich ihre Ausbildung nicht ausschließlich auf die moralische Erziehung innerhalb der Familie beschränkte. Ferner gibt es Belege in den arabischen Quellen, wonach Frauen in den mittelalterlichen muslimischen Gesellschaften aufgrund ihres Anteils beim Studium des Korans und der Vermittlung prophetischer Traditionen sowie ihrer kunstvollen Poesie, ihrer Talente als Kopistinnen, Musikerinnen und Sängerinnen sowie nicht zuletzt als Mystikerinnen und spirituelle Führerinnen einen nicht unbedeutenden Platz im gesellschaftlichen Bildungsprozess des Islams der Vormoderne innehatten.45
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Die Zeit der Erwachens: Aufklärung, Druckerpresse und Reform
Schon im 18., besonders aber seit dem 19. Jahrhundert wirken sich die Ideen von Reformbewegungen und säkularisierenden Nationalisten auch auf den Gebieten der Bildung und Ethik aus. Mit der Präsenz europäischer Kolonialmächte im Nahen Osten und in Südostasien begann zudem eine Ära des Ideenaustausches zwischen der muslimischen Welt und dem Westen, der einen weitreichenden Einfluss auf die islamischen Gesellschaften hatte.46 Die intellektuelle Reformbewegung der nahḍa (»Erwachen«) setzte sich für wissenschaftlichen Fortschritt und eine offene Denkweise ein, propagierte aber gleichzeitig die Beibehaltung der traditionellen Wertvorstellungen des Islams und die Wahrung der muslimischen Identität. Dadurch konnten in der arabischen Welt sichtbare Fortschritte bei der Verknüpfung von traditionell-religiösen mit modernen Wissensgebieten erzielt werden. Im Gegenzug dazu vertrat die Salafīya eine prinzipiell antikolonialistische, in ihrer geistigen Orientierung jedoch 44 Zum Streben nach Perfektion bzw. der Vorstellung vom insān kāmil (dem »vollkommenen Menschen«) im Islam, siehe Günther: »The Principles of Instruction«, 16–19; ders. »Der Lebende, Sohn des Wachen«, 271f.; sowie Biesterfeldt: »The Perfect Man«, 101–13. Vgl. weiterführend Rosenthal: The Techniques and Approaches of Muslim Scholarship. 45 Geissinger: Gendering the Classical Tradition, 1–18; dies.: »The Portrayal of Hajj«, 153–79. Zu den Möglichkeiten und Grenzen weiblicher Bildung im Islam siehe auch Marín/Deguilhem (Hrsg.): Writing the Feminine; Walther: Die Frau im Islam, 77–112; Ende: »Sollen Frauen schreiben lernen?«; Robinson: »Education«, 526–29; und Berkey: The Transmission of Knowledge in Medieval Cairo, 161–81. 46 Vgl. besonders Hourani: Arabic Thought in the Liberal Age; Buheiry: Intellectual Life in the Arab East.
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(ultra-)konservative Strömung, welche die strikte Rückbesinnung auf die »Altvorderen« (salaf »Vorfahren«) und auf die »Fundamente« des Islams als den alleinigen Weg für politische Veränderungen und gesellschaftliche Entwicklung ansah.47 Der Ideenaustausch der muslimischen Welt mit dem Westen wurde vor allem durch die Bildungsaktivitäten christlicher Missionare und die Einführung der Druckerpresse wesentlich gefördert. Zentren hierfür waren seit den 1780er Jahren Kalkutta (mit Publikationen auf Arabisch, Persisch und Urdu), ebenfalls im 18. Jahrhundert Teheran, Täbriz (auf Persisch) und Istanbul (auf Türkisch) sowie im 19. Jahrhundert Beirut und Kairo (auf Arabisch). Diese Revolution im Kommunikations- und Informationsbereich ermöglichte das Erscheinen zahlreicher bedeutsamer Bildungszeitschriften. Dazu zählen vor allem alMuqtaṭaf (»Die Auslese«), eine 1876 in Beirut von den syro-libanesischen Protestanten Yaʿqūb Ṣarrūf und Fāris Nimr gegründete und von 1885 bis 1952 in Kairo weitergeführte Monatszeitschrift; des Weiteren al-Manār (»Der Leuchtturm«), 1898–1935 in Kairo, ins Leben gerufen von Muḥammad Rašīd Riḍā; sowie al-ʿIrfān (»Die Erkenntnis«), 1909–70er Jahre in Sidon/Libanon, initiiert von Aḥmad ʿĀrif al-Zain, eine schiitische Publikation.48 Die Reformanstrengungen einzelner Herrscher und Intellektueller hatten unter anderem zum Ziel, das allgemeine Bildungsniveau zu heben. In Ägypten geschah dies durch Pascha Muḥammad ʿAlī (st. 1849), im Osmanischen Reich durch Sultan ʿAbdulmaǧīd I. (st. 1861). Saiyid Aḥmad Ḫān (st. 1898), der Vater des islamischen Modernismus auf dem indischen Subkontinent, etablierte im Jahr 1878 nach dem Vorbild der Universitäten in Oxford und Cambridge das Mohammedan Anglo-Oriental College in ʿAlīgaṛh, welches 1920 in den Rang einer Universität erhoben wurde. 1886 organsierte er die All-India Muslim Educational Conference mit jährlichen Treffen in verschiedenen Städten. In der Türkei verwirklichte Mustafa Kemal Atatürk (st. 1938), der Begründer der türkischen Republik, die Idee einer weltlichen Nation in einem muslimischen Land und säkularisierte im Zuge dessen auch das Schulsystem des Landes. Der tunesische Reformer Ḫair ad-Dīn at-Tūnisī (st. 1890) rief die Araber und Muslime dazu auf, den Fortschritt des Westens zum Vorbild zu nehmen.49 Muḥammad ʿAbduh (st. 1905), der Begründer des ägyptischen Modernismus, wiederum forderte eine Neuformulierung islamischer Doktrinen angesichts modernen Gedankenguts. Für Freiheitsrechte von Frauen setzte sich in Ägypten vor allem Qāsim Amīn 47 Vgl. dazu den Beitrag von Guido Steinberg in diesem Band. 48 Wichtig sind ebenfalls: Rauḍat al-madāris al-miṣrīya (»Der nutzbringende Garten der ägyptischen Schulen«), 1870–78 in Kairo herausgegeben von Rifāʿa Rāfiʿ aṭ-Ṭahṭāwī und seinem Sohn ʿAlī; alHilāl (»Der Halbmond«), gegründet von Ǧurǧī Zaidān, einem bekannten syrischen Schriftsteller griechisch-orthodoxer Herkunft und Schlüsselfigur in der Konstruktion eines (romantisierenden) arabischen Geschichtsbildes; sowie Maǧallat al-Islām (»Zeitschrift des Islams«), 1894–1912 in Kairo herausgegeben von Aḥmad aš-Šāḏilī. Zur Rolle des frühen arabischen Zeitungs- und Zeitschriftenwesens in den gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und politisch-ethischen Debatten im arabischen Osten, siehe im weiteren Glass, Der Muqtaṭaf und seine Öffentlichkeit; speziell zu al-ʿIrfān vgl. Naef: »Aufklärung«; zu al-Manār s. Ryad: »A Printed Muslim ›Lighthouse‹«. 49 Ziyād: al-Luġa as-siyāsīya ʿinda Ḫair ad-Dīn at-Tūnisī, 139–58; sowie Chejne: The Arabic Language, 89. Zu Reformbewegungen in der islamischen Welt s. a. den Beitrag von Guido Steinberg in diesem Band.
Bildung und Politik in der Moderne: die Rolle der ʿulama¯ʾ
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(st. 1908) ein. Bildungsreformen wurden in Tunesien von Muḥammad Bairam (st. 1889), im Irak vor allem von Maḥmūd Šukrī al-Ālūsī (st. 1924) und in Algerien von Ibn Bādīs (st. 1940) initiiert. Der Ägypter Ḥasan al-Bannā (st. 1949), Lehrer, politischer Aktivist und Vater der 1928 gegründeten sunnitisch-konservativen Muslimbruderschaft, machte sich in jungen Jahren die traditionelle Vorstellung zu eigen, dass »moralische Erziehung« (takwīn al-aḫlāq) eher durch praktisches Training als durch abstrakten Unterricht zu erzielen sei,50 eine Devise, welche für die Bildungsauffassungen der Muslimbrüder besondere Bedeutung erhielt. In seinem Traktat »Aufbruch zum Licht« (Naḥwa annūr) wandte sich al-Bannā 1936 an den ägyptischen König und andere arabische Staatsoberhäupter u. a. mit der Forderung, Verstöße gegen die »islamische Moral« (in seinem besonders konservativen Verständnis) hart zu bestrafen; Literatur, Presse, Film und Musik zu zensieren; die Koedukation von männlichen und weiblichen Studierenden zu unterbinden und für Mädchen bzw. Frauen gesonderte Curricula zu erarbeiten. Auch verlangte al-Bannā, ländliche Elementarschulen den Moscheen anzugliedern, die religiöse Bildung ins Zentrum des Unterrichts an Schulen und Universitäten zu stellen und eine Bildungspolitik zu verfolgen, welche die verschiedenen sozialen und kulturellen Kräfte der Gesellschaft im Sinne von Patriotismus und eines strikten Moralkodex eng zueinander führt.51 Diese Forderungen blieben von den Regierenden jener Zeit ungehört; sie sind aber für bestimmte konservative Kräfte im Islam bis heute Inspiration und Handlungsanleitung. Ganz anders argumentierte Ṭāhā Ḥusain (st. 1973), einer der bedeutendsten ägyptischen Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts und der wohl wichtigste Bildungsreformer des modernen Ägyptens. Als Bildungsminister baute er das ägyptische Bildungssystem aus; u. a. machte er die Bildungsinstitutionen für alle Bürger unentgeltlich zugänglich und ermöglichste auch Frauen den uneingeschränkten Zugang zum Hochschulstudium. Ṭāhā Ḥusains sozial orientierte, progressive Bildungspolitik in den 1960er Jahren fand in dem in der arabischen Welt bis heute viel zitierten Denkspruch, »Bildung ist so nötig wie die Luft, die wir atmen, und das Wasser, das wir trinken; sie ist ein Recht für jeden Bürger« ihren populären Ausdruck.52
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Bildung und Politik in der Moderne: die Rolle der ʿulamāʾ
Im 20. Jahrhundert wurden Bildung und Ethik weitgehend durch die Auseinandersetzungen zwischen säkularen und religiös-orientierten Ideologien und darüber hinaus durch die zunehmende Politisierung der Religion in vielen Teilen der muslimischen Welt geprägt. In Ägypten hatte sich die Situation der ʿulamāʾ nach der Revolution von 1952 radikal geändert, nachdem das Nasser-Regime die religiösen Stiftungen verstaatlichte und 50 Krämer: Hasan al-Banna, 9. 51 Vgl. Bannā: Naḥwa an-nūr, 291–94; and Wendell: Five Tracts, 126–30. 52 Vgl. Ḥusain: Mustaqbal aṯ-ṯaqāfa fī Miṣr, 88.
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Bildung und Ethik im Islam
u. a. dadurch der traditionsreichen Azhar-Universität ihre finanzielle Grundlage entzog. Die Azhar-Reform von 1961 zielte darauf ab, diese religiöse Hochschule und ihre Gelehrten in die, wie es hieß, »moderne Gesellschaft« zu integrieren. Diese Entwicklungen führten dazu, dass neue Fakultäten – u. a. für Medizin, Naturwissenschaften und Fremdsprachen – gegründet wurden, die das traditionell religiös-orientierte Curriculum der Azhar um wichtige säkulare Fachgebiete ergänzten. Auch die Lehrpläne der Fakultäten für Arabische Sprache, Theologie und Islamisches Recht wurden umstrukturiert, wobei die wohl signifikanteste Änderung letztere Fakultät betraf, in der neben dem islamischen Recht (šarīʿa) nun auch nicht-islamisches Recht (qānūn) gelehrt wurde. Diese Reformen führten dazu, dass ein bislang autonomer religiöser Sektor unter staatliche Kontrolle gestellt wurde. Sie bedeuteten de facto die Nationalisierung der Azhar, ihre Transformation von einer religiösen Hochschule zu einer vollwertigen Universität und ihre feste Einbindung in das staatliche Bildungssystem Ägyptens.53 Damit zwang die Regierung die ʿulamāʾ einerseits, sich der politischen Herrschaft zu unterwerfen. Andererseits aber boten die Reformen den religiösen Gelehrten auch neue Möglichkeiten und Instrumente für ihr in den 1970er und 1980er Jahren zunehmend politisches, vielfach jedoch gemäßigt-islamistisch geprägtes Engagement in gesellschaftlichen Belangen. Während diese traditionellorientierten Azhar-Gelehrten bislang außerhalb des Wirkungsbereichs des Staates und seines Apparates wirkten, nahmen einige von ihnen nun – als führende Repräsentanten eines »Staatsislams« – aktiv an den gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen Ägyptens teil und bestimmten diese auch in Fragen der Bildung und Erziehung mit.54 Seit den 1990er Jahren, vor allem aber nach dem Sturz Ḥusnī Mubāraks im Frühjahr 2011, sind zudem Tendenzen zu verzeichnen, welche die Azhar weniger monolithisch erscheinen lassen und eine gewisse Meinungsvielfalt in akademischen und religiösen Belangen begünstigen. Bemerkenswert ist, dass sich die Azhar als eine in der gesamten sunnitischen Welt autoritative Bildungseinrichtung nicht zuletzt in Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 einerseits und die Dynamik des 2010 einsetzenden »Arabischen Frühlings« andererseits ausdrücklich als ein Bollwerk gegen den radikalen bzw. militanten Islam versteht und sich moderierend in den gesellschaftlichen Erneuerungsprozess Ägyptens einzubringen versucht.55 Seit den 1970er Jahren waren die grundsätzlichen Konzeptionen zu Bildung und Ethik im Islam vor allem durch Debatten über die Bedeutung von »Moderne« gekennzeichnet, die oft weniger von akademischen Argumenten getragen, sondern eher von den durch die gesellschaftlichen Umbrüche hervorgerufenen Ängsten und Ressentiments in der Bevölkerung getrieben wurden. Die sozioökonomischen, kulturellen und ökologischen Herausforderungen, die im Zeichen der Globalisierung stark zugenommen haben, führten 53 Zu Einzelheiten dieser Reform bzw. ihrer teilweisen Rücknahmen bereits 1965 siehe Lemke: Maḥāmūd Šaltūt 225–32; im weiteren Skovgaard-Petersen: Defining Islam for the Egyptian State, 184–86. 54 Zeghal, »Religion and Politics in Egypt«, 372-381; zur sozialen Rolle der ʿulamāʾ vgl. auch zudem Marsot, »The Ulama of Cairo in the Eighteenth and Nineteenth Centuries«, 149–65. 55 Siehe u. a. eine offizielle Verlautbarung des Großscheichs der Azhar, Aḥmad aṭ-Ṭaiyib, zu religiösen und gesellschaftlichen Grundrechten, vgl. Al-Ahrām (21.6.2011, Jg. 135, Nr. 45887), S. 1; der Text ist veröffentlicht auf der Website der Dār al-Iftāʾ al-Miṣrīya (http://www.dar-alifta.org/Viewstatement.aspx?ID=557&text; aufgerufen am 24.9.2012).
Das 20. und 21. Jahrhundert: Neu-Interpretation von Tradition im Kontext der Globalisierung
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in vielen Teilen der muslimischen Welt zu einem deutlichen Bedeutungszuwachs der konservativen, d. h. streng religiös-orientierten islamischen Bildungsinstitutionen (z. B. den Medresen). Diese institutionalisierte, dezidiert religiös-islamische höhere Bildung erfolgt heute vor allem in traditionellen Zentren muslimischer Gelehrsamkeit wie Kairo, Mekka, Medina, Naǧaf, Qom und Hyderabad, um nur einige zu nennen. Neue internationale islamische Universitäten wurden darüber hinaus 1980 in Islamabad und 1983 in Kuala Lumpur gegründet. Säkulare Curricula wiederum offerieren international akkreditierte Universitäten wie die Amerikanischen Universitäten in Beirut, Kairo und Sharjah sowie die meisten staatlichen Universitäten in den Hauptstädten islamischer Länder.
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Das 20. und 21. Jahrhundert: Neu-Interpretation von Tradition im Kontext der Globalisierung
Die in den letzten Jahrzehnten in arabischer Sprache erschienene Primär- und Sekundärliteratur zu Fragen der islamischen Bildung und Ethik weist eine große Vielfalt von methodischen Ansätzen und inhaltlichen Tendenzen auf. Das Spektrum reicht von einem positivistischen Verhaftetsein in der Tradition bis hin zu innovativen, von modernistischen und post-modernistischen Gedanken getragenen Vorstellungen zu Bildung und Ethik. Nur einige besonders wichtige Intellektuelle können hier genannt werden. Sāṭiʿ al-Ḥuṣrī (st. 1968), der »Vater der irakischen Bildung«, legte im Irak die Grundlagen für ein zentralisiertes Bildungssystem und formulierte ein Curriculum, welches auf einem säkularen Verständnis des arabischen Nationalismus beruhte.56 Muḥammad ʿAbd Allāh Darrāz (st. 1958), ein ägyptischer Azhar-Gelehrter, propagierte eine universelle und kohärente Konzeption von ethischen Grundsätzen auf der Grundlage des Korans und setzte sich für eine sowohl theoretisch untermauerte als auch praktikable, d. h. »der Ethik verpflichtete islamische Gesetzgebung« (aš-šarīʿa alaḫlāqīya), ein.57 Zakī Naǧīb Maḥmūd (st. 1993), Pionier des modernen philosophischen Denkens in Ägypten, verstand die »arabische Tradition« im Sinne des klassischen adab als die Synthese ethisch-untermauerter Handlungsmuster, die es unter Anwendung von Logik und Positivismus sowie der Methoden wissenschaftlicher Interpretation ermöglicht, in einer modernen Welt nach dem Vorbild der Vorfahren zu leben.58 Der marokkanische Postmodernist Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirīs (st. 2010), einer der wohl wichtigsten Intellektuellen der zeitgenössischen arabischen Welt,59 wie auch der ägyptische Philosoph Ḥasan Ḥa-nafī (geb. 1935), vertreten die für die islamische Bildung und Ethik wichtige Theorie von der Wiederentdeckung einer »verschütteten
56 Kenny: »Sāṭiʿ al-Ḥuṣrī’s views on Arab nationalism«, 231–56; Cleveland: The Making of an Arab Nationalist, 61–72; Efrati: »Competing Narratives«, 449. 57 Draz: La morale du Koran; ders.: The Moral World of the Qurʾan. 58 Maḥmūd: Taǧdīd al-fikr al-ʿarabī. 59 Vgl. al-Jabri: Kritik der arabischen Vernunft; und die Kritik von al-Ǧābirīs Ansichten durch Ṭarābīšī: Naẓarīyat al-ʿaql; siehe dazu Kassab: Contemporary Arab Thought, 162.
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Bildung und Ethik im Islam
arabischen Identität«.60 Nicht zuletzt sind hier der in Saudi-Arabien geborene und in New York wirkende Talal Asad (geb. 1933; die »Anthropologie des Säkularismus«)61 sowie der aus Syrien stammende Aziz Azmeh (geb. 1947) zu nennen, welche die aktuellen Debatten zum Spannungsfeld von Religion und Säkularität im islamischen Kontext mit neuen Gedankenmodellen bereichern. Asad merkt beispielsweise an, dass »die Religion, sobald sie zu einem integralen Bestandteil der modernen Politik wird, nicht indifferent gegenüber den Debatten um Wirtschaftsführung, die Förderung wissenschaftlicher Projekte oder die grundsätzlichen Ziele des nationalen Bildungssystems ist.« Die Vorstellung von Religion, Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft als separaten Erscheinungen würde sich somit auflösen und die Religion in die Klärung der vielfältigen gesellschaftlichen Fragen aktiv einbezogen werden (müssen).62
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Migration und Integration: islamische Bildung und Erziehung in Deutschland
Die in den letzten Jahren intensivierten Debatten über Integration von Muslimen in Deutschland haben die Frage aufgeworfen, welche Rolle die islamische Religionspädagogik hierzulande in staatlichen Einrichtungen wie Schule und Universität erfüllen kann bzw. von welchen pädagogischen Grundsätzen der Koran- und Religionsunterricht in den Moscheen geleitet werden soll. Der Ausbildung der Imāme (»Vorsteher« beim islamischen Gebet und Leiter der Moscheen) kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu, da ihre fachliche Qualifikation ebenso wie ihre »religiöse und politische Orientierung maßgeblich den Integrationsprozess der Moscheen und mithin des Islam in Deutschland« mitbestimmen.63 Der Islam-Unterricht an Schulen der Bundesrepublik Deutschland wird bereits seit 1986 – anfänglich in türkischer Sprache mit Lehrern aus der Türkei – durchgeführt. Als eigenständiges Fach in deutscher Sprache wurde er zuerst 1999 an Schulen in Nordrhein-Westfalen etabliert; er wird von Lehrkräften erteilt, die sich selbst zum Islam bekennen.64 Entsprechend einer Empfehlung des Wissenschaftsrates der Bunderepublik Deutschland wurden seit 2010 zudem bislang an mehreren staatlichen Universitäten – Erlangen, Frankfurt/Gießen, Münster/ Osnabrück und Tübingen – Zentren für Islamische Theologie eingerichtet. Diese sollen der islamisch-theologischen Forschung dienen und »eine zentrale Rolle bei der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in Islamischen Studien spielen. Zugleich übernehmen sie die Aufgabe, islamische Religionslehrer und -lehrerinnen auszubilden und ermöglichen darüber hinaus eine wissenschaftlich fundierte Ausbildung von 60 61 62 63
Hildebrandt: Emanzipation oder Isolation vom westlichen Lehrer?; Ḥanafī: Islam in the Modern World. Asad: Formations of the Secular. Asad: Formation of the Secular, 182f. Ceylan: »Türkische Imame in Deutschland«, insbes. 183f.; idem: Islamische Religionspädagogik in Moscheen und Schulen; Ucar: Islamischer Religionsunterricht in Deutschland. 64 Gesetz zur Einführung von islamischem Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach (7. Schulrechtsänderungsgesetz) vom 22. Dezember 2011. Gesetz- und Verordnungsblatt (GV. NRW.). Ausgabe 2011, Nr. 34 vom 30.12.2011, 725–32.
Lesehinweise
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Religionsgelehrten im staatlichen Hochschulsystem.« Dieser Ausbau der konfessionsgebundenen Islamischen Studien in Deutschland trage der »wachsenden Pluralität religiöser Bekenntnisse in Deutschland und der steigenden Nachfrage nach wissenschaftlicher Expertise zu Fragen der Religion« Rechnung.65 Dass die Erfüllung derart weitreichender Aufgaben nicht nur rechtliche und religiöse, sondern auch politische und universitäre Grundsatzfragen – etwa zum Verhältnis der konfessionsgebundenen Islamischen Studien (bzw. Islamischen Theologie) zu der an nahezu allen großen deutschen Universitäten beheimateten historisch-kritischen und im Kontext der Geistesund Kulturwissenschaften verankerten Islamwissenschaft – aufwirft, zeigt die öffentliche Diskussion zu dieser Problematik, die wie »kaum eine andere Debatte derart von inneren Widersprüchen gekennzeichnet« ist.66 Insofern ist zu hoffen, dass die neue islamische Religionspädagogik und die Einrichtung von Professuren für Islamische Theologie an staatlichen Universitäten in Deutschland wichtige rechtliche und institutionelle Grundlagen dafür schaffen, dass der 1.400-jährigen, gleichermaßen reichen wie vielschichtigen Tradition der islamischen Bildung und Ethik wichtige neue Impulse verliehen werden und diese im Kontext der zunehmend multikulturellen modernen Gesellschaften Europas einen Beitrag zum friedlichen Miteinander und gesellschaftlichen Fortschritt leisten.
Lesehinweise Bildung: Klassiker zu den Themen Wissenskonzepte, Lehrbetrieb und Buchkultur im Islam des Mittelalters sind F. Rosenthals Knowledge Triumphant: the Concept of Knowledge in Medieval Islam (1970) und sein The Techniques and Approaches of Muslim Scholarship (1947). Unter den neueren Studien sind G. Endress’ Organizing Knowledge (2006) und O. Abi-Mersheds Trajectories of Education in the Arab World: Legacies and Challenges (2009) zu nennen. G. Makdisis The Rise of Colleges (1981) ist ein Referenzwerk zur madrasa im vormodernen Islam. M. Zamans The Ulama (2002) behandelt die madrasa-Reformen während der kolonialen und post-kolonialen Modernisierungsbemühungen im 19. und 20. Jahrhundert. Zu den Möglichkeiten und Grenzen weiblicher Bildung im Islam ist vor allem auf M. Maríns Writing the Feminine (2002) sowie W. Walthers Die Frau im Islam (1980) zu verweisen. Analytische Überblicke zur Lernkultur und Pädagogik im Islam bieten S. Günther, »Be Masters in that You Teach and Continue to Learn« (2006) sowie K. Hirschler, The Written Word in Medieval Arabic Lands (2012). Ethik: Kommentierte Schlüsseltexte zur islamischen Ethik in deutscher Übersetzung finden sich bei H. Bauer, Islamische Ethik: Nach Originalquellen übersetzt und erläutert (1916–40) [Nachdr. 2000]. Die islamische Ethik im Kontext der Bildung behandelt I. Lapidus, »Knowledge, Virtue, and Action: The Classical Muslim Conception of Adab and the Nature of Religious Fulfillment in Islam« (1984). Detaillierte Studien zu ethischen Fragen im Koran bieten I. Toshihiko, Ethico-Religious Concepts in the Qurʾān sowie S. Günther, »O People of the Scripture … The Ten Commandments and the Qurʾan« (2007). Besonders inhaltsreiche und gut lesbare Überblicksstudien sind D. Donaldsons Studies in Muslim Ethics (1963), K. Alis Sexual ethics and Islam (2006) sowie vor allem S. Stelzers exzellentes Handbuchkapitel, »Ethics« (2008).
65 Empfehlungen [des Wissenschaftsrates der Bundesrepublik Deutschland vom 29.1.2010], 7. 66 Brunner: »(Islamische) Theologie an der Universität – warum eigentlich?«, 101.
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