Bildhauerische Technik und die Wahrnehmung antiker Skulptur: Francesco Carradoris Lehrbuch für Studenten der Bildhauerei von 1802, in: Ernst Osterkamp (Hrsg.), Wissensästhetik. Wissen über die Antike in ästhetischer Vermittlung, Transformationen der Antike Bd. 6 (Berlin 2008), S. 239-265.

July 4, 2017 | Author: Charlotte Schreiter | Category: History of Sculpture, Sculpture, Reception of Antiquity, Plaster Casts, History of Italian Academies
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Bildhauerische Technik und die Wahrnehmung antiker Skulptur: Francesco Carradoris Lehrbuch für Studenten der Bildhauerei von 1802 CHARLOTTE SCHREITER

Seit der Renaissance schmückten originalgroße Kopien antiker Skulpturen die Fürstenhäuser, Gärten, Museen, Akademien und Universitäten Europas. Die Motivationen, sie anzufertigen, waren so vielfältig wie die verwendeten Materialien und Herstellungstechniken.1 Bis ins 17. Jahrhundert bestanden Antikenkopien zumeist aus denjenigen Materialien, die als die wertvollsten angesehen wurden: Bronze und Marmor. Die vorbildlichen antiken Skulpturen wurden zunächst in Gips abgegossen; Abgüsse wurden ihrerseits zu Vermittlern der Form und dienten im Gussprozess als Gussmodell, in der Bildhauerwerkstatt als maßgetreue Vorlage für den Künstler. Die grundsätzliche Unterscheidung in gegossene und in Stein geschlagene Kopien wurde in den folgenden Epochen beibehalten, auch als im 18. Jahrhundert mit der zunehmenden Verlagerung der Produktion in Kunst-Manufakturen2 andere, preiswertere Materialien favorisiert wurden. Die Zahl der Kopien in verschiedensten Materialien nahm in der Folge stark zu. Wenn gerade im 19. Jahrhundert die Anzahl von Antikenkopien sprunghaft anstieg, so hatte dies seine Ursachen in verschiedenen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts. Waren zuvor Kopien mit dem Namen eines in aller Regel bekannten, individuell benennbaren Künstlers verbunden,3 so wurden sie nun eher nach ihrer Herkunft aus einer bestimmten Werkstatt, dem verwendeten Material und ihren Verwendungsmöglichkeiten bewertet. Das implizite Wissen über ›die‹ Antike, das durch sie vermittelt wurde, wurde so von den Rahmenbedingungen _____________ 1

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Zahlreiche Publikationen befassen sich mit dem Fundus der vorbildgebenden antiken Statuen und ihrer bildlichen und plastischen Wiedergabe; einen guten Überblick bieten Ladendorf (1953) und Haskell/Penny (1998). Hier wird der Teilbereich der großformatigen, dem Original weitestgehend entsprechenden Kopie antiker Skulpturen in den Blick genommen, da diese eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, die vor allem aus der angestrebten Ähnlichkeit mit dem Original resultieren. – Für wichtige Hinweise und eine kritische Durchsicht des Textes danke ich Johannes Myssok. Becker (2004), Rau (2003). Schreiter (2006), 60–61.

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des Machbaren bestimmt. Dass technische Entwicklungen das 19. Jahrhundert zum »Jahrhundert der Reproduktion« werden ließen, ist ein Topos,4 der hier explizit in Hinsicht auf eine materielle Aneignung, wenn nicht Einverleibung von Antike betrachtet werden soll. Großformatigen, dem Original in der Größe entsprechenden Kopien kamen in der Wahrnehmung der Auftraggeber und Betrachter verschiedene Funktionen zu: Sie dienten als Ersatz für nicht verfügbare Vorbilder und wurden häufig in einem neuen Kontext umgedeutet. Die speziellen Vorgaben eines individuellen Auftraggebers spielten dabei eine zentrale Rolle. Zugleich aber verbreiteten sie die Kenntnis ausgewählter antiker Skulpturen in ganz Europa. Dieser immanente Bildungsgehalt wurde im 18. Jahrhundert konkretisiert, denn durch die Vereinigung einer jeweils größeren Anzahl von Abgüssen verschiedener antiker Bildwerke in zunächst akademischen, dann universitären Abgusssammlungen wurde ein vorbildlicher Gesamtbestand antiker Skulptur als Gegenstand einer wissenschaftlichen Analyse in den Blick genommen. Die Etablierung der Klassischen Archäologie als Fach im 19. Jahrhundert steht in engem Zusammenhang mit der Einrichtung von Abgusssammlungen.5 Die Ähnlichkeit mit dem jeweiligen Vorbild, seine Wieder-Erkennbarkeit, beeinflusste auf verschiedenen Ebenen die Bewertung von Kopien, denn neben die künstlerischästhetische Rezeption antiker Skulpturen trat der wissenschaftliche Zugang. Antikenkopien, -nachbildungen und -abgüsse konnten so – dem jeweiligen Kontext angepasst – unterschiedlich wahrgenommen werden; Ursache hierfür ist auch das Resultat technischer Prozesse der Herstellung. Diesem Phänomen wurde bisher relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Waren bildhauerische und plastische Techniken zunächst vorwiegend anhand des Oeuvres einzelner Künstler und seltener als Voraussetzung für Veränderungen in der Wahrnehmung von Skulptur reflektiert worden,6 so sind die künstlerischen Techniken und die Werkstattorganisation von Bildhauern wie Canova und Thorwaldsen7 sowie für die Manufakturbetriebe8 mittlerweile besser untersucht worden. Die ambivalente Funktion von Gipsabgüssen als Mittler zwischen Original _____________ 4 5 6

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Ladendorf (1953), 72. – Kammel (2000), 56. – Peters (2001), 147–149. – Rupp (1989). Himmelmann (1976); Borbein (2000). Diese Beobachtung wurde von Baker (2000), 34–35 und passim anhand der klassizistischen Plastik in England dargelegt. Sie ist auf andere Länder ohne weiteres übertragbar. Eine umfangreiche Einbindung künstlerischer Techniken in die Bedingungen verschiedener Epochen bieten Baudry/Bozo (2000). – Innerhalb des Teilprojektes Wunschwelt Antike um 1800 des Sonderforschungsbereiches 644 Transformationen der Antike befasst sich das Unterprojekt Material, Kontext und immaterielles Ideal: Bedingungen großformatiger Antikennachbildungen in ›unedlen‹ Werkstoffen in Mitteldeutschland um 1800 eingehend mit Kopien und Nachbildungen, ihrem Material und ihren Herstellungsbedingungen. – Erben (2004), 184 und 198–200 eröffnete ausgehend von den Antikenkopien, die in der Académie Française in Rom seit dem 17. Jahrhundert hergestellt wurden, weiter führende Fragestellungen. Honour (1972) und (1992); Peters (2001). Rau (2003); Becker (2004); Coltman (2006), 123–163.

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und Kopie einerseits und als Modell im Werkprozess andererseits ist deutlicher konturiert worden. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit Veränderungen im Werkprozess von Bildhauern an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert sich auf die Herstellungsbedingungen von steinernen Antikenkopien auswirkten. Das Phänomen der massenhaften Herstellung solcher Kopien soll dabei vor dem Hintergrund einer veränderten Wahrnehmung antiker Skulptur untersucht werden. Einer Annäherung an den Themenkomplex dienen Überlegungen zu Aspekten der Verfügbarkeit antiker Skulpturen, ihrer Abgüsse und Kopien im 19. Jahrhundert. Beobachtungen zur Arbeitsorganisation in den Werkstätten der Bildhauer und der Vermittlung handwerklicher Kenntnisse und Fähigkeiten schließen daran an. Den Angelpunkt der Überlegungen bildet hierbei das 1802 von Francesco Carradori, dem Direktor der Florentiner Akademie, herausgegebene Lehrbuch für angehende Bildhauer, in dem sich die »Verwendung« antiker Skulptur auf mehreren Ebenen widerspiegelt. An der Wende zum 19. Jahrhundert entstanden, markiert es einen signifikanten Umbruch in der didaktischen Vermittlung künstlerischer Technik, der für die Wahrnehmung von antiker Plastik im Medium der Kopie nicht ohne Folgen blieb.

Die Verfügbarkeit antiker Plastik im 19. Jahrhundert Die Zusammenstellung antiker Original-Skulpturen in den öffentlichen Sammlungen zumal in Nord- und Mitteleuropa war eher zufällig und durch unkalkulierbare Erwerbungsumstände bedingt.9 Oftmals schränkten zudem irreversibel überformende Restaurierungen vorangegangener Jahrhunderte den Zugang zur Originalsubstanz ein.10 Gerade in der Zeit um 1800 wurde dieser Verlust zunehmend reflektiert, die Bewertung der vorhandenen Ergänzungen und Restaurierungen wurde kritischer und führte vielerorts im späteren 19. Jahrhundert zur Entfernung oder Neurestaurierung vorhandener Substanz.11 _____________ 9 Ladendorf (1954), 51–54; Haskell/Penny (1998), passim. 10 Die Literatur zu diesem Themenfeld ist umfangreich und in der Bewertung sehr uneinheitlich, zumal der Blickwinkel auf die Ergänzungstätigkeit des 16. und frühen 17. Jahrhunderts sich in den letzten Jahren stark gewandelt hat: vgl. exemplarisch Ladendorf (1954), 55–61 und Ramage (2002), 62; 66–67; Ramage (2003). 11 Das Beispiel der Dresdner Skulpturensammlung kann hierfür als exemplarisch angesehen werden: Die Skulpturen des unter August dem Starken erworbenen Kontingents der Sammlungen Chigi/Albani waren schon in Rom umfangreich ergänzt und überarbeitet worden. Die Kritik hieran manifestiert sich schriftlich zunächst in der Publikation von Wilhelm Gottlieb Becker, der in den beigegebenen Stichen die Trennung zwischen eindeutiger Originalsubstanz und Ergänzung markiert: siehe Schreiter (2004), 18–19; unter Georg Treu wurden dann diese Ergänzungen entfernt (jedoch in den Magazinen der Skulpturensammlung aufbewahrt): vgl. Knoll (2003); siehe auch Heilmeyer/Heres/Maaßmann (2004), 36, Anm. 60. In jüngster Zeit sind

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Objektiver in der Vermittlung archäologischer Kenntnisse waren Abgüsse antiker Plastik in Abgusssammlungen,12 die gegenüber Stichen, Zeichnungen und anderen zweidimensionalen Reproduktionsmedien den unbestreitbaren Vorteil der Wiedergabe der Rundansichtigkeit, des Volumens und der Größe der vorbildhaften Kunstwerke hatten. Auch nachdem sich die Fotografie in der archäologischen Dokumentation etabliert hatte, blieb dieser Vorzug weithin akzeptiert.13 Die Zusammenstellung dieser Abgusssammlungen war nun ihrerseits nicht nur von systematischen Erwerbungen, sondern ebenfalls von der Verfügbarkeit der Originale abhängig. Während der napoleonischen Feldzüge wurden die Museen und Sammlungen Europas geplündert. Zahllose Kunstwerke wurden nach Paris verbracht, darunter die wichtigsten und berühmtesten antiken Kunstwerke aus Italien. Das Atelier de Moulage verdankt seinen Aufstieg besonders dem Umstand, dass diese Antiken vor Ort neu abgegossen und die Abgüsse in ganz Europa verkauft werden konnten.14 Im Musée Napoléon wurden die geraubten Kunstschätze Europas für eine kurze Zeit wie in einem imaginären Museum vereint, die kanonischen Antiken waren dort aus ihren festgeschriebenen italienischen Kontexten befreit und bildeten erstmals ein Panorama aller berühmten Meisterwerke der Antike.15 Unter einer veränderten Prämisse standen so nun diejenigen Skulpturen im Zentrum der Aufmerksamkeit, die seit der Renaissance Künstler und Antiquare in ihren Bann gezogen hatten und die in Wiederholungen unterschiedlichster Größe und Qualität weit verbreitet und gut bekannt waren. Vom Original direkt abgenommen, ersetzen die in der Folge neu angefertigten Gipse die Antiken in den berühmten Sammlungen Europas und konnten ihrerseits an jedem beliebigen anderen Ort zu einem Panorama der antiken Kunst vereinigt werden.16 Die Kenntnis stieg damit in ganz Europa stark an, auch wenn die dinglich greifbaren Antiken durch Kopien substituiert waren.

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Überlegungen entstanden, an Gipsen der Originalsubstanz die Ergänzungen wieder anzufügen, um den Eindruck des 17./18. Jahrhunderts wieder herzustellen. – Analoge Phänomene lassen sich etwa auch für die Berliner Antikensammlung beobachten: vgl. Heilmeyer/Heres/Maaßmann (2004), 29–32 zu den Restaurierungen Rauchs. Haskell/Penny (1998), 121–122; Barbanera (2000), 59–60; Borbein (2000). – Die Situation in München, wo es trotz der hervorragenden Sammlung der Glyptothek zur Einrichtung eines Gipsmuseums kam, schildert anschaulich Berchtold 1987, 110–117. Die Geschichte der Gipsabgusssammlungen ist in den letzten beiden Jahrzehnten verschiedentlich Gegenstand von Untersuchungen geworden. Für den deutschen Sprachraum darf die Untersuchung von Cain (1995) weiterhin als umfassendster Überblick gelten. – Die beste Übersicht zur Entwicklung der universitären Abgusssammlungen liefert Bauer (2002); siehe auch Himmelmann (1976), 138–157; Boehringer (1981), 274. – Dem Verhältnis von Gipsabgüssen und Fotografien als Arbeitsgrundlage in der Klassischen Archäologie widmet sich Klamm (2007). Rionnet (1996), XVIII–XXI; Einholz (1992), 78; Rossi Pinelli (1984). Sheehan (2002), 82–86. Rionnet (1996), 103–108; Barbanera (2000); Borbein (2000), 33.

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Kopien antiker Skulpturen Abgusssammlungen sind jedoch nur eine Facette dieses Phänomens. Unter der Voraussetzung der übermittelten Kenntnis antiker Kunst fand dieses Wissen seinen Widerhall in den allgegenwärtigen Kopien und Nachbildungen antiker Statuen, die in allen Formaten sowohl den öffentlichen Raum, als auch Gärten und Wohnhäuser schmückten. Die Beispiele hierfür sind zahllos und überziehen ganz Nord- und Mitteleuropa;17 so lassen sich besonders seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Manufakturen hergestellte Kopien in gegossenen oder ausgeformten Materialien wie Terrakotta, Blei, Bronze, Eisen etc. in ganz Europa nachweisen. Für ihre Herstellung wurden in der Regel Gipsabgüsse als Modell verwendet, von denen neue Formen abgenommen wurden.18 Kopien und Nachbildungen in Marmor oder anderem Steinmaterial konfrontierten die Künstler mit anderen Problemen, da die Übereinstimmung mit dem Vorbild schwieriger zu erzielen war. Zwei Beispiele aus dem Umfeld des preußischen Hofes am Beginn des 19. Jahrhunderts illustrieren anschaulich die zentrale Funktion handwerklich anspruchsvoller Kopien. Im Vorfeld der Einrichtung des Neuen Museums in Berlin wurden die Antiken aus den königlichen Schlössern und Gärten herausgezogen, die entstandenen Leerstellen wurden durch Kopien geschlossen. So traten im Rondell am Neuen Palais in Sanssouci nach 1821 Marmorkopien an die Stelle der antiken Skulpturen, wodurch der Gesamteindruck wieder hergestellt werden konnte.19 Schloss Tegel wies nicht nur im Inneren ein reiches Programm antiker Gelehrsamkeit auf, sondern auch in den Schmuck des Äußeren wurde eine beziehungsreiche Auswahl vorbildhafter antiker Statuen einbezogen: Wilhelm von Humboldt ließ die Nischen in der rückwärtigen Fassade mit Marmor-Kopien antiker Skulpturen schmücken, die allerdings erst nach seinem Tod 1836 fertig gestellt wurden.20 Während die Bildhauer der Stücke in Sanssouci aus dem Umfeld der Berliner Bildhauerschule stammten, was sowohl für den Ort wie auch für den Anlass angemessen schien,21 waren in Schloss Tegel italienische Künstler aus Carrara tätig.22 Die Künstler der Kopien sind in beiden Fällen zwar namentlich bekannt, in der Rezeption der Figuren spielen sie jedoch eine untergeordnete Rolle. Die Person der kopierenden Künstler rief weit weniger Interesse hervor als _____________ 17 Vgl. Haskell/Penny (1998), 31–37; 79–92. – Siehe jetzt auch Coltman (2006), 123–163 (für die englischen Beispiele). 18 Rau (2003); Schreiter (2004). 19 Eckhardt (1990), 185; Hüneke (2000), 24–26. 20 Heinz (2001), 59–62, Abb. 21. 21 Eckhardt (1989), 183–184. Vgl. das Phänomen der Bronzekopien: Schreiter (2007), 121–123. 22 Heinz (2001), 59–62; freundliche mündliche Information von Christine von Heinz (2006).

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der kopierte Gegenstand, worin sich im Vergleich zu vorangegangenen Jahrhunderten ein signifikanter Unterschied greifen lässt.

Herstellungsbedingungen steinerner Kopien Abgüsse und Kopien antiker Skulpturen wurden zu Stellvertretern der Originale und übernahmen – wie in diesen beiden Beispielen – deren Funktion in einem ursprünglichen oder als ursprünglich gedachten Kontext. So waren sie in der Lage, Informationen über die Vorbilder und die mit ihnen bereits zuvor verbundenen Wertungen weiter zu tragen. Hier ist ein voll entwickeltes Instrumentarium anzutreffen, das einerseits unmittelbar der Vermittlung archäologischen Wissens diente, andererseits mittelbar diese Vorkenntnisse für die repräsentative Selbstdarstellung nutzte. Anders als bei gegossenen Kopien konnte die formale Identität aus Stein geschlagener Kopien nicht ohne weiteres durch den vom Original genommenen Gips gerechtfertigt werden. Gussfähige Materialien konnten in eine vom Gips abgenommene Form gegossen werden. Zur Herstellung von Steinkopien waren dem gegenüber wesentlich mehr Arbeitsschritte notwendig. Der Gipsabguss stellt in diesem Prozess nur den ersten von vielen Zwischenschritten dar. Dass Genauigkeit dennoch erwartet und den Kopien auch zuerkannt wurde, selbst wenn Abweichungen unübersehbar waren,23 fand seine Berechtigung in der Etablierung neuer Hilfsmittel in der bildhauerischen Praxis. Während Gipsabgüsse im Prinzip seit der Antike in denselben Verfahren hergestellt wurden,24 versprachen neue Abform- und Vervielfältigungstechniken das problemlose, genaue Übertragen eines Vorbildes in ein getreues Replikat. Gipse galten aufgrund des viel beschworenen Kontakts mit dem Vorbild ohnehin als originalidentisch.25 Originaltreue war in der bildhauerischen Praxis ein zentraler Aspekt, denn es war üblich, von einem einmal festgelegten Modell zahlreiche Ausführungen in unterschiedlichen Materialien anzufertigen.26 Als Garanten der Genauigkeit schienen mechanische Verfahren älteren Kopiertechniken weit überlegen. Ohne weiteres galten in diesen Techniken hergestellte Kunstwerke als äußerst präzise.27

_____________ 23 Vgl. etwa den ironischen Kommentar von Friederike Brun (1795/96) zu den Kopien Cavaceppis: Müller (2003), 147 und Abb. 98; siehe auch Howard (1982), 206–221. 24 Borbein (2000), 29; Baudry/Bozo (2000), 103–143; siehe auch Mattusch (2002), 107. 25 So auch Rossi-Pinelli (1984), passim. 26 Vgl. Peters (2000), 148–149, Schadow (1802), in: Sciolla (1979), 53–64, Anm. 51. 27 Carradori (1802), XXIII; Baudry/Bozo (2000), 178–180; vgl. Rupp (1989).

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Technische Voraussetzungen des 18. Jahrhunderts Voraussetzungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts wirkten dabei maßgeblich auf die Vorstellung der Kopie als originalidentisch ein. Antonio Canova etwa war im Verlauf seines Lebens immer stärker dazu übergegangen, für seine eigenen Skulpturen die großformatigen Modelle in Ton zu schaffen; sie wurden dann von Spezialisten, den »Formatori«, in seiner Werkstatt in Gips abgegossen und im Kopierverfahren in Marmor übertragen. Erst im letzten Herstellungsschritt griff er wieder ein und vervollkommnete die Oberfläche von eigener Hand.28 Natürlich war diese Technik nicht grundsätzlich neu, denn die Arbeit in Bildhauerwerkstätten war generell arbeitsteilig. Lediglich der Umfang und die Ausdifferenzierung der einzelnen Arbeitsschritte erreichte neue Dimensionen.29 Im Ergebnis ist interessant, dass Canovas Zeitgenossen bei von ihm oder aber zumindest in seiner unmittelbaren Nachfolge hergestellten Kopien seiner eigenen Werke evidente Unterschiede in Ausdruck und Habitus festzustellen in der Lage waren, die verschieden bewertet werden konnten.30 Vor allem sind es dabei Urteile über die Unterschiede zwischen dem Modell und der Ausführung in Marmor, die zugunsten des Modells ebenso ausfallen konnten wie zugunsten der fertigen Statue. 1821 kommentiert Stefano Ticozzi in seiner Einleitung in die Zeichenkunst:31 Talvolta un eccelente scultore aggiunge al marmo alcuna nuova perfezione; tuttavia le bellezze di una statua e quelle del modello possono tra di loro equilibrarsi, perché non sono dello stesso genere. Invariabili sono quelle che spettano alle forme ed alli proporzioni; quelli sole che appartengono alla esecuzione, sono succetibile di qualche variazione, e di qualche cambiamento. Accade talvolta che la statua sorprende per sé stessa, ma piace maggiormente il modello.

_____________ 28 Zu Canova: Honour (1972a), 148 und (1972b), 214; vgl. Woratschek (2005), 29–31. 29 Der Gebrauch großformatiger Modelle im Werkprozess wurde von Canova in die italienische Skulptur erst wieder eingeführt (wie Johannes Myssok während der Tagung »Plaster Casts: Making, collecting, and displaying from classical antiquity to the present, International Conference at Oxford University, 24–26 September 2007« gezeigt hat), Kongressakten in Druckvorbereitung. 30 »[…] ma il modello non ha niente di comune colla perfezione della statua« (Landi 1801): zitiert bei Honour (1972b), 225, Anm. 78. 31 Stefano Ticozzi, Introduzione allo Studio delle arti del disegno, Milano 1821: Wiedergegeben nach dem Zitat bei Honour (1972b), 225 Anm. 78 (ggf. mit Verschreibungen); eine deutsche Übersetzung liegt m. W. nicht vor, sinngemäß etwa: »Manchmal fügt ein hervorragender Bildhauer dem Marmor neue Vollkommenheit hinzu; die Schönheiten einer Statue und jene eines Modells können einander jedoch die Waage halten, obwohl sie nicht von derselben Art [genere] sind. Unveränderlich sind jene, die die Formen und die Proportionen betreffen; nur jene allein, die der Ausführung zugeordnet werden, sind empfänglicher für eine gewisse Variation und eine gewisse Veränderung. Es kommt manchmal vor, daß die Statue durch sich selbst überrascht, das Modell aber mehr gefällt.«

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Die verschiedenen Zwischenstufen riefen also Veränderungen hervor, welche die Wahrnehmung der Skulptur beeinflussten. Diese Variationen dürfen – zumindest im Falle Canovas – durchaus als beabsichtigt gelten, glichen einander doch kaum zwei Ausführungen nach demselben Modell. Die Spannung zwischen dem Entwurf des Künstlers und der Ausführung findet ihre Rechtfertigung so in der Autorschaft des berühmten, sich selbst wiederholenden Künstlers und dem Postulat der stetigen Verbesserung des Meisters.32

Marmorne Antikenkopien und die Bedingungen ihrer Herstellung Übertragen auf den Bereich der Antikenkopie stellt sich die Relation zwischen dem Modell – also der antiken Statue – und dem Ergebnis – ihrer Kopie – anders dar, denn da der erfindende (antike) Künstler nicht anwesend war,33 konnte er das Ergebnis nach der Ausführung nicht durch seine Hand autorisieren. Um es dennoch zu legitimieren, musste der subjektive Faktor der handwerklichen Zwischenschritte ausgeschaltet werden. In diesem Kontext entspricht der Kopist einer antiken Skulptur dem namenlosen Gehilfen in Canovas Werkstatt. Seine Tätigkeit ist handwerklich und sie ist erlernbar. Wegbereitend waren in diesem Kontext die Erfahrungen der römischen Bildhauerwerkstätten, die sich seit dem 17. Jahrhundert intensiv mit dem Kopieren und Restaurieren antiker Plastik für einen boomenden nord- und mitteleuropäischen Markt befassten und so Kopiertechniken entwickelt hatten, die in die bildhauerische Praxis Eingang fanden.34 Schon in der Académie Française in Rom nahm die Kopier- und Abgusstätigkeit eine zentrale Rolle ein.35 Das Thema der Kopien und ihrer Herstellung war demnach virulent.

_____________ 32 Honour (1972b), 225–229. 33 Vgl. Krauss (1989), 8–9 (zur Frage von »authorship«). 34 So berichtet Canova darüber, wie er von Venedig nach Rom kam und dort kaum einen Bildhauer finden konnte, der nicht nach Antiken arbeitete, sondern eigene Erfindungen herstellte: vgl. Honour (1972a), 150–153; vgl. auch Woratschek (2005), 29–30. Ohne diese Erfahrungen der römischen Kopisten hätte Canova seine Technik nicht so weit perfektionieren können. In Rom selbst war die Arbeitsteilung in den Restauratoren- und Kopistenwerkstätten bereits vollständig ausgebildet: vgl. Howard (1999), 69; Giacomini (2000), 37, Anm. 12; Rossi Pinelli (2004), 16, Anm. 7; vgl. Piva (2000), 8–14. – Auch in Schadows Selbstzeugnis, dem die Werkstattverhältnisse Canovas zugrunde liegen, klingt dies an, wenn er die Aufgabenbereiche der einzelnen Beteiligten in handwerkliche und künstlerische unterscheidet: Sciolla (1979), 54–57; vgl. aber auch unten S. 259–260, Anm. 72, 75. 35 Erben (2004), 181–184.

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Francesco Carradori: Istruzione elementare per gli studiosi della scultura (Firenze, 1802) In demselben Ambiente bewegte sich der Bildhauer Francesco Carradori, bevor er 1802 als Direktor der Accademia delle Belle Arti in Florenz sein Buch Istruzione elementare per gli studiosi della scultura36 veröffentlichte. Dieses Buch gibt zahlreiche Hinweise zur Beantwortung der Frage, inwieweit bei der Übermittlung der antiken Skulptur durch das Medium der statuarischen Kopie der technische Akt der Herstellung relevant und mitteilenswert war. Carradori hielt sich von 1772 bis 1785 im Auftrag des Großherzogs der Toscana Pietro Leopoldo in Rom auf, wo er in erster Linie für die Restaurierung der Antiken in der Villa Medici zuständig war, um sie für die Transferierung in die Florentiner Uffizien vorzubereiten.37 Seit 1799 war er Direktor der Florentiner Akademie. Sein eigenständiges bildhauerisches Werk ist relativ gering und wurde ebenfalls verschiedentlich zusammengestellt.38 Das Lehrbuch bildet eine Summe seiner eigenen bildhauerischen Erfahrungen,39 denn während seines Aufenthalts in Rom fertigte er zwischen 1776 und 1779 auch Kopien antiker Statuen in Marmor an. Erste Arbeiten, die auf antike Vorbilder abzielten, waren die leicht verkleinerten Nachbildungen der so genannten Fede-Gruppe und der Gruppe Bacco e Arianna.40 Carradoris Versionen befinden sich heute im Palazzo Pitti in Florenz.41 Die als Fede-Gruppe bekannt gewordene Figurengruppe von Amor und Psyche wurde nach der Restaurierung durch Pierre Le Gros in der Epoche als Caunus und Biblis interpretiert. Sie wurde verschiedentlich kopiert und gilt heute als verloren.42 Die Gruppe Baccho e Arianna, heute im Museum of Fine Arts in Boston, ist ebenfalls stark ergänzt und überarbeitet. Aufschlussreich sind Quellen, die in Zusammenhang mit der Anfertigung der Kopien stehen, da Carradori dem Erzherzog verschiedene Posten an Material, Arbeitszeiten und Gehilfen in Rechnung _____________ 36 Das 1802 erschienene Buch wurde zweimal ediert: Sciolla (1979) und Kalevi Auvinen/Honour/ Bernardini (2002). Beide Ausgaben sind umfangreich eingeleitet und kommentiert. Eine deutsche Ausgabe liegt jedoch nicht vor. Die Partien wurden sinngemäß von der Verf. übersetzt. Die italienischen Textstellen sind nach dem Exemplar in der Biblioteca Cicognara, das im Microfiche genutzt wurde, transkribiert. 37 Vgl. Maugeri (2000), 306–334; Sciolla (1979), 17 Anm. 8–9. 38 Paolo Bernardini in: Kalevi Auvinen (2002), 5–8; Roani Villani (1980). 39 Zu den Lebensdaten und seinen verschiedenen Stationen vgl. besonders: Roani Villani (1980); Roani Villani (1987); Roani Villani (1990/2005). 40 Roani Villani (1990), 130–133; Massinelli (1990), Abb. 1–4; Capecchi (1990), 148–158, Abb. 82–83; 90–91. 41 Giacomini (2000), 35–36, Abb. 1–2; La Reggia rivelata (2003), 561, Cat. 112 (Roberta Roani); 562; Cat. 113 (Gabriella Capecchi). 42 Walter (1995), 247; Roani-Villani (2005), 30–32; s. a. Haskell/Penny (1998), 190–191, Nr. 26; Bissell (2003).

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stellte.43 Hieraus geht hervor, dass er für die Fede-Gruppe ein Tonmodell nach der antiken Vorlage anfertigte, während von der Gruppe von Bacchus und Ariadne ein Gips als Vorlage vorhanden war.44 Der von Carradori beschriebene Kopiervorgang, der in Ansicht des Originals und anhand vom Original genommener Gipsabgüsse erfolgte, erhob – trotz der auffallenden Abweichungen in Größe und Gestaltung – die Gruppen zu Kopien.45 Genau diese Technik beschreibt Carradori später in der Istruzione.46 Ausgehend von diesen Stücken werden die dann angefertigten, den Vorbildern in Größe und Gesamthabitus stärker angepassten Kopien des Antinous vom Capitol und des Juppiter Serapis bereits Teil eines Programms gewesen sein, gute Kopien dort zu verwenden, wo die Originale nicht zu haben waren.47 Carradoris Istruzione wird also vor dem Hintergrund seiner praktischen Erfahrungen verständlich, denn diese erklären den auffallenden Abstand zwischen der Bedeutung der handwerklichen Fähigkeiten des Kopisten und der kreativen Begabung des schaffenden Bildhauers. Aufgebaut ist die Istruzione als handwerkliche Anleitung zum Herstellen von Skulpturen, so dass sich darin vornehmlich seine eigene Erfahrung als Kopist niederschlägt. Gewidmet ist das Buch Lodovico Rè d’Etruria, König des von Napoleon neu geschaffenen Königreichs, in dem das Großherzogtum Toscana aufgegangen war. Von ihm wurde eine Restrukturierung der Florentiner Akademie initiiert, die maßgeblich mit der Person Carradoris verbunden war.48 Nach allgemeinen Widmungsformeln in der Einleitung folgt eine Passage, die die Bedeutung dieser Schutzherrschaft hervorhebt; in ihr äußert Carradori die Hoffnung, durch die Lehrbarkeit der Bildhauerkunst neue Donatelli und Buonarotti heranzuziehen,49 _____________ 43 Giacomini (2000), 35 ff. Anm. 2. 44 Ebd., 36. 45 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Johann Wolfgang von Goethe: Italienische Reise (Hamburger Ausgabe von Goethes Werken, Bd. XI), 10. neu bearb. Aufl., München 1981, 542 (Zweiter römischer Aufenthalt, 11. April 1788); vgl. Himmelmann (1976), 146–150, bzw. Heynes zunehmende Kenntnis der höheren Qualität vom Original genommener Abgüsse: Boehringer (1981), 280 ff. – siehe auch Erben (2004), 181 ff. 46 Giacomini (2000), 37, Anm. 9: Carradori (1802), XXIII. 47 Roani Villani (1990), 136 mit Anm. 44. – La Reggia rivelata (2003), 503, Cat. 27 (Gabriella Capecchi/Klaus Fittschen); 594, Cat. 147 (Roberta Roani). 48 Sciolla (1979), 18–19 zur Rolle Carradoris bei der Umstrukturierung der Florentiner Akademie. – Siehe auch Paolo Bernardini, in: Kalevi Auvinen/Honour/Bernardini (2002), 11–12. 49 Carradori (1802), Prolog: »[…]; ma mi rinfranca il coraggio il riflettere, che potendo la forza del Vostro valido patrocinio richiamare alla gloria nuovi Buonarotti, e nuovi Donatelli, conduranno questi al suo termine ciò che avrei voluto tentar io con la scarsezza de’ miei precetti.« (sinngemäß etwa: »[…] mich ermuntert zu wissen, dass Eure mächtige (Schirm)Herrschaft [valido patrocinio] dazu in der Lage ist, neue Buonarotti und Donatelli zum Ruhm zu führen; diese werden das vollenden, was ich mit der Bescheidenheit der mir zur Verfügung stehenden Mittel habe versuchen wollen.«; zu den inhaltlichen und politischen Implikationen dieser Widmung vgl. Bernardini, in: Kalevi Auvinen/Honour/Bernardini (2002), 9 mit Anm. 21–22.

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was bereits die Bedeutung, die technischer Meisterschaft beigemessen wurde, anschaulich unterstreicht. Das Buch selbst enthält 13 Kapitel auf 37 Seiten und ist mit 17 Tafeln illustriert. Es ist strikt systematisch aufgebaut. Bemerkenswert knapp ist die allgemeine Einführung für die Studenten:50 Sarebbe perdimento di tempo per un Giovane, che si destina per la Professione della Scultura, se ne intraprendesse l’esercizio senza certi principj fondamentali. Lo studio della Storia Sacra e Profana, e della Mitologia, gli è assolutamente necessario. Gli gioverà anche non essere affatto digiuno di Belle-Lettere, e specialmente di Poesia, per la proprietà de’pensieri, delle vesti, e degli emblemi. Ma più di tutto conviene, che egli sia bene iniziato nel Disegno, e conosca tutte le parti e proporzioni non solamente del Corpo umano dell’uno e dell’altro sesso, ma anche di diversi animali, che talvolta conviene rappresentare; […].

Über Skulptur und ihren Nutzen oder Problematiken wie die Diskussion von Ideal, Natur oder komplexer Erscheinungen wie dem Sublimen wird hier nicht explizit reflektiert. Auch die Lehre von den Proportionen ist nicht Gegenstand einzelner Erörterungen – wie in anderen Traktaten und Lehrbüchern – sondern allenfalls anhand der beigegebenen Abbildungen zu studieren. Dass diesem kurzen Abschnitt insgesamt vier Tafeln von 17 zugewiesen sind, wirft ein charakteristisches Schlaglicht auf die Bedeutung der Tafeln in Carradoris Anleitung. Hierzu heißt es:51 Le Tavole, che daremo in fine le prime, in numero di quattro, saranno più che bastanti, senz’altra più lunga discussione anatomica, […].

Er ging also davon aus, dass seine Studenten anderweitig mit der Proportionslehre, wie sie in der Epoche präsent war, vertraut gemacht wurden.52 Die Tafeln ersetzen alle diese Ausführungen adäquat, da sie in übersichtlicher Form eine Handreichung darstellen, die unmittelbar genutzt werden konnte. Vorrangig – und das ist unübersehbar – ist die Vermittlung aller einzelnen Arbeitsschritte der Techniken, die ein Bildhauer beherrschen soll; selbstverständlich kann sie auf die Vermittlungserfahrungen der Kunstakademien Europas _____________ 50 Carradori (1802), I (sinngemäß): »Es wäre für einen jungen Menschen, der sich dem Beruf der Bildhauerei verschrieben hat, Zeitverschwendung, wenn er sich diesem Vorhaben ohne einige grundlegende Prinzipien unterziehen würde. Das Studium der heiligen und profanen Geschichte, und der Mythologie ist absolut unabdingbar. Es wird ihm nützen, nicht gänzlich ohne Kenntnis der Wissenschaften zu sein, und besonders der Poesie, für die Richtigkeit der Gedanken, der Kleidung, der Embleme. Vor allem aber ist es notwendig, daß er bereits gut in die Zeichenkunst eingeführt ist, daß er alle Teile und Proportionen des menschlichen Körpers beiderlei Geschlechts, aber auch die verschiedener Tiere kennt, die man manchmal auch darstellen muss.« 51 Carradori (1802), I (sinngemäß): »Die Tafeln, die wir im Anhang als erste geben, vier an der Zahl, werden mehr als ausreichend sein, ohne jede weitere längere anatomische Diskussion«. 52 Sciolla (1979), 23–25 zu den Voraussetzungen der Epoche. Eine Anmerkung zur vierten Tafel bestätigt diese Annahme, denn dort wird auf Leonardo da Vincis Trattato della pittura (geschrieben von Raffaele Dufresne) sowie auf Albertis de Statua verwiesen.

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zurückgreifen. Doch letztlich sind auch diese Erfahrungen, die Curricula der Akademien, in der kurzen Bemerkung über die Notwendigkeit des Zeichnens erfasst und damit abgehandelt.53

Abb. 1: Francesco Carradori, Istruzione elementare per gli studiosi della scultura (1802), Tafel I.

Ohne genannt zu sein, bildet sie sich aber auch in der Gestaltung der Tafeln ab. Hinter dem Skelett der ersten Tafel (Abb. 1) und der abgehäuteten Figur der zweiten Tafel (Abb. 2) stehen nicht nur der Écorché Houdons (Abb. 3), den dieser _____________ 53 Sciolla (1979), 22.

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Abb. 2: Francesco Carradori, Istruzione elementare per gli studiosi della scultura (1802), Tafel II.

1767 geschaffen hatte und der an vielen Akademien und Zeichnungsschulen Europas als Gips vorhanden war,54 sondern auch – und das gilt für die Figur wie für die Tafeln – der Apoll vom Belvedere (Abb. 4), der, so wie hier, im Medium der Druckgraphik, aber auch in vielen statuarischen Darstellungen der Epoche spiegelbildlich rezipiert wurde.55 _____________ 54 Poulet (2003), 63–66, Kat. 1. 55 Roettgen (1998), 269 mit Anm. 143; 271, Abb. 16 (Gipsmodell für das Denkmal König Gustafs III. von Johann Tobias Sergel).

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Abb. 3: Jean-Antoine Houdon, Ecorché (1767).

Auf den Tafeln sind zumeist mehrere der besprochenen Tätigkeiten illustriert, so dass es immer wieder zu inhaltlichen Verschränkungen kommt. In der Regel wird ein Einblick in einen Werkstattraum gewährt, in dem einzelne Personen mit unterschiedlichen Arbeitsschritten beschäftigt sind; jeder Gegenstand ist mit einem Schlüssel versehen, der auf der beigegebenen Seite erläutert wird. Man erhält beim Durchblättern der Tafeln zentrale Informationen in knapper Form, während der Text der einzelnen Artikel diese im Zusammenhang erläutert. Das Buch verfolgt die notwendigen handwerklichen Verrichtungen zur Erstellung einer Marmorskulptur inklusive aller vorbereitenden Zwischenschritte.

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Sie beginnt mit der Herstellung eines Modells in Ton,56 das nach einem Original geformt wird (Taf. V, Nr. C: Originali da imitarsi und I: Altro Cavaletti quadro, con piano da girare per posare gli Originali). Sicher nicht zufällig sind die nachzubildenden oder abzugießenden Figuren wie etwa auf Taf. VI (Nr. A: Statua che si va formando a Forma Reale) im weitesten Sinne als antik zu denken.

Abb. 4: William Hogarth, The analysis of beauty. Written with a view of fixing the fluctuating ideas of taste (London 1753), Tafel I.

Das Kopieren und Nachbilden antiker Skulpturen ist ein häufiger Gegenstand der Abbildungen, ohne dass im Text darauf im einzelnen Bezug genommen würde.57 Während also einerseits der Herstellungsprozess von Skulpturen thematisiert wird, sind andererseits Antiken zu sehen, die sich sozusagen in Bearbeitung be_____________ 56 Sciolla (1979), 26–39 beschreibt differenziert den Aufbau der Istruzione: neben der Herstellung der Marmorskulptur werden der Bronzeguss und die Einrichtung des Ateliers (Studio) des Bildhauers erörtert. Die von mir als Vorstufen betrachteten Tätigkeiten der Modellierung in Ton, Wachs, Papiermaché etc. rechnet Sciolla zu eigenen bildhauerischen Techniken. Im Zusammenhang mit den Antikenkopien erscheint bei Carradori der Bronzeguss nachgeordnet. 57 Sciolla (1979), 21–22.

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finden. Selbst bei einer frei zu formenden Figur, bei der es sich am ehesten um eine originäre Erfindung zu handeln scheint (Taf. VII, hier Abb. 5), stellt sich unmittelbar das Bild des Apoll vom Belvedere ein (vgl. Abb. 4). Entsprechend dem inhaltlichen Schwerpunkt der Nachbildung sind die Artikel über die Herstellung von Gipsabgüssen mit fünf Seiten die umfangreichsten im ganzen Buch.58

Abb. 5: Francesco Carradori, Istruzione elementare per gli studiosi della scultura (1802), Tafel VII.

Genauso konsequent ist der folgende Abschnitt über die Herstellung von Marmorskulpturen aufgebaut, der die Arbeiten in Ton, Stuck und Gips vorausgehen. _____________ 58 Carradori (1802), VII–XII, Articolo VI.

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Die zugehörigen Tafeln stellen ausführlich die Methoden des Übertragens der Maße vom Modell in den Stein und die dazu benötigten Werkzeuge dar (Abb. 6 und 7; Taf. VIII–XI).

Abb. 6: Francesco Carradori, Istruzione elementare per gli studiosi della scultura (1802), Tafel VIII.

Relativ breit wird auf diesen Tafeln und in den zugehörigen Artikeln das Aufmessen, Vergrößern und Verkleinern ausgehend von einem Modell dargelegt. Die Technik des Kopierens war – wie erwähnt – in den römischen Bildhauerwerkstätten des 17. und 18. Jahrhunderts äußerst gut ausgeprägt. Ein Maßsystem, das die Figuren in einen Rahmen einschließt, der dem späteren Block entspricht, ermöglichte es, vom Modell jeweils drei räumlich relevante Punkte abzunehmen und auf den zu bearbeitenden Block zu übertragen. Verkleinerungen und Vergrößerungen von Statuen wurden mit ähnlichen Werkzeugen in verwandter Weise ausgeführt (Taf. X). Da hierbei immer wieder auch nach Augenmaß weiter gearbeitet werden musste, was die Gefahr von Fehlern barg, wurde diese Technik im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer stärker verfeinert.59 Es handelt sich um denselben Kopiervorgang, den auch Winckelmann in Rom beobachtet und – mit einem gewissen technischen Unverständnis – beschrieben hat:60 _____________ 59 Mattusch (2002), 107–108, Abb. 5 und 6. 60 Winckelmann (1756/1999), 26.

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Charlotte Schreiter Der gewöhnliche Weg unserer Bildhauer ist, über ihre Modelle, nachdem sie dieselben wohl ausstudieret, und aufs beste geformet haben, Horizontal- und Perpendikularlinien zu ziehen, die folglich einander durchschneiden. [...] aber da er sich nur der Kenntnis seines Auges überlassen muß, so wird er beständig zweifelhaft bleiben, ob er zu tief oder zu flach nach seinem Entwurf gearbeitet, ob er zu viel oder zu wenig Masse weggenommen.

Abb. 7: Francesco Carradori, Istruzione elementare per gli studiosi della scultura (1802), Tafel IX.

Dieselbe Technik ist in der Rechtfertigungsschrift Bartolomeo Cavaceppis, des wohl berühmtesten römischen Antikenrestaurators und -ergänzers des 18. Jahrhunderts, mit dem Titel Dell’arte di ben restaurare le antiche sculture von 1768

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zu erkennen.61 Gewährt das Frontispiz des ersten Bandes von Cavaceppis Raccolta aus dem Jahr 176862 einen Einblick in die geschäftige Arbeit seiner Werkstatt, so wirkt der Vorgang auf der vergleichbaren Tafel bei Carradori (Abb. 6) stärker schematisiert. Ebenso wird die Restaurierung antiker Statuen von Carradori technisch abstrakt umschrieben. Cavaceppi forderte eine inhaltlich-antiquarische Auseinandersetzung mit dem antiken Kunstwerk, um zu einer richtigen Ergänzung zu gelangen.63 Dem gegenüber beschränkte Carradori die inhaltliche Analyse auf das Notwendigste, so dass die einzelnen Arbeitsabläufe ohne jede Wertung durchgeführt werden können. Ähnlich wie bei der stillschweigend vorausgesetzten Kenntnis der Traktate64 kann auch hier davon ausgegangen werden, dass die Diskussion der Epoche von ihm als bekannt vorausgesetzt wurde. In der rein technischen Umschreibung verschwindet sie jedoch hinter der exakten Handlungsanweisung.65 Die inhaltlichen Anforderungen Cavaceppis an die Ergänzung erklären sich bei Carradori durch die pragmatisch-technische Lösung. Die enge wissenschaftlich-künstlerisch-technische Verflechtung, die das Restaurieren zwischen Winckelmann und Cavaceppi erlebte, fand ihren Ausdruck auch darin, dass Winckelmann Cavaceppis Studio als Museum bezeichnete und die Restaurierungen dadurch adelte. In seinem Plan, seine Werkstatt in ein wahrhaftiges Museum umzugestalten, gab Cavaceppi zu erkennen, dass er diesen Anspruch erhob.66 Der Restaurator Carradori hingegen tritt hinter die technische Akkuratesse zurück, obwohl er sich durchaus nicht mit der Wiederherstellung minderwertiger Antiken befasste, sondern etwa die Pasquino-Gruppe aus der Loggia dei Lanzi, eines der berühmtesten Werke in Florenz (Taf. XIII, hier Abb. 8)67, zur Überarbeitung in seiner Werkstatt hatte. In der Zusammenschau fällt auf, dass einige Tafeln Darstellungen antiker Kunstwerke – oder aber auf antike Skulpturen verweisender Figuren – wiedergeben, die sich sozusagen in Bearbeitung befinden. Diejenigen Techniken und Materialien, die in besonderer Weise für die Herstellung statuarischer Antikenkopien benötigt wurden, machen in der Schilderung einen weitaus größeren Anteil aus als diejenigen, die auf eine Neuschöpfung abzielten. Hierin wird deutlich, wie sehr das Buch auf Carradoris eigener Tätigkeit als Kopist basiert. Obwohl _____________ 61 62 63 64 65 66

Vgl. Müller-Kaspar (1999), 93–99. Abbildung z. B. bei Howard (1999), 67, Abb. 46. Müller-Kaspar (1999), 95–97; Howard (1999), 70–71. Vgl. Howard (1982), 211–216. Sciolla (1979), 19–20; vgl. oben S. 249, Anm. 52. Carradori (1802), XXVII–XXX. Howard (1999), 70–71; Piva (2000), besonders 15–17. Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 22, Rom 1979, 550, s. v. Cavaceppi, Bartolomeo (Howard, Seymour). 67 Carradori (1802), Taf. XIII: man erkennt die Pasquino-Gruppe aus der Loggia dei Lanzi, vgl. Gabriella Capecchi, »L’altro Aiace: tempi e modi di un restauro«, in: La Reggia rivelata (2003), 71–83.

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Abb. 8: Francesco Carradori, Istruzione elementare per gli studiosi della scultura (1802), Tafel XIII.

theoretische Erwägungen weitestgehend fehlen, sind sie in den schriftlichen und bildlichen Darstellungen implizit vorhanden. Durch das Zurücktreten hinter die technischen Erfordernisse wird aber zugleich Raum für die Analyse und Interpretation durch Dritte gegeben. Carradoris Istruzione ist nicht das einzige Werk zur Technik der Bildhauerei um 1800. Der Artikel Sculpture in der Encyclopédie, der auf Etienne Falconet zurückgeht, und seine Illustrationen dienten Carradori als Inspiration.68 Dennoch fallen einige wichtige Unterschiede auf, die gerade das besondere Verhältnis von _____________ 68 So auch Sciolla (1979), 19 sowie die Einleitung zu der Neuedition der Istruzione von Paolo Bernardini in: Kalevi Auvinen (2002), 9. – Die Encyclopédie war ab 1770 in Turin in italienischer Übersetzung erschienen. – http://colet.uchicago.edu/cgi-bin/getobject_?a.110:477:0./projects/artflb//databases/artfl/encyclopedie/IMAGE/ (22.6.2007).

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Carradori zur antiken Plastik, aber auch seinen pragmatischen Umgang mit der bildhauerischen Technik kennzeichnen. Während der Text der Encyclopédie durch ausführliche Betrachtungen über die Natur und das Erhabene charakterisiert ist, verschränkt Carradori seine schriftlichen Informationen stärker mit der bildlichen. Gegenüber den Illustrationen der Encyclopédie fällt auf, dass Carradoris Darstellungen eine stärkere Synthese im Hinblick auf den Werkprozess anstreben; viel häufiger bemüht er sich beispielsweise, die benötigten Werkzeuge in ihrem Verwendungskontext aufzuzeigen, während der Encyclopédie-Artikel unter einer durchaus ähnlichen Übersichtsdarstellung der Werkstatt jedes noch so kleine Werkzeug auf eigenen Tafeln exakt abbildet und beschreibt.69 Im Hinblick auf die Betonung des technisch Möglichen schrieb Carradori also die vorausgegangenen Entwicklungen fest. Darüber hinaus wies er mit diesem Schwerpunkt in die Zukunft voraus. In der Folgezeit etablierten sich immer stärker rein mechanische, maschinelle Verfahren, die dem Wunsch nach Genauigkeit entgegenzukommen versprachen. Um 1800 wurde von Nicolas-Marie Gatteux eine Punktiermaschine entwickelt, die in verbesserter Form von Amedee Durand und Philippe de Girard 1822 hergestellt wurde.70 In deren Nachfolge erfand der französische Ingenieur Achille Collas 1837 einen Pantographen, der nun auch das exakte Vergrößern und Verkleinern von Vorbildern erlaubte.71 Damit fiel sozusagen die letzte Bastion des individuell zu erstellenden Modells. Als wichtiger Faktor kam hinzu, dass die maschinelle Kopie weit weniger Zeit in Anspruch nahm als das punktgenaue Übertragen der Einzelmaße mit Zirkel und Lineal im »Kopierkasten« des 18. Jahrhunderts – so wie es Schadow eindrucksvoll beschrieben hat.72 In der Zusammenschau wird deutlich, dass der Wunsch nach Exaktheit im Kopienwesen des 18. Jahrhunderts den Boden für die urheberfreie Anfertigung originalidentischer Kopien in großer Zahl seit dem 19. Jahrhundert bereitet hat.73 Das Vervielfältigen der eigenen Werke im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, die Ausdifferenzierung der Aufgaben in den Bildhauerwerkstätten und die dadurch erst mögliche Trennung der einzelnen Tätigkeitsfelder wie Modellieren, Restaurieren und Kopieren in eigene Lehrzweige waren unerlässliche Voraussetzungen für die quasi-industrielle Produktion des fortschreitenden 19. Jahrhunderts. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass der herstellende Künstler ganz hinter das übermittelte Original zurücktrat. Das massenhafte Auftreten vorgeblich exakter Kopien machte antike Leitbilder überall verfügbar und gab sie zur Deu_____________ 69 Baudry/Bozo (2000), 147, Abb. 2 (oberer Teil der Tafel). 70 Ebd., 178. 71 Haskell-Penny (1998), 123; vgl. zu den Kopiertechniken auch Rupp (1989), 337; 339 Abb. 1 (Verkleinerungsmaschine). 72 Schadow (1802), zitiert bei Sciolla (1979), 56–57. 73 Vgl. Rupp (1989), 337; 349–350; Haskell/Penny (1998), 118 und Abb. 66.

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tung frei. Die negative Bewertung der mechanischen Verfahren,74 die zum großen Teil retrospektiv im 20. Jahrhundert erfolgte, verstellt dabei den Blick auf den Wunsch nach Präzision als grundlegende Intention der bildhauerischen Kopie im 19. Jahrhundert. Die Lesbarkeit der antiken Plastik war im 19. Jahrhundert auch durch die Allgegenwart ihrer materiellen Reproduktionen manifestiert und nicht auf die Analyse in Form einer systematischen Wissenschaft eingegrenzt. Die handwerkliche Technik zur Herstellung von Kopien bildete die Voraussetzung einer Vermittlung des Ideals der vorbildhaften antiken Skulptur und wurde lehrbar. Die Bildhauer gerade Roms und Italiens nahmen hierbei eine wichtige Vorreiterrolle ein. Viele der Bildhauer und Gipsgießer, die im Zuge der Musealisierung in Nord- und Mitteleuropa die Rolle restaurierender oder helfender Künstler einnahmen, waren Italiener und entstammten demzufolge diesem künstlerischen Umfeld.75 So verbreitete sich die Kenntnis entsprechender Fertigkeiten sehr schnell in allen Ländern Europas. Im Vorgang des Kopierens anhand eines vom Original genommenen Abgusses verändert der Bildhauer rückwärtsgewandt das Vorbild. Zugleich wirkt er durch den Anspruch an Genauigkeit auf die Rezeption der Kopie anstelle des Originals ein. Die Kopie des Kunstwerks wird durch die Technik autorisiert, so dass die Information über die originale Form im technischen Vorgang des Kopierens erhalten bleibt und weiter vermittelt werden kann. Der Versuch, in dieser Weise »Kopie« zu definieren, beschreibt die Relation zwischen Original und nachgebildeter Statue, also den Vorgang des Kopierens. An die Stelle einer Bewertung der Kopie nach ihrem Erscheinungsbild, das mit den Merkmalen des Originals beschreibend gegengelesen wird, tritt damit eine _____________ 74 In diesem Zusammenhang ist Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von 1935/36 und dessen Rezeption wichtig, die in letzter Zeit gerade in Hinblick auf digitale Reproduktionsverfahren neue Aktualität erhalten hat. Benjamin prägte die Begriffe der »Aura« des originalen Kunstwerkes und der »Entauratisierung« durch Reproduktion. Da immer wieder auch in Bezug auf Phänomene des antiken Kopistenwesens und moderner Kopien mit diesen Begriffen gearbeitet wird, ergeben sich zahlreiche Probleme in Hinblick auf die Aura des »originalen« antiken Kunstwerkes, das in seiner Neuschöpfung durch Restauratoren, Kopisten und Künstler sowie durch seine Dislokation aus dem ursprünglichen Kontext bereits verschiedene Phasen von Entauratisierung durchlaufen hat. – vgl. Berchtold (1987), 201– 203. – Die Literatur zum Thema ist umfangreich und hier nur schwerlich zu diskutieren. Eine thematische Engführung in Bezug auf römische Kopien bietet Gazda (2002), 9–10. – Charakteristisch für die Sicht auf das 19. Jahrhundert ist auch Ladendorf (1954), 68; er charakterisiert die Genauigkeit als Phänomen der Epoche. 75 Chef des Atelier de Moulage: vgl. Rionnet (1996), 51–55; Rupp (1989), 338 (Gipsgießerei Micheli in Berlin ab 1824); Interessant in diesem Zusammenhang ist Schadows Kommentar in Die Werkstätte des Bildhauers, deutsche Künstler seien abzulehnen: vgl. Sciolla (1979), 57; Berliner Gipsgießer: vgl. Einholz (1992), 76, Anm. 10. – Vgl. den Mangel an geeigneten Bronzegießern an der Wende zum 19. Jahrhundert: Schreiter (2007), 120 und Anm. 38.

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dynamische Vorstellung, die Original und Kopie variabel miteinander verbindet. Ausgangspunkt und Ergebnis wirken reziprok aufeinander ein und transformieren sich gegenseitig. Aus einer angenommenen Gesamtmenge antiker Plastik kann, angepasst an unterschiedlichste Bedürfnisse, auf diese Weise immer wieder eine repräsentative Menge getreuer Abbilder erschaffen und in eine Deutung überführt werden.

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