Bios - Cultus - (Im)mortalitas
INTERNATIONALE ARCHÄOLOGIE
Begründet von Claus Dobiat und Klaus Leidorf
Herausgegeben von Claus Dobiat, Peter Ettel und Friederike Fless
Bios - Cultus - (Im)mortalitas Zu Religion und Kultur - Von den biologischen Grundlagen bis zu Jenseitsvorstellungen Beiträge der interdisziplinären Kolloquien vom 10.- 11. März 2006 und 24.-25. Juli 2009 in der Ludwig-Maximilians-Universität München
Herausgegeben von Amei Lang und Peter Marinković
Verlag Marie Leidorf GmbH • Rahden/Westf. 2012
264 Seiten mit 69 Abbildungen und 5 Tabellen
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Lang, Amei; Marinković, Peter (Hrsg.): Bios - Cultus - (Im)mortalitas. Zu Religion und Kultur - Von den biologischen Grundlagen bis zu Jenseitsvorstellungen. Beiträge der interdisziplinären Kolloquien vom 10.- 11. März 2006 und 24.-25. Juli 2009 in der Ludwig-MaximiliansUniversität München Rahden/Westf.: Leidorf, 2012 (Internationale Archäologie - Arbeitsgemeinschaft, Symposium, Tagung, Kongress; Band 16) ISBN 978-3-86757-151-7
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier
Alle Rechte vorbehalten © 2012
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ISBN 978-3-89646-446-0 ISSN 1434-6427
Kein Teil des Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, CD-ROM, DVD, BLUERAY, Internet oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages Marie Leidorf GmbH reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlagentwurf: Amei Lang, München Redaktion: Amei Lang, München Satzerstellung und Layout: Robert Schumann, München
Druck und Produktion: druckhaus koethen GmbH, Köthen
Inhalt
Vorwort der Herausgeber ......................................................................................................................
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Ulrich Welsch Die biologische Entwicklung des Menschen ..................................................................................
9
Winfried Henke / Matthias Herrgen Menschwerdung als evolutionsökologischer Prozess .....................................................................
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Gerhard Bosinski Die kulturelle Entwicklung des Menschen von den Anfängen bis zum Beginn des Neolithikums ................................................................................................................
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Amei Lang Archäologisches zu Religion im Paläolithikum .............................................................................
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Harald Floss Bilder von Leben und Tod – Die Eiszeitkunst ................................................................................
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Wolfgang Achtner Die Evolution von Religion in theologischer Perspektive ..............................................................
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Regine Schulz Jenseits und Unsterblichkeit im Pharaonischen Ägypten ............................................................... 109 Stephan Kroll Frühbronzezeitliche Opferplätze in der südlichen Levante ............................................................ 117 Walther Sallaberger Der Tod des göttlichen Königs. Die Krise des Menschenbilds in altbabylonischer Zeit ............... 123 Walther Sallaberger Das Opfer in der altmesopotamischen Religion ............................................................................. 135 Herbert Niehr Bestattung und Nachleben der Könige von Ugarit im Spiegel von Archäologie und Literatur ..... 145 Carola Metzner-Nebelsick Das Opfer. Betrachtungen aus archäologischer Sicht ..................................................................... 157 Peter-Arnold Mumm Die Seele als „kalter Hauch“ des Todes – der sprachgeschichtliche Hintergrund von psyche ....... 181
Peter Marinković næpæš - psyche – immortalitas. Hoffnung auf Unsterblichkeit in der biblischen Tradition der hellenistisch-römischen Zeit? .................................................................................................... 187 Jörg Rüpke Der Tod als Ende der Sterblichkeit. Praktiken und Konzeptionen in der römischen Antike .......... 199 Josef Quitterer Schwierigkeiten einer rationalen Rekonstruktion des christlichen Auferstehungsglaubens – exemplarisch verdeutlicht an der Lehre des Thomas von Aquin .................................................... 211 Hartmann Hinterhuber Seele und Gehirn. Kulturgeschichtliche und neurowissenschaftliche Gedanken zu Psyche, Geist und Bewusstsein .................................................................................................. 219 Gabriele Werner-Felmayer Immer jung und niemals tot? Ein alter Menschheitstraum aus der Perspektive heutiger Biomedizin ....................................................................................................................... 233 Hans Goller Sind Nahtoderfahrungen ein Beweis für das Überleben unseres Todes? ........................................ 247
Bilder von Leben und Tod - Die Eiszeitkunst
Harald Floss Die Eiszeitkunst ist ein einzigartiges Archiv, etwas über die Jenseitsvorstellungen unserer altsteinzeitlichen Vorfahren zu erfahren. Rein profane Erklärungen dieses bedeutenden kulturhistorischen Phänomens greifen demgegenüber zu kurz. Die vor ca. 40.000 Jahren erstmals erscheinenden Malereien, Gravierungen und Skulpturen bezeugen nicht nur einen Sinn für Ästhetik und eine außergewöhnliche Kunstfertigkeit, sondern im Kern eine ausgeprägte symbolische Ordnung und eine von der gesamten Gesellschaft getragene Spiritualität. Die Themen von Leben und Tod spielen in der Eiszeitkunst eine besondere Rolle. In animistisch geprägten Gesellschaften stellt das Töten von Tieren die Menschen vor ein Problem, das nur in einem Ritual gelöst werden kann. Die tief in den Höhlen und in der Kleinkunst überlieferten Themen geben uns Zeugnis von der Kontaktaufnahme mit jenseitigen Mächten und sind Zeugnis des großen Aufwandes, der zur Klärung bestehender Komplikationen betrieben wurde. Paläolithikum; Eiszeitkunst Bereits in der Altsteinzeit ging es um Leben und Tod. In Gesellschaften, die Bestattungen kennen, sich vornehmlich von getöteten Tieren ernähren und Figuren aufreizender Frauen hervorbringen, muss dies so sein. Mit der Eiszeitkunst erscheint vor ca. 40.000 Jahren in Europa eines der faszinierendsten Phänomene der Kulturgeschichte und ein Archiv, das uns vielfältige Einblicke in die komplexen Jenseitsvorstellungen des altsteinzeitlichen Homo sapiens gestattet.1 Erste Vorläuferformen der Eiszeitkunst werden im Kontext des Alt- und Mittelpaläolithikums sowie der afrikanischen Middle Stone Age beobachtet. Von einzelnen sehr diskutablen so genannten Protofigurinen und geometrischen Ritzungen abgesehen, kennen wir aus diesen sehr frühen Zusammenhängen keine eindeutigen figürlichen Darstellungen. Mit dem Beginn des europäischen Jungpaläolithikums, der zeitlich und weitgehend auch kausal mit dem ersten Auftreten des anatomisch modernen Menschen (Homo sapiens) verbunden ist, erfährt die Menschheitsgeschichte einschneidende Veränderungen.2 Die in der Frühphase der Urgeschichtsforschung vorgenommene Grenzziehung zwischen Mittel- und Jungpaläolithikum stellt nicht einen beliebigen, heute nur noch wissenschaftsgeschichtlich relevanten Zwischenstand der Forschung dar, sondern wurde mit Sachkenntnis und Intuition an der richtigen Stelle platziert. Nach Jahrzehnte währenden Diskreditierungen ist die Ehrenrettung des Neandertalers und anderer frü1 Floss 2005. 2 Floss / Rouquerol 2007.
hester Menschenformen verständlich. Diese nivellierenden Ansätze dürfen aber nicht dazu führen, dass reale Differenzen verwischt werden. Denn so richtig es sein mag, die komplexen Vorgänge der menschlichen Evolution und die schrittweise erfolgte kognitive Entwicklung der Hominiden aufzuzeigen, so sehr läuft eine solche Herangehensweise Gefahr, den fundamentalen kulturellen Wandel zu verwischen, von dem Europa vor ca. 40.000 Jahren erfasst wurde. Und so zutreffend es sein mag, auf sporadische Hinweise ästhetischen Empfindens im Mittelpaläolithikum hinzuweisen und dem Neandertaler zahlreiche Errungenschaften zu attestieren, so sehr ist man doch von Blindheit geschlagen, wenn man die enormen, mit dem Beginn des Jungpaläolithikums einhergehenden kulturellen und sozialen Veränderungen negiert. Letztlich ist die Welt seit dieser Zeit eine andere. Es geht dabei nur am Rande um technologische Neuerungen, schon eher um die regelhafte und gesellschaftlich getragene Erzeugung von Schmuck und im Kern um die flächenhafte Präsenz der Eiszeitkunst. Die heute unter dem Begriff „Kunst“ subsummierten Malereien, Gravierungen, Modellierungen und Skulpturen auf Höhlenwänden und in Form von Gegenständen bezeugen vordergründig Ästhetik und künstlerisches Geschick, im Kern aber eine erstmals beobachtete symbolische Ordnung und eine gesellschaftlich tradierte und institutionalisierte Spiritualität, mit anderen Worten Religion. Die unter dem Begriff Eiszeitkunst zusammengefassten Darstellungen sind in ihrem Erscheinungsbild
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H. Floss, Bilder von Leben und Tod
Abb. 1. Die Venus vom Hohle Fels. Aurignacien, Alter ca. 40.000 Jahre. Foto: Hilde Jensen.
Abb. 2. Handnegativ aus der Grotte Chauvet, Ardèche, Frankreich. Foto: M. Kneubühler, DRAC Rhône-Alpes.
sehr heterogen, inhaltlich demgegenüber relativ überschaubar. Bereits in ihrer Anfangsphase, dem Aurignacien, waren mit Malerei, Gravierung und Skulptur nahezu sämtliche künstlerischen Techniken angelegt, die sich in der Folge in der eiszeitlichen und nacheiszeitlichen Kunstgeschichte in atemberaubender Manier entwickeln sollten.3 Die wichtigsten Themen der Eiszeitkunst sind Tiere, Menschen und Zeichen. Daneben gibt es selten Darstellungen von Mischwesen (Abb. 3) und Pflanzen. Demgegenüber sind Gegenstände, wenn wir einmal von der Venus mit Horn aus Laussel und einigen Andeutungen von Kleidung absehen, so gut wie nie vertreten. Seit ihrer zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgten Anerkennung als authentische Erzeugnisse prähistorischer Menschen steht die Eiszeitkunst im Fokus diverser Hypothesen, die von herausragenden Forscherpersönlichkeiten, aber auch vom jeweiligen Zeitgeist geprägt sind. Zuweilen wurde sie auch das Opfer aberwitziger Interpretationsirrtümer. So bunt sich die Welt der Wissenschaft und der gesellschaftlichen Verhältnisse in den zurückliegenden Jahrzehnten entwickelt hat, so sehr war auch die Eiszeitkunst tendenziösen oder verbrämten Ansichten ausgesetzt, wenn wir etwa an esoterisch geprägte Untersuchungen um so genannte Muttergottheiten und Matriarchatstheorien, die biologistisch und in Teilen annähernd sexistisch geprägte Herangehensweise eines Dale Guthrie4 oder an die omnipräsente Schamanismustheorie5 denken. Zwischen diesen Polen gilt es, einen adäquaten Standpunkt zu finden. Denn genau so richtig es ist, biologische bzw. rein ästhetisierende Erklärungen im Sinne von l’art pour l’art für die Eiszeitkunst abzulehnen und ihren spirituellen
Hintergrund zu betonen, so sehr wird es angesichts der verbreiteten Schamanismus-Theorie wichtig, auf die Vielfalt und das „qualitative Gefälle“ eiszeitlicher Kulturgüter hinzuweisen und Vorsicht bei jeglichen Versuchen walten zu lassen, jeden auch noch so insignifikanten Strich auf einen religiösen Sockel zu heben. Nichtsdestotrotz wäre es falsch, die reelle diesseitige Lebenswelt des Eiszeitmenschen von der jenseitigen Welt der Ahnen zu trennen. In Sammler- und Jäger-Gesellschaften sind beide Welten unstrittig miteinander verbunden. Die signifikantesten Beispiele der Eiszeitkunst sind damit Ausdruck von Ritualen, die Teile ein und desselben symbolischen und religiösen Gesamtsystems sind. Der Mensch ist mehr als ein intelligentes Tier. Die Gesamtheit seiner Lebenswelt ist mehr als die Addition kognitiv, biologisch oder evolutionär erklärbarer Einzelphänomene. Ohne die kulturelle, soziale und religiöse Ausprägung der jungpaläolithischen Lebenswelt ist das Phänomen Eiszeitkunst nicht erklärbar. Eiszeitkunst ist nicht vernünftig und hat keine Ökobilanz. Sie ist, ja, atemberaubend schön, aber auch sehr aufwendig. Und sie ist Ausdruck von Schönheit und Kraft, aber auch Sex, Gewalt und Angst. So sehr es stimmt, dass wirtschaftlich erfolgreiche Voraussetzungen gegeben sein mussten, um Eiszeitkunst praktizieren zu können, so sehr setzten im Sinne Jared Diamond‘s6 und Claus Leggewie‘s et al.7 die kulturelle Symbolwelt und ihre gefühlten bzw. habituellen Verpflichtungen dem Eiszeitmenschen und seinen rationellen Handlungsmöglichkeiten enge Grenzen. Vielleicht ist es tatsächlich kein Zufall, dass die mit derart kulturellem Ballast ausgestattete Magdalénien-Gesellschaft, die allgemein als Höhepunkt eiszeitlicher Kulturen
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Floss / Rouquerol 2007. S. dazu Floss 2006. Clottes / Lewis-Williams 1997. Diamond 2005. Leggewie et al. 2009.
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Abb. 4. Szenische Darstellung des jüngeren Magdalénien aus der Grotte de Raymonden, Chancelade, Dordogne. Nach Gerhard Bosinski 1987.
Abb. 3. Der Löwenmensch vom Hohlenstein-Stadel, Aurignacien, Alter ca. 35.000 Jahre. Foto: Ulmer Museum. Mit freundlicher Genehmigung von K. Wehrberger.
8 Rauer 2008. 9 Vgl. Freud 1913. 10 Rauer 2008.
angesehen wird, aussterben musste, auch ohne dass man dafür die klimatischen Veränderungen am Ende der letzten Eiszeit verantwortlich machen müsste. Über Millionen von Jahren hinweg waren Menschen Sammler und Jäger. Menschen ernährten sich im Zuge ihrer Entwicklung vornehmlich vom Fleisch großer Tiere und am Ende des Paläolithikums auch zunehmend von Fisch, Kleintieren und Pflanzen. Das Töten von Tieren zählt damit zum Menschsein von jeher wie das Essen, Schlafen und die Fortpflanzung. Mit Beginn des Jungpaläolithikums und dem Auftreten des Homo sapiens treten aber ein Bewusstsein und damit auch ein Bewusstsein ob dieser Tätigkeiten auf. Da sich in den jungpaläolithischen Gesellschaften nach Constantin Rauer8 in Tieren auch Ahnen verbergen können, wird plötzlich ein Problem virulent, das mit Opfern, Tätern und Tabus zu tun hat und nur im Ritual gelöst werden kann.9 Die Eiszeitkunst ist zumindest in Teilen ein Reflex dieses Problems.10 Dieses Problem betrifft nicht nur die Gesellschaft des Jungpaläolithikums im Allgemeinen, sondern scheint auch geschlechtsspezifisch zu sein. So sehr sich Forscherinnen heute darum bemühen, die Tätigkeitsbereiche von Frauen und Männern der Altsteinzeit anzunähern, so sollte die quantitative Gewichtung der Darstellung von Männern, die so gut wie nie, und derer von Frauen, die sehr häufig in der Eiszeitkunst abgebildet sind, schon stutzig machen, ob in der Steinzeit nicht eine gewisse Ungleichheit der Rollenverteilung bestanden haben könnte. Letztlich wundern wir uns über aktuelle Positionen, Frauen bei der Jagd dieselbe Rolle beizumessen wie Männern. Ist es denn wirklich so attraktiv, beim Töten ebenso so bedeutend zu sein? Frauen töten weniger häufig als Männer. Dies war in der Eiszeit so wie heute. In der Eiszeitkunst,
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H. Floss, Bilder von Leben und Tod
Abb. 5. Die Schachtszene aus Lascaux, Dordogne. Mit freundlicher Genehmigung von J.-M. Geneste.
die Ausdruck tradierter Rituale ist, gibt es relativ zahlreiche Frauendarstellungen, doch sind sie nie persönlich, sondern stets symbolisch, entpersonifiziert, gesichtslos, manchmal haben sie nicht einmal einen Kopf.11 So, als haben sie eine höhere symbolische Bedeutung. Oder haben sie gar etwas zu verbergen? Und wie sieht es mit den Männern aus? Männer töten und im Sinne des von Constantin Rauer12 angenommenen Täterschutzes outen sie sich nicht. Sie sind deshalb in der Eiszeitkunst ausgenommen selten und, wenn überhaupt, zumeist in Jagdszenen dargestellt. Sie sind wie in Cougnac von Speeren durchbohrt, fallen wie in Lascaux ityphallisch vor in der Jagd verletzten Tieren auf den Boden (Abb. 5), schleichen wie in Péchialet mit Speeren durch die Landschaft oder flüchten wie in Angles-sur l’Anglin Hals über Kopf vor angreifenden Tieren. Dies alles ist bezeichnend. Wäre jemals in der paläolithischen Kunst eine Frau in solche Jagdszenen verwickelt? Und sollte das nicht zu denken geben? Lediglich La Marche in der Charente bildet eine Ausnahme. Hier werden sowohl Frauen, aber auch recht zahlreich Männer mit sehr realistischem, zuweilen geradezu karikaturhaftem Ausdruck darge11 Floss 2010. 12 Rauer 2010.
stellt. Ist La Marche Zeugnis eines Tabubruchs? Wir wissen es nicht. Insgesamt sind wir davon überzeugt, dass die Eiszeitkunst ohne die Auseinandersetzung der Menschen mit der jenseitigen Welt nicht erklärbar ist. Alles war eins. Es gibt in der Eiszeitkunst Phänomene, denen man eine transzendentale Note nicht absprechen kann. Hier fallen zunächst die außergewöhnlichen Kontexte in Höhlen auf. Tief in der Unterwelt, weitab von Tageslicht und Ressourcen, finden sich die meisten der außergewöhnlichen paläolithischen Höhlenheiligtümer. Oft gibt es in diesen Höhlen keine oder nur marginale Hinweise auf gewöhnliche Besiedlungen. Was wollte man bloß in dieser dunklen, Angst einflößenden Unterwelt, wenn es nicht um Kontaktaufnahme mit den Ahnen oder Geistern gegangen wäre. Die außergewöhnlichsten Darstellungen finden sich oft ganz am Ende der Höhlen, dort, wo es wirklich nicht mehr weiter ging und wo die jenseitige Welt begann. Dies gilt für die Wisente in Tuc d’Audoubert genau so wie für den Salon noir in Niaux, das Wisent-Frau-Mischwesen aus der Grotte Chauvet oder, um die Kleinkunst mit einzubeziehen, den Löwenmenschen vom Hohlenstein-Stadel (Abb.
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Abb. 6. Ein in Spalten der Höhlenwand eingebrachter Zahn. Les Trois Frères, Ariège. Mit freundlicher Genehmigung von Jean Clottes und Robert Begouën.
3). Vielfach folgen die Darstellungen einer ausgeklügelten Choreographie. Zeichen markieren zuweilen den Eintritt in die „heiße Zone“, beispielhaft erläutert an einer Engstelle in der Höhle Niaux.13 Tatsächlich scheint es so, als seien tiefe Höhlen für die Menschen des Jungpaläolithikums ein Raum der Kontaktaufnahme mit der Unterwelt gewesen. Inhaltlich wird man am ehesten den Darstellungen von Mischwesen ein sich Abheben von alltäglichen Inhalten bescheinigen können. Ganz unabhängig davon, ob Darstellungen wie der Löwenmensch des Stadels, der Dieu cornu aus Les Trois Frères oder der Zauberer von Le Gabillou nun verkleidete Schamanen oder Trancezustände repräsentieren, wird klar, dass in der paläolithischen Kunst Inhalte wiedergegeben sind, die es in der Natur vordergründig nicht gab und für deren Erschließen es Spezialisten bedurfte. Hier und da gewinnt man den Eindruck, als habe sich der steinzeitliche Mensch vor den Mächten der Unterwelt schützen wollen. Zu diesem Zwecke begab man sich in die Tiefe der Höhlen und versuchte im Ritual zu klären, was zu klären war. Die in der Höhlenkunst omnipräsenten Handabdrücke, wie
13 Floss 2005, Abb. 67. 14 Eibl-Eibesfeldt / Sütterlin 1992.
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etwa die der Grotte Chauvet (Abb. 2), tragen deutlich apotropäische, d.h. Unheil abwehrende Züge, so als habe man den Mächten des Jenseits sagen wollen: Stopp – bis hierher und nicht weiter! Und eines der kuriosesten Phänomene der paläolithischen Höhlennutzung, das Einbringen von Knochensplittern und Steinartefakten in Spalten und Ritzen der Höhlenwand, wie etwa in der Pyrenäenhöhle Les Trois Frères (Abb. 6), könnte vor dem genannten Hintergrund unvermittelt die frappierend einleuchtende Erklärung erfahren, als habe man diese Objekte im Sinne von Opfergaben zur Besänftigung „böser Geister“ in die Höhlenwände gesteckt. Einmal auf diese Fährte gebracht, kommen unmittelbar die aufreizend und mit deutlichen Sexualmarkern ausgestatteten so genannten Venusfiguren des eurasischen Gravettien in den Sinn und insbesondere die noch viel ältere, knapp 40.000 Jahre alte, unlängst entdeckte so genannte Venus vom Hohle Fels, deren Geschlechtsmerkmale expliziter nicht hätten dargestellt werden können (Abb. 1). E. Qasim hat diese Merkmale unlängst mit so genannten Schamweisen in Verbindung gebracht, die in diversen Ethnien als Methode zur Provokation und Abwehr von Dämonen und böser Geister angewendet werden.14 Auch wenn man nicht versuchen sollte, die gesamte Eiszeitkunst in ein Modell zu pressen und wenn wir zugeben müssen, hier nur einige besonders augenfällige Phänomene beleuchtet zu haben, so wird klar, dass jegliche Versuche, die Eiszeitkunst ohne spirituellen Überbau zu interpretieren, zu kurz greifen müssen. Die Schachtszene aus Lascaux (Abb. 5), die szenischen Darstellungen aus Chancelade und La Vache (Abb. 4), die skelettierten Pferdeköpfe aus Le Mas d‘Azil sowie die Mischwesen der Wand- und Kleinkunst sind ohne eine intensive Auseinandersetzung des Menschen mit den Themen Leben und Tod nicht denkbar. Die Eiszeitkunst sagt uns damit auch etwas über die Jenseitsvorstellungen des frühen Homo sapiens. Seit dem Jungpaläolithikum sind Gräber mit Beigaben nachweisbar, wenn wir hier nur an das spätglaziale Doppelgrab von Bonn-Oberkassel denken, in dem zwei Kleinkunstwerke, der Penisknochen eines Bären sowie Reste eines Hundes lagen. Diese Befunde sprechen ebenfalls eine klare Sprache. Versuche, die Welt der Altsteinzeit als primitiv, „vor – geschichtlich“ und kindlich naiv zu diskreditieren, erscheinen vor diesem Hintergrund voll und ganz obsolet.
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H. Floss, Bilder von Leben und Tod
Literatur Bosinski 1987 G. Bosinski, Die große Zeit der Eiszeitjäger. Europa zwischen 40000 und 10000 v. Chr. Jahrbuch RGZM 34, 1987, 3-139. Clottes / Lewis-Williams 1997 J. Clottes / D. Lewis-Williams, Schamanen. Trance �������������� und Magie in der Höhlenkunst der Steinzeit. Speläo 2 (Sigmaringen 1997). Diamond 2005 J. Diamond, Collapse. How societies choose to fail or succeed (New York 2005). Eibl-Eibesfeldt / Sütterlin 1992 I. Eibl-Eibesfeldt / Chr. Sütterlin, Im Banne der Angst. Zur Natur- und Kunstgeschichte menschlicher Abwehrsymbolik (München u. Zürich 1992). Floss 2005 H. Floss, Die Kunst der Eiszeit in Europa. In: W. Schürle / N. J. Conard (Hrsg.), Zwei Weltalter. Eiszeitkunst und die Bildwelt Willi Baumeisters (Ostfildern 2005) 8-69. Floss 2006 H. Floss, Daddy, it was me! Schufen ������������������������������� pubertierende Halbstarke die Eiszeitkunst? Ein Kommentar zu R. Dale Guthrie, The nature of paleolithic art. Mitteilungen der Gesellschaft für Urgeschichte 14, 2006, 97-112. Floss / Rouquerol 2007 H. Floss / N. Rouquerol (ed.), Les chemins de l’Art aurignacien en Europe – Das Aurignacien und die Anfänge der Kunst in Europa. Colloque International, Aurignac 2005. Éditions Musée-forum Aurignac 4 (Aurignac 2007). Floss 2010 H. Floss, Verborgene Gesichter – Masken und Verkleidungen der Altsteinzeit. In: H. Meller (Hrsg.), Masken der Vorzeit in Europa (I). Internationale Tagung in Halle (Saale), 20.21.11.2009. Tagungen des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle (Saale) (Halle 2010) 49-59.
Freud 1913 S. Freud, Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker (Leipzig und Wien 1913). Leggewie / Welzer 2009 C. Leggewie / H. Welzer, Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie (Frankfurt a. M. 2009). Qasim 2009 E. Qasim, Eine mögliche Interpretation der „Venus vom Hohlen Fels“. http://www.uf.uni-erlangen.de/publikationen/ qasim/venus.html, 14.5.2009. Rauer 2008 C. Rauer, Von Menschen und Tieren. Zur symbolischen Ordnung der jüngeren Altsteinzeit. Vortrag Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartärökologie, Eberhard Karls Universität Tübingen, 12.6.2008, unpubl. Manuskript. Rauer 2010 C. Rauer, Maske und Tabu im Jungpaläolithikum. In: H. Meller (Hrsg.), Masken der Vorzeit in Europa (I). Internationale Tagung in Halle (Saale), 20.-21.11.2009. Tagungen des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle (Saale) (Halle 2010) 41-47.
Prof. Dr. Harald Floss Eberhard-Karls-Universität Tübingen Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters Ältere Urgeschichte und Quartärökologie Schloss Burgsteige 11 72070 Tübingen
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