Barthes ueber Plastik oder Das Nachleben eines Kunststoffs

June 8, 2017 | Author: Margarete Vöhringer | Category: Cultural Studies, Material Culture Studies, Roland Barthes
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Margarete Vöhringer Barthes über Plastik oder: Das Nachleben eines Kunststoffs Erscheint Anfang 2014 in: Mythologies – Mythen des Alltags. Roland Barthes’ Klassiker der Kulturwissenschaften (hrsg. von Anne-Kathrin Reulecke und Mona Körte, Kadmos Berlin).

Roland Barthes Text Plastik weist eine erstaunliche Zeitlosigkeit auf. Der als rätselhaft eingeführte Kunststoff wird auf eine Weise beschrieben, dass der Text in beiderlei Richtungen aktuell erscheint – sowohl im Blick auf seine Vergangenheit als auch auf seine Zukunft. Plastik war in den 1950er Jahren, als Barthes darüber reflektierte, ein schon mehr als hundert Jahre altes, in verschiedenen Ausprägungen entwickeltes Material und bot doch Neues, was seine Anwendbarkeit betraf – und genau diese Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem bringt der Text zum Ausdruck. Geschichte Schon mit dem ersten Satz seiner „Mythologie“ verweist Barthes das Plastik auf den Kontext, der als sein historischer Ursprung gilt und noch Jahrhunderte später in ihm fortwirkt: „Trotz seiner griechischen Hirtennamen (Polystyren, Phänoplast, Polyvinyl, Polyäthylen) ist das Plastik, dessen gesammelte Produkte jüngst auf einer Messe ausgestellt wurden, in erster Linie eine alchimistische Substanz“1. Die Spannung zwischen der griechischen Namensgebung und der neueren Alchimie wird von Barthes zwar deutlich benannt, aber nicht weiter erläutert, für ihn hat der Kunststoff vor der Frühen Neuzeit keine nennenswerte Entwicklung gemacht. Auch die wohl älteste überlieferte Quelle zur Herstellung eines künstlichen Stoffes geht zurück auf die Zeit um 1530 und damit auf die Blütezeit der Alchimie. Wolfgang Seidel, deutscher Mönch und Verfasser wissenschaftlicher Schriften, erfuhr von einem Schweizer Kaufmann die geheime Rezeptur, die es erlaubte, eine „durchsichtige materi“2 zu schaffen. Dieses künstliche Rinderhorn war haltbarer als Holz, das schnell faulte und fester als Horn, 1

Roland Barthes: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe. Übers. von Horst Brühmann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010, S. 223. (Weitere Nachweise mit Angabe der Seitenzahl direkt im Text.) 2 Udo Tschimmel: Die Zehntausend-Dollar-Idee. Kunststoff-Geschichte vom Zelluloid zum Superchip. Düsseldorf u.a.: ECON Verlag 1989, S. 10.

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das sich leicht wölbte. Darüber hinaus schien es im Vergleich zu den damals verwendeten Stoffen, wie dem getrockneten Krötenlaich oder dem verdünnten Ochsenblut, von recht einfacher Natur: Sein Grundstoff war Mager- oder Ziegenkäse. Die Anfertigung wurde von Seidel so genau beschrieben, dass sie sich noch heute leicht kopieren ließe. Zu guter Letzt − und auch damit nahm der frühe Käsekunststoff das spätere Plastik vorweg − schreibt er: „Wenn man es richtig gemacht hat, kann man damit Tischplatten, Trinkgeschirr und Medaillons gießen – also alles, was man will.“3 Diese Omnipotenz des künstlichen Materials bewog Barthes dazu, es zu entmaterialisieren: Plastik ist „nicht nur eine Substanz, es ist die Idee ihrer unendlichen Transformation“, mehr noch, es ist „ein wunderbarer Stoff“ denn „ein Wunder ist immer eine plötzliche Transformation der Natur“ (223). Die Magie war zur Zeit Barthes längst den exakten Wissenschaften gewichen, Chemiker hatten die Alchimisten ersetzt und entwickelten seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprunghaft immer neue, manchmal einander ähnelnde, oft gefährliche künstliche Stoffe. Industrialisierung und Technisierung hatten zu einer Wissenszunahme beigetragen, die durch Patentierung geschützt und zugleich zugänglich gemacht wurde. Schließlich waren die Herstellungsverfahren Teil der Faszination, die die neuen Kunststoffe auslösten. Wenn nicht die Erfinder selbst, so führten Schausteller auf Jahrmärkten die chemischen Reaktionen vor, meist begleitet von sachlichen Enthüllungen der scheinbar übernatürlichen Vorgänge. Doch all das hielt Barthes nicht davon ab, die Herstellung von Plastik statt als rationalen, nachvollziehbaren Prozess als „magische Operation par excellence“ aufzufassen. Es waren nicht die klaren chemischen Reaktionen, die ihn faszinierten, sondern die opake „Verwandlung der Materie“. Ihn schien nicht die durchaus bewundernswerte Produktionsweise der Kunststoffe zu interessieren, sondern ihre Wirkung, ihre unbändige Verwandlungskunst. Und damit traf er die Stimmung seiner Zeit genau auf den Punkt. Um Plastik als „Schauspiel“ zu bestaunen, standen Menschen Schlange vor der Ausstellung einer „idealen Maschine“ (223), in deren Innerem sich das geheimnisvolle Geschehen der Plastifizierung vollzog. Mit dieser Beobachtung versetzt uns Barthes mitten hinein ins 19. Jahrhundert, in welchem sich eben solche Schlangen am Eingang zu den Hallen der Weltausstellungen bildeten, um

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neue Materialien wie Gummi oder Parkesin zu bewundern. Damals standen ebenfalls nicht die Herstellungsverfahren im Vordergrund, aber auch nicht die Maschinen, sondern die Stoffe selbst: 1851 war der so genannte „Vulcanite Court“ auf der „Großen Ausstellung“ in London komplett mit vulkanisiertem Gummi ausgekleidet, so dass die Objekte aus demselben Material sich zudem kaum vom Hintergrund abhoben: Gummispazierstöcke, Gummimusikinstrumente, Gummimöbel, riesige Gummiballons von zwei Metern Durchmesser und ein überdimensioniertes Rettungsfloß aus Gummi versetzten die Besucher in Staunen. Während Gummi noch aus haltbar gemachtem, vulkanisiertem Naturkautschuk bestand, kam zehn Jahre später das erste gänzlich im chemischen Labor geschaffene Material auf: Parkesin. 1862 stellte sein Erfinder Alexander Parkes auf der „Großen Internationalen Ausstellung“ in London den Alleskönner mit atemberaubenden Versprechungen vor: Parkesin sollte einsetzbar sein für „Medaillons, Tabletts, Schüsseln und Töpfe, Rohre, Knöpfe, Kämme, Messergriffe, […], Kartenbehälter, Kästen, Schreibstifte […]“4; es sollte „Schiffsanstriche seewasserfest machen; […] die junge Telegrafie beflügeln, indem es […] ihre Drähte gegen die Witterung schützte“; und schließlich sollten mit Parkesin „Kunstwerke überzogen werden“5. Der alchimistische Traum von der Schaffung einer neuen Substanz schien sich nun zumindest teilweise erfüllt zu haben – wenn Plastik auch keine lebendige Substanz war, sondern eine, die nur so lange formbar blieb, wie sie erhitzt wurde und versteifte, sobald die Hitze nachließ. Dieses Versteifen brachte Roland Barthes zu der Beobachtung, dass Plastik „kaum noch als Substanz existiert“ und sich nur „zwischen der Dehnbarkeit von Gummi und der kategorischen Härte von Metall“ (224) einordnen lässt. Für Parkes führte das Versteifen zu einer Brüchigkeit des Kunststoffs, die ihn trotz seiner hellseherischen Ideen in den Ruin treiben sollte. Ungeachtet dieses – nicht seltenen – Scheiterns eines neuen Materials kam es im Laufe der nächsten Jahrzehnte zu unzähligen weiteren Erfindungen von Kunststoffen, wie Zelluloid, Bakelit, Polymeren, Plexiglas, Nylon, Perlon, Polyester usw., die Parkes’ Vorstellungen weitgehend realisierten. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatten sich Kunststoffe durchweg als positiv besetzte Materialien etabliert: Sie wurden zu Ersatzstoffen für die Bekleidungsindustrie, der die Rohstoffe ausgingen (Polyester statt Seide); zu Luxusgütern, die auch für das wachsende Bürgertum

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erschwinglich waren (Zelluloid statt Bernstein); zu wichtigen Bestandteilen der Freizeitunterhaltung (Bakelit als Gehäuse tragbarer Radios). Und schließlich diente Plastik nahezu von Anbeginn dem Recycling industrieller Abfälle: Parkesin beispielsweise wurde gewonnen aus zerkleinerten Baumwollabfällen; Bakelit entstand aus dem Phenol, das in den Teermassen enthalten war, die bei der Koksherstellung übrig blieben. Bakelit war zudem der erste Stoff, der die Bezeichnung „Kunststoff“ überhaupt erst verdiente, da es gänzlich aus künstlichen Ausgangsstoffen erzeugt wurde. 1909 hatte es Leo Hendrik Baekeland der Weltöffentlichkeit präsentiert. Bis dahin war Plastik das Resultat natürlicher Rohstoffe wie Kautschuk oder Cellulose, die so bearbeitet und verändert wurden, dass künstliche Stoffe entstanden. Erst danach – also deutlich später als die ersten Verfahren zur Kunststoffherstellung – kam im Jahre 1911 der Begriff „Kunststoffe“ auf, geprägt von Richard Escales und populär geworden durch die gleichnamige von ihm gegründete Zeitschrift. Diese Zeitschrift schließlich war nichts anderes als ein Werbekatalog für die neuesten Erfindungen im Bereich der Kunststoffproduktion und sorgte durch den internationalen Vertrieb dafür, dass Barthes’ „Träumen des Menschen vor dem Wuchern der Materie“ (224) fast auf der ganzen Welt stattfinden konnte. Plastik erschien bis zum Zweiten Weltkrieg als ein umweltfreundliches, demokratisches und noch dazu kulturneutrales Material, das heißt, es fand Anklang in den verschiedensten Kulturen, seien sie mehr oder seien sie weniger modernisiert. Selbst in Afrika und im fernen Sibirien war die Einführung von Plastikprodukten gleichbedeutend mit Fortschrittlichkeit, ermöglichte es den Frauen doch mehr Unabhängigkeit, einfach weil Plastikeimer billiger, stabiler und wesentlich leichter waren, so dass die Hausarbeit effizienter gestaltet werden konnte. Das Nutzungspotential von Plastik wurde von jedermann zu jeder Zeit an jedem Ort erkannt und war durchweg attraktiv. Alltag Dies änderte sich aber − und zwar in genau der Zeit, in der Barthes’ Text entstand. Plastik „ist die erste magische Materie, die sich damit begnügt, prosaisch zu sein“ (225), schreibt er gegen Ende seines Essays und bringt damit eine Entwicklung zur Sprache, die der Amerikaner Earl S. Tupper 1950 mit der Vermarktung von Tupperware in Privathaushalten in Gang gesetzt hatte. Wurden bis dahin Dinge wegen ihres Seltenheitswerts bewundert, erfuhren nun umgekehrt die gewöhnlichen Erscheinungen eine magische Aufladung. Obwohl sich ihre Existenz allein aus ihrem nüchternen Zweck erklärte und sie wegen dieser reinen

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Funktionalität als alltägliche (und eben nicht besondere) Dinge aufgefasst wurden, hatten sie zugleich eine faszinierende Wirkung. Im Fall von Tupperware wurden diese Gebrauchsdinge nicht nur abgenutzt sondern auch bewundert, sie übten eine geradezu irrationale Wirkung auf ihre Konsumenten aus, die sich nicht allein durch die Beschaffung des Notwendigen stillen ließ. Plastik wurde zu einem Objekt der Begierde, wurde fetischisiert. Dabei wurde es nicht mehr im öffentlichen Raum – im Einzelhandel oder über Kataloge – feilgeboten, sondern direkt an ihrem Einsatzort, in den gewöhnlichen Küchen und Badezimmern der Nachkriegshaushalte. Wie Außerirdische drangen die Tupper-Boxen ein in die saubere Welt der modernen Frau. Brownie Wise übernahm das Marketing und führte Tupperware House Parties ein, die zwei Fliegen mit einer Klappe schlugen – sie ermöglichten den unterforderten Hausfrauen eine Form von Berufsleben und förderten zugleich den Konsum und die Alltagsbewältigung. „Das Plastik […] ist eine Substanz für den Haushalt“ (225) geworden, so Barthes. Millionen von Frauen kauften Plastikbecher, luftdicht und vor Bakterien sicher verschließbare Behälter, unzerbrechliche Kinderteller – und verfielen in euphorischen Taumel angesichts der bunten Tupper-Warenwelt. Mit dem Einsatzort im Privaten hatte sich auch das Zielpublikum von Plastik grundlegend verändert: „Auf dem Gipfel ihrer Entwicklung war die Tupperare-Welt eine Geheimgesellschaft ohne Männer (mit der Ausnahme Tuppers). Ein Ort, an dem kluge, ehrgeizige Frauen realistisch und praktisch sein konnten“.6 Vielleicht hatte Roland Barthes das Verfahren zur Herstellung von Plastik deshalb als BlackBox-Prozedere eingeführt, hatte sich verständnislos neben eine Maschine gestellt, deren Verfahren er als „Nichts“ bezeichnete, „überwacht von einem einzigen Angestellten mit Schirmmütze“ (223) – gerade so wie Earl S. Tupper seine Tupperparties überwachte. Mitte der 50er Jahre war Plastik vom kulturfreien zu einem amerikanischen Phänomen geworden und von einem besonderen, die natürlichen Stoffe ersetzenden oder imitierenden Wunderwerk zur magisch aufgeladenen und zugleich trivialen Massenware. Magisch war es dabei nicht nur, weil es Frauen verzauberte, sondern auch, weil es – ganz profan – Bakterien aus dem Kühlschrank zu verbannen vermochte. Barthes interessierte an dieser Entwicklung vor allem, dass sich der Mythos der Imitation wandelte: „[…] bislang hatten Imitationen etwas Großspuriges, gehörten zur Welt des Scheins, nicht des Gebrauchs; sie waren bestrebt, zu geringeren Kosten die erlesensten Substanzen zu reproduzieren: Diamant, Seide, Feder, Pelz, Silber, den ganzen luxuriösen 6

Stephen Fenichell: plastic. Unser synthetisches Jahrhundert (1996). Berlin: Rütten & Loening 1997, S. 268.

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Glanz der Welt“ (225). Was das Plastik zu einem demokratischen und umweltfreundlichen Material gemacht hatte, die Reproduktion seltener Rohstoffe, schien nun nicht mehr im Vordergrund zu stehen. Die Plastik-Entwickler orientierten sich statt an anderen Materialien, an ihren potentiellen Einsatzmöglichkeiten, nicht mehr am kunstvollen Rohstoff, sondern an seiner Verwendung. Damit zielte „zum ersten Mal […] das Künstliche aufs Gewöhnliche, nicht auf das Seltene“ (225). Statt Schmuck unter die Leute zu bringen, wurde allerhand Nippes verbreitet. Dies erscheint zunächst banal, eine nahe liegende Entwicklung angesichts des zunehmenden Massenkonsums. Doch Barthes schließt hieraus auf etwas Großes: eine Veränderung im Hinblick auf die „Funktion der Natur“ – „sie ist nicht mehr die Idee, die reine Substanz, die es […] nachzuahmen gilt“ (225). Die Ausbreitung von Plastik als alltäglichem Gebrauchsgegenstand zeigte ihm, dass dieser Kunststoff die Natur noch zu überbieten suchte: „Im Grenzfall wird man Gegenstände erfinden allein aus dem Vergnügen, sie zu verwenden“. (225) So wie es für die zahllosen Tupper-Behälter mit luftdichten Deckeln in der Natur kein Vorbild gab und auch nicht für all die teuren Designobjekte aus Plastik, die Mitte der 50er Jahren begannen, die Wohnwelten zu überschwemmen. In der Nachkriegswirklichkeit entstanden künstliche Welten, und nicht nur das – auch der Mensch war in Teilen zumindest künstlich geworden. Roland Barthes faszinierte und irritierte das: „Die ganze Welt kann plastifiziert werden, auch das Leben selbst, denn angeblich beginnt man bereits, Aorten aus Plastik herzustellen“. (225) Kunst Mit der Idee des Lebens veränderte sich aber auch die Idee der Kunst. Geradezu parallel zu der Entwicklung der Kunststoffe wandelten sich auch die Stoffe, die in der Kunst Verwendung fanden. So wie Plastik in den 50er Jahren im Alltag nicht mehr ewig haltbare Rohstoffe imitierte, also kein Ersatzstoff mehr für besondere und wertvolle Stoffe war, so wenig tauchten diese wertvollen Stoffe in der Kunst noch auf. Kamen hier zuvor Materialien wegen ihrer Wertigkeit und ihrer Haltbarkeit zum Einsatz, verschwanden sie nach dem 2. Weltkrieg aus der Kunst. Nun hätte Plastik – so würde man erwarten – als das wohl haltbarste Material der Zeit diese durchaus verdrängen können. Statt aber die wertvollen Materialien in der Kunst der Nachkriegszeit abzulösen, trug das Plastik zu einem neuen Kunstbegriff bei, der weniger an materiellen Werten orientiert war.

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Monika Wagner beschreibt diesen Prozess ausführlich: Von einem System der Künste, das noch bei Hegel die Kunstgattungen hierarchisch entsprechend ihrer materiellen Gebundenheit ordnete, war man über die Materialgerechtigkeit des 19. Jahrhunderts dann Anfang des 20. Jahrhunderts auf „die Vision von der Materialüberwindung“7 gekommen, die eigentlich Plastik in idealer Weise hätte erfüllen können: Es konnte die verschiedensten Materialien imitieren, wie Holz oder Metall; es ließ sich aus chemischen Verbindungen herstellen, die nicht immer endgültig waren, sondern wieder in andere Kunststoffe verwandelt werden konnten, beispielsweise wenn aus PET-Flaschen Fleece-Pullover entstanden; Plastik konnte seine Farbe ändern und abwechselnd hart oder weich werden. Plastik erschien mit seinem Versprechen der Wandelbarkeit, mit dem Potential, die Form der verschiedensten Gegenstände anzunehmen, geradezu als ein materieloses Material. Doch die Konjunktur der Kunststoffe in der Kunst, allen voran das transparente Zelluloid, setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht fort, ganz im Gegenteil. Nach ihrem Siegeszug in der Alltagswelt mit all den Tupperwaren, Nylonstrümpfen und transparenten Regenschirmen „schrumpfte das utopische Potential der Kunststoffe gegen Null“8. Monika Wagner führt als Folge die Auseinandersetzungen der Nachkriegskunst mit Form und Material an, wie die Beschäftigung der Pop Art Künstler mit der Alltagskultur. Sie wendeten sich in den 50er Jahren von den abstrakten Avantgarden ab und zu konkreten Materialobjekten hin. So entstanden beispielsweise Wolf Vostells der realen Konsumwelt entnommene Dé-coll/agen, die zum Teil aus Plastikdingen bestanden, und Claes Oldenburgs monumentalisierte Alltagsgegenstände aus Vinyl. Die von Roland Barthes so treffend aufgezeigte Konjunktur von Plastik als Alltagsstoff hatte noch einen anderen Reflex in der Kunst, allerdings mit einer leichten Verzögerung. Wenn sich Haushaltwaren in dem Material zeigen, das die Rolle der Kunststoffe einnimmt – nämlich ewig haltbar zu sein –, dann werden Alltagsdinge plötzlich zu ewigen Dingen. Wenn mit Barthes gar die ganze Welt plastifiziert werden kann, dann bleibt der Kunst nicht mehr viel übrig – außer der Vergänglichkeit. Und so entstand in den 60er Jahren die Kunstbewegung fluxus, die genau das zu ihrem Ausgangspunkt erklärte. Nicht mehr große, haltbare Werke sollten produziert werden, sondern profane, flüchtige Objekte. Es kam zu

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Monika Wagner: „Vom Ende der materialgerechten Form“. In: Barbara Naumann/Thomas Strässle/Caroline Torra-Mattenklott (Hg.): Stoffe. Zur Geschichte der Materialität in Künsten und Wissenschaften. Zürich: vdf Hochschulverlag AG 2006 (= Reihe Zürcher Hochschulforum, Bd. 37), S. 229-246, hier: S. 235. 8 Ebd., S. 237.

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einer Einbeziehung von Alltagsgegenständen und Konsumgütern in die Kunstproduktion, die Verbreitungsmechanismen vervielfältigten sich von der Distribution einzigartiger Kunstwerke durch Galerien hin zum Vertrieb von Kunstwerken in kleinen Auflagen. Vergängliche Performance-Aktionen wurden zu Kunstwerken erklärt, die oft nur eine Fotografie oder einen dinghaften Rest hinterließen. All diesen Entgrenzungen der Kunst waren dabei zwei Zielvorstellungen gemein: die Verbindung von Kunst und Leben und die Bevorzugung des Schaffensprozesses gegenüber des Endprodukts. Kunstwerke und profane Objekte tauschten gewissermaßen ihre Rollen: Nicht die Kunst löste Begeisterung aus, sondern der biegsame Babybreilöffel; nicht der Umgang mit den Werkzeugen klärte über ihre Produktionsbedingungen auf (wie dies Marx prominent postuliert hatte), sondern die Teilnahme an Kunstaktionen. So schuf George Maciunas, zentrale Figur und Organisator der fluxus-Bewegung, handliche Flux-Boxes, in denen sich zahlreiche Plastik-Objekte befanden, zu deren Nutzung kleine Zettelchen mit Handlungsanweisungen aufforderten: Ein technisches Phänomen (der Film-Ring) sollte verstanden werden, indem er nachgebaut wurde. Oder eine Versuchsanleitung gab ein Farbwahrnehmungsexperiment vor. Mit verbundenen Augen sollte man so oft die Farbfolien mit den Händen berühren, bis die Hände gelernt hatten, die Farben zu unterscheiden. In solchen Kunstwerken ging es nicht mehr um das wunderbare Potential von Plastik, sondern um dessen Einsatz und Wirkung: Wirkte farbige Plastikfolie auf Hände? So humorvoll diese Anweisungen erscheinen, sie hatten die ernsthafte Absicht, den Zuschauer ihrer Kunst zu transformieren von einem unbeteiligten, statischen Betrachter zu einem teilnehmenden, bewusst agierenden Rezipienten, wie es ihn in den 60er Jahren immer noch nicht gab. Stand der Chemie-Laie Roland Barthes im Jahrzehnt zuvor noch verwundert vor der Plastifikationsmaschine, lenkte er damit doch die Aufmerksamkeit auf eben das hin: Die immense Wirkung des Kunststoffs, die sich gerade aus der Unkenntnis der Produktion speiste, die seine Zeitgenossen an den Tag legten. Die fluxus-Künstler folgten im Grunde diesem aufklärerischen Gestus in ihren Performances und Do-it-yourself Objekten, indem sie versuchten, auf die versteckten Prozesse hinzuweisen, die die Dinge entstehen und wirksam werden ließen. Nachleben Dass auch Barthes eine passive Rezeptionshaltung kritisierte, zeigt sich in einem anderen Text der Mythologien, in dem Plastik ebenfalls eine Rolle spielt: Spielsachen. Hier ist es nicht

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der erwachsene Konsument, sondern das Kind, das mit miniaturisierten Produkten aus der Erwachsenenwelt spielt, statt sie selbst zu erschaffen: Freilich kann das Kind gegenüber diesem Universum originalgetreuer und komplizierter Objekte nur als Eigentümer, als Nutzer, niemals als Schöpfer auftreten; es erfindet die Welt nicht, es benutzt sie; […]. Man macht aus ihm einen kleinen spießigen Eigentümer, der nicht einmal herausfinden muß, welche Federn die Kausalität der Erwachsenen antreiben. (75) Besonders negativ beurteilt er unter diesen Nachbildungen der Erwachsenenwelt die PlastikProdukte. Die Einführung des Materials in die Kinderwelt ist geradezu ein Symptom für die „Verbürgerlichung des Spielzeugs“ (75). Während Barthes im Plastik-Text noch mit leichter Ironie und mal latent fasziniert, mal abfällig von dem Kunststoff schrieb, wird er angesichts der Plastikspielzeuge ziemlich eindeutig: „Kunststoff sieht ebenso plump wie hygienisch aus, mit ihm erlischt das Angenehme, Sanfte, Menschliche der Berührung“ (75/76). Zudem konstatiert er eine „chemische Kälte des Metalls“ mit „scharfe(n) Kanten“ (76). In einen Gegensatz dazu stellt er das Holz, das er ausgiebig bewundert: „Holz, ein Stoff, der wegen seiner Festigkeit und seiner Zartheit, der natürlichen Wärme bei der Berührung ideal ist […]. Es gibt einen satten und zugleich klaren Ton von sich“ (76) – während Plastik einen „hohle(n) und zugleich nichtssagende(n) Ton“ hat. Hier wird klar, auf welcher Seite Barthes steht. Dass diese Position nicht unbedingt nachvollziehbar ist, sondern geradezu ideologisch anmutet, bestätigt sich in den anschließenden Worten des Beitrags: „Solche Spielsachen sterben übrigens sehr rasch, und sind sie einmal tot, haben sie für das Kind kein Nachleben“ (76). Dass Plastik jedoch für Erwachsene durchaus ein Nachleben hat, das stellte Roland Barthes am Ende seines Plastik-Textes in Aussicht: „Die Hierarchie der Substanzen ist abgeschafft, eine einzige ersetzt sie alle“ (225). Hergestellt auf der Basis von Erdöl, gibt es sechs Jahrzehnte nach Barthes Mythen des Alltags unzählige Kunststoffe, wie Teflon, Polystyrol, Polyamid, Polyurethan, Polypropylen, PVC und PET, verwendet in der Verpackungsindustrie, im Bauwesen, im Fahrzeugbau, für Elektronik, im Möbelbau, in der Landwirtschaft, im Haushalt und in der Medizin.9 Plastik ist aus der postmodernen Konsumwelt nicht wegzudenken und das nicht nur, weil über kaum ein Material häufiger in der Presse berichtet wird. Vielmehr ist Plastik auch im ganz materiellen Sinne omnipräsent. Am bekanntesten ist wohl die Entdeckung, dass sich im Pazifik ein Strömungsgebiet befindet, der Great Pacific Garbage Patch, in dem Wasserwirbel „bis in 30 Meter Tiefe gigantische 9

Laura Hennemann / Cyprian Lothringer: Alles Plastik. In: Die Zeit Nr. 45, 31.10. 2012, S. 39.

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Plastikmengen umwälzen“. Auf den Meeresböden liegen Autoreifen. Ein untergegangener Frachter mit Plastikspielzeug aus China hat sein Übriges zum Vorkommen dieses Materials im Atlantik beigetragen. Doch damit nicht genug. Plastikteile zersetzen sich nicht etwa mit der Zeit in biologisch abbaubare Stoffe. Nein, sie „werden durch Reibung und Licht nur in immer kleinere Bestandteile zerlegt“, so dass es kaum mehr einen Kubikmeter Meerwasser gibt, in dem sich kein Kunststoff befindet. Und durch die Nahrungskette wandert das Plastik auf unsere Teller, wenn wir etwa Miesmuscheln verspeisen, die PET-Partikel in ihrem Gewebe einlagern können.10 Dass solche Meerestiere unter dem Plastikmüll leiden, ist eine Sache. Dass auch wir Menschen uns kaum mehr vor einer Invasion durch Plastik schützen können, ist die andere dramatische Seite der Nutzung dieses so preiswerten, leichten und variablen Materials. An Kunststoffen haften Gifte, die für den Menschen schädlich sind, weil sie unter anderem den Hormonhaushalt durcheinanderbringen. Bei jeder Wäsche von FleecePullovern lösen sich bis zu 1900 Kleinstfasern und verteilen sich über die restliche Kleidung auf unserer Haut. Unter die Haut gehen Peeling-Cremes mit winzigen Polyethylenkügelchen.11 Und natürlich hat sich Barthes mit seiner Vorahnung, dass bald Aorten aus Plastik zum Einsatz kämen, nicht geirrt – bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurden etliche KunststoffOrgane entwickelt und in menschliche Körper eingepflanzt. So gesehen ist Plastik nicht mehr nur ein von Menschenhand gefertigter Kunststoff, sondern führt ein Eigenleben – es verwandelt sich und imitiert das menschliche Leben, macht glücklich und ist gefährlich; es ist Teil der Umwelt, aus der es gefertigt wird und bedroht zugleich diese Umwelt; es verändert sich in der Geschichte und wird immer wieder mit neuen Ideen aufgeladen; es dringt in Körper ein und verändert unsere Natur. Im Sinne Roland Barthes’ ist Plastik das mythische Objekt par excellence, denn es verweist auf die Künstlichkeit selbst dessen, was wir für das Natürlichste halten: unseres eigenen Körpers. Und bei aller Geschichtlichkeit, scheint diese Entwicklung seitdem Barthes darüber so zeitlos geschrieben hat, nicht wirklich ein Ende zu finden: Wir sind immerzu im Besitz von Plastik. Im Russischen gibt es für die Beschreibung des Besitzes eine andere Ausdrucksweise. Man sagt nicht: „Ich habe eine Plastikschale“, 10

Karin Schulze: „Friedhof der Plastiktiere. Meeres-Müll im Museum“. Spiegel Online, 19.12. 2012, http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/endstation-meer-das-plastikmuellprojekt-ausstellung-in-hamburg-a873623.html. 11 Ebd. und Axel Bojanowski: „Internes Regierungspapier: Staaten versagen endgültig beim Meeresschutz“, 4.2.2010, http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/internes-regierungspapier-staaten-versagen-endgueltig-beimmeeresschutz-a-675899.html.

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sondern die „Plastikschale ist bei mir“. Das trifft unser Verhältnis zu Plastik im 21. Jahrhundert vielleicht besser als alles andere: Auch wenn wir kein Plastik mehr haben wollen und keines mehr produzieren, es ist bei uns.

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