Auszug und Rückkehr Gottes. Säkularisierung und Theologisierung in der Hebräischen Bibel, in: H.Joas (ed.), Säkularisierung in den Weltreligionen, 2007

May 26, 2017 | Author: Eckart Otto | Category: Sociology of Religion, Biblical Theology, Book of Deuteronomy, Hebrew Bible/Old Testament
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Auszug und Rückkehr Gottes. Säkularisierung und Theologisierung im Judentum Eckart Otto (München) Wir erleben Religionen ambivalent. In Mitteleuropa, gerade auch in Deutschland, scheint die öffentliche Bedeutung von Religionsgemeinschaften, zumal der christlichen Kirchen, abzunehmen und darin sich eine lang andauernde und immer wieder beschworene oder bedauerte Tendenz fortzusetzen. In anderen Teilen der Welt erleben wir eine geradezu erstaunliche Revitalisierung von Religionsgemeinschaften des Islam, Hinduismus und Buddhismus, aber auch des Christentums, so in Nord- und Südamerika. Dieser Beitrag möchte anhand einer der Weltreligionen, des Judentums, als Paradigma den Ursachen beider Prozesse, der Säkularisierung und Theologisierung des öffentlichen Lebens, nachgehen, vor allem aber der Frage, ob es Zusammenhänge zwischen diesen gegenläufig erscheinenden Entwicklungen gibt. Es wird sich zeigen, dass sich in der Dialektik von Säkularisierung und Theologisierung nur Verschiebungen in ein und demselben System niederschlagen, die, bereits in der Antike erkennbar, keineswegs ein Wesenszug nur der Moderne, sondern eine religionshistorische Universalie sind: Entwicklungen der Säkularisierung ziehen solche der Theologisierung nach sich und umgekehrt. In diesem Sinne macht es keinen Unterschied, ob man meint, dem absteigenden oder dem aufsteigenden Ast der Religionsgeschichte anzugehören, wie es schon in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts der Religionsphilosoph und protestantische Theologe Ernst Troeltsch formulierte 1. Diese hier aufgeworfenen Fragen sind nicht losgelöst von einer Korrelierung der Religion als Ideensystem mit ihren jeweiligen gesellschaftlichen Organisationsformen zu beantworten. Ernst Troeltsch hat 1912 seine umfangreiche Studie „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ als ersten Band seiner Gesammelten Schriften vorgelegt. 2 In diesen Studien zeigt er die Interaktion von Religionsgestalten und ihren Organisationsformen von Kirchen, Sekten und Mystik auf. Max Weber hat geplant, in seiner Wirtschaftsethik der Weltreligionen diesen Ansatz aufzunehmen und auf die Weltreligionen unter Einschluss des Judentums auszudehnen. In der unvollendet gebliebenen Durchführung hat er sich aber nicht primär auf die von Ernst Troeltsch beschriebene Interaktion von religiöser Ideenwelt und sozialer Organisationsgestalt konzentriert, sondern die durch seine ProtestantismusKapitalismus-These von 1904/05 gestellte Frage nach den Ursprüngen des modernen 1

Siehe Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme I. Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Gesammelte Schriften III, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1922, S. IX. 2 Siehe Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Gesammelte Schriften I (1912), Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 31923.

2 Kapitalismus weiterhin im Blick gehabt, nur seit 1910/11 weitergeführt zur Frage nach dem Ursprung des okzidentalen Rationalismus. Damit war gegenüber der Fragestellung von Ernst Troeltsch eine Verschiebung verbunden. Im folgenden soll es darum gehen, den Ansatz von Ernst Troeltsch wieder aufzunehmen und, durchaus auch mit Seitenblick auf Max Weber, auf der Basis eines in den letzten einhundert Jahren seit Ernst Troeltsch und Max Weber erheblich weiterentwickelten Forschungsstandes zum antiken Judentum in den Blick zu nehmen. Das erste Wort aber soll im folgenden Max Weber eingeräumt werden.

I. Staat, Ökonomie und jüdische Religion in der Sicht Max Webers In den Jahren zwischen 1913 und 1919 führte Max Weber intensivere Gespräche mit seinem jüdischen Freund Ernst Josef Lesser über die Zukunftsaussichten des zionistischen Projektes in Palästina. Während dieser Max Weber gegenüber zwar einräumte, dass die Religion schwer vom Nationalen zu trennen sei, so sei doch die eigentliche Grundlage, auf der sich alle zionistischen Parteien träfen, der gegen die jüdische Religion Indifferenten wie der des ToraJudentums „nicht die Religion, sondern der nationale Gedanke, dessen Symbol die wieder erweckte hebräische Sprache sei“3. Dem, so berichtet Ernst Josef Lesser, habe Max Weber entgegengehalten, es sei zwar durchaus möglich, einige „Kolonien“ in Palästina anzulegen, doch sei damit das Ziel einer Wiedergeburt des jüdischen Volkes nicht erreicht. „Als Ezra nach Jerusalem ging, hatte er die Thora in der Hand - und was haben Sie?“ Wohl am Anschluss an ein Gespräch mit Ernst Josef Lesser im Jahre 1913 sandte Max Weber mit Datum des 18. Augusts 1913 einen Brief an seinen Freund, da das Gespräch gerade da abgebrochen worden sei, „wo die eigentliche innere Problematik des Zionismus beginnt“ 4. Die zionistische Idee der Gründung eines jüdischen Nationalstaates in Palästina sei schwerlich mit den utopischen Ideen der jüdischen Religion vereinbar. Man könnte zwar einen Kleinstaat mit funktionierenden Krankenhäusern und selbst einer Universität errichten, doch könnte das „jemals als eine ‚Erfüllung’ und nicht vielmehr als eine Kritik jener grandiosen ‚Verheißungen’ wirken? ... Was fehlt denn wohl hauptsächlich? Der Tempel und der Hohepriester sind es. Gäbe es diese in Jerusalem, - alles Andre wäre Nebensache“. Max Weber bringt hier sehr hellsichtig einen Grundgegensatz von religiöser Organisation jüdischer 3

So berichtet Ernst Josef Lesser von einem Gespräch aus dem Jahre 1919 in einem Schreiben an Marianne Weber vom 12. Juni 1922; siehe Max Weber, Briefe 1913-1914, hg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen, Max Weber Gesamtausgabe (MWG II/8, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2003, S. 312f. Der Brief befindet sich im Geheimen Staatsarchiv Berlin, Nachlass Max Weber, Nr. 29, Blatt 6 - 9. 4 Siehe Max Weber, ebd., S. 313f. Der Brief befindet sich in der Jewish National and University Library, Autograph Collection / Max Weber.

3 Religion, die in Analogie zum katholischen Papstsamt im Hohenpriester als Hierarchen des Weltjudentums den Garanten der Würde eines jeden Juden, gläubig oder ungläubig, finden könnte, und einem jüdischen Nationalstaat zum Ausdruck 5, einen Gegensatz, der noch heute im Staat Israel und in seinem Verhältnis zum Weltjudentum nur im Wege des Kompromisses abgemildert werden kann. Als Max Weber diese Gespräche mit Ernst Josef Lesser über den Zionismus führte, hatte er sich schon intensiv mit dem antiken Judentum beschäftigt 6. Bereits in dem Abschnitt zu „Altisrael“ in dem Artikel „Agrarverhältnisse im Altertum“ in der dritten Auflage des „Handwörterbuchs der Staatswissenschaften“ hat sich Max Weber überproportional ausführlich mit dem biblischen Gebot des bereits in der ältesten Rechtssammlung der Hebräischen Bibel in Exodus 23, 10-11 genannten Sabbatjahrgebot beschäftigt: „Sechs Jahre sollst du auf deinem Acker säen und die Ernte einbringen; im siebten Jahr sollst du ihn brachliegen lassen und nicht bestellen. Die Armen in deinem Volk sollen davon essen, den Rest sollen die Tiere des Feldes fressen. Das Gleiche sollst du mit deinem Weinberg und deinem Ölberg tun“ Entgegen der in der damaligen Alttestamentlichen Wissenschaft gängigen und auch von Julius Wellhausen vertretenen These, es handle sich um ein sehr altes, möglicherweise auf nomadische Ursprünge zurückgehendes Gebot, in dem sich noch ein Rest einer „Gemeinwirtschaft“

widerspiegle,

hat

Max

Weber

in

seinem

Artikel

zu

den

Agrarverhältnissen im Altertum7 und dann wiederholt bis zu seiner großen Studie zum antiken Judentum im Rahmen seiner Wirtschaftsethik der Weltreligionen 8 dieses Gebot für einen literatur- und rechtshistorischen Spätling im Alten Testament gehalten, da jeder Versuch, die Vorschrift in der uns heute vorliegenden Formulierung ihres utopischen Charakters zu entkleiden und, sei es landwirtschaftstechnisch, sei es sozialpolitisch rationell zu erklären, aussichtslos sei. Es handle9 sich also eher um ein „Einschiebsel später theologischer 5

Plädiert Max Weber in den Gesprächen mit Ernst Josef Lesser vor und nach dem Ersten Weltkrieg für eine rein religiöse Organisation des Weltjudentums als der jüdischen Religion angemessen, die allein Grundlage des Würdegefühls der Juden sein könne, so vertritt er eine Position, die im Reformjudentum noch zwischen den Weltkriegen häufiger anzutreffen ist; siehe Michael A. Meyer, Antwort auf die Moderne. Geschichte der Reformbewegung im Judentum, Wien: Böhlau 2000, 463ff. 6 Zu Max Webers Beschäftigung mit dem Judentum siehe Verf., Max Webers Studien des Antiken Judentums. Historische Grundlegung einer Theorie der Moderne, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2002, S. 1 - 245; ders., Einleitung, in: Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum. Schriften und Reden 1911-1920, hg. von Eckart Otto, Max Weber Gesamtausgabe I/21. 1-2, Band I, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2005, S. 1 - 157. 7 Siehe Max Weber, Agrarverhältnisse im Altertum, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, dritte Auflage, hg. von J. Conrad, L. Elster, W. Lexis, Edg. Loening, Band I, Jena: Gustav Fischer 1909, (S. 52 - 188), S. 92 (wieder abgedruckt in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zu Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, hg. von Marianne Weber, zweite Auflage, Tübingen: J. C. B. Mohr [Paul Siebeck] 1988, [S. 1 - 288] S. 86f.). 8 Siehe Max Weber, Das antike Judentum (MWG I/21. 1 - 2), S. 234 - 757. 9 Siehe Max Weber, ebd., S. 309.

4 Konsequenmacherei“ religiöser Paränese, „die sittliche Vorschrift, kein rechtliches Gebot sei“. Erst im Spätjudentum habe das Gebot nicht nur theoretisch gegolten, sondern praktische Folgen gehabt, wie die zahlreichen Responsen der Rabbinen über das Verhalten gegenüber verbotswidrig angebauten Getreide - Max Weber bezieht sich hier auf den Mischna-Traktat Demai („Zweifelhaftes“) sowie dessen Entfaltung in den beiden Talmudim 10 - zeigen. Das Gebot des Sabbatjahres hatte noch für die zionistischen Siedlungsversuche in Palästina im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine Rolle gespielt, so dass Max Weber seinen Ausführungen zu diesem Gebot in einer Anmerkung erklärend hinzufügt: „Die Rabbinen von Jerusalem hatten sich für die Geltung des Gebots ausgesprochen. Das gleiche hatten, wenn ich mich recht erinnere, deutsche Instanzen getan. Dagegen sollen die ostjüdischen Rabbinen die Besiedlung des Landes für so gottwohlgefällig erklärt haben, dass sie von der alten Vorschrift dispensiert werden könne“11. Da das biblische Sabbatjahrgesetz der Bodenbrache im siebten Jahr sich nur auf das Land Israel bezieht, nicht aber auf die jüdische Diaspora, wurde erst mit der jüdischen Besiedlung Palästinas im Zuge der zionistischen Siedlungsbewegung dieses Gebot zu einem praktischen Problem und ist es bis heute in Israel. Vor dem Brachjahr 1889 kam unter den Rabbinern die Diskussion auf, ob landwirtschaftlich genutzte Flächen für dieses Jahr an Nichtjuden verpachtet oder verkauft werden dürften. Während der russische Rabbiner Isaac Elhanan Spektor aus Kovno den Verkauf für zwei Jahre gestattete, widersetzte sich die aschkenasische Gemeinde von Jerusalem unter ihren Rabbinern Moses Joshua Judah Leib Diskin und Samuel Salant diesem Dispens. Im Brachjahr 1910 kam die Diskussion erneut auf. Zu dieser Zeit interpretierte Max Weber das Brachejahrgebot in seiner Studie zu den „Religiösen Gemeinschaften“ als „nachexilische Schöpfung städtischer Schriftgelehrter“, das in ihrem Geltungsbereich wirksam geworden sei, obwohl es zunächst als rein theoretischreligöse Aussage gemeint eine rationelle intensive Landwirtschaft verhindert habe 12. Dies ist für Max Weber eines der vielen Beispiele innerweltlicher Folgen auch für die Ökonomie der ursprünglich auf außerweltliche Ziele gerichteten jüdischen Religion, deren markanteste Vertreter die hebräischen Propheten gewesen seien. Max Weber zielte sowohl in seinen Gesprächen über die Zukunftsaussichten des zionistischen Programms wie in seiner ausführlichen Erörterung des Sabbatjahrgebots, der sich die des Zinsverbots des Deuteronomiums (Dtn 23, 20-21) an die Seite stellen lässt 13, auf eine 10

Siehe Lazarus Goldschmidt, Der Babylonische Talmud, Band I, Berlin: Jüdischer Verlag, 1930, 309 - 322. Der Traktat beschäftigt sich mit Fragen und Vorschriften zur Verwendung bzw. Vernichtung von Früchten, von welchen unsicher ist, ob sie richtig verzehntet bzw. ordnungsgemäß angebaut und erworben wurden. 11 Siehe Max Weber, Das antike Judentum (MWG I/21.1), 309, Anm. 52. 12 Siehe Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass. Teilband 2: Religiöse Gemeinschaften, hg. von Hans G. Kippenberg, Max Weber Gesamtausgabe I/22-2, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2001, S. 425. 13 Siehe Max Weber, Das antike Judentum (MWG I/21. 1 - 2), S. 326 f. 701. Siehe dazu auch im folgenden.

5 Inkompatibilität außerweltlich-utopischer Ziele jüdischer Religion mit den politischen Zielen eines Nationalstaates oder einer rational organisierten Ökonomie. Max Weber wollte allerdings keineswegs eine prinzipielle Inkompatibilität aller Religionen von ihren Anfängen an mit Staat und Ökonomie behaupten. Im antiken Kontext war ihm die altägyptische Religion gerade Beispiel einer gelungenen Synthese der religiösen, staatlichen und ökonomischen Systeme14. Auch wollte Max Weber nicht eine derartige Unangepasstheit der jüdischen Religion von ihren Anfängen an behaupten, sondern begriff die Züge, die einer Synthese entgegenstanden, als historisch geworden, so den Monotheismus, der eine Differenzierung von Religion und gesellschaftlicher Gegebenheit befördert habe und erst Ergebnis und nicht Ursprung jüdischer Religionsgeschichte in biblischer Zeit gewesen sei15.Das Sabbatjahrgebot sei in Kreisen städtischer Intellektueller der persischen Zeit, die keinen Bezug mehr zur Landwirtschaft hatten, als Ausdruck religiöser Theorie formuliert worden. Die Inkompatibilität der Verheißungen jüdischer Religion mit der zionistischen Idee eines jüdischen Nationalstaates sei über diese biblischen Impulse hinaus auch Folge der nichtstaatlichen

Existenz

des nachexilischen

Judentums

als

Gemeinde

unter der

Fremdherrschaft der Babylonier, Perser und Hellenisten und einer zweitausendjährigen Geschichte in der Diaspora. Das ist nun der Ort, um Max Webers Interpretation des Judentums zunächst zu verlassen, und zu fragen, wie rund einhundert Jahre später der Forschungsstand zur Ausbildung einer religiösen Identität des Judentums in biblischer Zeit und auf dieser Grundlage des Wechselverhältnisses zwischen Religion, Staat und Gesellschaft zu beschreiben ist. Dabei verwende ich den Begriff des Judentums in dem umfassenden Sinne, in dem auch Max Weber unter Einschluss des biblischen Israel und Juda von ihm Gebrauch gemacht hat, weise also eine in der damaligen protestantischen Theologie übliche Differenzierung zwischen biblischem Hebraismus und Judaismus der nachexilischen oder nachhadrianischen Zeit ab, eine Unterscheidung, die darauf zielt, dem Judentum die Hebräische Bibel, insbesondere aber die Prophetie, zu nehmen16.

II. „Gott mehr gehorchen als den Menschen“. Die Emanzipation der jüdischen Religion von der Funktion der Staatslegitimation

14

Zu Max Webers Interpretation der ägyptischen Wirtschaftsethik siehe ders., ebd., S. 591 - 599. Siehe Max Weber, ebd., S. 456f. 526f. 660. 739 und öfter. 16 Siehe dazu Verf., Max Weber (Tübingen 2002), S. 99. Zu Ernst Troeltsch siehe ebd., S. 246-271. 15

6 Die Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel beginnt in der assyrischen Krise Israels und Judas im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr., in denen die beiden Staaten zu Vasallen des neuassyrischen Reiches als Hegemonialmacht wurden. Die bei den Göttern des assyrischen Pantheons beschworene Unterwerfung unter die assyrische Staatsmacht musste in Juda den auch religionspolitischen Widerstand insbesondere nach der Vernichtung Israels zwischen 722 und 720 v. Chr. wecken. Da die assyrische Staatsideologie17 in Königsinschriften verbreitet wurde, mussten auch jüdische Intellektuelle, die sich gegen diese Ideologie im Namen des judäischen Gottes JHWH zur Wehr setzten, dies in schriftlicher Form tun. In dem auf einer Tafel des Vorderasiatischen Museums zu Berlin18 erhaltenen Krönungshymnus des assyrischen Königs Assurbanipal (669 - ca. 630 v. Chr.) wird ihm von den assyrischen Reichsgöttern die Aufgabe und Befähigung zu ihrer Erfüllung zugesprochen, für ökonomische Prosperität und sozialen Ausgleich zu sorgen: „Möge Assurbanipal, der König von Assyrien, auf Wohlwollen der Götter dieses Landes treffen! Mögen Beredsamkeit, Verständnis, Recht und Gerechtigkeit ihm als Gabe geschenkt sein! Mögen die Bürger von Assur 30 Kor Getreide für einen Schekel (ca. 8 gr.) Silber kaufen! Mögen die Bürger von Assur 3 Seah Öl für einen Schekel Silber kaufen! Mögen die Bürger von Assur 30 Minen Wolle für einen Schekel Silber kaufen! Möge der Geringere sprechen und der Mächtigere zuhören! Möge der Mächtigere sprechen und der Geringere zuhören! Mögen Eintracht und Frieden in Assyrien aufgerichtet werden!“ Der (Gott) Assur ist König - wahrhaftig Assur ist König, Assurbanipal ist das Ebenbild des (Gottes) Assur“. Dem König wurde nicht nur die Sorge für die interne Wohlfahrt des Staates, die in niedrigen Preisen und sozialem Ausgleich zum Ausdruck kommt, auferlegt, sondern auch die Aufgabe, als ebenbildliches Werkzeug des Reichsgottes die Weltherrschaft dieses Gottes über die 17

Siehe dazu Stefan Maul, Der assyrische König - Hüter der Weltordnung, in: Jan Assmann u.a. (Hg.), Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen, München: Wilhelm Fink Verlag 1998, S. 65 - 77. 18 Zu Text und Übersetzung siehe Verf., Krieg und Frieden in der Hebräischen Bibel und im Alten Orient. Aspekte für eine Friedensordnung in der Modern, Stuttgart: Kohlhammer 1999, S. 43 - 46. Dass es sich bei diesem Text um einen Krönungshymnus handelt, hat Alasdair Livingstone (Court Poetry and Literary Miscellanea, State Archives of Assyria 3, Helsinki: University Press 1989, S. XX IIIf.) zu Recht unterstrichen. Dieser Krönungshymnus wurde in der Hebräischen Bibel in Psalm 72 rezipiert und pazifizierend uminterpretiert; siehe Martin Arneth, „Sonne der Gerechtigkeit“. Studien zur Solarisierung der Jahwe-Religion im Lichte von Psalm 72, Beihefte zur Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 1, Wiesbaden: Harrassowitz 2000, S. 18 - 170.

7 Völker zu sichern. Mögen sie, die Götter, so heißt es in dem Hymnus, Assurbanipal ein mächtiges Szepter geben, um seine Herrschaft über Land und Völker auszudehnen. In einem an den Hymnus anschließenden Gebet übertragen die fünf führenden Götter des assyrischen Pantheons dem König ihre Potenzen. Die Götter Anu und Illil geben als Urgötter Krone und Thron und damit die Insignien der Weltherrschaft, der Gott Ninurta seine Waffen: In dem assyrischen Mythos Bin Sar Dadme19 stiehlt der Gott Anzu die Schicksalstafeln des Schöpfergottes und stört damit die Ordnung der göttlichen und irdischen Welt. Der Gott Ninurta tritt zum Kampf an und stellt die Ordnung wieder her, indem das durch Anzu repräsentierte mythische Chaos in die Schranken gewiesen wird. Der König Assurbanipal soll mit den Waffen Ninurtas ausgestattet zum Chaoskämpfer in der Völkerwelt werden und die Völker, die sich nicht freiwillig dem Reichsgott Assur und damit der assyrischen Herrschaft unterwerfen, mit Krieg überziehen, wie auch innerhalb des assyrischen Reiches jede Rebellion als Ausdruck chaotischer Störung der Schöpfungsordnung im Keime ersticken 20. So endet das Gebet im Anschluss an den Krönungshymnus mit den Worten: „Lege die Waffen der Schlachten und Kriege in seine Hand, liefere ihm die Schwarzköpfigen (d.h. die Menschheit) aus, damit er als ihr Hirte über sie regiere!“ So wenig die Assyrer Religionskriege zur Ausbreitung ihrer Religion führten, so sehr hatten ihre Kriege, zu denen der assyrische König alljährlich aufbrechen musste, doch eine religiöse Begründung, die judäische Intellektuelle in priesterlichen Kreisen Jerusalems herausforderte. Der Loyalitätseid (akkadisch adê) für den König Asarhaddon (681 - 669 v.Chr.), den Vorgänger Assurbanipals, den die Granden des assyrischen Reiches 672 v. Chr., unter ihnen auch der judäische König Manasse (696 - 642 v.Chr.) als Vasall der Assyrer zur Sicherung der Thronfolgeregelung schwören mussten, wurde bei den assyrischen Reichsgöttern beschworen21. Damit war die Frage nach der judäischen Identität nicht nur politisch, sondern auch religiös gestellt. Der assyrische Loyalitätseid von 672 v.Chr. forderte zur absoluten Loyalität gegen den König und seinen designierten Nachfolger auf. So lautet der § 10 dieser adê: 19

Siehe dazu Verf., ebd., S. 47f. Siehe dazu Verf., Die besiegten Sieger. Von der Macht und Ohnmacht der Ideen in der Geschichte am Beispiel der neuassyrischen Großreichspolitik, in: Biblische Zeitschrift (Neue Folge) 43, 1999, S. 180-203. 21 Zu den folgenden akkadischen und hebräischen Texten sowie ihrer rechtshistorischen Interpretation siehe Verf., Das Deuteronomium. Politische Theologie und Rechtsreform in Juda und Assyrien, Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 284, Berlin / New York: Walter de Gruyter 1999 (Nachdruck 2001), S. 15 - 90. 20

8

„Wenn ihr ein übles, schlechtes, unpassendes Wort, das für Assurbanipal, den Kronprinzen des Nachfolgehauses, des Sohnes Asarhaddons, des Königs von Assyrien, euren Herrn, nicht angemessen, nicht gut ist, sei es aus dem Munde seines Feindes oder aus dem Munde seines Freundes, oder aus dem Munde seiner Brüder, seiner Onkel, sein Vettern, oder seiner Familie, der Nachkommen seines Vaterhauses, oder aus dem Munde eurer Brüder, eurer Söhne, eurer Töchter oder aus dem Munde eines Propheten, eines Ekstatikers, eines Befragers des Gotteswortes, oder aus dem Munde eines jedweden Menschen, so viele es gibt, hört, so sollt ihr es nicht verheimlichen, sondern zu Assurbanipal, dem Kronprinzen des Nachfolgehauses, dem Sohn Asarhaddons, Königs von Assyrien kommen und es anzeigen“. Die Pflicht, jede Form von Kritik am König und Kronprinzen anzuzeigen, wird im § 12 zur Pflicht erweitert, den Hochverräter in einem Akt der Lynchjustiz sofort zu töten: „Wenn jemand euch von Aufstand, Rebellion, um Assurbanipal, den Kronprinzen des Nachfolgehauses, den Sohn Asarhaddons, Königs von Assyrien, eures Herrn, der zu seinen Gunsten euch dem Loyalitätseid unterworfen hat, zu töten, umzubringen, zu beseitigen, berichtet und ihr es aus dem irgendjemandes Mund hört, so sollt ihr die Anstifter von Rebellion packen und zu Assurbanipal, dem Kronprinzen des Nachfolgehauses, bringen. Wenn ihr imstande seid, sie zu packen, sie zu töten, so sollt ihr sie packen, sie töten, ihren Namen und ihre Nachkommenschaft aus dem Land vernichten. Solltet ihr nicht imstande sein, sie zu packen, sie zu töten, so sollt ihr es Assurbanipal, dem Kronprinzen des Nachfolgehauses, anzeigen, ihn unterstützen, um die Anstifter von Aufständen zu packen, zu töten, ihren Namen und ihre Nachkommenschaft aus dem Land zu vernichten.“ Der König als Inkarnation des göttlichen Auftrags, das Chaos in der Welt zurückzudrängen und in die Schranken zu weisen, war um jeden Preis vor Rebellion als Ausdruck des schöpfungswidrigen Chaos zu schützen. Der Gedanke, dass der Einzelne am König oder seinen Staatsorganen leiden könnte, war diesem Denken fremd, da die durch sie repräsentierte Ordnung der einzig mögliche Raum gelingenden Lebens sein konnte. In der literarischen Grundschicht von Deuteronomium 13, 2 - 10 wurde in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts v. Chr. der § 10 des Loyalitätseids Asarhaddons erweitert u.a. durch Motive des § 12 subversiv rezipiert, indem er durchschlagend so uminterpretiert wurde, dass an die Stelle des assyrischen Großkönigs und seines Kronprinzen der judäische Gott JHWH

9 zum Objekt der Forderung absoluter Loyalität eingesetzt wurde, der Loyalitätseid sich nunmehr also gegen die assyrische Staatsideologie wendete: „Wenn in deiner Mitte ein Ekstatiker oder ein Inkubant aufsteht, der zu dir spricht: Lasst uns hinter anderen Götter hergehen und ihnen dienen, so sollst du nicht auf ihn (die Worte des Ekstatikers oder Inkubanten) hören. Dieser Ekstatiker oder Inkubant soll getötet werden, denn er hat einem Hochverrat gegen JHWH das Wort geredet. Wenn dich dein Bruder, der Sohn deines Vaters, oder der Sohn deiner Mutter, oder dein Sohn, oder deine Tochter, oder die Frau deines Herzens, oder dein Freund, den du liebst wie dich selbst, heimlich verführt: Lasst uns gehen und anderen Göttern dienen, so sollt du ihm nicht folgen und nicht auf ihn hören. Du sollst dich nicht seiner erbarmen und es nicht verheimlichen. Vielmehr sollst du ihn töten“ (Dtn 13,2-10*). Die wörtliche Rezeption des assyrischen Loyalitätseids hat subversiven Charakter: Sie entzieht mit der Übertragung der Loyalitätsforderung auf den judäischen Gott JHWH dem assyrischen Großkönig und damit der Hegemonialmacht die Legitimation ihrer Herrschaft. Wie die ebenfalls rezipierten Flüche des assyrischen Loyalitätseids in Deuteronomium 28* zeigen, wird auch die göttliche Loyalitätsforderung in Deuteronomium 13* eidlich bekräftigt. Wird die Forderung absoluter Loyalität auf den Gott der Judäer umgelenkt, indem die Objekte der Loyalitätsforderung ausgetauscht und der assyrische Großkönig durch den judäischen Gott ersetzt wird, so kann diese subversive Rezeption doch an neuassyrische Motivik anknüpfen,

so

dass

mit

assyrischer

Motivik

ein

assyrischer

Modus

religiöser

Herrschaftslegitimation aus den Angeln gehoben werden kann: In den jüngst publizierten neuassyrischen Orakeln22, die bei der Thronbesteigung des Königs Asarhaddon rezitiert wurden, steht die eidliche Verpflichtung eines „Bundes“ (akkadisch adê) des Königs mit dem Reichsgott Assur im Zentrum. Der „Bund“ zwischen Gottheit und Mensch ist also nicht, wie noch Max Weber meinte, ein Spezifikum jüdischer Religion im Gegensatz zu denen des Alten Orients, die die Götter nur in der Funktion der Zeugen von Verträgen und Bundesabschlüssen gekannt haben sollen23. Das jüdische Spezifikum der Bundesidee ist vielmehr der Bundesschluss der Gottheit mit dem Volk unter Übergehung eines Königs, der im assyrischen Kontext als alleiniger Bundespartner fungiert und so zum Leitkanal des göttlichen Segens für das Volk wird. Damit ist der Anspruch der assyrischen Herrscherlegitimation, dass am König, 22

Siehe Simo Parpola, Assyrian Prophecies, State Archives of Assyria 4, Helsinki, University Press 1997, S. 22 27. 23 Siehe Max Weber, Das antike Judentum (MWG I/21.1), S. 354 u.ö.

10 d.h. an den Organen des Staates vorbei das Volk keinen Zugang zur Welt des göttlichen Pantheons habe, zurückgewiesen. Im Deuteronomium ist mit der subversiven Rezeption assyrischer Herrschaftslegitimation eine für die jüdische Religion wichtige Entwicklung auf den Weg gebracht. In der Auseinandersetzung mit der Politischen Theologie Assyriens, die mit der Bindung des assyrischen Großkönigs an den Reichs- und Schöpfergott Assur als dessen Ebenbild jede Möglichkeit gelingenden Lebens an den Gehorsam gegenüber den vom König repräsentierten Staatsorganen bindet, wird im Deuteronomium der Staat in die Schranken gewiesen: Absolute Loyalität komme nicht dem Staat, sondern nur Gott zu. Hier wird ein Paradigma geboren, das Gott mehr zu gehorchen sei als den Menschen, das christlich rezipiert klassischen Ausdruck in der lukanischen Apostelgeschichte 5,19 gefunden hat und sein griechisches Pendant hat in der sophokleischen Antigone (Verse 471-473) mit der Berufung auf die „ungeschriebenen Gottesgebote“ als kritische Instanz gegenüber dem positiven Recht des Staates. So wird als Konsequenz der König im Deuteronomium aller politischen Macht entkleidet zum ersten Torafrommen seines Volkes (Dtn 17,14-20), das seinen Zusammenhalt nicht mehr durch Staatsorgane finden soll, sondern, so das Deuteronomium, sich als Kultgemeinschaft um das eine allen gemeinsame Zentralheiligtum in Jerusalem konstituieren soll. Der Vernetzung von Staat und Religion, die in Ägypten mit der Ma’at-Konzeption des Königs als Gottessohn und Bruder der Göttin Ma’at, die die Weltordnung in Natur und Gesellschaft aufrechterhält24, noch enger ist als in Mesopotamien, setzt beginnend mit dem Deuteronomium die Hebräische Bibel die Idee der religiösen Gemeinde entgegen, der staatliche Funktionen ihrem Erhalt dienend allenfalls untergeordnet sind - eine Idee, die mit der Zerstörung des judäischen Staates 586 v. Chr. durch die Babylonier realisiert wurde und bis auf das kurze Interim des hasmonäischen und herodianischen Staates bis zur Gründung des Staates Israel 1948 für das Judentum kennzeichnend blieb. Mit der im Deuteronomium eingeleiteten Säkularisierung der Staatslegitimation durch die Trennung von Staat und Religion verbunden wird Mose im Pentateuch als Gegentypus zum altorientalischen Großkönig gezeichnet, wobei jener im Fortschreibungsprozess des Pentateuch zwar Züge zunächst des assyrischen, dann aber auch des babylonischen und persischen Großkönigs annimmt, aber konsequent auf die Seite des Volkes zuletzt in persischer Zeit im Deuteronomium als schriftgelehrter Lehrer tritt 25. Zwar vermittelt Mose bis auf den Dekalog die Gesetzesoffenbarung dem Volk, das aber unmittelbarer Bundespartner Gottes ist, so dass Mose im Deuteronomium als schriftgelehrter 24

Siehe dazu Jan Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München: C. H. Beck 1990, S. 201 - 236. 25 Siehe dazu Verf., Mose. Geschichte und Legende, Beck’sche Reihe 2400, München: C. H. Beck 2006, S. 27 75.

11 Lehrer dem Volk dienende Funktion hat und im Gegensatz zur altorientalischen Staatsreligion der Gedanke, nur durch ihn habe das Volk Zugang zu Gott, fern liegt. Damit verbindet sich nun ein rechtshistorisch wesentlicher Zug jüdischer Religion. Gilt, wie nicht zuletzt am Prolog und Epilog des „Kodex“ des Königs Hammurapi ablesbar, in Mesopotamien wie in Ägypten der König als Quelle des Rechts, so zeichnet sich die Hebräische Bibel doch dadurch aus, dass sie diese Königsfunktion JHWH unmittelbar zuschreibt. Damit wird aber eine entscheidende Funktion des Staates, die Quelle der Rechtsordnung zu sein, in die Hand der Kultgemeinde und der in ihr beheimateten priesterlichen Schriftgelehrsamkeit (Ex 4,15; Dtn 1,5) gelegt26.

III. Säkularisierung und Theologisierung der Ethik in jüdischer Gemeindetheologie Die Säkularisierung der staatlichen Herrschafterlegitimation führt zu einer neuen Organisationsform in Gestalt einer Gemeinde27 - ein Prozess, der im vorexilischen Deuteronomium zunächst als ein theoretischer, mit der Zerstörung des Staates 586 v. Chr. durch die Babylonier auch im Vollzug zu beobachten ist. Das theologische Programm des Deuteronomiums setzt bereits in spätvorexilischer Zeit des ausgehenden 7. Jahrhunderts v. Chr.,

als

der

davididische

Staat

noch

existierte,

auf

eine

Integration

der

Religionsgemeinschaft nicht durch den König als göttliches Werkzeug und Verkörperung der Staatsmacht, sondern durch den gemeinsamen Gottesdienst unter Einschluss der Armen in der Gesellschaft (Dtn 16) an dem einen allen gemeinsamen Heiligtum in Jerusalem (Dtn 12). Ohne diese bereits in der Theorie im spätvorexilischen Deuteronomium vollzogene Trennung von Staat und Gemeinde hätte das Judentum die Zerstörung des davididischen Staates durch die Babylonier nicht überlebt. Noch eine weitere religionshistorische Weichenstellung ist mit der Säkularisierung des Staates im Deuteronomium und der Trennung von Staat und religiöser Gemeinde verbunden. Der Anspruch der Alleinverehrung des Gottes wurde noch vor der 26

Zu den unterschiedlichen Formen der Rechtslegitimation in Mesopotamien, Ägypten, Iran und der Hebräischen Bibel siehe Verf. Die Rechtshermeneutik des Pentateuch und die achämenidische Rechtsideologie in ihren altorientalischen Kontexten, in: Markus Witte / Marie Theres Fögen (Hg.), Kodifizierung und Legitimierung des Rechts in der Antike und im Alten Orient, Beihefte zur Zeitschrift für Altorientalische und biblische Rechtsgeschichte 5, Wiesbaden: Harrassowitz 2005, S. 71 - 116, mit weiterer Literatur. Zur Rechtsgeschichte der Hebräischen Bibel siehe ders., Recht im antiken Israel, in: Ulrich Manthe (Hg.), Die Rechtskulturen der Antike. Vom Alten Orient bis zum römischen Reich, München: C.H. Beck 2003, S. 151-190. 27 Der Begriff der „Gemeinde“ wird hier im Sinne Max Webers zur Bezeichnung eines Typus der Vergemeinschaftung bzw. Vergesellschaftung verwendet, der sich von dem der verwandtschaftlichen Gemeinschaften und dem des politischen Verbandes unterscheidet, so dass Gemeindereligion weder an den Ahnenkult gebunden ist noch der sakralen Legitimation von Herrschaft durch den Verbandsgott dient; siehe dazu Max Weber, Religiöse Gemeinschaften (MWG I/22-2) S. 194 - 203.

12 Formulierung des Ersten Gebots des Dekalogs erstmals im Deuteronomium im Schma Israel („Höre Israel“), dem Bekenntnis zur Einheit und Einzigkeit Gottes in Dtn 6, 4-5, das noch heute Hauptbestandteil des jüdischen Synagogengottesdienstes ist, auf den Begriff gebracht: „Höre Israel JHWH ist unser Gott JHWH ist einzig.“ So wie im Deuteronomium Staat und religiöse Gemeinde auseinander treten und dieser Prozess als Säkularisierung zu beschreiben ist, so treten im Alleinverehrungsanspruch JHWHs als Überwindung eines judäischen Polytheismus auch in Jerusalem Gott und Welt stärker auseinander. Vermittelt mythische Religion die Komplexität widerstreitender Erfahrungen wie Leben und Tod, Gelingen und Scheitern von Leben etc. durch die nach menschlicher Weise handelnden Götter als Repräsentanten dieser Erfahrungen, und bricht diese metaempirische

Vermittlungsweise

des

Mythos

weg,

müssen

die

Vermittlungen

widersprechender Erfahrungen in der Empirie neu gesucht werden. In der Exilszeit wird das Alleinverehrungsgebot mit der Fortentwicklung zur Theorie des Monotheismus, die die Existenz anderer Götter bestreitet, noch so verschärft, dass nun Welt zu einer entzauberten, den göttlichen Mächten entkleidete Welt zum Gegenüber des einen Gottes wird. Dieser Schub in der Religionsgeschichte Judas im ausgehenden 7. und im 6. Jahrhundert v. Chr. lässt sich als Prozess der Säkularisierung desWeltverständnisses im Sinne ihrer Entzauberung, wie sie Max Weber beschrieben hat28, begreifen. Damit verbunden sind nun auch entscheidende Umbrüche in der Ethik, die als Überwindung magischer Praktiken zugunsten einer Orientierung des Handelns an verinnerlichten ethischen Normen beschrieben werden können. Wieder spiegelt bereits das Deuteronomium und dann literarisch fortgeschrieben die pentateuchische Tora in ihrer Gesamtheit diesen Umbruch wider, wird doch die Gemeinde verpflichtet, die Gebote und Rechtsvorschriften, die „auf das Herz geschrieben stehen“ (Dtn 6,6) „mit ganzem Herzen und ganzer Seele“ zu halten (Dtn 26,16). Diese sich im Deuteronomium bündelnden Entwicklungen der Lösung der religiösen Gemeinde vom Staat verbunden mit einem Durchbruch zur Alleinverehrung des judäischen Gottes in der Gemeinde und einer Überwindung genealogisch begründeter, in dem Sinne „magischer“ Ethik, dass sie nicht auf eine ethische Entscheidungskompetenz reflektiert wurde, zugunsten einer entscheidungsgestützten Verinnerlichung von Handlungsnormen sind nur unzureichend unter den Begriff der Säkularisierung zu subsumieren, da die sich in diesem Prozess niederschlagende Tendenz der begrifflichen Trennung von Empirie und metaempirischer 28

Siehe Max Weber, Wirtschaftsgeschichte. Abriss der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Berlin: Duncker & Humblot, 5. Auflage 1991, S. 308 - 309. Siehe dazu auch im folgenden.

13 göttlicher Welt nach dem umgekehrten Vorgang der begrifflichen Vermittlung des Getrennten, von „Gott“ und „Welt“ ruft. Und auch diese einer Säkularisierungstendenz entgegenlaufende Bewegung der Theologisierung der Ethik spiegelt sich im Deuteronomium wider, und von da ausgehend in der Offenbarungstheorie des Pentateuch, die mit dem Berg Sinai und dem Land Moab verbunden wird. Die säkularisierte, d.h. entsakralisierte, im Sinne Max Webers „entzauberte“ Welt wird dem göttlichen Gestaltungswillen unterworfen, der durch die Gebotsoffenbarung die „Herzen“ der Gemeindemitglieder in ihrem Handeln bindet, um die entzauberte Welt insgesamt zu heiligen. Der sozialhistorische Ausgangspunkt dieses dialektischen Prozesses von Entzauberung und gleichzeitiger Heiligung ist zu umreißen. Die hebräische Ethik war bis zur assyrischen Krise im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. durch die Familiengenealogie in dem Sinne strukturiert, dass das Maß der wechselseitig geschuldeten Solidarität durch das der genealogischen Nähe bestimmt wurde29. Diese Gestalt genealogischfamiliarer Ethik, in der die Kerngebote des Dekalogs ihren ursprünglichen Ort hatten 30, wurde religiös begründet durch eine Familienreligion in Gestalt des Ahnenkultes, galten doch die Ahnen als Familienmitglieder, die die Lebenden der Familie unterstützten und dafür von ihnen auch im Totenreich versorgt wurden. In der assyrischen Krise ließ der judäische König Hiskia (725 - 697 v. Chr.) in Erwartung eines Angriffs der assyrischen Armee große Teile der Landbevölkerung in befestigte Städte umsiedeln. Die Folge war nicht nur der Verlust der Gräber und mit ihnen des Ahnenkultes, sondern auch eine Auflösung der bäuerlichen Großfamilien. Diese Entwicklung wurde noch durch die assyrische Eroberung Judas, von der nur Jerusalem verschont blieb, und die Deportation eines nicht geringen Bevölkerungsanteils verschärft, so dass Jahrzehnte später das Land Juda von Jerusalem aus wieder besiedelt werden musste31. Das Land aber wurde insofern entsakralisiert, als nach der Zerstörung der Lokalheiligtümer in Dörfern und Städten durch die Assyrer der Tempel von Jerusalem den Status des einen allein legitimen Zentralheiligtums erhielt (Dtn 12). Die Autoren des Deuteronomiums suchten das mit der Entsakralisierung des Landes und der Zerstörung der familiengestützten Ethik einhergehende ethische Vakuum durch eine Geschwisterethik aufzufangen, die jeden Judäer und jede Judäerin zu Bruder und Schwester erklärte und ein Verhalten abverlangte, das bis dahin nur in der Familie, aber nicht jenseits der genealogisch definierten Familiengrenzen seinen Ort hatte. Das Geschwisterethos wurde insbesondere auf dem Felde der Ökonomie programmatisch mit dem Verbot, Zinsen zu nehmen (Dtn 23, 20-

29

Zur Geschichte der hebräischen und jüdischen Ethik in der Antike siehe Verf., Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart: Kohlhammer 1994. 30 Siehe Verf., ebd., S. 32 - 47. 208 - 219. 31 Siehe dazu Verf., ebd., S. 180 mit weiterer Literatur.

14 21) oder Kredite über das Erlassjahr hinaus zurückzufordern (Dtn 15, 1-11)32. Die Entsakralisierung des Landes wurde durch eine konsequente Theologisierung der Ethik aufgefangen, in der die Handlungsleitung der Bindung an die Genealogie und die Magie des Ahnenkults enthoben und der Bindung an den ethischen Willen JHWHs dem einen Gott unterstellt wurde. Die deuteronomischen Forderungen von Zinsfreiheit der Kredite, auf deren Rückzahlung gegebenenfalls zu verzichten sei, hatten einen Vorläufer in dem sozialen Gebot des literaturhistorisch dem Deuteronomium um einige Jahrzehnte vorausgehenden „Bundesbuchs“ in Exodus 21 - 23, zu denen auch das Gebot des agrarischen Brachejahres in Exodus 23, 10 - 11 gehörte33. Anders als Max Weber meinte, handelt es sich dabei keineswegs um einen literaturhistorisch-ethischen späten Eintrag „theologischer Konsequenzmacherei“ in das Bundesbuch34, sondern um eine religiös motivierte Umgruppierung der Teilbrachen zu einer Gesamtbrache, deren Eingriff in die Ökonomie ebenso gering ist wie die sozialen Auswirkungen der Hilfe für die Armen, denen der Wildwuchs zukommen sollte. Tatsächlich aber wurde selbst dieses von Priestern formulierte Gebot erst ein halbes Jahrtausend später realisiert, ist doch das erste Brachejahr erst für das Jahr 164/163 v. Chr. dokumentiert. Sehr viel tiefer in das Wirtschaftsverhalten wollten die das gesamte Kreditwesen als eine Säule der antiken Ökonomie revolutionierenden Gebote von Zinsfreiheit und Rückzahlungsverzicht im Deuteronomium eingreifen. Mit der Logik der rentenkapitalistisch strukturierten Ökonomie Judäas waren diese Forderungen nicht mehr verträglich und wurden ebenfalls bis zur Kanonisierung des Pentateuch nicht befolgt, um dann um die Zeitenwende durch Einführung der Institution des Prosbul in Form eines bei Gericht deponierten Verwahrungsscheins, auf den sich der Schuldenerlass nicht beziehe, außer Kraft gesetzt zu werden 35. Konzipierte das Deuteronomium das Judentum als religiöse Gemeinde, die nicht durch einen religiös legitimierten Staat, sondern den Gottesdienst am Zentralheiligtum integriert wurde, so verband sich damit eine Karitätsethik, die aus dem Familienverband entnommen auf die 32

Zur Ethik des Deuteronomiums siehe auch Verf., Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium, Beihefte zur Zeitschrift für Altorientalische und biblische Rechtsgeschichte 2, Wiesbaden: Harrassowitz 2002, S. 92 - 275. 33 Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der ältesten Rechtssammlung der Hebräischen Bibel, des sog. Bundesbuches aus dem 8. - 7. Jahrhundert v. Chr., das nachexilisch im 5. Jahrhundert v. Chr. zusammen mit dem Dekalog in Exodus 20 in die Sinaiperikope eingebunden wurde, siehe bereits Max Weber, Das antike Judentum (MWG I/21.1), S. 308 - 334. 417 - 436 sowie Verf., Wandel der Rechtsbegründungen in der Gesellschaftsgeschichte des antiken Israel. Eine Rechtsgeschichte des „Bundesbuches“ Ex XX 22 - XXIII 13, Studia Biblica 3, Leiden / New York: E. J. Brill 1988. 34 Siehe Max Weber, ebd. S. 310; vgl. auch oben I. 35 Der altbabylonischen Institution der vom König durchgeführten „Gerechtigkeitsakte“ des Schuldenerlasses im zweiten Jahrhundert v. Chr. (siehe dazu Fritz Rudolf Kraus, Königliche Verfügungen in altbabylonischer Zeit, Leiden / New York: F. J. Brill 1984) erging es im ersten Jahrtausend v. Chr. entsprechend, da in neuassyrischen Darlehensverträgen eine Klausel aufgenommen werden konnte, dass ein Gerechtigkeitsakt des Königs auf diesen Vertrag nicht anwendbar sei; siehe dazu Verf., Soziale Restitution und Vertragsrecht, in: Revue d’Assyriologie 92, 1998, S. 125 - 160.

15 Gemeinde des jüdischen „Gottesvolkes“ übertragen in Konflikt mit der Logik der am Gewinnstreben orientierten Ökonomie des antiken Rentenkapitalismus geraten musste und entsprechend in biblischer Zeit Programm blieb36. Der Prozess der Gemeindebildung als Teil eines dialektischen Prozesses von Säkularisierung und Theologisierung lässt sich anhand des Deuteronomiums sehr gut nachvollziehen. Max Weber sieht in der religiösen Gemeindebildung ein „Produkt der Veralltäglichung“ prophetischen Charismas, „indem entweder der Prophet selbst oder seine Schüler den Fortbestand der Verkündigung und Gnadenspendung dauernd sichern, daher die ökonomische Existenz der Gnadenspendung und ihrer Verwaltung dauernd sicherstellen und nun für die dadurch mit Pflichten Belasteten auch die Rechte monopolisieren“ 37. Als Paradigma dient Max

Weber

die

Entstehung

der

nachexilischen

Gemeinde

des

Judentums

als

Transformationsprodukt der vorexilischen Prophetie38. Fast ein Jahrhundert später zeigt sich die Gemeindebildung nicht als Prozess der Veralltäglichung von Charisma durch die Institutionalisierung religiöser Funktionen im Verehrerkreis der charismatischen Propheten, sondern als Ergebnis eines Transformierungsprozesses, in dem die Religion von der Funktion der religiösen Herrscherlegitimation befreit wird und die religiöse Gemeinschaft als Gemeinde dem Staat gegenübertritt. Dieser Prozess wurde ziemlich spät vorexilisch im Deuteronomium programmatisch inauguriert und dann mit der Vernichtung des judäischen Staates durch die Babylonier in die Tat umgesetzt. Dieser als Säkularisierung zu beschreibende Vorgang der Lösung der Religion aus der im Alten Orient symbiotischen Verbindung mit dem Staat wurde begleitet von der Entsakralisierung des Landes durch die 36

Zu den rabbinischen Responsen zum Zinsverbot siehe Eberhard Klingenberg, Das israelitische Zinsverbot in Torah, Mišnah und Talmud, Wiesbaden: Franz Steiner 1977. Zur christlichen Rezeption, die sich schwer tat, die durch Dtn 23, 20-21 gestellte Frage zu beantworten, wer Bruder und wer Ausländer für den Christen sei, siehe Benjamin N. Nelson, The Idea of Usury. From Tribal Brotherhood to Universal Otherhood, Princeton: Princeton University Press, 2. Auflage 1969, sowie Verf., Gerechtigkeit und Erbarmen im Recht des Alten Testaments und seiner christlichen Rezeption, in: ders, Kontinuum und Proprium. Studien zur Sozial- und Rechtsgeschichte im Alten Orient und im Alten Testament, Orientalia Biblica et Christiana 8, Wiesbaden: Harrassowitz 1996, S. 342 357 (wieder abgedruckt in: Jan Assmann u.a. [Hg.], Gerechtigkeit, [München 1998], S. 79 - 95). 37 Siehe Max Weber, Religiöse Gemeinschaften (MWG I/22-2), S. 195. 38 Siehe Max Weber, Das antike Judentum (MWG I/21-2), S. 675 - 757, sowie die Einleitung und Kommentierung zu diesem Text Max Webers, der mit dieser These zur nachexilischen Gemeindebildung von der damaligen Sicht der protestantischen Alttestamentlichen Wissenschaft, insbesondere Julius Wellhausens (Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin: Georg Reimer, 6. Auflage 1905, S. 420 - 424), abhängig war. Julius Wellhausen sah in der nachexilischen Gemeindebildung als Hierokratie auf der Grundlage der zum Gesetz erhobenen Tora einen Rückschritt gegenüber der ethischen Universalreligion der Propheten: „Von den Propheten war der Begriff in das Moralische erhoben worden. Jetzt wird er wieder materialisiert; das Moralische wird zwar nicht abgestreift, aber völlig mit dem Liturgischen vermischt“, so Julius Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin: Georg Reimer 7. Auflage 1914, S. 168. Von derartigen Werturteilen der Alttestamentlichen Wissenschaft, die gleichzeitig solche über das zeitgenössische Judentum waren, hat sich Max Weber stets ferngehalten. Schließlich hat auch Rudolph Sohms These von der Veralltäglichung des christlichen Charisma in der frühkatholischen Kirche Einfluss auf Max Webers Interpretation der jüdischen Gemeindebildung gehabt; siehe dazu Rudolph Sohm, Wesen und Ursprung des Katholizismus, Berlin: Teubner 2. Auflage 1912, S. 55 und öfter.

16 Aufhebung der zahlreichen Lokalheiligtümer zugunsten des einen Zentralheiligtums in Jerusalem,

das

als

Integrationszentrum

der

Gemeinde

fungieren

sollte.

Diesem

Säkularisierungsprozessen korrespondierte ein gegenläufiger Prozess der Theologisierung der Ethik, der das entsakralisierte Land pragmatisch vermittelt durch die auf den judäischen Gott JHWH zurückgeführten Gebote der Herrschaft dieses einen Gottes unterstellte. Die innerhalb der Gemeinde gültige Ethik aber stand in Spannung zu der in der Gesellschaft gültigen Logik der Ökonomie, in dem sie im Kreditwesen den Verzicht auf ein Gewinninteresse innerhalb der Gemeinde verlangte. Für Max Weber war die damit verbundene Differenzierung von Binnen- und Außenmoral, die eine religiöse Prämierung des Wirtschaftsverhaltens Fremden gegenüber nicht gekannt habe39, Ausweis des Traditionalismus eines jüdischen PariaKapitalismus, von dem anders als es Werner Sombart vertrat 40, kein Weg zur Rationalisierung des okzidentalen Kapitalismus geführt habe. Wohl aber kam Max Weber im Zuge seiner Beschäftigung mit dem antiken Judentum zu der Einsicht, dass die Rationalität der Propheten und der priesterlich-levitischen Rechtskorpora insbesondere des Deuteronomiums durch die christliche Rezeption in Gestalt der griechischen Übersetzung in Gestalt der Septuaginta im christlichen Okzident wirksam wurde: „Wir befinden uns also bei Betrachtung seiner Entwicklungsbedingungen (sc. des Judentums), ganz abgesehen von der Bedeutung des jüdischen Pariavolkes selbst innerhalb der Wirtschaft des europäischen Mittelalters und der Neuzeit, vor allem aus Gründen der universalhistorischen Wirkung seiner Religion an einem Angelpunkt der ganzen Kulturentwicklung des Okzidents und vorderasiatischen Orients. An geschichtlicher Bedeutung kann ihn nur die Entwicklung der hellenischen Geisteskultur und, für Westeuropa, des römischen Rechts und der auf den römischen Amtsbegriff fußenden römischen Kirche, dann weiterhin der mittelalterlich-ständischen Ordnung und schließlich der sie sprengenden, aber ihre Institutionen fortbildenden Einflüsse auf religiösem Gebiet, also des Protestantismus, gleichgeordnet werden“41. 39

Die zahlreichen rabbinischen Responsen zum Zinsverbot zeigen, dass mit der Differenzierung von Binnenund Außenmoral in Dtn 23, 20 - 21 kein Freibrief verantwortungsloser Ausbeutung des Fremden gegeben war. Max Weber ging es mit der Unterscheidung von Binnen- und Außenmoral nicht um Werturteile, sondern um die Frage der religiösen „Prämierung“ ökonomischen Erfolgs. 40 Siehe Werner Sombart, Die Juden und das Wirtschaftleben, Leipzig: Duncker & Humblot 1911. Max Webers harsche Kritik an dieser Monographie zeigen die handschriftlichen Randbemerkungen in seinem ihm von Werner Sombart zugesandten Handexemplar (siehe Verf., Max Weber [Tübingen 2002], S. 20 - 24) sowie Max Webers Brief an Werner Sombart vom 2. Dezember 1913, in dem Max Weber versicherte, er halte an dem „‚Judenbuch’, soweit das Religiöse in Betracht kommt, ‚beinahe jedes Wort für falsch’“; siehe Max Weber, Briefe 1913 - 1914 (MWG II/8), S. 414. 41 Siehe Max Weber, Das antike Judentum (MWG I/21.1), S. 243 - 244. Max Weber wendet den Paria-Begriff in dem um 1912 verfassten und im Rahmen der Edition in der Max Weber Gesamtausgabe publizierten Deponatsmanuskript zum antiken Judentum „Ethik und Mythik / rituelle Absonderung“ aus dem Deponat Max Weber der Bayrischen Staatbibliothek München den Paria-Begriff auf das Judentum erstmals an; siehe Max Weber, ebd., S. 205 - 206 mit textkritischer Anm. i - i. Mit der kulturhistorischen Interpretation des Judentums

17 Das schreibt der Autor der Protestantismus-Kapitalismus-These. Und tatsächlich ist die Bedeutung der hebräischen Prophetie für die Geschichte des okzidentalen Rationalismus kaum zu hoch zu bewerten, so dass noch auf die Frage einzugehen ist, welcher Stellenwert der Prophetie in der Dialektik von Säkularisierung der politischen Theologie und Theologisierung der Ethik zuzuschreiben ist. Max Weber verortet die Rationalität der hebräischen Prophetie in der Notwendigkeit, charismatisch-ekstatische Erlebnisse durch ihre ethische Ausdeutung kommunikabel zu machen42. Die heutige Prophetenforschung hat weitgehend davon Abstand genommen, in den Prophetenbüchern

der

Hebräischen

Bibel

ekstatische

Erlebnisse

von

historischen

Prophetengestalten als Ausgangspunkt der Prophetensprüche zu suchen, da sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass nicht einmal die ipsissima verba der Propheten zugänglich sind, sondern allenfalls nur literarische Erinnerungen von Schülerkreisen der Propheten, die Ausgangspunkt für Jahrhunderte währende literarische Fortschreibungen bis in hellenistische Zeit waren. Das verschriftete Prophetenwort wurde in je neuer historischer Situation ausgelegt und konnte seinerseits im Zuge der literarischen Neuinterpretation je neue Prophetenworte hervorbringen. Zunehmend wurde die Prophetenüberlieferung das Werk von Schriftgelehrten, die sich den Prophetenmantel umwarfen, indem sie die Prophetenbücher fortschrieben: Die Prophetenworte erhalten ihren Sinn nicht mehr von einer Ursprungssituation, in die sie hineingesprochen sein sollen, sondern von ihrem literarischen Kontext, in den sie eingebunden sind. Der rationale Charakter der hebräischen Prophetenliteratur ist also nicht Ergebnis der sekundären Rationalisierung ekstatischen erlebten Charismas, sondern einer bereits die Anfänge der Literaturgeschichte der Prophetenbücher in Gestalt prophetischer Einzelsprüche der Unheilsankündigung kennzeichnende Korrespondenz der am Maßstab des hebräischen Gerechtigkeitsbegriffs (şedaqa) orientierten Kritik des religiösen und sozialen Verhaltens im Volk und der aus der Analyse nach der Denkstruktur synthetischer wehrte Max Weber konsequent eine rassische Interpretation ab, wie sie u.a. von Houston Stewart Chamberlain (Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, München: F. Bruckmann 9. Auflage 1909, S. 323 - 459) vertreten wurde. Zu Max Webers Anwendung des Paria-Begriffs auf das antike Judentum und dem zeitgenössischen Kontext der Verwendung dieses Begriffes siehe Verf., Einleitung zu Max Webers antikem Judentum in: M. Weber, Das antike Judentum (MWG I/21.1), S. 66 - 70, sowie ders., Max Weber (Tübingen 2002), S. 43-53, 74-78, 264-269 u. ö. 42 Max Weber folgt hier insbesondere dem neuromantischen Geist der Propheteninterpretation Hermann Gunkels, (Die geheimen Erfahrungen der Propheten Israels. Eine religionspsychologische Studie, in: Friedrich Daab / Hans Wegener [Hg.], Das Suchen der Zeit. Blätter deutscher Zukunft, Band I, Gießen: Alfred Oskar Töpelmann 1903, S. 112 - 153) sowie der religionspsychologisch konzipierten, von Wilhelm Wundts Physiologischer Psychologie und Völkerpsychologie beeinflussten Gustav Hölschers Interpretation (Die Profeten. Untersuchungen zur Religionsgeschichte Israels, Leipzig: J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung 1914). Zu Max Webers Propheteninterpretation siehe Verf., Die hebräische Prophetie bei Max Weber, Ernst Troeltsch und Hermann Cohen. Ein Diskurs im Weltkrieg zur christlich-jüdischen Kultursynthese, in: Wolfgang Schluchter / Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Asketischer Protestantismus und der „Geist“ des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2005, S. 201 - 253.

18 Lebensauffassung der Einheit von Tat und Ergehen gezogenen Schlussfolgerung auf das Unheil, das das Volk treffen werde 43. Die hebräische Prophetie unterscheidet sich darin grundlegend von der hellenischen, die, wie Platon es im Timaios ausdrückt, als „Richten über gottbegeisterte Weissagungen“ eingesetzt seien und also „Dolmetscher, nicht aber Urheber eines göttlichen Gesichts oder Wortes“ seien. Die Dunkelheit des Orakelspruchs ist für griechisches Denken gerade Ausweis seiner Herkunft aus einer meta-empirischen unbekannten Welt, die Zweideutigkeit - so Giorgio Colli - „eine Anspielung auf den metaphysischen Bruch“ zwischen einer göttlichen, dem Menschen mehrdeutigen Weisheit und ihrer Rationalisierung in Worten menschlichen Verstehens44. Schlussfolgern die Prophetensprüche der Hebräischen Bibel von der empirischen Erfahrung auf das ihr inhärente Zukunftspotential, so ist für hellenisches Denken die Zukunft nicht deshalb vorhersehbar, „weil ein kontinuierlicher Zusammenhang zwischen der Gegenwart und der Zukunft bestünde und irgendwer auf geheimnisvolle Weise imstande wäre, diesen Notwendigkeitszusammenhang im voraus zu überblicken: sie ist vorhersehbar, weil sie Reflex, Ausdruck, Manifestation einer göttlichen Wirklichkeit ist“ 45, die ekstatisch-irrational in die Welt einbricht46. In der Prophetenliteratur der Hebräischen Bibel sind noch sehr viel dichter als bereits im Deuteronomium die dialektisch aufeinander bezogenen Bewegungen erkennbar, so die der Säkularisierung, die die Welt nicht mehr den Mächten des Mythos und mit ihnen des religiös legitimierten Staates überließ - die scharfe Königskritik der Propheten brachte diese Differenz deutlich zur Sprache -, gleichzeitig aber der Theologisierung mit der Begründung der Ethik, die an von Gott gesetzten Maßstäben der Gerechtigkeit orientiert war, den Zusammenhang von Ethos und Gelingen oder Scheitern des Lebens des Einzelnen wie 43

Wenn die Redaktoren der Prophetensprüche diesen die Formel „so spricht Jahwe“ voranstellen, unterstreichen sie diesen Zusammenhang als von Gott garantiert: Das von den Propheten angekündigte Schicksal entspreche dem durch diese Ordnung gesetzten Willen Gottes. Die Alttestamentliche Wissenschaft hat erkannt, dass die biographischen Daten in den Prophetenbüchern z.T. theologische Konstruktionen späterer Schriftgelehrter sind, die die Prophetentraditionen in den Prophetenbüchern fortschreiben. Es ist an dieser Stelle nur darauf hinzuweisen, dass die historische-kritische nichtmuslimische Erforschung des Koran eben diese Einsicht vollzieht, wenn sie im Gegensatz zu traditioneller Koranexegese die Suren des Koran nicht aus den Lebenssituationen des Propheten heraus zu erklären sucht, sondern nach literarischen und religionshistorischen Kriterien unabhängig von der Prophetenvita sucht. 44 Siehe Giorgio Colli, Die Geburt der Philosophie, Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt 1981, S. 41. Ein spektakuläres Beispiel der Dunkelheit der Orakel aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit ist das von Herodot (Historien I, 87) berichtete delphische Orakel an Krösus, er werde ein großes Reich zerstören, wenn er gegen Kyros den Halys überschreitet. Deutete Krösus dieses Orakel auf seinen Sieg über die Perser, so stellte sich schließlich heraus, dass er sein eigenes Reich zerstörte; siehe dazu Veit Rosenberger, Griechische Orakel. Ein Kulturgeschichte, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001, S. 160 - 165. Zum Gesamtzusammenhang siehe auch Erec Robertson Dodds, Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970, S. 55f. 45 So Giorgio Colli, ebd., S. 43. 46 Wie sehr Max Weber mit den Alttestamentlern seiner Zeit die hebräische Prophetie im Horizont der hellenischen interpretierte, wird an seiner intensiven Rezeption der Studie des Gräzisten Erwin Rohde (Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, 2 Bände, Freiburg/Br.: J. C. B. Mohr [Paul Siebeck] Zweite Auflage 1898) deutlich.

19 des Kollektivs aber als göttlich gesetzte Ordnungsstruktur das menschliche Handeln umfassen ließ. Man mag sich fragen, was die Verfasser der Prophetenbücher zu einer derartigen rationalen Theologie antrieb, und die Antwort kann nur sein, dass für diese Autoren die Gerechtigkeit Gottes angesichts der praktizierten Ungerechtigkeit zur Frage geworden war. Wie im Hoseabuch ablesbar, stellten diese Autoren dort, wo sie die Vernichtungsankündigung auf die Spitze trieben (Hosea 12) den empirischen Ausgangspunk ihrer Theologie auf den Kopf zugunsten eines spekulativen Ausgangspunktes bei der Gnade des mitleidend seinen Zorn überwindenden Gottes (Hosea 11, 1-9)47. Positive Lebensmöglichkeit der jüdischen Gemeinde sei nur durch die gnädige Zuwendung Jahwes möglich. Diese Umkehr des Ansatzes der Theologie bei der Empirie zu einem solchen beim spekulativen Gottesbegriff zeigt sich parallel auch in der Spruchweisheit in der Umkehrung des Ausgangspunktes bei der Erfahrungsweisheit in Proverbien 10 - 30 zu den bei einem spekulativen Ansatz bei einer präexistenten Weisheit vor aller Schöpfung in Proverbien 1 - 9 mit Zentrum in Proverbien 8 48. Trägerkreise dieser Dialektik von Säkularisierung und Theologisierung in Tora, Prophetie und Weisheit sind Intellektuellenkreise, die zuerst in der neuassyrischen Krise des 8. und 7. Jahrhunderts v. Chr. auftraten, aber bis in hellenistische Zeit die Formierung der Hebräischen Bibel vorantrieben. Die Dialektik von Säkularisierung und Theologisierung ist insbesondere in der Prophetie durchaus aus dem Prozess des Auszugs der Philosophie aus dem Mythos und anschließender spekulativer Theologisierung in griechischer Philosophie vergleichbar49. Doch ist eine entscheidende Differenz festzuhalten: Im Judentum vollzogen sich die dialektisch aufeinander bezogenen Prozesse von Säkularisierung und Theologisierung innerhalb der traditionellen jüdischen Religion und wanderten nicht wie die hellenische Philosophie aus der Religion aus. Der hellenischen Religion fehlte im Gegensatz zur jüdischen eine intellektuelle Schicht religiöser Spezialisten als Träger der ethischen Rationalisierung der Religion. Die griechische Religion als Opferreligion erwartete von jedermann nur die Wahrung der 47

Siehe dazu Verf., Ethik (Stuttgart 1994), S. 104 - 111 sowie ders., Die Geburt des moralischen Bewusstseins. Die Ethik der Hebräischen Bibel, in: ders. / Siegbert Uhlig, Bibel und Christentum im Orient, Orientalia Biblica et Christiana 1, Glückstadt: J. J. Augustin / Wiesbaden: Harrassowitz 1991, S. 9 - 28. 48 Zur Geschichte der hebräischen Weisheit in Relation zu der Ägyptens und Mesopotamiens siehe Verf., Ethik (Stuttgart 1994), S. 117 - 175. Die hebräische Weisheit, die im 8. Jahrhundert v. Chr. ihren Ausgangspunkt als Spruchweisheit mit der Rezeption von Teilen der ägyptischen Lehre des Amen-em-ope aus dem 9. Jahrhundert v. Chr. genommen hat, rezipiert diese durch die Auflösung der klassischen ägyptischen Lebenslehre durch die als „Persönliche Frömmigkeit“ gekennzeichnete Lehre konservativ im Sinne einer Weltsicht, wie sie sich in den ägyptischen Lehren des 2. Jahrtausends v. Chr. niedergeschlagen hat, um am Ende in hellenistischer Zeit dort anzukommen, wo die ägyptische Weisheit das Amen-em-ope bereits stand. 49 Siehe dazu Verf., Recht und Ethos in der ost- und westmediterranen Antike. Entwurf eines Gesamtbildes, in: Markus Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog. Festschrift für Otto Kaiser zum 80. Geburtstag, Band I, Beihefte zur Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft 345/1, Berlin / New York: de Gruyter 2004, S. 91 - 109; ders., Law and Ethics, in: Sarah Iles Johnston (Hg.), Religions of the Ancient World, Harvard University Press Reference Library, Cambridge / Mass.: Harvard University Press 2004, S. 84 - 97.

20 Opferpflichten und ließ neben der politischen Führungsschicht, die ihre Leitbilder aus dem kriegerischen

Adelsethos

bezog,

keine

eigenständige

intellektuelle

Priesterschicht

aufkommen. Im antiken Judentum fand alle Säkularisierung und Aufklärung in den Grenzen der tradierten Religion statt, was noch, wie an Moses Mendelssohn ablesbar ist 50, auch für die jüdische „Berliner Haskala“ galt51, die darin Züge der deutschen Aufklärung auch in den Grenzen des protestantischen Christentums im Sinne einer „shared history“ bewahrt hat.

IV. „Zitathaftes Leben“ und Erlösungssehnsucht. Sektenbildung im postbiblischen Judentum Der jüdische Priester Flavius Josephus, der von den Römern gefangen genommen zum Schriftsteller in Rom aufstieg und die jüdische Sache in Rom für Nichtjuden plausibilisieren wollte, sieht im 2. und 1. vorchristlichen Jahrhundert das Judentum in Palästina in drei „Sekten“ (griech. haireseis) zerfallen, „welche über die menschlichen Verhältnisse verschiedene Lehren aufstellen, und von denen die eine die der Pharisäer, die zweite die der Sadduzäer und die dritte die der Essener hieß“ 52. Für die römische Zeit kommt noch als vierte Gruppierung die der Zeloten sowie die Täufersekte des Johannes und des urgemeindliche

50

Siehe Moses Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Mit dem Vorwort zu Manasse ben Israels Rettung der Juden und dem Entwurf zu Jerusalem, Philosophische Bibliothek 565, Hamburg: Felix Meiner 2005. Siehe ebd. S. VII - XLII auch die Einleitung von Michael Albrecht. 51 Siehe dazu David Sorkin, Moses Mendelssohn und die theologische Aufklärung, Jüdische Denker 4, Wien: 1999, sowie dazu Shmuel Feiner, Eine traumatische Begegnung. Das jüdische Volk in der europäischen Moderne, in: Michael Brenner / David N. Meyers (Hg.), Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen Positionen - Kontroversen, München: C. H. Beck 2002, S. 105 - 122. 52 Siehe Josephus, Antiquitates XIII 5.9. Der Begriff der „Sekte“ wird hier im Sinne von Ernst Troeltsch (Soziallehren [Tübingen 1923], S. 362 - 363) gebraucht. Die in unserem Sprachgebrauch pejorativ wertende Konnotation liegt dort wie auch in diesem Zusammenhang fern. Auch soll der Begriff nicht im Sinne der Abweichung einer Minderheit von einer vorgegebenen Norm einer Mehrheit verwendet sein. Der Gebrauch des Sektenbegriffs bei Ernst Troeltsch und Max Weber ist vom umgangssprachlichen Gebrauch weit geschieden. Auf dem Ersten Deutschen Soziologentag in Frankfurt am Main stellte Ernst Troeltsch in seinem Vortrag „Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht“ seine Typologie von Kirche, Sekte und Mystik der „Soziallehren“ zur Diskussion; siehe Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19. - 22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M. Reden und Vorträge [...] und Debatten, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1911, S. 166 - 192. Mit diesen drei soziologischen Typen seien drei verschiedene regulative Prinzipien der Beziehung der Gläubigen zu den Erfordernissen des natürlichen und sozialen Lebens verbunden. In der Kirche herrsche der Kompromiss vor, mit den Gesetzen der Welt zu leben, ohne den Glauben an das Reich Gottes aufzugeben, während die Sekte durch Rigorismus, der jeden Kompromiss zwischen Gottesreich und Welt ablehne, gekennzeichnet sei. In der Diskussion leitete Ferdinand Tönnies (ebd., S. 192 - 196) den Typus der Sekte aus dem Widerstand der Städte gegen die Macht der Kirche ab. Dem widersprach Max Weber (ebd., S. 199 - 200) als zu einlinig materialistisch. In der Antike seien Sekten auf dem Lande beheimatet gewesen, im Mittelalter auch in der Stadt, doch sei auf deren Boden auch der Kirchengedanke ausgebildet worden. In der Studie zum antiken Judentum (MWG I/21.2, S. 753 - 757) rechnet Max Weber mit einem sozialen Gegensatz von Stadt- und Landbevölkerung, der der städtischen Sektenbildung Vorschub geleistet habe, da, so in dem Vorkriegsmanuskript „Ethik und Mythik / rituelle Absonderung“ (ebd., S. 178- 209) und in der Studie „Die Pharisäer“ (ebd., S. 777 - 846) die strikte Einhaltung der Reinheitsvorschriften in ländlichem Kontext erschwert gewesen sei.

21 Christentum53. Die Gründe für die jüdische Sektenbildung in hellenistischer und römischer Zeit, aus der auch das Christentum hervorgegangen ist, zu erfragen, ist ein nicht einfaches Unterfangen, auch wenn die seit 1947 gefundenen Schriftrollen, die um das Scriptorium der Essener bei Qumran am Toten Meer in den Höhlen vor den Römern versteckt wurden, etwas mehr Licht in das Dunkel gebracht haben54. Der Prozess der jüdischen Sektenbildung hat Anteil am zeitgenössischen Zug zur Konventikelbildung, der sich auch in nichtjüdischem Kontext in der gesamten hellenistisch-römischen Welt zunächst des Orients, dann aber auch der westmediterranen Antike als religiöse Gegenbewegung gegen eine politische und kulturelle Universalisierungstendenz beobachten lässt55. Doch zeitgenössische Trends, die die gesamte hellenistisch-römische Welt ergriffen, erklären noch nicht ausreichend die jüdische Entwicklung der Sektenbildung, widerspricht sie doch dem für die Religion des antiken Judentums zentralen Gedanken des Bundes Gottes mit seinem Volk als der einen Bundesgemeinschaft. Schon der Bundesgedanke wäre ein ausreichendes Motiv gewesen, um die jüdische Gemeinde als unteilbare Gemeinschaft vom zeitgenössischen Trend der Sektenbildung abzukoppeln. Max Weber hat zwei Entwicklungen für den Prozess der jüdischen Sektenbildung verantwortlich gemacht. Einerseits sei des der „Priestermacht“ gelungen, das prophetische Charisma an den Rand des Judentums zu drängen, so dass der „Betrieb des Sehertums“, so in Gestalt der Apokalyptik, eine Angelegenheit von Sekten und Mysteriengemeinschaften geworden sei, andererseits habe der soziale Gegensatz von städtischem Demos von Ackerbürgern, Handwerkern und Händlern einerseits, weltlichen und priesterlichen landsässigen Geschlechtern andererseits dazu geführt, dass die städtischen Kleinbürger sich als das erwählte Volk, die Frommen und Armen im Gegensatz zu ihren Gegnern fühlten56. Dieser notwendige Rekurs auf die Konstellation von Machtinteressen, die sich der Religion bedienen und sie formen, bleibt in zwei Hinsichten unbefriedigend und rund einhundert Jahre später vor allem aufgrund der Funde der Qumran-Schriften zu modifizieren. Zwar setzten, wie jüngere Forschung zur literarischen Interaktion zwischen Pentateuch und Prophetenschriften zeigt, priesterliche Schriftgelehrte, die die Literaturgeschichte des Pentateuch in persischer Zeit verantworteten, der prophetischen Tradition von Autoren, die 53

Siehe dazu Gerd Theissen, Der jüdische Jesus, in: ders., Jesus als historische Gestalt. Beiträge zur Jesusforschung, Forschungen zu Religion und Literatur des Alten und Neues Testaments 202, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, S. 33 - 131. Von diesen innerjüdischen Parteiungen in Palästina sind nochmals die Strömungen des Diasporajudentums, insbesondere in Alexandrien, das dort ein Drittel der Bevölkerung ausmachte, abzuheben. 54 Siehe dazu Hartmut Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg / Br.: Herder 4. Auflage 1994. 55 Demotische Papyri geben einen guten Einblick in diesen Prozess der religiösen Gemeinschaftsbildung in der ägyptischen Spätzeit; siehe dazu Françoise de Cenival, Les associations religieuses en Égypte d’après les documents demotiques, Kairo: Institut français d’archéologie orientale du Caire 1972, S. 139 - 213. 56 Siehe Max Weber, Das antike Judentum (MWG I/21.2), S. 753 - 757.

22 sich ihnen, so im Jeremiabuch, widersetzten, indem sie sich einen Prophetenmantel umwarfen, ein Ende, so dass die auf Prophetengestalten sich zurückführende Schriftstellerei in apokalyptische Kreise abgedrängt und nur noch mit dem Danielbuch kanonische Anerkennung finden konnte. Doch erklärt das noch nicht, wie nun durch die QumranSchriften dokumentiert, es zur Sektenbildung innerhalb der Priesterschaft kommen konnte. Der äußere Anlass zur Begründung der Sekte der Essener war die Vertreibung des legitimen Jerusalemer Hohenpriesters durch den Hasmonäer Jonathan 152 v. Chr. Als „Lehrer der Gerechtigkeit“ versammelte jener eine Schar von Getreuen im Exil um sich, die Zulauf auch in Palästina gewann und zu einer kräftigen Bewegung anwuchs, die sich vom Jerusalemer Tempel lossagte und für sich in Anspruch nahm, allein die von der Tora geforderte Reinheit zu bewahren. Der 1994 veröffentlichte essenische Tora-Midrasch 4QMMT 57 bestätigt, dass es sich dabei um innerpriesterliche Auseinandersetzungen jüdischer Schriftgelehrsamkeit handelte58, priesterliche Separierungstendenzen aber auf Resonanz seit jenseits der unmittelbaren Auseinandersetzungen um das Hohepriesteramt und die Reinheitsfrage zur Mitte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. trafen, so dass die essenische Bewegung bis in römische Zeit sich als separierte Sekte weiter entfalten und ein apokalyptisch-endzeitliches Selbstverständnis als wahre Gottesgemeinde im bevorstehenden Gottesgericht 59 integrieren konnte. Exklusivität als Gemeinschaft der Vollkommenen, die beansprucht, die Gebote ritueller Reinheit, die ursprünglich nur den Priestern galten, aber nun auf die gesamte Gemeinschaft ausgedehnt wurden, einzuhalten, und Glaube an das nahe bevorstehende Gottesreich, das die Vernichtung der nicht zur Gemeinschaft der Erwählten Gehörigen bedeuten sollte, waren in der essenischen Sekte eng aufeinander bezogen. In den Sekten der Essener, Pharisäer und Sadduzäer wurde ein und dieselbe Tora des Pentateuch mit unterschiedlichen Techniken ausgelegt, die in Wechselwirkung mit unterschiedlichen Lebensstilen standen. Doch was sie vereint, ist das Bemühen um Schrifterfüllung durch ein „zitathaftes Leben“ (Thomas Mann)60. Je höher der Grad der eschatologisch-apokalyptischen Naherwartung der Erlösung in den Sekten war, um so größer 57

Siehe dazu Elisha Qimron / John Strugnell (Hg.), Qumran Cave 4, Band V: Miqsat Ma’a´se ha-Torah, Discoveries in the Judean Desert 10, Oxford: Clarendon Press 1994, S. 109ff. Zur Reinheitsthematik in den Qumran-Texten cf. Hannah K. Harrington, The Purity Texts, London: T&T Clark 2004. 58 Zum priesterlichen Kontext der jüdischen Schriftgelehrsamkeit siehe Verf., Vom biblischen Hebraismus der persischen Zeit zum rabbinischen Judaismus in römischer Zeit. Zur Geschichte der spätbiblischen und frühjüdischen Schriftgelehrsamkeit, in: Zeitschrift für Altorientalische und biblische Rechtsgeschichte 10, 2004, S. 1 - 49. 59 Siehe dazu Ernst Troeltsch, Soziallehren (Tübingen 1923), S. 362. 60 Siehe dazu Michael Fishbane, Canonical Text, Covenant Communities, and the Patterns of Exegetical Culture, in: A. D. H. Mayes / R. B. Salters (Hg.), Covenant as Context. Essays in Honour of Ernest W. Nicholson, Oxford: University Press 2003, S. 135 - 161. Zur Schriftauslegung in den Qumran-Texten siehe Jonathan G. Campbell, The Exegetical Texts, London; T&T Clark 2004.

23 war das Maß ihrer Weltindifferenz. Prägnant wird dieser Zusammenhang in der Sekte Johannes des Täufers, die historisch ursprünglich von der christlichen Urgemeinde unabhängig war. Die Abgrenzung vom traditionellen Jerusalemer Tempeljudentum wurde in der Täufer-Sekte durch den Rückzug in die Wüste gesteigert, und die Erwartung des nahen Gottesgerichts noch durch die Annahme dramatisiert, dass es auch die Frommen betreffen würde, die sich nicht taufen ließen. Eine letzte Möglichkeit, dem Gericht zu entkommen, sei die Umkehrtaufe zur Vergebung der Sünden (Markus 1, 4) verbunden mit der Buße als einer prinzipiellen Abkehr von der dem Gericht verfallenen Welt (Markus 1, 1 - 8; Matthäus 3, 1 12; Lukas 3, 1 - 18)61. Die Tendenz der innerjüdischen Abgrenzungen wurde noch dadurch befördert, dass die jüdische Religion insgesamt auch in Palästina unter dem Kulturdruck des Hellenismus62, der den Juden als eine die Säkularisierungsprozesse beschleunigende Macht kultureller

Modernisierung

begegnete

und

entsprechende

Reaktionen

gesteigerten

Theologiebedürfnisses zur Wahrung jüdischer Identität freisetzte. Doch diese Dialektik spielte sich sehr dissonant ein, da die jüdischen Reaktionen auf den Hellenismus von einer kritischen Interpretation hellenistischen Denkens im weisheitlichen Buch Qohelet bis zu schroffer Ablehnung durch die Essener reichte. Was hat diesen Auflösungsprozess des Judentums in Sekten in hellenistischer und römischer Zeit verbunden mit einer zunehmenden Indifferenz der vorhandenen Welt gegenüber zugunsten der Erwartung einer kommenden bewirkt? Alle genannten historischen und sozialhistorischen Gründe haben dazu beigetragen, doch ausreichende Erklärung vermögen sie nicht zu sein. Die die jüdische Religionsgeschichte auf ihrem Weg durch die Jahrhunderte kennzeichnende Dialektik von Säkularisierung des Weltverständnisses und Theologisierung der Ethik entfaltete hier ihre Kraft und offenbarte ihre Aporien. Der im 6. Jahrhundert v. Chr. zum Durchbruch gelangte Monotheismus gab dem bereits seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. in Gang gebrachten Prozess der Entzauberung und Entsakralisierung der äußeren Lebenswelt einen kräftigen Schub, der sich seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. bis in römische Zeit durchhielt. Der „Entzauberung“ der Lebenswelt antwortete eine ethische Theologisierung, die die säkularisierte äußere Lebenswelt als Feld der pragmatischen Gestaltung nach den Geboten Gottes begriff. Voraussetzung aber der Ethik in dieser Gestalt war der Gedanke, dass der handelnde Mensch ebenso wie seine äußere Lebenswelt als Handlungsfelder unter der ordnenden Herrschaft des Gottes JHWH als des Schöpfergottes von Himmel und Erde (Gen 1-3) stand, Tat und Ergehen also eine Einheit derart bilden sollten, dass gutes Handeln 61

Siehe dazu prägnant zusammenfassend Jürgen Roloff, Jesus, Beck’sche Reihe 2142, München: C. H. Beck dritte Auflage 2004, S. 60 - 104. 62 Siehe dazu Martin Hengel, Judentum und Hellenismus, Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 10, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2. Auflage 1973, S. 108 - 195.

24 der Norm dieses Gottes gemäß auch zu einem gelingenden Leben führe. Da die Lebenserfahrung aber diese Erwartung nicht einlösen konnte, wurde diese in prophetischen Kreisen in die Zukunft eines neuen schöpferischen Eingreifen Gottes projiziert und die Hoffnung auf Erlösung aus der hiesigen Welt geweckt 63. Je stärker aber religiöse Idee der von Gott geordneten Lebenswelten und Erfahrung gerade im 2. Jahrhundert v. Chr. im Überlebenskampf des jüdischen Volkes und seiner Religion in den Makkabäerkriegen auseinander traten, umso hochgespannter wurden die Hoffnungen auf erlösendes Eingreifen Gottes und mit ihr eine zunehmende Indifferenz ja Feindseligkeit den bestehenden Lebenswelten gegenüber populär. Das aber beförderte Prozesse der Abgrenzung auch vom traditionellen Religionsbetrieb verbunden mit Neudefinitionen wahrer Frömmigkeit und Gesetzestreue, die eigene Regeln der Schriftauslegung und damit in Wechselbeziehung stehender Lebenstile fand, um sich von denen anderer abzugrenzen 64. Vermochte das traditionelle Religionssystem seinem Anspruch widersprechende Erfahrungen der Not wie die der Makkabäerkriege im 2. Jahrhundert v. Chr. nicht mehr zu integrieren, so radikalisierte sich das Religionssystem in der Spannung zwischen Idee und empirischer Erfahrung zugunsten der Erlösungshoffnung und zertrümmerte doch gleichzeitig seine soziale Gestalt und zerfasert in sich widerstreitende Sekten, denen nur die wenn auch hermeneutisch differenzierte Bindung an die eine Tora, den Pentateuch, gemeinsam blieb, die aber angesichts widerstreitender Auslegungsweisen kein Band der Einheit als Bundesvolk mehr zu geben vermochte. Das leisteten erst die Katastrophen der Jüdischen Kriege des 1. und 2. Jahrhunderts n. Chr., die zu einer Rückbesinnung und Konzentration auf die im Ursprung

63

Im Gegensatz zur ägyptischen Religion, die im zweiten Jahrtausend v. Chr. die Spannung zwischen religiöser Theorie und faktischer Lebenserfahrung durch die Ausdehnung der Theorie des Zusammenhangs von Tat und Ergehen auf die jenseitige Welt des Totenreichs zu vermitteln suchte, hatte die Hebräische Bibel erst an ihrem Kanonsrand in Daniel 12 im zweiten Jahrhundert v. Chr. in der Not der Makkabäerkriege die Idee der Auferstehung rezipiert. So lastete auf der antiken jüdischen Religion ein erheblicher Druck, da eine Vermittlung von Idee und Erfahrung innerweltlich nicht gelingen konnte. Das nachbiblische Judentum hat diesen Bruch dadurch zu mindern gewusst, dass zwar die apokalyptische Naherwartung zurückgedrängt, die Auferstehungshoffnung aber sich durchsetzte. 64 Das Bild jüdischer Lebensstile, die sich auf die ihnen jeweils zugrundeliegenden unterschiedlichen Stile und Techniken der Schriftauslegung berufen, werden noch erheblich vielfältiger, wenn das Diasporajudentum in Syrien, Mesopotamien, Kleinasien, Griechenland, Italien und vor allem Ägypten mit Zentrum in Alexandrien einbezogen wird. Autoren des hellenistischen Judentums standen in besonderer Weise vor der Aufgabe, angesichts des Modernisierungs- und Rationalisierungsschubs, der durch die hellenistische Philosophie als Antrieb auf den Begriff gebracht wurde, Abgrenzungen der Identitäswahrungen und gleichzeitig Assimilation in kulturhistorisch fremder Umwelt zu leisten. Hellenistisch-jüdische Autoren gingen defensiv durch Sicherung, Interpretation, Verteidigung und Aktualisierung der biblischen Traditionsbestände vor und gleichzeitig offensiv durch den Aufweis der sittlichen, religiösen und kulturellen Überlegenheit ihrer Tradition über die hellenische und hellenistische Philosophie, die auf jüdische Vorgaben, so die gesamte hellenistische Paideia auf Mose als Lehrer der hellenischen Philosophen und seine Tora zurückgeführt wurden. Siehe dazu Reinhard Weber, Das Gesetz im hellenistischen Judentum. Studien zum Verständnis und zur Funktion der Thora von Demetrios bis Pseudo-Phoklides, Arbeiten zur Religion und Geschichte des Urchristentums 10, Frankfurt / Main: Peter Lang 2000.

25 priesterliche Toraexegese in der Halacha65 und damit die Aussonderung der apokalyptischen Sekten führten66.

V. Ausblick auf das moderne Judentum im Staat Israel In der jüngsten Geschichte des Judentums seit 1948 im Staat Israel sind zahlreiche Motive der tief gestaffelten jüdischen Religionsgeschichte, die bis in die Antike zurückzuverfolgen sind, subkutan im säkularisierten Gewande wirksam. Der israelische Historiker Amnon RazKrakotzkin67

hat

darauf

hingewiesen,

dass

die

moderne

nationale

jüdische

Geschichtsschreibung in Israel ein Narrativ der „Negation des Exils“, d.h. des Diasporajudentums fördere, d.h. eines Bewusstseins, „dass in der gegenwärtigen jüdischen Besiedlung Palästinas und der Souveränität über Palästina die ‚Rückkehr’ der Juden in ein Land erblickt, das als ihre Heimat angesehen wird und vor ihrer Rückkehr menschenleer gewesen sein soll. ‚Negation’ des Exils schien der Höhepunkt jüdischer Geschichte und die Verwirklichung lange gehegter Erlösungserwartungen zu sein“68. Der Historiker des antiken Judentums sieht die Parallelität mit der jüdischen Verarbeitung des „Exils“ von 586 - 539 v. Chr. Obwohl nur eine kleine Schar der jüdischen Oberschicht exiliert wurde, die Bevölkerung aber ansonsten im Land verblieb, gelang es den Exilierten, zu denen die priesterlichintelektuellen Literaten gehörten, im prophetischen und chronistischen Schrifttum der nachexilischen Zeit eine Sicht durchzusetzen, dass während des Exils das Land leer gewesen sei, die Geschichte „Israels“ also nach dem Exil die einer Neubesiedlung durch die Exilierten gewesen sei. Der Unterschied zwischen der damaligen und der heutigen Geschichtsschreibung besteht nur darin, dass das Motiv des „leeren Landes“ in moderner jüdischer Geschichtsinterpretation auf zionistischem Hintergrund des expliziten religiösen Arguments, JHWH, der Gott Israels habe sein Volk aus dem Lande führen lassen und wieder zurück gebracht, entkleidet wird. Die an die Erzväter ergangenen göttlichen Landverheißungen im 65

Siehe Verf., Schriftgelehrsamkeit (ZAR 10), S. 39ff. mit weiterer Literatur. Im frühen Christentum lebte dagegen die apokalyptische Theologie, die schon Jesus leitete (Lukas 10, 18), fort und wurde erst durch die Integration des Naturrechts endgültig überwunden. 67 Siehe Amnon Raz-Krakotzkin, Geschichte, Nationalismus, Eingedenken, in: Michael Brenner / David N. Meyers (Hg.), Jüdische Geschichtsschreibung (München 2002), S. 181 - 206. 68 Siehe Amnon Raz-Krakotzkin, ebd., S. 186. Es ist schon paradox, dass 150 Jahre zuvor Heinrich Graetz den christlichen Historikern den Vorwurf nicht ersparen konnte, 1200 Jahre jüdischer Diasporageschichte, die von großer theoretischer, wissenschaftlicher und philosophischer Kreativität gewesen sei (siehe dazu Heinrich Graetz, Geschichte der Juden von der ältesten Zeit bis auf die Gegenwart, Bd IV, Leipzig: Oskar Leiner 4. Auflage 1908, S. 4 - 5), ins Grab herabgelassen und der jüdischen Geschichte den Totenschein ausgestellt habe; siehe Heinrich Graetz, Die Konstruktion der jüdischen Geschichte (1864), hg. von Nils Römer, Düsseldorf: ParErga 2000, S. 42 66

26 Pentateuch ebenso wie die Rückkehrverheißungen in den deuterojesajanischen Kapitel Jesaia 40 - 55, die die triumphale Rückkehr des jüdischen Volkes aus dem Exil in das einstmals verheißene Land ankündigen, sind im Zionismus ihres göttlichen Ursprungs entkleidet und in säkulare Form gegossen nationalisiert worden69: „Gott war aus dem Diskurs ausgeschlossen, aber sein Wort, die göttliche Verheißung, wies der politischen Betätigung weiterhin den Weg und diente als Quelle der Legitimierung für den Prozess der Kolonisierung, die als Erfüllung der biblischen Verheißung und der jüdischen Gebete aller Zeiten aufgefasst werden“70. Traditionelle jüdische Religion wie die des Christentums war seit der frühen Neuzeit nicht mehr in der Lage, die in den Religionen verkündeten Heilversprechungen vor Enttäuschungen durch die ihnen widersprechenden konkreten Lebenserfahrungen der Menschen zu schützen und abzuschirmen71. Beide Religionen wurden als Folge in einer „shared history“ der Aufklärung, die mit einem kräftigen Säkularisierungsschub in beiden Religionen einherging 72, unterzogen, der sich in jüdischer Gestalt vor allem als Assimilation an die westeuropäische Moderne niederschlug73. Dieser Weg ist durch das Schicksal des europäischen Judentums im 19. und vor allem 20. Jahrhundert in Frage gestellt. Ungeachtet der die zionistische Bewegung von ihren Anfängen an kennzeichnenden, die israelische Politik noch heute bestimmenden Auseinandersetzungen zwischen sozialistisch-säkularen und national-religiösen Zionisten war die zionistische Idee insgesamt eine Säkularisierungsbewegung religiöser Hoffnung auf eine jüdische Wiedergeburt, die, so wird es vom traditionellem Judentum vertreten, Werk Gottes sein sollte. Die Säkularisierung musste zu einem Konflikt zwischen religiöser und nationaler Idee oder zu einem Substanzverlust der religiösen Idee führen. Max Weber, so haben wir gesehen, hat dies hellsichtig schon 1913 ausgesprochen74. Doch wie nicht anders zu erwarten, verbindet sich mit der Säkularisierung wie bereits in der Antike wieder eine Bewegung der Theologisierung. „Ich habe mir gesagt: Wenn er (sc. Gott) will, werde ich ihn rächen, [...] wenn die Tora gebietet, etwas zu tun, was einem widerstrebt, dann tut man es trotzdem. […] Ich sehe die 69

Siehe dazu Michael Wolffsohn, Wem gehört das Heilige Land. Die Wurzeln des Streits zwischen Juden und Arabern, München: Piper 2002. 70 Siehe Amnon Raz-Krakotzkin, ebd., S. 187. 71 Siehe dazu Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt / Main: Suhrkamp 1966. 72 Zu der zunehmenden Zahl jüdischer Studien der jüngsten Zeit, die Judentum und Christentum als Religionen in einem gemeinsamen diskursiven Rahmen verstehen, siehe Shmuel Feiner, Traumatische Begegnung (München 2002), S. 105 - 112. 73 Siehe dazu paradigmatisch Michael Brenner, Warum München nicht zur Hauptstadt des Zionismus wurde Jüdische Religion und Politik um die Jahrhundertwende, in: ders. / Yfaat Weiss (Hg.), Zionistische Utopie israelische Realität. Religion und Nation in Israel, Beck’sche Reihe 1339, München: C. H. Beck 1999, S. 39 52. 74 Doch wie die Revitalisierung der Sprache des Hebräischen zeigt, die bereits in persischer Zeit vom Aramäischen als Alltagssprache verdrängt zu einer heiligen Sprache wurde, wurde auch Sakrales im Zionismus nur profan verhüllt. Für das traditionelle Judentum war das Wiedererwachen des Hebräischen an die messianische Zeit als Ende der Geschichte gebunden.

27 Lage in Israel als Kulturkampf zwischen zwei Parteien: der atheistischen, extremen Linken, die dem Volk Brot und Spiele verspricht, und der religiösen Rechten“75. Mit diesen Worten rechtfertigte der fundamentalistische Attentäter Jigal Amir die Ermordung des israelischen Premierministers Jishaq Rabin. In den Konflikten der Stadt Jerusalem als Heilige Stadt dreier Weltreligionen kehren aller Säkularisierung zum Trotz jahrhundertealte religiöse Konflikte wieder76. Die Grenze zwischen Religion und Staat bleibt in Israel unscharf und Quelle der Konflikte. Die bereits im 7. Jahrhundert v. Chr. eingeleitete Lösung der Religion vom Staat bildet den historisch tief gestaffelten Hintergrund dieser Konflikte. Und wie auf dem Hintergrund der Ereignisse in der Antike kaum anders zu erwarten, nimmt mit der Gegenbewegung der Theologisierung auch die Sektenbildung zu. Die Gruppierungen der Rabbiner Schach und Hirsch, letzterer extrem antizionistisch, jener aber ein „nachhelfender Aktivist“ im Lager der Fundamentalisten, die das Eingreifen Gottes beschleunigen wollen, stehen für diese Entwicklung. Suchen wir zu erfassen, was Säkularisierungsprozesse in der Antike mit denen in der Moderne verbindet, so sind es Enttäuschungen, die durch die Defizite des jeweils Religionssystems ausgelöst wurden. Angesichts der Gewaltunterworfenheit unter die religiös legitimierte Staatsmacht des neuassyrischen Reiches wurde auch die judäische Staatsideologie, die ebenfalls die davidischen Machthaber, wie die Königspsalmen, so u.a. Psalm 2, zeigen, religiös legitimierte, der Kritik unterzogen, und die Religion von der Funktion der Herrscherlegitimation gelöst. Der Druck durch äußere Ereignisse, auf die das Religionssystem keine adäquate Antwort geben konnte, führte, wie bis in die römische Zeit nachvollziehbar, jeweils zum Umbau des Religionssystems, der die durch die Säkularisierung gerissene Lücke wieder schloss. Dies lässt sich besonders eindringlich in der Universalisierung des Bruderethos nach dem Zusammenbruch familiarer Ethik oder in der Universalisierung

der

Erlösungshoffnung

in

der

Apokalyptik

beobachten.

Die

Theologisierungsprozesse als Reaktion auf die der Säkularisierung sind als Prozesse der Transzendierung des Gottesbegriffs, der verstärkt der empirischen Erfahrung entgegengesetzt wird77, sowie der daraus resultierenden Universalisierung und Verinnerlichung der Ethik zu beschreiben. Die Ethik der Hebräischen Bibel zeigt sehr eindringlich, wie auf die soziale Ausdifferenzierung der Gesellschaft in arme und reiche Schichten eine theologisch 75

Zitiert nach Shmuel Feiner, ebd., S. 105. Siehe dazu Verf., Jerusalem. Die Geschichte der Heiligen Stadt bis zur Kreuzfahrerzeit, Urban-Reihe 308, Stuttgart: Kohlhammer 1980, sowie Gershom Shaked, Jerusalem in der hebräischen Literatur: Himmlische und irdische Stadt, in: Michael Brenner / Yfaat Weiss (Hg.), Zionistische Utopie (München 1999), S. 102 - 122. 77 Schon in der Antike zeigt die Vermeidung des jüdischen Gottesnamens die Tendenz zur Transzendierung des Gottesbegriffs. Wenn Moses Maimonides (1135 - 1204) versuchte, das mosaische Gesetz aus der Vernunft abzuleiten, so stand dieser die Idee der sittlichen Autonomie der Vernunft in der Aufklärung vorwegnehmende Gedanke einer Säkularisierung theonomer Ethik im Dienste der Wahrung der Transzendenz des jüdischen Gottes. 76

28 begründete Sozialethik der Verantwortung für die Schwachen in der Gesellschaft reagiert, um so ideell den Zusammenhalt der auseinanderdriftenden Gesellschaft zu gewährleisten. Die Theologisierung kann aber auch regredierend ausfallen, wie jüngste Fundamentalismen weltweit zeigen, einen Umbau des Religionssystems, der die Säkularisierung als positive Herausforderung religionshistorisch

zur

Modernisierung

bereits

längst

der

Religion

überwundene

begreift,

Muster

verweigert

zurückfällt,

und

letztlich

auf aber

kulturhistorisch isoliert und ins Sektierertum abgleitend die säkularisierte Welt sich selbst überlässt oder terroristisch zu beherrschen sucht. Erst wenn so die Dialektik von Säkularisierung und Theologisierung stillgestellt sein sollte, wird die Säkularisierung zu einem einseitigen Prozess des Bedeutungsverlustes der Religion in der Gesellschaft. Doch und damit möchte ich diesen Beitrag zusammenfassen - ist es nicht zu erwarten, dass diese Dialektik je endet. Sie in den Quellen des antiken Judentums gleichermaßen zu konstatieren wie in der Moderne selbst dort, wo diese den Sonderweg des okzidentalen Rationalismus der europäischen Kernländer geht, der schon für den nordamerikanischen Kontinent ebenso wenig Vorbild

ist

wie

für

die

afrikanischen

und

asiatischen

Kontinente,

zeigt

ihre

universalhistorische Bedeutung. Prozesse der Säkularisierung in dem hier gebrauchten Sinne der Legitimationsthematik von Herrschaft, Recht und Ethos sind begleitet von solchen der Theologisierung an anderer Stelle. Was zu beobachten ist in der Antike wie in der Moderne sind nur jeweils Verschiebungen in ein und demselben Religionssystem. Es handelt sich also um ein universalhistorisch wirksames Gesetz der Religionsgeschichte, die in diesem Sinne keinen Fortschritt kennt. So macht es denn auch keinen Unterschied, ob man meint, einem aufsteigenden oder absteigenden Ast der Religionsgeschichte anzugehören78. Dass aber nicht alle Religionen gleich sind in der Ausgestaltung der Dialektik von Säkularisierung und Theologisierung, soll auch gelten. Es sei gestattet, auf einen wesentlichen Unterschied zwischen Christentum und Judentum hinzuweisen, der das Judentum in besonderer Weise in einem besten Sinne des Wortes resistent gegen Säkularisierungsprozesse sein lässt und damit auch gegen überspitzte Theologisierungsprozesse. Stärker als das Christentum gibt es im Judentum einen Kern der messianischen Unangepasstheit an die alltägliche Lebenswelt, der gegen alle Kompromisse zwischen transzendentem Gott und Welt resistent sein wird 79. Die Gründe dafür sind einerseits historischer Natur. Das Judentum hat im Gegensatz zum 78

Siehe Ernst Troeltsch, Historismus (Gesammelte Schriften III), S. IX; siehe dazu auch Ferdinand S. Tönnies, Troeltsch und die Philosophie der Geschichte, in: ders., Soziologische Studien und Kritiken. Zweite Sammlung, Jena: Gustav Fischer 1926, (S. 381 - 429) 429. 79 Noch in extrem säkularisierter Gestalt in der Philosophie des jüdischen Denkers Ernst Bloch schlägt dieser Kern utopisch-messianischer Unangepasstheit durch; siehe dazu Ulrich Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin: Akademie Verlag 2001, 274ff. zu „Geschichtsverzweiflung und jüdischem Messianismus“.

29 Christentum keine konstantinische Wende vollzogen und dies nicht nur aufgrund der Diasporasituation im Römischen Reich, sondern vor allem, so haben wir anhand des Deuteronomiums (Dtn 13) gezeigt, weil es eine „Sünde wider den Geist“ der Hebräischen Bibel wäre. Das Judentum hat, anders als das Christentum, aus eben diesem Grund auch das antike Naturrecht in seinen unterschiedlichen Ausprägungen nicht rezipiert80. Schließlich bewahrt das Judentum eine strukturelle Weltdifferenz, die aber nicht zu einer Weltindifferenz umschlägt, sondern zu aktiver Weltgestaltung nach dem Willen Gottes. Das Christentum vermittelt Gott und Welt von seinen Anfängen an christologisch durch den Gedanken, dass in Jesus Christus Gott in diese Welt gekommen sei als ihr Erlöser. Es führt weit über den durch diesen Beitrag gesetzten Rahmen hinaus, die Frage zu stellen und gar einer Antwort näher zu kommen, ob das Christentum im Gegensatz zum Judentum in seiner Struktur den Keim zur Säkularisierung in sich hat, am Ende gar zu seiner Selbstaufhebung 81. Doch auch im Christentum gilt, dass die Dialektik von Säkularisierung und Theologisierung nicht stillgestellt werden wird.

80

Die sophokleische Überordnung der „ungeschriebenen Gottgebote, die wandellosen, die nicht von heute oder gestern stammen“ (Antigone, V. 471-473) über das positive Recht führt dagegen zur Theorie eines Naturrechts, die im Deuteronomium durch die Einbindung in eine an Mose als Prophet gebundene Offenbarungstheorie verhindert wurde. 81 Friedrich Gogartens Unterscheidung von Säkularismus und Säkularisierung bleibt nach wie vor so hilfreich, da sie die theologisch positiven Aspekte der „Entzauberung“ traditionellen Weltverständnisses von Formen der fehlgeleiteten Religionsvernichtung abgrenzt. Siehe dazu Friedrich Gogarten, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theologisches Problem, Stuttgart: Friedrich Vorwerk, zweite Auflage 1958, S. 85ff.



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