Aus jiddischer Volkspoesie op.79 von Shostakovich

June 29, 2017 | Author: Alberto Caparrós | Category: Musicology, Dmitri Shostakovich, Jewish Music, From Jewish Folk Poetry, Shostakovich op.79
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Aus jiddischer Volkspoesie op.79 von Shostakovich

Jüdische Musik - Zwischen Geschichte und Gegenwart, Synagoge und Konzertsaal Leistungsnachweis Herbstsemester 2013 Universität Bern

Eingereicht bei Frau Ross Zimmermann

und

Frau

Vorgelegt von Alberto Caparros alberto.caparros.alvarez@gmail. com

Bern, im Januar 2014

A. Einleitung Auf den folgenden Seiten werden wir über die jüdische Musik von Shostakovich sprechen, genauer gesagt, über den Zyklus Aus jiddischer Volkspoesie op.79. Dabei möchten wir die Frage beantworten warumDmitri Shostakovich diesen Zyklus komponiert hat, einer Zeit, in der die Sowjetunion vom Antisemitismus geprägt war. Um diese Frage zu beantworten, werden wir über die Sowjetunion, Shostakovich, und den Zyklus selbst sprechen, natürlich stets bezüglich der jüdischen Merkmale des Zyklus. Die folgenden musikwissenschaftlichen Texte wurden dazu verwendet: zwei Texte von Joachim Braun, The Double Meaning of Jewish Elements in Dimitri Shostakovich's Music und Shostakovich´s Song Cycle From Jewish Folk Poetry; ein Text von Camilla Bork, Aus jiddischer Volkspoesie, sowie ein Text von Patrick Bonczyk, Redirecting Objectives: Music in Post-War Soviet Russia.. B. Aus jiddischer Volkspoesie op.79 1. Einige Merkmale der Sowjetunion 1.1.

Sowjetunion und Judentum

Die Wahrnehmung bezüglich der jüdischen Musik in der Sowjetunion hat sich allmählich gewandelt. In der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde die jüdische Musik als ein Teil der Musik aus dem Osten, also als etwas exotisch im eigenen Land verstanden. Zu Anfang des Leninismus, gab es kaum negative Äusserungen betreffend des Judentums, später aber sagte Lenin: “The idea of a distinct Jewish people is scientifically untenable, and from a political point of view-reactionary.”1 Daraus ist ein Paradox entstanden: obwohl das Judentum nicht verboten war, wie zum Beispiel in Deutschland, war es nicht gut Angesehen, wenn jemand eine ausdrückliche Verteidigungsrede des Judentum hielt. Damit stellt sich die Frage: war es zulässig, jüdische Musik zu komponieren? 1.2.

Der Antisemitismus ist während der Diktatur von Joseph Stalin deutlich sichtbar geworden, besonders gegen 1948. Der Ursprung des russischen Antisemitismus um 1948 lässt sich einerseits mit der Gründung des Staates

1

BRAUN, Joachim: The Double Meaning of Jewish Elements in Dimitri Shostakovich's Music. The Musical Quarterly, Vol. 71, No. 1 S.69

Israel, welche zu stark im Zusammenhang mit der USA steht, sowie auch durch die Exaltation des russischen Nazionalismus erklären, was zur Folge hat, dass sich Minderheiten verfolgt fühlen. Die Musik der Sowjetunion Die Diktatur von Stalin hate einen starken Einfluss auf die Musikszene in der Sowietunion, gut war nur die Musik, die als gut und passend für die Partei galt. So hatte das Zentralkomitee durch Wettbewerbe und Zensur festgelegt, welche Musik als gute Musik galt. Schon im Jahr 1932 „an official Party resolution described the need to reconstruct and control artistic organizations and their output in order to promote Socialist realist principles and proletariat.”2 Laut der Kriterien des Sozialistischen Realismus, solle die Musik der Sowjetunion “be directed towards the victorious progressive principles of reality, towards all that is heroic, bright and beautiful.”3 Das Problem war, dass “the proclamations relied on ideological rhetoric to compensate for an absence of concrete artistic exemplars.”4 Schon während der Grossen Säuberung, wurden Kunstformen durch die Zhdanovs Resolution von 1946 reguliert (die Zhdanovshchina Zeit), und kurz danach wurde der Formalismus und Kosmopolitismus der zeitgenössischen Musik kritisiert. Shostakovich selbst war ein Ziel dieser Kritiken, seine Musik wurde als „worthless, fallacious and anti-people“5 bezeichnet. Die neue Musik der Sowjetunion durfte keine atonale Musik sein, und musste sowohl leichte Melodien, als auch Vokal- und Programmmusik beinhalten. Die Zensur des Kosmopolitismus, als „preised unhealthy foreign influences and ignores Russian preeminence“6 verstanden, hatte zur Folge, dass die Karrieren von Minderheiten wie die Juden unter der Verfolgung durch die Regierung litten. 2. Dmitri Shostakovich 2.1.

Shostakovich und die jüdische Musik

Es sieht so aus, als ob das Interesse Shostakovichs (selbst kein Jude) an der jüdischen Musik aus einer Begegnung mit dem jüdischen Komponisten Benjamin Fleishman 2

BONCZYK, Patrick (2009) "Redirecting Objectives: Music in Post-War Soviet Russia," Nota Bene: Canadian Undergraduate Journal of Musicology: Vol. 2: Iss. 1, Article 9. S.117 3 BONCZYK, Patrick. Redirecting Objectives… S.118 4 BONCZYK, Patrick (2009) "Redirecting Objectives…” S.119 5 BRAUN, Joachim. Shostakovich´s Song Cycle From Jewish Folk Poetry: Aspects of Style and meaning In Russian and Soviet Music.Essays for Boris Schwarz, hrsg. von Malcolm Hamrick Brown. Londen 1984. S.262 6 TOMOFF, Creative union. In BONCZYK, Patrick (2009) “Redirecting Objectives…” S.131

heraus entstand. Fleishman studierte mit Shostakovich zusammen am Leningrader Konservatorium und wurde während des Zweiten Weltkriegs umgebracht. Shostakovich vervollständigte nach dessen Tod seine Oper, Rothschild´s Violin. In dieser Oper lassen sich viele Elemente finden, die bereits zu Shostakovisch´s jüdischem Musikstil gezählt werden können. Zunächst stellt sich aber die Frage, was man genau unter dem Begriff jüdische Musik zu verstehen hat. Laut Joachim Braun, „Jewish elements may be considered as: (a) subjects defined as Jewish by the composer, or the author of the text used by the composer (e.g., Op. 133, or Op. 91; see Table I); (b) Jewish folk poetry (e.g., Op. 79); (c) a melos based on the transformation of well- known Jewish secular or liturgical melodies (e.g., Op. 79 and Op. 87): and (d) a musical idiom which shows modal, metro-rhythmical, and structural affiliation to East European Jewish folk music and is commonly accepted as Jewish by the Soviet listener, both professional and nonprofessional (e.g., Opp. 67, 77, 83, and 107).”7 Gemäss dieser Definition, gibt es keinen Zweifel, denn: da Shostakovich seine eigene Musik als jüdische Musik bezeichnete, kann gesagt werden, dass es sich damit beim Liederzyklus Aus jiddische Volkspoesie op.79

um jüdische Musik handelt.Aus

jiddischer Volkspoesie op.79 Wie der Titel schon sagt stammen die Texte der im Zyklus enthaltenen Stücke aus einem Buch mit jiddischer VolkspoesieJiddisch ist eine Minderheitsprache der Juden Osteuropas, die eng mit dem Deutschen und dem Hebräischen verwandt ist. Shostakovich hatte dieses kleinen Volksgedichtsbuch, welches im Jahre 1947 von Y.M.Sokolov herausgegeben wurde, zufälligerweise gelesen, und im im Sommer 1948 das musikalische Werk op.79. komponiert. Damit wurde dieses Werk während der sogenannten Zhdanovshchina Zeit komponiert, welche laut Braun „not only the greatest assault ever upon Western and Soviet art, but also the virtual destruction of Soviet Jewish culture [...] The equation of Jew with ideological undesirable started to figure at this time in one political accident after another.“8

7

BRAUN, Joachim. The Double Meaning of Jewish Elements in Dimitri Shostakovich's Music. The Musical Quarterly, Vol. 71, No. 1 S.68-69 8 BRAUN, Joachim. Shostakovich´s song cycle… S.260-261

2.2.

Eine ästhetische Perspektive

In ihrem Artikel spricht Camilla Bork unter anderem aus einer sehr interessanten ästhetischen Perspektive.9 “Ästhetische Intimität wurde nicht länger nur im Rahmen kammermusikalischer, sondern vorwiegend innerhalb grösser besetzer Gattungen verwirklicht.”10 Ihrer Meinung nach, ist dieses Werk eine Restitution der Gattung Lieder, “führt die Vertonung der Liedtexte aus jiddischer Volkspoesie zu einer Liedkonzeption, die –wie gezeigt- Momente der Liedtraditionen der Jahrhundertwende aktiviert.”11 Wenn man diese beiden Ideen verbinndet, kann man schlussfolgern, dass Shostakovich sein Werk als eine kodifizierte Nachtricht verstanden hatte. Das entspricht auch der Hypothese von Braun, die Camilla Bork mit ihrem Text stützt. 2.3.

Versionen, Texte und Struktur der Lieder

Shostakovich hatte im Sommer 1948 zunächst eine Kammerfassung des Zyklus für Sopran, Alt, Tenor und Klavier komponiert. Diese Version wurde im privaten Rahmen erst am 20. September uraufgeführt, weil “it was his habit to have music performed at his birthday parties.”12 Noch im selben Jahr komponierte Shostakovich eine Orchesterfassung, die jedoch erst im Jahr 1955, nach dem Tode Stalins, uraufgeführt wurde. Für die Lieder der Kammer- und Orchesterfassung verwendete Stalin Phantasienamen, in der dritten Fassungbenutzte er einfach den ersten Satz jedes Gedichtes als Titel jedes entsprechenden Liedeswie aus der Tabelle 1 ersichtlich wird. Der ursprüngliche Text wurde leicht abgeändert. Einige Änderungen haben mit der Ästhetik des Textes zu tun, da in der jiddischen Fassung kakophonische, vulgäre Worte benutzen wurden.Die wohlwichtigste Änderung, aber besteht aus einem Satz, den Shostakovich im dritten Lied (Wiegenlied in der ersten Fassung oder Schlaf, mein Sohn, in der zweiten),13 hingefügt hat. Nach den Worten Vater quält sich in Siberien schrieb Shostakovich selbst Der Zar hat ihn ins Gefängnis gesperrt. Während der Grossen 9

BORK, Camilla. Aus jiddischer Volkspoesie: Schostakowitschs Liedzyklus Opus 79 und die Musikalische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Versucht einer historischen Standort-Bestimmung. In Jüdische Musik und ihre Musiker im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Wolfgang Birtel, Joseph Dorfman, Christoph-Hellmut Mahling. Mainz: Are Edition, 2006. S.190-201 10 DANUSER. Die Musik des 20.Jahrhunderts. In BORK, Camilla. Aus jiddischer… S.191 11 BORK, Camilla. Aus jiddischer Volkspoesie… S.201 12 BRAUN, Joachim. Shostakovich´s Song… S.260 13 Sehen Tabelle I

Säuberung war es zu gefährlich, solche Hinweise auf Sibirien ohne weitere Erklärungen zu verwenden. Der Zyklus besteht aus elf Liedern. Die ersten acht Lieder sind die sogenannte Traurige Lieder, in denen betrübte Geschichten über konkrete Situationen erzählt werden. Die drei letzten Lieder “(…) affimar happiness. Soviet audiences are accostumed, indeed conditioned, to tolerate a certain degree of official propaganda.”14 Wie bereits erwähnt, musste die Musik mächtig und siegreich sein, wie diese drei letzten Lieder beweisen. Der Zyklus entspricht also der Kriterien der Partei, da er mit einem traurigen Leben anfängt und schlussendlich mit einem glücklichen Leben (Glück war auch der ursprüngliche Name des letzten Liedes)endet.. 2.4.

Die Zerstörug des Leitmotives

Besonders interesant ist laut Braun die Entwicklung des musikalischen Motivs im Zyklus,15. Das musikalische Thema hat eine starke Identität zu Beginn des Zyklus, besonders im dritten Lied, „Wiegenlied“ oder „Schlaf, mein Sohn“. Laut Braun löst sich das Thema auf, die Identität des Motives verschwindet. Da Braun selbst unter der antisemitistischen Diktatur von Stalin gelitten hat, schreibt er nach einer Analyse wie folgt über dieZerstörung der Identität des Motives: „no further spiritual devastation is possible [...] the motive rapidly loses its ethnic character as well [...] it even loses its augmented second, coming to conclusion with an authentic cadence, which is entirely alien to the Jewish modes [...] The transformation, indeed the destruction, of a spiritual world has been accomplished.“16 Kurz danach wiederholt er die folgenden Worte: „The loss of its musical ethnic identity is now complete. The destruction of the spiritual world is accomplished.”17 3. Shostakovich als Dissident? Damit können wir nun die in der Einleitung gestellte Frage beantworten. Shostakovich bringt mit diesen Liedern eine Art von mehrdeutiger Dissidenz zum Ausdruck, welche verschiedene Interpretationen zulässt, um zu vermeiden, aus beweiskräftigen Gründen verurteilt zu werden. Das heisst, er hatte die Musikgemäss der Kriterien der Partei

14

BRAUN, Joachim. Shostakovich´s Song… S.266 Sehen Tabelle II 16 BRAUN, Joachim. Shostakovich´s Song… S.281 17 BRAUN, Joachim. The double meaning… S.75 15

komponiert, eine passende Musik für die Sowjetunion, da das Thema (von Traurigkeit bis hin zu mächtigem Heldentum gemäss den Idealen der sowjetischen Propaganda) und die Musikästhetik (Tonal, deutlich strukturier, Vokal- und Programmmusik) dem Sozialistischen Realismus entsprechen. Damit hatte er die Zensur umgangen. Andererseist hatte er eine Musik komponiert, deren Gattung als musikalische Intimität verstanden werden kann, und deren musikalisches Motiv die Zerstörung der jüdischen Identität zeigt. Warüm die jüdische Identität? Meiner Meinung nach hat er diese Identität als eine Metapher verstanden: die Juden waren nur deshalb verdächtig und gefährlich für die Sowjetunion, weil sie Juden waren. Shostakovich selbst hatte als Verdächtiger unter dem Zwang der Partei gelitten, nur weil er zu intellektuell war.18 Anders gesagt, er hat eine sozialistische, realistische Musik geschrieben mit einer inherenten dissidenten Idee. Warum hatet er dann sich selbst zensuriert und gewartet, bis Stalin tot war, um die Musik zu veröffentlichen? Die mir am logischsten erscheinende Antwort ist : Zhdanovshchina. Es war zu gefährlich, solche Musik auszuführen, denn die Kriterien der Partei „could be as unpredictable as they were imperative.”19 Obwohl die Musik selbst den Notwendigkeiten der Partei angepasst war, gefährdeten die jüdischen Merkmale der Musik Shostakovich´s Sicherheit. Deswegen hatte er gewartet, bis Stalin tot war und die politische Spannung aufgelockert war. C. Schlussfolgerung Ob gegen oder für Stalin Shosthakovich hat den Zyklus jedenfalls komponiert, um seine eigene Situation auszudrücken. Obwohl er selbst kein Jude war, hat er sich mit dem Judentum identifiziert, weil er auch unter den Ungerechtigkeiten der Diktatur gelitten hatte. Meiner Meinung nach ist der Zyklus nicht nur eine Dissidenz, die für das Judentum spricht, sondernVielmehr eine Klage gegen die Situation, in der die Intellektuellen und Minderheiten in der Sowjetunion zu leben hatten.

18

NOYA, Javier (hrsg). Musyca, Música, sociedad y creación artística. Madrid: Biblioteca Nueva. 2010 FANNING, David. “Shostakovich, Dmitry (Dmitriyevich)” in The New Grove Dictionary of Music and Musicians, ed. Stanley Sadie, Grove Music Online, Oxford Music Online 19

1. Tabelle I

Namen der Lieder des Zyklus Fassung 1948

Fassung 1955

I. Klagelied für ein gestorbenes Kind

Sonne und Regen

II. Die fürsorgliche Mutter

Schlaf, schlaf

III. Wiegenlied

Schlaf, mein Sohn

IV. Vor der langen Trennung

Ach, Abraham

V. Warnung

Hör mich, Khasya

VI. Der verlassene Vater

Elye, der Trödler

VII. Das Lied von der Not

Auf dem Boden

VIII. Winter

Es liegt im Bett

IX. Das schöne Leben

Kein Lied von den Feldern

X. Lied des Mädchens

Auf der Wiese vor dem Walde

XI. Das Glück

Ich habe meinen Mann genommen

2. Tabelle II

Index

A.

Einleitung ................................................................................................................. 2

B.

Aus jiddischer Volkspoesie op.79 ............................................................................. 2 1.

2.

3.

Einige Merkmale der Sowjetunion ........................................................................ 2 1.1.

Sowjetunion und Judentum ............................................................................ 2

1.2.

Die Musik der Sowjetunion............................................................................ 3

Dmitri Shostakovich .............................................................................................. 3 2.1.

Shostakovich und die jüdische Musik ............................................................ 3

2.2.

Eine ästhetische Perspektive .......................................................................... 5

2.3.

Versionen, Texte und Struktur der Lieder ...................................................... 5

2.4.

Die Zerstörug des Leitmotives ....................................................................... 6

Shostakovich als Dissident? .................................................................................. 6

C.

Schlussfolgerung ...................................................................................................... 7

1.

Tabelle I .................................................................................................................... 8

2.

Tabelle II................................................................................................................... 9



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