Manuskriptfassung von: Ermann, Ulrich (2006): Aus der Region – für die Region? Regionales Wirtschaften als Strategie zur Entwicklung ländlicher Räume. Geographische Rundschau 58 (12), S. 28-36. Zum Zitieren bitte nur die gedruckte Fassung aus der Geographischen Rundschau verwenden!
Aus der Region – für die Region? Regionales Wirtschaften als Strategie zur Entwicklung ländlicher Räume
Die regionale Vermarktung von Agrargütern und Nahrungsmitteln nach dem Motto „Aus der Region – für die Region“ hat als Strategie zur nachhaltigen Entwicklung ländlicher Räume Eingang in die Politik von der kommunalen bis zur europäischen Ebene gefunden. Ebenso hat sie als ein agrar- und ernährungspolitisches Konzept an Bedeutung gewonnen. Sie steht im Kontrast zu politischen Maßnahmen, die auf eine Homogenisierung der Märkte und auf eine Spezialisierung der Produktion in großen, auf Effizienz ausgerichteten Einheiten abzielen.
Durch die Förderung des Angebots regionaler Produkte, der Einrichtung regionaler Vertriebsstrukturen, der Bildung von herkunftsbezogenen Marken und eines an der räumlichen Nähe orientierten Verbraucherverhaltens wird versucht, kleinräumige Wirtschaftskreisläufe zu stärken und somit die Vitalität ländlicher Räume zu erhöhen. Produktion und Vermarktung von „Regionalprodukten“ werden als eine Möglichkeit angesehen, der Multifunktionalität der Landwirtschaft gerecht zu werden und die Kosten entsprechender „überbetrieblicher“ Leistungen auf die Verbraucher zu übertragen. Die Grundidee „regionalen Wirtschaftens“ stellt ein Gegenmodell zur modernen, auf Arbeitsteilung beruhenden Produktion und zur Anonymität des Massenkonsums dar. Regionalisierungsstrategien laufen deshalb vor allem dann Gefahr, die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen zu können und sich in Widersprüche zu verstricken, wenn versucht wird, sie in die moderne Marktlogik zu integrieren, und wenn Regionalität auf räumliche Nähe reduziert wird. Regionalität wird so nicht selten zu einem Selbstzweck, zu einer Form des Regionalismus oder zum romantisch verklärten Zerrbild einer vorindustriellen Wirtschaftswelt. 1
Regionale Vermarktung von Agrarprodukten und Nahrungsmitteln Seit Mitte der 1990er Jahre haben sich in Deutschland viele Initiativen gebildet, die sich für die Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe durch die regionale Vermarktung von Agrarprodukten und Nahrungsmitteln einsetzen (Ermann 2006a). Abb. 1 zeigt Logos von Vermarktungsprogrammen, bei denen Produkte mit dem Hinweis auf ihre „Regionalität“ angeboten werden. Dazu zählen Projekte, die aus dem privatwirtschaftlichen Engagement einzelner oder mehrerer Unternehmen entstanden sind. Andere wurden von staatlicher oder kommunaler Seite direkt oder indirekt – z.B. von kommunalen Allianzen oder Regionalmarketingvereinen – initiiert. Oftmals waren es Gruppen von Umwelt- und Naturschutzorganisationen, Landschaftspflegeverbände, Lokale-Agenda-21-Gruppen oder andere nicht-staatliche Gruppen, aus deren Aktivitäten Regionalvermarktungsprogramme hervorgegangen sind (vgl. www.reginet.de). Viele „Lokale Aktionsgruppen“ im Rahmen der LEADER+-Förderung der Europäischen Union zählen ebenfalls die Vermarktung regionaler Produkte zu ihren Aktivitäten (Hock 2005, S. 16ff.). Die Vermarktungsprogramme haben sich hinsichtlich ihrer Professionalisierung und wirtschaftlichen Bedeutung sehr unterschiedlich entwickelt. Viele der – insbesondere von nichtgewerblichen Initiatoren ins Leben gerufenen – Projekte sind nie über die „gute Idee“ hinausgekommen und wurden zum Teil wieder eingestellt. Andere Vermarktungsprogramme nehmen den Grundsatz der Regionalität so ernst, dass sie ganz bewusst alternative Produktausrichtungen und Vertriebsformen, kleinbetriebliche Strukturen mit kurzen Wegen und kleinräumigen Regionsgrenzen beibehalten wollen. Wiederum andere Programme sind um die Integration eines regionalen Warenangebots in die Absatzkanäle der Supermärkte bemüht. Dementsprechend unterscheidet sich auch das Warenangebot stark voneinander, je nach dem Verständnis von „Regionalität“. Während einige Vermarkter regionale Produkte als nichtkonventionelle Produkte mit einer bestimmten (in der Regel nicht-industriellen) Herstellungsweise, Qualität, Herkunft und Art der Rohstoffe verstehen, sehen andere Anbieter die Regionalität ihrer (durchaus konventionellen) Waren einzig in der Herkunft aus einem bestimmten Raum. Vom Lebensmitteleinzelhandel wurde die Idee, spezielle Produkte „aus der Region“ anzubieten, in jüngster Zeit vermehrt aufgegriffen. Dies äußert sich sowohl in der Kooperation mit bestehenden Regionalvermarktungsprogrammen als auch in der Entwicklung eigener „regionaler“ Produktlinien und Werbekampagnen. Die Handelskette Edeka wirbt z.B. mit dem Slo-
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gan „Bestes aus unserer Region“ (s. Foto 1) und stellt auch in zahlreichen von selbstständigen Einzelhändlern geführten Filialen Verkaufsflächen für Produkte von Vermarktungsprogrammen zur Verfügung, so z.B. für die Initiative UNSER LAND (s. Foto 2). Der Erfolg solcher „Regionaltheken“ misst sich nicht vorrangig im Flächenumsatz, sondern in der Erzielung eines Images der lokalen Verwurzelung und Verantwortung jenseits einer anonymen „Supermarktkultur“. UNSER LAND ist das umsatzstärkste Regionalvermarktungsprogramm in Deutschland. Es ging aus der Solidargemeinschaft Brucker Land im oberbayerischen Landkreis Fürstenfeldbruck hervor und bildet mittlerweile ein Netzwerk aus neun Solidargemeinschaften auf Landkreisebene von Dachau bis Garmisch-Partenkirchen und rund um München einschließlich der Großstadt selbst als wichtigem Absatzgebiet (s. Abb. 1). In mehr als 500 Verkaufsstellen, darunter Supermärkte wie Tengelmann, Rewe und Edeka, aber auch Hofläden, Bäckereien, Metzgereien und „Weltläden“, werden Eier, Milch, Gemüse und andere Produkte „aus der Region“ angeboten. Rund 180 landwirtschaftliche Betriebe sind an dem Programm beteiligt. Ein Beispiel für die Vermarktung von regionalen Produkten durch den filialisierten Lebensmitteleinzelhandel selbst bietet die Handelskette MIGROS Luzern in der Schweiz, die sämtliche Produkte, die aus der Zentralschweiz stammen, mit dem Siegel „Aus der Region. Für die Region“ auszeichnet und bewirbt (s. Foto 3). Sie stellt auf ihrer Homepage mehr als hundert Erzeuger als Lieferanten dieser Produktlinie vor, einige davon auch in Werbespots im Fernsehen. In den ersten fünf Jahren seit der Einführung dieser Produktlinie im Jahr 1999 konnte der Anteil dieser Produkte „aus der Region“ am gesamten Food-Umsatz auf 18 % gesteigert werden (www.ausderregion.ch [aufgerufen am 22.05.06]).
Hintergründe und politische Motivation Der Ausgangspunkt der Idee, kleinräumige Wirtschaftsverflechtungen durch Regionalvermarktung fördern zu wollen, liegt in Problemen, die dem Strukturwandel in der Land- und Ernährungswirtschaft zugeschrieben werden. Aufgrund fehlender Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit werden Betriebe der Landwirtschaft und des Nahrungsmittelgewerbes aufgegeben. Dadurch verlieren viele ländliche Räume wichtige bisherige ökonomische Aktivitäten – vor allem in peripheren Lagen. Es ergeben sich Landschaftsveränderungen durch Nutzungsaufgabe einerseits und Rationalisierung sowie Intensivierung andererseits und – auch als Folge des Verlusts von Beschäftigungsmöglichkeiten – die Abwanderung und Überalterung der
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Bevölkerung und schließlich ein genereller Attraktivitätsverlust bislang landwirtschaftlich geprägter Regionen. Die Intensivierung kleinräumiger Wirtschaftsverflechtungen wird als Chance gesehen, die regionale Wertschöpfung zu erhöhen, Landschafts- und Betriebsstrukturen zu erhalten, an die natürlichen Verhältnisse angepasste Wirtschaftsweisen zu etablieren und nicht zuletzt eine auf den eigenen Nahraum bezogene positive Grundhaltung („Regionalbewusstsein“) zu stärken (vgl. Ermann 2005, S. 23ff.). Zugleich wird die Idee der „Regionalität“ in der Land- und Ernährungswirtschaft auch im Zusammenhang mit der Forderung nach einer Agrarwende sowie einer Ernährungs- oder Konsumwende (vgl. Schmidt und Jasper 2001, Eberle et al. 2006, Brand 2006) aufgegriffen. Angesichts der Verunsicherung infolge des deutschen BSE-Skandals Ende 2000 empörte sich nicht nur der damalige Bundeskanzler Schröder über „Agrarfabriken“ und forderte eine nichtindustrielle Landwirtschaft. Als eine Alternative zum industriellen Paradigma gilt die Regionalvermarktung im Sinn einer kleinbetrieblichen und dezentralen Produktionsstruktur und eines Verzichts auf den Transport von Agrargütern und Nahrungsmitteln über größere Entfernungen. Räumliche Nähe soll persönliche Vertrauensbeziehungen zwischen Erzeugern und Verbrauchern sowie die Nachvollziehbarkeit der Herkunft von Produkten und damit sowohl Lebensmittelsicherheit als auch Nachhaltigkeit von Landwirtschaft und Ernährung gewährleisten (Kluge u. Schramm 2003). Ähnlich dem klassisch-geographischen Landschaftskonzept erscheint „die Region“ im Jargon der Regionalvermarktung oft als eine Raumeinheit, deren spezifische Naturausstattung und menschliche Nutzung ein harmonisches Gleichgewicht bilden (vgl. Weichhart 1996, S. 36f, Wardenga u. Miggelbrink 1998, S. 35). Derartige Regionen werden als Territorien verstanden, die zwar nicht von ihrer Außenwelt bzw. anderen Regionen isoliert sind, die aber doch eine – zumindest potenziell – weitgehende ökonomische Autarkie und gesellschaftliche Autonomie aufzuweisen haben. Die Größe und der Zuschnitt einer Region variieren dabei von Gemeindegebieten über oftmals mit Landschaftsbezeichnungen räumlich unscharf definierte Regionen bis hin zur Ebene von Bundesländern. „Regional“ wird in der Regel nicht nur als „in einem konkreten abgegrenzten Raum befindlich“ verstanden, sondern die „RaumBindung“ der Regionalität symbolisiert Werte wie Heimat- und Traditionsbewusstsein, Eigenund Bodenständigkeit, aber auch Naturverbundenheit, soziale Stabilität und gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein. Regionales Wirtschaften wird zudem als Gegenmodell zu einer standardisierten globalen Warenwelt verstanden. So lässt sich mit Ritzer (1995) die Förderung
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von Regionalität als ein Versuch interpretieren, die Prinzipien der „McDonaldisierung der Gesellschaft“ – Effizienz, Berechenbarkeit, Vorhersagbarkeit und Kontrolle – zu unterlaufen. Der Wunsch nach einer Regionalisierung von Landwirtschaft und Nahrungsmittelversorgung ist in ganz unterschiedlichen politischen Haltungen anzutreffen. Von konservativer Seite wird die „Besinnung auf die Region“ als Chance gesehen, tradierte agrarische und handwerkliche Produktionsstrukturen und ein damit verbundenes (Land-)Leben zu bewahren. In der rechtsnationalen Variante bildet die Affinität zur „eigenen Region“ ein regionalistisches und fremdenfeindliches Moment. Ein großer Teil der grün-alternativen Szene, die die Regionalisierungsidee in besonderer Weise für sich beansprucht, teilt die bewahrende und fortschrittsfeindliche Haltung der Konservativen und steht damit im Kontrast zur klassischen Linken und der Antiglobalisierungsbewegung. Letztere lehnt regionalistische Tendenzen und die Romantisierung traditioneller, vom Bauerntum geprägten Gesellschaften ab, stimmt aber mit der konservativ-grünen Position dennoch darin überein, dass sie regionales Wirtschaften als wichtige Perspektive für den Abbau globaler ökonomischer Abhängigkeiten und zur Dekonzentration wirtschaftlicher Macht versteht. Die Förderung regionaler Wirtschaftskreisläufe und der regionalen Vermarktung fand sich bei der Bundestagswahl 2002 in den Regierungs- bzw. Wahlprogrammen der Parteien SPD, CDU, CSU, Bündnis 90/Die Grünen sowie PDS wieder. Alle etablierten Parteien Deutschlands – mit Ausnahme der FDP – sahen in der regionalen Erzeugung und Vermarktung einen zentralen Ansatzpunkt ihrer agrarpolitischen und verbraucherschutzpolitischen Strategien. So hieß es z.B. im Wahlprogramm der regierenden Grünen: „Wir wollen die Wertschöpfung in den Regionen halten. Für die Neue Agrarpolitik gilt immer und weltweit: Regional ist erste Wahl! […] Regionale Vermarktung und ökologische Landwirtschaft sichern und schaffen Arbeitsplätze.“ Im Regierungsprogramm der Oppositionsparteien CDU/CSU stand zu lesen: „Wir wollen eine nachhaltige, wettbewerbsfähige, bäuerliche Land- und Forstwirtschaft, die qualitativ hochwertige und gesunde Nahrungsmittel in regionaltypischer Vielfalt erzeugt […]. Wir wollen eine nachhaltige Regionalentwicklung fördern. Regionalisierung verstehen wir als notwendigen Ausgleich zur Globalisierung. Wir stärken deshalb den Aufbau regionaler Wirtschaftskreisläufe und kommunaler Allianzen“ (zit. nach Ermann 2005, S. 39). In den Programmen zur Bundestagswahl 2005 war davon nur noch wenig zu finden. Offenbar hat diese Thematik an Stellenwert gegenüber anderen verloren, was sicherlich auch damit zu tun hat, dass nach der Entdeckung des BSE-Erregers bei „heimischen“ Rindern in Deutsch-
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land das öffentliche Entsetzen über die alltäglichen Praktiken der Nahrungsmittelproduktion nur von vorübergehender Dauer war.
Nachhaltigkeit durch Regionalität? Eine Umfrage zur Regionalität von Nahrungsmitteln durch die Centrale Marketinggesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft (CMA) anlässlich der Grünen Woche 2005 in Berlin (s. Abb. 2) macht deutlich, dass die Motivation der Verbraucher, Produkte aus der (eigenen) Region zu kaufen, sich auf die Erwartung sowohl kollektiver Vorteile („kurze Transportwege“, „Förderung der lokalen Landwirtschaft“) als auch eines höheren persönlichen Nutzens („frischere Produkte“, „besserer Geschmack“, „bessere Qualität“) bezieht. Offenbar erscheinen den meisten Verbrauchern positive Effekte der Produktherkunft „aus der Region“ auf Umwelt und Wirtschaft plausibel – mehr noch als Zusammenhänge zwischen regionaler Herkunft und der stofflichen Beschaffenheit der Produkte. Zugleich zeigt diese CMA-Umfrage jedoch auch die Unklarheit darüber, was unter einem „Produkt aus der Region“ verstanden wird. Der Verdacht liegt nahe, dass die befragten Personen sich darunter so unterschiedliche Dinge vorstellten wie „heimische (deutsche) Produkte“, „Produkte direkt vom Bauernhof“ und „orts- oder regionstypische Spezialitäten“. In der Diskussion um regionales Wirtschaften führen (z.B. bei Sauter u. Meyer 2003) beide scheinbaren Selbstverständlichkeiten zu Missverständnissen. Die Vorstellungen davon, was genau ein Produkt zu einem regionalen Produkt macht, sind sehr vage; erst recht lässt sich kein eindeutiger Zusammenhang zwischen Regionalität und Nachhaltigkeit konstatieren. In der Argumentation für eine Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe werden der regionalen Herkunft und den kurzen Wegen zwischen Erzeugern und Verbrauchern viele Vorteile zugeschrieben. So heißt es, die räumliche Nähe zwischen den wirtschaftlichen Akteuren schaffe wirtschaftliche Entwicklung, schone die Umwelt, entlaste die Gesellschaft von sozialen Kosten, schaffe kulturelle Identität von Regionen sowie Vertrauen und Verantwortung und garantiere eine transparente, sichere, qualitativ hochwertige und gesunde Nahrungsmittelversorgung (so z.B. Kluge u. Schramm 2003, s. auch Hahne 2001; s. Tab. 1). Die Gegenargumentation betont hingegen die wirtschaftlichen Vorteile durch räumliche Arbeitsteilung, durch Größenkosteneffekte (Skalenerträge) und freien Wettbewerb und die Gefahren protektionistischer Maßnahmen (Pfister 1999) sowie die höhere Umwelteffizienz großer Produktionseinheiten. Schlich u. Fleissner (2003) sprechen diesbezüglich in ihrer umstrittenen Studie
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von „ecologies of scale“ (vgl. Text-Kasten 1). Außerdem – so wird argumentiert – seien Transparenz, Produktsicherheit und -qualität in der modernen arbeitsteiligen Produktion höher als bei regionalem Wirtschaften, und eine Regionalisierungspolitik fördere regionalistische Haltungen. Die Widersprüchlichkeit dieser Argumentationen lässt sich zumindest teilweise auflösen, wenn man die Begründungen nach dem jeweils zugrunde liegenden Verständnis von „Regionalität“ und der Bedeutung von räumlicher Herkunft und räumlicher Nähe bzw. Distanz durchleuchtet. Beide, sowohl die Befürworter als auch die Gegner einer regionalen Erzeugung und Vermarktung, neigen nämlich dazu, bestimmte Aspekte wie Umweltverschmutzung und Ressourcenverbrauch, Wertschöpfung, Qualität, Transparenz oder Vertrauen in kausale Abhängigkeit zu (kurzen) Kilometerdistanzen zu setzen. Tatsächlich aber hängt z.B. der Energieverbrauch für den Transport eines Produkts nicht nur von der zurückgelegten Entfernung ab, sondern vom Transportmittel, dessen Auslastung und der transportierten Menge, der Streckenplanung und vor allem von der Zahl der Abnehmer an einem Verkaufsort. Daher lässt sich von einer größeren räumlichen Entfernung weder auf eine höhere noch auf eine niedrigere „Umwelteffizienz“ schließen (vgl. Hesse 2002, S. 349ff.). Genauso hängt die Wertschöpfung eines land- oder ernährungswirtschaftlichen Betriebs zwar von der nachgefragten Menge und dem Preis seiner Waren ab, nicht aber unmittelbar von der räumlichen Nähe oder Distanz zu den Kunden. Vertrauen und Verantwortung zwischen Erzeugern und Verbrauchern bzw. zwischen Verkäufern und Käufern lässt sich als „soziale Nähe“ beschreiben, die von räumlicher Nähe begünstigt sein kann, aber nicht muss. Ein Motto wie „Nähe schafft Vertrauen!“ (Verbraucherzentrale Bundesverband) (s. Text-Kasten 2), ist insofern nicht als Feststellung eines gegebenen Zusammenhangs zu sehen, sondern vielmehr als Versuch, räumliche und soziale Nähe miteinander zu verknüpfen. Bezüglich Transparenz und Qualität zeigt sich ein fundamental unterschiedliches Verständnis von den damit bezeichneten Begriffsinhalten. Die Herkunft des Essens zu kennen, spielt zwar bei beiden Arten von Transparenz eine wichtige Rolle, etwa nach dem Motto: „Wer weiß, wo etwas herkommt, weiß auch, wie es hergestellt wird und was darin enthalten ist.“ Während Transparenz und Qualität in der industriellen Produktionslogik jedoch eine technische Rückverfolgbarkeit der Verarbeitung und Erzeugung ohne direkte Relevanz der räumlichen Distanz bedeutet, geht es den Befürwortern des regionalen Wirtschaftens gerade darum, die damit verbundene Entmenschlichung und Anonymisierung von Produktion und Vermarktung mit Hilfe der Erhaltung bzw. Etablierung nicht-industrieller Wirtschaftsbeziehungen aufzuheben. 7
Nicht das szientistische Nachvollziehen der Herkunft ist in dieser Sichtweise entscheidend, sondern persönliche Kontakte zu Menschen, die Produkte herstellen und verkaufen sowie eine persönliche Beziehung zu den natürlichen – oft „naturnahen“ – Grundlagen der Produktion. Produkte können per se weder eine bessere oder schlechtere Qualität haben, nur weil sie aus einer bestimmten (oder der eigenen) Region stammen. Genauso wenig können sich Ort und Distanz der Herkunft selbst auf die Art der Produktion auswirken. Durch Kopplung von Produktions- und Qualitätskriterien an die räumliche Herkunft können jedoch entsprechende Zusammenhänge hergestellt werden. Um nichts anderes geht es bei einem Großteil der regionalen Vermarktungsprogramme – neben der Verwendung der regionalen „Adressangabe“ als verkaufsförderndes Alleinstellungsmerkmal. Räumlichkeit wird als ein Organisationsprinzip verwendet, um bestimmte Produktionskriterien zu „markieren“. Auf diese Weise kann eine Herkunftsangabe als verkürzte Information über Produktion und Inhalt dienen, wenn an die Herkunft aus einem bestimmten klar abgegrenzten Raum gewisse Vorschriften gebunden sind, wie z.B. durch nationale Gesetze oder verbindliche Qualitätskriterien bei der Verwendung von Herkunftsbezeichnungen oder bei der Teilnahme an Regionalvermarktungsprogrammen.
Widersprüchliche Förderpolitik Strategien der Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe können als Alternative zu den klassischen staatlichen Förderprogrammen für landwirtschaftliche Betriebe und das Ernährungsgewerbe aufgefasst werden. Während die klassischen Maßnahmen auf eine erhöhte Wettbewerbsfähigkeit im europäischen und weltweiten Maßstab durch Effizienzsteigerung, Rationalisierung der Produktion und Standardisierung der Erzeugnisse abzielen, ist es das Bestreben einer „regionalen“ Orientierung, sich genau diesen Zwängen zu entziehen. Nicht das Angebot soll sich nach einer überregional standardisierten Nachfrage mit einheitlichen Standards richten, sondern es soll eine Nachfrage nach Produkten stimuliert werden, deren Erzeugung, Verarbeitung und Herstellung den spezifischen Verhältnissen des jeweiligen Raumes einschließlich naturräumlicher Gegebenheiten, tradierter Produktionsformen und kultureller Besonderheiten angepasst ist und deren Qualität und Preis sich an diesen Gegebenheiten orientieren. Während die EU-Agrarpolitik künftig auf Direktzahlungen bei Einhaltung bestimmter Produktionsstandards setzt und somit die sog. überbetrieblichen Leistungen der Landwirtschaft (z.B. zur Landschaftspflege) von den Verbraucherpreisen abgekoppelt, ist es das Ziel der Re-
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gionalvermarktung, derartige Leistungen in die Wertschätzung und den Verkaufspreis der Waren einzubeziehen. Vielfach werden aber auch Maßnahmen einer regionsbezogenen Vermarktung zur Absatzförderung der Produkte aus einer bestimmten Region genutzt, ohne dass dies als ein alternatives Modell gegenüber der modernen Land- und Ernährungswirtschaft verstanden würde. So haben die Landwirtschaftsministerien einiger deutscher Bundesländer eigene Vermarktungsprogramme ins Leben gerufen, bei denen die Herkunft der Produkte aus dem jeweiligen Land mit gewissen Kriterien der Produktionsweise und der Qualität verknüpft werden, die aber keineswegs als ein Gegenmodell zur modernen und auf großräumigen Austausch ausgerichteten landwirtschaftlichen Produktion und Vermarktung gedacht sind. Aus der Perspektive der Wettbewerbspolitik der EU wird eine Absatzförderung für Produkte aus einer bestimmten Region mithilfe des Einsatzes staatlicher Mittel jedoch als Marktdiskriminierung auf Kosten anderer Regionen angesehen. Dementsprechend mussten mehrere Vermarktungsprogramme auf Bundesländerebene die Qualitätskriterien gegenüber dem Herkunftskriterium stärker in den Vordergrund rücken. Auch die CMA durfte ihre mit staatlichen Geldern kofinanzierten Aktivitäten zur regionalen Absatzförderung nicht mehr in der bisherigen Form weiterführen. Daraus resultiert eine widersprüchliche politische Situation. Auf der einen Seite fördert die Europäische Union die Herstellung und Vermarktung regionsspezifischer Produkte, wie insbesondere im Rahmen der Gemeinschaftsinitiative LEADER+, der europäischen Strukturförderung für den ländlichen Raum, bei der eine „Aufwertung der lokalen Erzeugnisse“ Erhöhung der Wertschöpfung für lokale Produkte“ angestrebt wird (Amtsblatt der europäischen Gemeinschaften 2000, S. 8). Viele daraus geförderte „Lokale Aktionsgruppen“ versuchen, dies mit Projekten zur regionalen Vermarktung zu erreichen. Auch der Schutz der Herkunftsbezeichnungen von Nahrungsmitteln durch die EU ist ein Instrument, das auf die Nutzung regionaler Spezifika, damit aber auch auf eine Wettbewerbsbeschränkung abzielt (Ermann 2006b). Auf der anderen Seite forciert die EU eine Homogenisierung der europäischen Agrarmärkte und – zumindest implizit – eine stärkere räumliche Spezialisierung, Arbeitsteilung und weltwirtschaftliche Integration. Auch auf der nationalen Ebene werden diese gegenläufigen politischen Ziele deutlich. So wird z.B. im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ die „Verarbeitung und Vermarktung regional erzeugter landwirtschaftlicher Produkte“ gefördert. „Regionale Erzeugnisse“ werden dabei sehr profan als Produkte definiert, die in ihrer Erzeugerregion oder einer nahe gelegenen Region abgesetzt werden (s. Text-Kasten 3). Die Gemeinschafts-
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aufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ erkennt hingegen in den entsprechenden Fördergebieten nur diejenigen Betriebe als förderwürdig an, die einen bestimmten Mindestabsatz ihrer Leistungen über eine gewisse räumliche Distanz hinweg, also „überregional“ erzielen. Oftmals ist es wohl auch eine regionalistische Rhetorik, die solche Widersprüchlichkeiten übertüncht. Welcher Politiker oder Unternehmer wollte schon „gegen die Region“ oder gar gegen die eigene Region sein? Das gemeinsame Interesse an der Entwicklung der Region sagt aber nichts darüber aus, ob eine regionalwirtschaftliche Belebung durch Erschließung neuer Absatzmärkte innerhalb oder außerhalb der Region angestrebt wird und was überhaupt unter einem „regional erzeugten Produkt“ zu verstehen ist.
Resümee: Regionalität als Gegenmodell? Das Produktionsmodell der modernen Land- und Ernährungswirtschaft beruht auf der Ausnutzung von Skaleneffekten durch große und kapitalintensive Verarbeitungsapparate, der Perfektionierung einer funktionalen und räumlichen Arbeitsteilung und einer Standardisierung der Agrargüter und Nahrungsmittel. Dieses Produktionsmodell impliziert ein Konsummodell, bei dem die Herkunft der Agrargüter und die Zusammenhänge der Produktion zunächst keine Rolle spielen. Entscheidend für die Qualität z.B. von Milch sind demnach die Anzahl der Keime, der Fettgehalt und andere am Produkt messbare Kriterien, nicht aber der Standort des Kuhstalles oder der Weide und der Name des Landwirtes. Die moderne Produktionsweise ist mit einer radikalen Trennung des Konsums vom Produktionszusammenhang und einer möglichst universal gültigen Definition der auf Märkten gehandelten Waren verbunden. Die Betonung von Regionalität für Leistungen der Land- und Ernährungswirtschaft ist ein Versuch, diese beiden Merkmale der modernen Wirtschaftswelt bei der Produktion von Agrargütern und Nahrungsmitteln aufzuheben. Die räumliche Nähe zwischen Käufern und Verkäufern bzw. Verbrauchern und Erzeugern wird mit einer sozialen Nähe im Sinn einer möglichst unmittelbaren und persönlichen Beziehung zwischen Konsumwelt und Produktionswelt in Verbindung gebracht. Entsprechende Versuche laufen jedoch oft Gefahr, verklärte Imaginationen einer vorindustriellen Wirtschaftswelt zu generieren und zu reproduzieren. Entgegen der universalen Produktdefinition überregional konkurrenzfähiger Agrargüter und Nahrungsmittel wird bei der Vermarktung regionaler Produkte versucht, möglichst viele Produktionszusammenhänge und (externe) Effekte in die Bewertung der Waren zu integrieren
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und dabei den lokalen Voraussetzungen besonders Rechnung zu tragen. Regionales Wirtschaften in diesem Sinn bedeutet nicht in erster Linie ein Umlenken der Warenströme von großräumigen auf kleinräumige Bahnen, sondern eine Einbeziehung der Herkunft in die Bewertung von Waren. Eine Vermarktung von Agrargütern und Nahrungsmitteln „aus der Region“ kann nur dann „für die Region“ von Vorteil sein, wenn es gelingt, die Herkunft aus dem eigenen Nahraum nicht als Selbstzweck aufzufassen. Nur dann werden Konzepte des regionalen Wirtschaftens nicht zur regionalistischen Ideologie.
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