EDITED VOLUME SERIES
innsbruck university press
Günther Lorenz
Asklepios, der Heiler mit dem Hund, und der Orient Religion und Medizin in alten Kulturen in universalhistorischer Sicht Gesammelte Schriften
Günther Lorenz (1942–2013)
Institut für Alte Geschichte und Altorientalistik, Universität Innsbruck
Diese Publikation wurde mit finanzieller Unterstützung des Vizerektorats für Forschung und des Dekanats der Historisch-Philosophischen Fakultät der Universität Innsbruck gedruckt.
© innsbruck university press, 2016 Universität Innsbruck 1. Auflage Alle Rechte vorbehalten. Umschlagbild: Epidauros, Theater (2. Hälfte des vierten Jahrhunderts v. Chr.); © Angelika Lorenz www.uibk.ac.at/iup ISBN 978-3-902936-92-9
All jenen gewidmet, die meinen Mann, Günther Lorenz, als Mensch, akademischen Lehrer und Wissenschaftler geschätzt haben.
Einleitende Worte Mein Wunsch, für Freunde und treue Begleiter des wissenschaftlichen Weges meines Mannes einen Überblick über seine wissenschaftlichen Arbeiten zu geben und manche seiner Antworten auf religions- oder medizinhistorische Probleme in Erinnerung zu rufen, ließ diesen Sammelband ausgewählter Schriften entstehen. Es waren vor allem drei Forschungsschwerpunkte, die ihm im Besonderen am Herzen lagen: die Vergleichende Religionsgeschichte, die antike Medizin und die Mensch-TierBeziehung im Altertum. Im Bereich der Religionen spannte er den Bogen von den Religionen der Naturvölker über jene der alten Hochkulturen bis zu den vier Weltreligionen Juden- und Christentum, Islam und Buddhismus. Innerhalb der antiken Medizin war es in erster Linie die medizinische Behandlung, die dem Kranken zuteil wurde, also die Therapie, die sein Interesse erregte. Dabei verfolgte er den Gegensatz, aber auch das gleichzeitige Nebeneinander von beharrenden Traditionen und neuen Therapien: „... ansonsten legte sich das geschichtlich Neue gleichsam wie eine junge geologische Schicht über einen vorhandenen Sockel an primitiven und archaischen Vorstellungen und Verhaltensweisen.“ 1 In seiner Dissertation beschäftigte er sich das erste Mal intensiv mit der Mensch-TierBeziehung und diese Thematik begleitete ihn dann auch durch sein gesamtes wissenschaftliches Leben und fand im Jahr 2000 seinen ersten großen Niederschlag in einer Publikation, welche er 2012/2013 erweitert durch neue Forschungsergebnisse in neuer Auflage publizieren wollte. Sein Vorhaben konnte er jedoch nicht mehr ausführen.2 Die universalgeschichtliche Sicht und der Kulturvergleich zur Lösung von problematischen Fragestellungen durchzogen als einigendes Band nicht nur die Arbeit an diesen drei Forschungsschwerpunkten, sondern leiteten Günther Lorenz auch bei seiner Aus einandersetzung mit vielen anderen Aspekten der Kulturgeschichte alter Kulturen. Warum und weshalb er der komparatistischen Methode eine so große Bedeutung für seine wissenschaftliche Arbeit zumaß, – im Vorwort wird er dazu selbst das Wort ergreifen!
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G. Lorenz, Antike Krankenbehandlung in historisch-vergleichender Sicht. Studien zum konkret-anschaulichen Denken, Heidelberg 1990, 327. G. Lorenz, Tiere im Leben der alten Kulturen. Schriftlose Kulturen, Alter Orient, Ägypten, Griechenland und Rom, Wien 2000. (=Innsbruck 22013. Dieser Neudruck wurde von mir, ergänzt durch eine Bibliographie moderner Literatur, posthum herausgegeben.)
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Einleitende Worte
Religion und Medizin sind seit den Anfängen der menschlichen Zivilisation ineinander verwoben, und so musste ich mein erstes Konzept, das Buch in zwei Teile zu gliedern, nämlich in einen religionsgeschichtlichen und in einen medizinhistorischen Teil, aufgeben. So habe ich mich für eine chronologische Reihung, und zwar nach dem Jahr des Erscheinens der ausgewählten Arbeiten, entschieden, beginnend mit der jüngsten und endend mit der ersten größeren Publikation im Jahre 1974. Eine Ausnahme stellt der an der Spitze stehende und diesem Band auch den Titel gebende Aufsatz ‚Asklepios, der Heiler mit dem Hund, und der Orient‘ dar. Schon im Jahr 2004 verfasst, ist er nicht der jüngste in der Reihe, aber er ist wohl einer der besten Aufsätze meines Mannes, weil er – meiner Ansicht nach – die Forschung innerhalb der griechischen Religionsgeschichte ein wesentliches Stück weitergebracht hat: Ausgehend von den schriftlichen Quellen und überzeugend argumentiert, hat der Religionshistoriker Günther Lorenz die Antwort auf die in der Religionswissenschaft rätselhaft gebliebene Frage gegeben: „Woher kommt der Name des griechischen Heilgottes Asklepios?“ Innerhalb der griechischen Religionsgeschichte unumstritten ist ja die Erkenntnis, dass der Name Asklepios etymologisch nicht aus dem Griechischen herleitbar ist. Günther Lorenz verweist nun auf den Osten, auf den Alten Orient, aus dem – in der modernen Forschung anerkannt – viele Anregungen geistiger und materieller Art in die sich formende griechische Kultur eingeflossen sind. Es folgt nun der jüngste der hier aufgenommenen Aufsätze des Wissenschaftlers, der im Jahr 2009 publiziert worden war: ‚Religionskritik in der antiken Naturwissenschaft als Teil einer interkulturellen Auseinandersetzung‘. Ausgehend von der Schrift ‚Über die heilige Krankheit‘ des hippokratischen Autors und dessen Kritik an der religiös-magischen Krankheitsauffassung umherziehender Magier, Heiler und Priester wird ein Bild gezeichnet, das interkulturelle und interreligiöse Aspekte innerhalb der Religionskritik der griechischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft sichtbar werden lässt. Aus einer Einladung der Kremser Humanistischen Gesellschaft zu einem Vortrag im Frühjahr 2002 entstand noch im selben Jahr eine Publikation mit dem Thema: ‚Von Tabu und Gottesstrafe zur Chirurgie und Nervenforschung – Über die Vielfalt der antiken Krankenbehandlung‘. Vom Brennen und Schneiden, von den Brech- und Abführmitteln der noch eng mit der Religion verwobenen Medizin (Apollon und Asklepios als ‚zuständige‘ Gottheiten, Krankheit als Gottesstrafe, daher Abwehrriten und Tabus) über die Neuerungen der Hippokratiker mit ihrem naturwissenschaftlichen Konzept plus Theorie bis zum Mäzenatentum der Ptolemäer des vierten Jahrhunderts v. Chr., das Herophilos und Erasistratos chirurgische Höchstleistungen ermöglichte, verfolgt der Leser den Weg der griechischen 8
Einleitende Worte
Medizin von ihren Anfängen bis in den Hellenismus. Dabei blickt der Verfasser aber immer wieder auf jene Hochkulturen, die Griechenland benachbart sind und untersucht gegenseitige mögliche Anregungen und Einflüsse. Aber der Blick weitet sich dann weiter aus, gegen Osten zu, zu zwei alten großen Kulturen, die sich viele Jahrhunderte zwar gleichzeitig, aber unabhängig von Hellas zu ihren Höhepunkten entwickelt haben, zu Indien und China. Nun im Vergleich nebeneinander stehend, werden ihre Parallelwege in der Entwicklung, aber auch ihre Sonderwege darin deutlich und erklärbar. ‚Die griechische Heroenvorstellung in früharchaischer Zeit zwischen Tradition und Neuerung‘ – ein Beitrag im Rahmen eines Projektes zur Genese griechischer Identität 1996 am Institut für Alte Geschichte an der Universität Innsbruck entstanden, stellt die Frage nach der Bedeutung des Heroenglaubens für die griechische Ethnogenese. Heroenlegenden erklären und verbinden Teile der Bevölkerung, fließen in literarische Zeugnisse, wie die Epen und Hesiods Erga, ein, konstruieren eine gemeinsame Vergangenheit und fördern auch das Bewusstsein einer Identität. Die ersten großen literarischen Werke des späteren Abendlandes sind auch die maßgeblichen Zeugen, um jene Zeitspanne zu verorten, in welcher diese Welt der Heroen und Heroinen in den geistigen Vorstellungen der dort lebenden Menschen Gestalt angenommen hatte. In ‚Seelenwanderungslehre und Lebensführung in Oberschichten: Griechenland und Indien‘, 1990, geht Günther Lorenz von seiner Hypothese von der Affinität der Metempsychosis-Lehre zu Oberschichten aus und prüft sein Modell am griechischen Pythagoreismus und am indischen Jainismus. Mit ‚Apollon – Asklepios – Hygieia. Drei Typen von Heilgöttern in der Sicht der Vergleichenden Religionsgeschichte‘ berühren wir wiederum das Themenfeld dieser ambivalenten Götter, die sowohl die Krankheit schicken als auch wieder fortnehmen, und der reinen Heilgötter, – aber sechzehn Jahre vor dem titelgebenden Aufsatz dieses Sammelbandes. Wir stehen damit zusammen mit dem Autor am Beginn des Weges von Studien zu diesem religionsund medizingeschichtlich interessanten Fragenkomplex, der nun hier universalhistorisch aufgearbeitet wird. Und auch wenn wir schon das Ende dieses Weges der Asklepios-Forschungen aus dem Jahre 2004 kennen, so begleiten wir in dieser Schrift den geistigen Erwerb eines breiten Wissens für dieses Thema und auch die persönliche Reifung eines Wissenschaftlers. Und das kann auch ein interessanter Aspekt einer Zusammenschau von Schriften über eine längere Zeitspanne sein! Die Idealisierung der Vergangenheit, und damit auch von frühen Völkern, ist nicht erst ein Phänomen unserer Zeit, auch in der griechisch-römischen Antike stellten Dich9
Einleitende Worte
ter und Philosophen ‚Goldene‘ und ‚Silberne Zeitalter‘ an den Anfang ihrer Geschichte: Die Menschen damals seien unter anderem edel und weise gewesen, man sei ohne Recht ausgekommen, weil das Verhalten der Menschen zueinander von Natur aus gut und richtig gewesen sei und, nicht zuletzt, seien sie der Natur, den Tieren und den Pflanzen, mit Ehrfurcht begegnet. – Wir, Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts, verstehen ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ (auch vor dem der Tiere!) als ethisches Postulat, so wie es Albert Schweitzer Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts aufgestellt hat. Jedoch: Empfanden die Menschen früherer Entwicklungsstufen das ebenso? Im Rahmen einer Sammelpublikation der Innsbrucker Althistoriker an der Universität im Jahr 1974 geht Günther Lorenz dieser Frage auf den Grund: Es entsteht eine seiner ersten wissenschaftlichen Arbeiten: ‚Ehrfurcht vor dem Leben der Tiere bei frühen Griechen und Römern?‘. Ausgehend vom Fest der Buphonien in Athen kommt er durch den universalhistorischen Vergleich mit anderen frühen Kulturen verwandter Entwicklungsstufen zum Schluss, dass nicht ein ethisches Prinzip diese frühen Völker leitete, sondern dass andere Motive, wie zum Beispiel Furcht vor der Rache der Tiere, dazu führten, dass man das erlegte Tier mit besonderer Sorgfalt behandelte, und dies in der Absicht, wieder eine Versöhnung mit ihm zu erreichen. Erst in den späteren Phasen ihrer Geschichte sind es dann die Dichter, Philosophen und andere gelehrte Männer, die ihre Wunschvorstellungen einer nach ihren ethischen Idealen geformten Welt in die Frühzeit der Geschichte ihres Volkes zurückprojizierten, – das sogenannte ‚Goldene Zeitalter‘, das als Vorbild für die ‚dekadente‘ Gegenwart dienen sollte. Auch heute noch erliegen Menschen immer wieder der Versuchung, die eigenen ethischen Ideen in das Verhalten von Naturvölkern hinein zu interpretieren, um uns dann diese Kulturen als verlorenes Ideal vor Augen zu führen. Und genau hier ist es die Aufgabe des Historikers, „die sachlichen und methodischen Bedenken dagegen vorzutragen, weil die Idealisierung früher Entwicklungsphasen nur den Weg zu einer gerechten Wertung späterer Kulturperioden und jener Männer, welche die Entwicklung in diesen Epochen vorangetrieben haben, wie zum Beispiel Theophrast in der Antike und Albert Schweitzer in der Neuzeit, versperrt.“ 3 Mit ‚Tiere kennen und die Tierwelt erklären – Leistungen und Irrwege der alten Kulturen‘ schließt sich der Kreis, denn wir streifen nun den dritten Forschungsschwerpunkt von Günther Lorenz, die Tier-Mensch-Beziehung im Altertum, die er im Jahre 2000 in seinem Buch ‚Tiere im Leben der alten Kulturen. Schriftlose Kulturen, Alter Orient, Ägypten, Griechenland und Rom‘ von den Anfängen menschlicher Kultur bis in die Zeit des christlichen Rom nach3
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Vgl. unten S. 221.
Einleitende Worte
zeichnete; im November 2013 habe ich dieses Werk posthum, ergänzt durch neue Literatur, in zweiter Auflage als Neudruck wieder aufgelegt.4 Jedoch wollte ich auch hier nicht völlig auf dieses Thema verzichten und so habe ich diesen einschlägigen Aufsatz aus dem Jahre 2004 in einem Exkurs an den Schluss gestellt. Der Vortrag fand auf einem Kongress in Dresden am Beginn der Zweitausenderjahre statt und wurde dann in dem daraus folgenden Tagungsband publiziert. Er beschäftigt sich im ersten Teil mit der Frage, welche Formen von Wissen über Tiere bei den einzelnen Kulturen vorhanden und auf welche Art sie zu diesen Kenntnissen gelangt waren; die Untersuchung beginnt bei rezenten schriftlosen Völkern und reicht über die SchriftHochkultur der Ägypter bis zur griechisch-römischen Antike. Die Interpretation und Bewertung des Verhaltens der Tiere aufgrund der erworbenen Kenntnisse steht sodann im Mittelpunkt des zweiten Teils und zwar ebenfalls in Form einer universalhistorischen Rundschau, wobei die Errungenschaften, aber auch die Fehlleistungen im Denken der alten Kulturen herausgearbeitet werden. Ich bin nun zum Ende meiner einführenden Bemerkungen gekommen und möchte in meinem Schlusswort vor allem auf all jene verweisen, die mit mir daran arbeiteten, mein Projekt zu realisieren. So wie schon bei meiner ersten Zusammenarbeit mit dem Team der innsbruck university press unter der Leitung von Frau Dr. Birgit Holzner konnte ich mich auch bei diesem Projekt auf deren Beratung und Kompetenz in verlagstechnischen Belangen stets verlassen und möchte ihnen daher meinen herzlichen Dank aussprechen. In diesen Monaten des Werdens wurde ich jedoch von zwei sehr lieben Menschen begleitet und so möchte ich es auf keinen Fall verabsäumen, ihnen hier besonders zu danken: Für manch klugen Rat und stete Ermunterung, in den Bemühungen nicht nachzulassen, gebührt Frau Mag. Sieglinde Kapferer mein ganz besonderer Dank. Ebenso dankbar bin ich Frau MMMag. Maria Prantl, die mir über manche Tücken und Fallstricke des ‚Computer-Zeitalters‘ hinweggeholfen hat.
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Vgl. oben S. 7 mit Anm. 2.
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Inhalt Vorwort ..............................................................................................................................
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Asklepios, der Heiler mit dem Hund, und der Orient 1. Vorüberlegungen .................................................................................................. 2. Asklepios und der Hund ..................................................................................... 3. Altorientalische Gottheiten und Riten mit Hunden ....................................... 4. Hundetötungsrituale in Griechenland .............................................................. 5. Thesen ................................................................................................................... 5.1. Der Name Asklepios: Der Heiler mit dem Hund ........................................... 5.2. Mythen und Kulte um Asklepios im Lichte der Orient-These ..................... 5.2.1. Die älteren Asklepios-Mythen und frühe Kultpartner des Asklepios ......... 5.2.2. Apollon .................................................................................................................. 5.2.3. Koronis .................................................................................................................. 5.2.4. Ischys ..................................................................................................................... 5.2.5. Weitere Mythen und Kultpartner rund um Asklepios ................................... 5.2.6. Askalaphós ............................................................................................................ 5.2.7. Zur Äskulap-Natter ............................................................................................. 5.3. Zusammenfassung und Schluss ......................................................................... Literaturverzeichnis ..........................................................................................................
25 30 34 42 46 46 48 49 53 54 56 56 59 59 60 62
Religionskritik in der antiken Naturwissenschaft als Teil einer interkulturellen Auseinandersetzung Ausgangspunkt: Religionskritik in der Schrift ‚Über die heilige Krankheit‘ (Περὶ ἱερῆς νούσου) ............... 1. Zur historischen Herkunft dieser Gedanken ................................................... 1.1. Die Heiler und ihre Lehren ................................................................................ 2. Zur Herkunft der Säftelehre bzw. Elementenlehre ........................................ 3. Zur Herkunft der sublimierten Gottesauffassung in ‚de morbo sacro‘ ......... 4. Mögliche externe Anregungen für Elementenlehre und Gottesauffassung ................................................................................................. Literaturverzeichnis...........................................................................................................
67 69 69 73 74 75 79 13
Von Tabu und Gottesstrafe zur Chirurgie und Nervenforschung – Über die Vielfalt der antiken Krankenbehandlung 1. Gottesstrafen, Heilungsrituale und Tabus ........................................................ 1.1. Kulturvergleich ..................................................................................................... 2. ‚Hippokratische‘ Krankheitslehre und Behandlungsmethoden .................... 2.1. Kulturvergleich ..................................................................................................... 3. Chirurgie und Nervenforschung ....................................................................... 3.1. Kulturvergleich ..................................................................................................... 4. Schlussgedanken ................................................................................................... Die griechische Heroenvorstellung in früharchaischer Zeit zwischen Tradition und Neuerung 1. Der Terminus ‚Heros‘ und seine Implikationen ............................................. 2. Frühe Belege und Indizien für die Heroenverehrung .................................... 2.1. Literarische Belege ............................................................................................... 2.2. Archäologische Indizien ...................................................................................... 3. Zur historischen Einordnung der Heroenvorstellung – Teil I ...................... 3.1. Grundpositionen .................................................................................................. 3.2. Stellungnahmen und weitere Überlegungen .................................................... 4. Einzelaspekte......................................................................................................... 4.1. Gesunkene Gottheiten ........................................................................................ 4.2. Eponyme ............................................................................................................... 4.3. Heroinen ................................................................................................................ 5. Historische Einordnung – Teil II: Heroenvorstellung und Ethnogenese ......................................................................................................... Literaturverzeichnis .......................................................................................................... Seelenwanderungslehre und Lebensführung in Oberschichten: Griechenland und Indien These ................................................................................................................................ Der Pythagoreismus ......................................................................................................... Der Jainismus ..................................................................................................................... Der Buddhismus ............................................................................................................... Literaturverzeichnis .......................................................................................................... 14
81 86 90 93 94 97 98
101 104 104 108 116 116 122 133 133 136 139 143 148
153 154 158 161 163
Apollon – Asklepios – Hygieia. Drei Typen von Heilgöttern in der Sicht der Vergleichenden Religionsgeschichte Apollon – der ambivalente Herr des Übels .................................................................. Asklepios – der positive Heilgott ................................................................................... Hygieia – die personifizierte Gesundheit ...................................................................... Vergleichsbeispiele aus anderen Hochkulturen ............................................................ a. Zum Typ Apollons, des ambivalenten Herrn des Übels ............................ b. Zum Typ des Asklepios, des positiven Heilgottes ...................................... c. Zum Typ der Hygieia, der personifizierten Gesundheit............................. Zusammenfassung und Bemerkungen zur historischen Einordnung ...................... Literaturverzeichnis ..........................................................................................................
165 166 167 168 168 170 175 175 181
Ehrfurcht vor dem Leben der Tiere bei frühen Griechen und Römern und bei den Naturvölkern?......................................................................... Literaturverzeichnis ..........................................................................................................
183 222
Exkurs: Tiere kennen und die Tierwelt erklären – Leistungen und Irrwege der alten Kulturen .......................................................... 1. Tiere kennen ......................................................................................................... 2. Tiere erklären – ihr Verhalten interpretieren ...................................................
227 228 235
Abkürzungsverzeichnis ................................................................................................
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Register .............................................................................................................................
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Vorwort Immer wieder erweist es sich als nützlich, sich über den Sinn von Schlüsselbegriffen, die man in der täglichen Arbeit verwendet und mit deren Hilfe man sich anderen verständlich machen möchte, Rechenschaft abzulegen. Dies soll hier für die Termini ‚Vergleich‘ und ‚Kultur‘ versucht werden, die in der Beschreibung unserer Aktivitäten ständig wiederkehren. Die essayistische Form, in der dies geschieht, mag zugleich signalisieren, dass es nicht um eine begriffsgeschichtliche und theoretische Untersuchung mit autoritativem Anspruch geht, sondern um die Klärung und Präzisierung einer Redeweise und eines damit verbundenen Anliegens und seiner wichtigsten Aspekte, also um Begriffserläuterungen und -explikationen. In diesem Sinne sei hier zunächst folgendes Wortverständnis festgehalten: Vergleichen bedeutet in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Sprachgebrauch, zwei oder mehrere Gegenstände untersuchen, um ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen. Natürlich bezieht sich eine solche Untersuchung immer nur auf ausgewählte Merkmale dieser Gegenstände, die den Betrachter interessieren, und je nachdem, ob die erfassten Merkmale zahlreich und für die Objekte wesentlich sind, kann ein Vergleich umfassend und tiefgehend oder aber sehr beschränkt und oberflächlich sein. Angesichts der komplexen Untersuchungsgegenstände, mit denen es der Historiker zu tun hat, ist das eine besonders wichtige Feststellung. Endet ein Vergleich mit dem Ergebnis, dass zwei Objekte einander in bestimmten Punkten gleichen, so lässt er gleichzeitig die Möglichkeit offen, dass sie sich in vielen anderen unterscheiden. Obwohl die Alltagssprache hier zu einer notorischen Unschärfe tendiert, sollte man daher einen Vergleich, der im eben erwähnten Sinn positiv endet, nie mit einer ‚Gleichsetzung‘ verwechseln. Es geht also auch auf dem Feld der Kulturgeschichte nicht darum, über die Feststellung von Gemeinsamkeiten kulturelle Identitäten zu verwischen. Der Vergleich als Gedankenoperation spielt übrigens in der täglichen und normalen Arbeit eines Historikers auch abseits jedes komparatistischen Anspruchs eine beherrschende Rolle. Man muss sich nur überlegen, was man meint, wenn man von historischen ‚Entwicklungen‘ oder ‚Prozessen‘ redet. Solche Aussagen fußen stets auf ‚Momentaufnahmen‘, die wir aus Quellen und Befunden gewinnen, und die zeitlich gestaffelt Veränderungen in einer bestimmten Richtung zeigen. Das Gleiche gilt, wenn wir davon sprechen, dass eine historische Persönlichkeit auf eine andere einen bestimmten ‚Einfluss‘ ausgeübt habe. In einem Satz des zuletzt genannten Typs steckt im
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Vorwort
Übrigen nicht nur die Feststellung einer bestimmten Ähnlichkeit zwischen historischen Gestalten, sondern auch eine Erklärung dafür. Damit ist ein wichtiger Aspekt angesprochen: Feststellungen über Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Gegenständen drängen zum Erklären und Verstehen – im Übrigen ein Anspruch aller Wissenschaft, nicht nur der Historie. Das Wort Kultur, dem wir uns jetzt zuwenden, schillert in der Alltagssprache ungleich mehr. So verwendet man den Begriff zum Beispiel im Gegensatz zu ‚Politik‘ und ‚Wirtschaft‘, es macht aber auch Sinn, von der ‚politischen Kultur‘ eines Landes zu reden. Damit ist der meist informell geregelte, grundsätzliche Stil gemeint, in dem politische Fragen behandelt werden. Daneben steht in der Begrifflichkeit des Wortes die Opposition zur ‚Natur‘, man spricht von ‚Hochkultur‘, ‚Jugendkultur‘ oder ‚Subkultur‘, und neben Zustimmung löst es Unbehagen aus, wenn die bisher so genannten Geisteswissenschaften neuerdings ergänzend oder überhaupt alternativ als Kulturwissenschaften angesprochen werden. Wenn Historiker und Ethnologen über Kulturen in der Mehrzahl reflektieren, wenn im Besonderen Althistoriker mit dem Blick auf mehrere Jahrtausende von Kulturen des Altertums sprechen, so kommt jedenfalls der Aspekt der zeitlichen Kontinuität über Generationen zum Tragen. Deshalb sei hier versucht, den Begriff möglichst umfassend und offen zu explizieren: Als Kultur im geschichtlichen Sinne möchte ich eine Gesamtheit von Verhaltensformen, Kenntnissen, Vorstellungen und Werturteilen bezeichnen, die über viele Generationen weitergegeben werden. Diese Umschreibung will der Vielschichtigkeit dessen Rechnung tragen, was wir gewöhnlich als Kultur bezeichnen. So zielt die Nennung von Verhaltensformen unter anderem auf Riten, Tänze, Spiele und Feste, mit Wissen sind alle möglichen Formen von Faktenwissen ebenso gemeint wie handwerkliche und technische Verfahren, mit Vorstellungen alle ordnenden und erklärenden Annahmen über die Welt sowie Fiktionen und Entwürfe für die Zukunft. Daher fällt die Sphäre von Religion und Wissenschaft, aber auch die Welt der fiktionalen Literatur in diesen Bereich. Werturteile können praktischer, ästhetischer oder moralischer Art sein – die Nützlichkeit des Auswendiglernens zum Beispiel wird in einer Koranschule anders beurteilt als in einer modernen westeuropäischen Schule; die Schönheitsideale, an denen man Kleidungsstücke, eine Dichtung oder ein Bauwerk misst, variieren von Land zu Land und von Epoche zu Epoche; die Bewertung der Askese, des Selbstmords oder der Tierquälerei sind Exempel, an denen sich besonders deutliche Unterschiede zwischen den Kulturen zeigen.
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Vorwort
Die gerade angesprochenen Ebenen oder Schichten der Kultur sind in der Realität eng miteinander verzahnt – vielleicht ein Grund dafür, dass man sie früher gerne als Organismen betrachtet hat, während man heute eher von vernetzten Systemen sprechen mag. Wichtig ist auch, schon im Nachdenken über die Begrifflichkeit zuzugestehen, dass Kultur Lösungen von Problemen auf allen Ebenen der menschlichen Existenz bereithält. Eine Auffassung, die Kultur auf intellektuelles Fragen und ästhetisches Schaffen einschränkt und die Art der praktischen Existenzsicherung und Lebensbewältigung oder des menschlichen Zusammenlebens ausklammert, wäre einseitig und eng. Damit ist Kultur freilich untrennbar mit Gesellschaft, Wirtschaft und Politik verbunden und kann nicht abgehoben davon gesehen werden. Nun sprechen wir als Historiker von Kulturen im Plural und implizieren dabei, dass die Einzelkulturen in Raum und Zeit ihre Konturen und Grenzen haben. Diese sind offensichtlich durch Kommunikationsbarrieren bedingt. Kultur wird zwar zu einem nicht unwesentlichen Teil durch das erlebte Vorbild weitergegeben, aber doch vor allem mit Hilfe der Sprache. Räumliche Nähe, Akzeptanz, Dominanz oder umgekehrt Ablehnung von Vorbildern, vor allem aber Sprachgrenzen bestimmen daher ohne Zweifel besonders nachdrücklich die Außenkonturen von Kulturen, die sich oft, aber nicht immer im geographischen Raum festmachen lassen. Im Bereich der Schriftkulturen sind es darüber hinaus die Geltungsbereiche von Schriftsystemen, die die sprachlichen Faktoren wesentlich verstärken oder überlagern können. Man denke nur an die Geltungsbereiche der Keilschrift oder der arabischen Schrift. Nur selten freilich wird man Beispiele hundertprozentiger Abschottung zwischen Kulturen finden, und so ist deren Abgrenzung aus der internen Perspektive eine Frage des Identitätsbewusstseins und aus jener des externen beziehungsweise rückblickenden Betrachters eine Frage der Wahrnehmung, oft auch des Ermessens und der Konvention – ein Punkt, auf den übrigens Franz Hampl* stets besonderes Gewicht gelegt hat. Ganz besonders tat er dies im Hinblick auf diachrone Grenzziehungen. Es sind besonders Traditionsverluste, unter Umständen auch Innovationsschübe, die die Historiker veranlassen, auf der Zeitachse Abgrenzungen vorzunehmen. Das gilt zum Beispiel für Griechenland in der Zeit zwischen 1200 und 1150 v. Chr., eine Periode, in welcher der Großteil der minoisch-mykenischen Kultur verloren ging, oder für den Zusammenbruch der altamerikanischen Hochkulturen im Gefolge der Conquista. Es gilt – in geringerem Maße – auch für den *
Univ.-Prof. Dr. Franz HAMPL (1910-2000), Althistoriker an der Universität Innsbruck (1947-1981) Lehrer von Günther Lorenz.
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Vorwort
Übergang von der Spätantike zum Mittelalter. Damals brachten Zerstörungen und Invasionen, der Niedergang des Städtewesens und wohl auch die weniger auffällige Tatsache, dass die Umstellung der Schriftträger von der Papyrusrolle auf den Pergamentkodex weitgehend unter der Regie und den Auswahlkriterien des Christentums stattfand, große Traditionsverluste mit sich; dafür strömten vor allem germanische und slawische Elemente ein. Freilich – selbst die schärfsten kulturgeschichtlichen Brüche sind eher ‚Störungszonen‘, die sich über Generationen hinziehen. Kulturelle Verluste und Neuerungen sind nicht verbindlich zu gewichten, und so lässt es sich über Epochengrenzen und diachrone Kulturdifferenzierung trefflich streiten. Was die geographische Ausdehnung von Kulturen betrifft, so ist die Rolle der Schrift beziehungsweise der Literalität in den letzten Jahrzehnten in besonderem Ausmaß ins Bewusstsein getreten. Unter anderem ist hier eines offensichtlich: In der Welt der schriftlosen Kulturen bestehen wegen der geringen Reichweite dauernder und enger Kommunikation viele regional beschränkte Kulturen. Schrift hingegen erlaubt permanenten Informations- und Gedankenaustausch über lange Distanzen hinweg; sie ermöglicht die organisierte Kontrolle größerer Regionen, und so entwickeln sich großflächige Sozialgebilde, Sprachgebiete und Kulturprovinzen erst in ihrem Gefolge. Inhaltlich ist das Geistesleben von Schriftkulturen durch Wissens- und Gedankenvermittlung über große Entfernungen und Zeiträume gekennzeichnet; das bedeutet Summierung von Wissen und Reichtum an Ideen, oft aber auch die Notwendigkeit, mit ‚festgeschriebenen‘, ‚kanonisierten‘ Sach- und Werturteilen zu ringen. In der praktischen kulturvergleichenden Arbeit lassen sich einige wichtige Gedankenschritte, Arbeitsfelder und Erklärungsmodelle hervorheben. Zunächst gibt es, wie überall in der Geschichte, auch in diesem Bereich die Aufgabe und Ebene der Quellenkritik. Sie beginnt bei der unmittelbaren Überprüfung von Nachrichten aus einem gegebenen Kulturkreis über Kulturen, die sich außerhalb davon befinden und als fremd wahrgenommen werden. Oft führt diese Überprüfung zur ernüchternden Einsicht, dass die Urheber solcher Nachrichten eigene Erwartungen, Befürchtungen und Klischees in die Vergangenheit, in die Ferne oder überhaupt an den Rand der Ökumene projizieren. Das betrifft unter anderem die Nachrichten der antiken Ethnographie, die ihren ersten Höhepunkt im Werke Herodots hat, über die außerklassische Welt – aber auch die Ethnographie der Neuzeit war nicht davor gefeit. Sodann lässt sich zeigen, dass bestimmte Überlieferungsweisen, Quellensorten und Textgattungen interkulturell verbreitet sind und die Ausschnitte der Lebensrealität in spezifischer
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Vorwort
Weise spiegeln. Hierher gehört die Diskussion über Oralität und Literalität, Heldendichtung, Kultaitien, Legenden um Religionsstifter. Sind die Fakten zu einer bestimmten Fragestellung unter kritischer Verwertung von Quellen und Forschungsergebnissen rekonstruiert und zeigen sich in bestimmten Punkten Parallelen und Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Kulturen, so wird der Komparatist klären wollen, was man die ‚genetische Grundkonstellation‘ nennen könnte. Handelt es sich um eine direkte Übernahme (Kulturtransfer), um eine gemeinsames Erbe aus weit zurückliegender Quelle oder um eine unabhängig zustande gekommene Parallele? Kulturtransfer kann direkt dokumentiert sein, aber oft genug bietet er sich lediglich als Erklärung an, ohne dass Mittelsmänner und Zwischenstufen namhaft gemacht werden können. In solchen Fällen ist streng darauf zu achten, dass nur komplexe Übereinstimmungen Einflüsse beweisen, und Chronologie und Kontaktmöglichkeiten sind genau zu prüfen. Die Annahme eines gemeinsamen Erbes in verschiedenen Kulturen führt notwendigerweise über große Zeiträume zurück in die Vergangenheit. So kann es aus einer ‚Mutterkultur‘ stammen, wie es die sumerisch-akkadische für viele Völker im Alten Orient war oder die chinesische im Fernen Osten. Alle Schriftkulturen haben aber letztlich auch Wurzeln in der Vorgeschichte. Der direkte Nachweis von ‚Ursprüngen‘ (ein Ausdruck, der ohnehin immer nur sehr relative Geltung haben kann) beschränkt sich hier prima vista auf die materielle Hinterlassenschaft, die die Archäologen in Typenreihen einordnen und in die prähistorische Periode zurückverfolgen können. Dies gilt etwa für Grab- und Haustypen, Keramik oder Waffen. In jenen Bereichen der Gesellschaft und Gedankenwelt, die sich nicht ohne Weiteres mit der materiellen Kultur verbinden lassen, braucht man eine Art Hilfskonstruktion, die sich auf gewisse Grundtypen schriftloser Kulturen stützt, die sich bei genauerer Betrachtung des Materials bald abzeichnen. Nach ethnologischen Grunderkenntnissen sind ja mit dem Wildbeutertum, Hackbau, Pflugkultur, Viehzucht und Nomadentum – um von weiteren Differenzierungen abzusehen – bestimmte soziale Strukturen und oft auch religiösmagische Vorstellungen verknüpft. Unter der Voraussetzung, dass diese von der synchronen Anthropologie beobachtete Verknüpfung auch in der Ur- und Frühgeschichte bestand – und für diese Hypothese lässt sich einiges ins Treffen führen – kann man das ‚Erbe der Vorgeschichte‘ in alten Schriftkulturen entsprechend klassifizieren 1. Dieses besagt dann natürlich nichts über eine gemeinsame ethnische Herkunft. 1
Dazu ausführlicher Lorenz 2000, 115-117 (= ²2013, 127-129).
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Vorwort
Die dritte Möglichkeit zur Erklärung von Ähnlichkeiten ist die Annahme unabhängiger Parallelentwicklungen. Sie geht davon aus, dass an verschiedenen Stellen der Erde ähnliche Antworten auf ähnliche materielle, soziale und geistige Herausforderungen gefunden wurden. Dies trifft schon im Bereich der Vorgeschichte auf die sogenannte ‚neolithische Revolution‘ zu2, und auch im Bereich der Schriftkulturen lassen sich Beispiele nennen. Nur zwei Hinweise mögen an dieser Stelle genügen: Schon die Schrifterfindung selbst hat mindestens vier Mal stattgefunden, nämlich in Mesopotamien, Ägypten, China und Mittelamerika. Doch haben sich in der alten Welt auch mindestens drei Mal unabhängig voneinander Kosmologien entwickelt, die auf einer Elementenlehre beruhen und ihre Erklärungsansprüche von der Physik über die Medizin und die Psychologie bis zur Astronomie spannen: in Hellas, Indien und China. Mit all diesen Feststellungen verknüpfen sich sogleich wieder weitere Fragen: Warum etwa kommt es gerade in einer bestimmten interkulturellen Kontaktzone zu intensivem Kulturtransfer und in anderen nicht? Welche Spannungen entstehen im Zuge von Akkulturationsprozessen in der rezipierenden Kultur? Wie werden Anregungen umgeformt und warum? Wie sind auch im Bereich des vorgeschichtlichen Erbes oder im Bereich der unabhängigen Parallelen die Varianten zu erklären, die trotz aller Ähnlichkeit zu beobachten sind? Dies ist ein spannendes Themenfeld, das man ‚Variantenanalyse‘ überschreiben könnte. Der Kulturvergleich verbreitert die Basis für historisches Denken und führt oft dazu, vermeintliche welthistorische Singularitäten ‚vom Thron zu stoßen‘....Andererseits kann nur der umfassende Vergleich ein prüfbares Fundament liefern, wenn es darum geht, solche Singularitäten festzustellen. Vorauszuschicken ist, dass man sich mit dem Terminus ‚Singularität‘ in diesem Zusammenhang auf einer hohen Abstraktionsebene bewegt und bestimmte Bedeutungskriterien anlegt. Denn natürlich ist jeder einzelne Mensch mit seiner höchst persönlichen emotionellen und intellektuellen Biographie eine Singularität, und Entsprechendes gilt für Kulturen in ihrer ganzen Komplexität. Hier geht es um klar abgegrenzte historische Phänomene innerhalb einer Kultur, für die es anderswo kein Gegenstück gibt.
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Vgl. dazu die Überlegungen von Godehard Kipp, Die Entstehung von Pflanzenanbau und Viehzucht nach den Vorstellungen der Antike. Beiträge zum entwicklungsgeschichtlichen Denken der Alten, besonders der Griechen. Habilitationsschrift Innsbruck 1990, 925-981; G. Kipp, Die Ursachen der Entstehung produktiver Subsistenzweisen: Ein Versuch einer multifaktoriellen Theorie, Innsbruck 1991; G. Lorenz, Tiere im Leben der alten Kulturen. Schriftlose Kulturen, Alter Orient, Ägypten, Griechenland und Rom, Wien-Köln-Weimar 2000, 17f. (= Innsbruck ²2013, 37f.).
Vorwort
Zwei Exempel aus der Medizingeschichte seien hier genannt, die dem Verfasser besonders naheliegen: Einerseits ist die chinesische Akupunktur eine einzigartige Verfeinerung primitiver Therapiemethoden, die China bis zum vergangenen Jahrhundert nur an seine Tochterkulturen weitergegeben hat 3, und andererseits ist die Entdeckung der Nerven durch die alexandrinischen Chirurgen Herophilos und Erasistratos, die unter den ersten Ptolemäern am Museion tätig waren, bis zu ihrem Nachvollzug im neuzeitlichen Europa ebenso exzeptionell geblieben. Auch solche Besonderheiten fordern natürlich die historische Reflexion heraus. So klar es etwa in den genannten Fällen ist, dass hervorragend begabte Persönlichkeiten hinter diesen Errungenschaften stehen, so klar ist es auch, dass bestimmte historische Rahmenbedingungen ihrem Streben eine bestimmte Richtung gaben: Gab es doch eine Parallelentwicklung des medizinischen Denkens in West und Ost, bis die besonderen geistigen und politischen Umstände in Alexandrien den Rahmen für die Anfänge einer experimentellen Chirurgie, für Sektion und Lebendversuche geboten haben, die die hellenistische und kaiserzeitliche Medizin auf ganz neue Wege führte.4 Geht man die wichtigsten Problemfelder beim interkulturellen Vergleich systematisch durch, so ist abschließend noch ein Hinweis notwendig: Selbstverständlich kommt man nicht ohne entsprechende Verfahren aus, wenn es um die Frage anthropologischer Konstanten geht, also um Verhaltens- und Denkmuster, die nach bisheriger Kenntnis der Geschichte allen Menschen trotz sonstiger kultureller Verschiedenheit gemeinsam sind.“ Auszug aus dem Beitrag von Günther Lorenz zur Festschrift für Franz Hampl im Dezember 2000.
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Die These, der ‚Mann vom Hauslabjoch‚ (vulgo ‚Eismann‚ oder ‚Ötzi‚) sei einer Akupunkturbehandlung unterzogen worden, verkennt den Charakter dieser Therapie ebenso wie jenen des breiten Vergleichsmaterials aus schriftlosen Kulturen der Neuzeit, vgl. dazu G.Lorenz, Antike Krankenbehandlung in historisch-vergleichender Sicht. Studien zum konkret-anschaulichen Denken (= Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften NF 2. Reihe, Bd. 81) Heidelberg 1990, 71-133.327-334. Näheres bei Lorenz 1990, 331 und Lorenz 2000, 186-189 (= ²2013, 193-198).
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Asklepios, der Heiler mit dem Hund, und der Orient 1. Vorüberlegungen Asklepios ist eine Gestalt der griechischen Glaubens- und Mythenwelt, die der religionsgeschichtlichen Forschung noch so manche Frage aufgibt. Die wichtigsten unter diesen mehr oder weniger offenen religionsgeschichtlichen Probleme seien hier in Erinnerung gerufen: • Es ist unklar, was der Name des später so berühmten Heilgottes ursprünglich bedeutet hat und woher er kommt. Er begegnet in mehreren phonetischen Varianten beziehungsweise Schreibungen und lässt sich nicht überzeugend aus einer griechischen oder indoeuropäischen Wurzel herleiten. Seriöse nicht-indogermanische Deutungen liegen nicht vor.1 • Asklepios ist bekanntlich kultisch mit der Verehrung von heiligen Schlangen – oder richtiger Nattern – verbunden. Diese Verbindung hat sein ikonographisches Erscheinungsbild bis hin zum Äskulapsymbol der modernen Ärzte und Apotheker geprägt, aber wie sie religionsgeschichtlich herzuleiten ist, ist noch nicht wirklich präzise festgestellt. • Von der Forschung durchaus bemerkt, aber im allgemeinen Bewusstsein weniger geläufig ist die Verbindung zwischen Asklepios und dem Hund. Es ist vor allem Walter Burkert, der hier auf mögliche altorientalische Vorbilder hingewiesen hat.2 Doch ist dies noch eine eher isolierte Überlegung, und es stellt sich die Frage, wie dieses Element in das Gesamtbild des vergöttlichten Heilers zu integrieren ist. • Die Quellenlage zu Asklepios steckt voller Merkwürdigkeiten, ja Widersprüchen – und dies besonders im Hinblick auf die Ausgangspunkte und die alten Zentren seines Kultes innerhalb der griechischen Welt. Die älteren literarischen Quellen erzählenden oder genealogischen Charakters – vom homerischen Epos über Hesiod, Schiffs- und Frauenkataloge bis zu Pindar – scheinen prima vista auf Ursprünge in Thessalien (Trikka) oder allenfalls Messenien (Oichalia) zu deu1 2
Näheres dazu unten S. 46. Besonders Burkert 1992, 77.
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ten. Sucht man hingegen nach literarischen Bezeugungen von Kultstatuen und Kultplätzen, die nach Stil und Charakter in die archaische Epoche zurückreichen könnten, so stößt man vornehmlich auf Pausanias’ Ausführungen über Titane, das am alten und wichtigen Verbindungsweg zwischen der Argolis und Sikyon, nahe der Wasserscheide zwischen dem Argolischen und Korinthischen Golf gelegen war.3 Bemerkenswert ist freilich auch das Xoanon aus Holz vom Keuschlamm, das in einem Heiligtum am sogenannten Dromos in Sparta stand und dem Gott zum lokalen Beinamen Agnitas verhalf.4 Fürs fünfte Jahrhundert werden dann Epidauros, Sikyon, Kyllene, Piräus und Athen genannt. Das sogenannte primäre Material schließlich setzt – mit der möglichen Ausnahme des arkadischen Gortys – trotz der frühen, schon in der Ilias vorliegenden Bezeugung des Asklepios erst relativ spät, nämlich im fünften Jahrhundert v. Chr., ein. Dies gilt für die ältesten nachweisbaren Bauphasen in den Heiligtümern von Epidauros,5 Piräus und Athen ebenso wie für die bildlichen Darstellungen auf einem attischen Teller und auf Votivreliefs so wie für die ältesten Weihinschriften. Aus Trikka liegt gar nichts, aus Titane nur eine Inschrift mit dem Namen des Gottes im Dativ vor.6 Im letztgenannten Fall mag dies freilich daran liegen, dass dort noch zu wenig systematisch gegraben wurde. • Wenn man die antiken Berichte über die Träume der Pilger im Inkubationsraum nicht für die ganze Wahrheit hält, so stellt sich immer noch die Frage, was die Heilungsuchenden dort wirklich erlebten. • Es wurde schließlich noch wenig beachtet, dass es einen mit Asklepios fast namensgleichen Heros gibt, der freilich im Mythos keinen erkennbaren Bezug zum ärztlichen und heilenden Tun aufweist: Es handelt sich um Askalaphós, den das Epos in Boiotien unter den Minyern beheimatet sein lässt. Das Verhältnis zwischen den beiden Gestalten verlangt nach einer Klärung.
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Paus. 2, 11, 4-12, 2, vgl. dazu unten S. 51. Paus. 3, 14, 7. Diese Feststellung bezieht sich auf das Heiligtum am Bergfuß; das Maleatas-Heiligtum am Berghang war nicht Asklepios, sondern (Apollon) Maleatas gewidmet. Großzügige Säulenhallen, die in Trikka/ Trikala östlich der Kirche H.Nikolaos freigelegt wurden, stammen aus hellenistischer-römischer Zeit; die Verbindung eines Fürstengrabs vom Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. mit dem Asklepios-Kult ist m. E. Spekulation ohne zureichende Grundlage. Vgl. dazu F. Hild 1989, 690f. – Zu Titane vgl. Meyer 1932, 1488-1491 und 1939, 11-16 mit Plan I.
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Besondere Aufmerksamkeit gebührt sodann einem weiteren prinzipiellen Punkt: All die oben genannten Fragen müssen in einem größeren historischen Kontext gesehen werden, den man angesichts der Tatsache, dass Asklepios seit der spätklassischen Epoche eine der beliebtesten und meist verbreiteten griechischen Gottheiten war, leicht aus den Augen verliert: Der nachmalige Gott figuriert – samt seiner mythischen Familie – in den Quellen bis zum fünften Jahrhundert ganz generell implizit, bei Pindar freilich auch ausdrücklich als Heros.7 Dieser Umstand hat eine nicht immer mit Nachdruck gezogene Konsequenz: Die Überlegungen, die die neuere Forschung zur Entstehung sowie zur religiösen und sozialen Bedeutung des griechischen Heroenglaubens angestellt hat, sind auch auf den späteren Heilgott und seine Anfänge anzuwenden. Man sollte die Entwicklung der literarischen Gestalt wie auch des kultisch verehrten Wesens Asklepios eingebettet sehen in die Entfaltung der griechischen Heroenvorstellung in ihrer Gesamtheit. Dieses Thema ist noch immer Gegenstand lebhafter Forschungsdiskussionen. Einige Grundgedanken dazu seien hier kurz skizziert:8 Nachdem die Griechen der Dark Ages durch Jahrhunderte in einem dünn besiedelten Land, in einer kaum geschichteten Gesellschaft und in einer oralen Kultur gelebt hatten, vollzog sich in der spätgeometrischen Epoche ein grundlegender Wandel. Er war die Folge einer deutlichen Bevölkerungsverdichtung in Hellas selbst und eines intensivierten Zusammenlebens zwischen Griechen und Orientalen, nicht nur im Bereich von Zypern, sondern auch von Kilikien und Syrien. Zu diesem Wandel gehörte der mehr oder minder bewusste Versuch, über die geschichtliche Rückerinnerung einer oralen Kultur, also über drei Generationen hinaus, ein Bild der eigenen Vergangenheit mit historischer Tiefe zu gewinnen. Jene fernere Vergangenheit, die man sich auszumalen begann, wurde mit Heroen und Heroinen bevölkert. Dies waren fiktive Vorfahren mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, vor allem ausgestattet mit erstaunlicher Körperkraft, mit dem Besitz von Zaubermitteln und wunderbaren Tieren, und man sah sie in einem Naheverhältnis zu den Göttern, nicht selten als deren Söhne oder Töchter. Freilich galten sie als verstorben und erhielten Zuwendung in den Formen des Totenrituals.
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Vgl. unten S. 48 ff. Ausführlicher dazu Lorenz 1996.
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In der griechischen Kulturlandschaft fand diese Vorstellung Anknüpfungspunkte an mykenischen Gräbern und den Ruinen der Großbauten und Siedlungen, aber auch in Kulten und Kultplätzen mit alter, nach moderner Begrifflichkeit bronzezeitlicher Tradition. In den homerischen Epen und in den Werken Hesiods wurden einerseits bereits vorhandene Gestalten dieser Art in einer großartigen Weise erzählerisch verknüpft, andererseits haben diese Dichterpersönlichkeiten die Zahl der Heroen und Heroinen sicherlich selbst schöpferisch vermehrt. Je nach dem Ausgangspunkt der Imagination kann man in der rückblickenden Betrachtung mit folgenden wichtigen Typen von Heroen und Heroinen rechnen: • dichterische, literarische Verkörperungen von Kraft, Macht und Stärke, Klugheit und Tugend, • Eponyme für Landschaften und Gemeinschaften, • Gottheiten bronzezeitlicher, also mykenischer Herkunft, die in gewissem Sinne 'absanken' und historisiert wurden, darunter besonders viele Heroinen, • Gestalten altorientalischer (und in einer späteren Geschichtsepoche auch ägyptischer) Provenienz, die man Dank der neuen Kontakte kennenlernte, mit hellenisierten Namen versehen und mehr oder minder verändert in die entstehende Mythologie einbauen konnte. Die beiden ersten Typen von Heroen und Heroinen sind an ihrem sprechenden Namen in der Regel wohl relativ leicht erkennbar. Jene Gestalten, für welche die historische Genese aus bronzezeitlichen Gottheiten in Betracht kommt, sind gewiss nicht mit letzter Sicherheit zu identifizieren, doch kann man durchaus Indizien nennen, die in diese Richtung weisen.9 In ähnlicher Art und Weise lassen sich natürlich Indizien namhaft machen, die für eine orientalische Herkunft einer Sagengestalt sprechen. So macht es sicherlich Sinn, folgende Merkmale einer Heroengestalt als Hinweis auf altorientalische Herkunft zu betrachten: • Der Name ist nicht griechisch etymologisierbar, wohl aber als phonetische Anpassung eines orientalischen Namens zu verstehen. Dabei ist auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass eine Kultepiklese einer orientalischen Gottheit, also ein in Anrufungen
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Vgl. dazu Lorenz 1996, 48-50.
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und Hymnen oder auf Opfer- und Weihegaben verwendeter Ehren- oder Ruhmestitel, der sich auf bestimmte Funktionen beziehen kann, hellenisiert oder übersetzt werden konnte. Der Heros oder die Heroine hat bestimmte Attribute oder Begleiter, die im Orient mit einer Gestalt verwandter Funktion und Mythologie verbunden sind. Die im Zusammenhang mit dem Heros oder der Heroine überlieferten Riten enthalten Elemente, die mit dem üblichen, am Totenritual orientierten Heroenkult nichts zu tun haben, für die es aber im Orient Parallelen gibt. Die Mythen, die über den Heros erzählt werden, entsprechen orientalischen Erzählmotiven. Diese Mythen können so verstanden werden, dass sie orientalische Rituale in scheinbar historische Erzählungen übersetzen.10 Der Heros steht in mehr oder minder dichter mythisch-erzählerischer oder genealogischer Verbindung mit weiteren Gestalten, für die ihrerseits eine orientalische Herkunft wahrscheinlich zu machen ist. Der Heros wird in gemeinsamen Tempeln, Temena oder Heiligtümern zusammen mit solchen Gestalten verehrt.
Die Frage, auf welchem Wege solche Gestalten Eingang in die griechische Welt finden konnten, stellt sich auf verschiedenen Ebenen. Einerseits geht es um die Übertragung von Kulten und Riten ins reale religiöse Leben der Griechen, andererseits haben wir aber auch damit zu rechnen, dass die Dichterpersönlichkeiten sich auf ihre spezifische, eben literarische und mythenbildende Weise mit den Anregungen aus dem Osten auseinandergesetzt haben. Dabei ging es wiederum zum einen um die Kulte und Kultstätten, die innerhalb der griechischen Welt entstanden, und zum anderen um die Informationen über die Verhältnisse im Orient selbst. All diesen Aspekten werden wir im Folgenden begegnen, wenn wir nunmehr die Frage nach möglichen altorientalischen Bezügen des Asklepioskultes stellen.
10 Beispiele dieser Art gibt es in der Relation zwischen der griechischen Welt und Ägypten und in der konkreten Ausformung bei oder durch Herodot: Wir meinen die Nitokris-Geschichte, die offenbar ein Ritual im Kult der ägyptischen Neith in eine Erzählung übersetzt, vgl. Haider 2002.
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2. Asklepios und der Hund Wie erwähnt, gibt es in der Forschung bereits die Vermutung, dass die Rolle, die der Hund als Attribut und Begleiter des Asklepios spielte, auf altorientalische Anregungen zurückgehen könnte, und deshalb setzen wir hier mit unseren Überlegungen an. Zunächst sei rekapituliert, welche Belege es für die besagte Verbindung zwischen dem heilenden Heros und späteren Gott und dem Hund gibt.11 Zwar nicht die älteste, aber doch die eindeutigste Aussage, dass reale und lebendige Hunde in den Kultbezirken des Heilers Asklepios umherliefen, stammt aus den inschriftlich erhaltenen Heilungsberichten von Epidauros. Auf der dortigen Inschriftenstele B liest man Folgendes: „Ein Hund heilte einen Knaben von Aigina. Dieser hatte ein Gewächs am Hals. Als er zu dem Gott gekommen war, behandelte ihn einer von den heiligen Hunden im Wachen mit seiner Zunge und machte ihn gesund.“ 12 Die bewussten Heilungsberichte wurden gegen 300 v. Chr. von Priestern zusammengestellt und redigiert. In vielen Fällen behaupten sie, die Pilger hätten im Schlaf eine Begegnung mit dem Gott gehabt, der sie selbst behandelte oder ihnen Ratschläge gab. Es sprechen gute Gründe dafür, dass es sich dabei um Auftritte des Kultpersonals handelte, das als Traumgeschehen 'verkauft' und dabei gleichzeitig gegen rationalistische Kritik geschützt wurde. Auf die Weise wurden unter anderem Scheinoperationen im Stil neuzeitlicher indigener Medizinmänner oder philippinischer Heiler in Szene gesetzt.13 Bei der Hundebegegnung des Knaben, den man von der benachbarten Insel ins Heiligtum gebracht hatte, mussten die Priester freilich nicht vor dem Vorwurf geschützt werden, sie hätten sich als göttliche Personen verkleidet – deshalb wohl betont der Text hier ausdrücklich, dass der Patient wach war, als das Tier des Asklepios ihm das Leiden mit der Zunge wegnahm.14 Die Formulierung 'einer von den heiligen Hunden' macht es wahr scheinlich, dass die Vierbeiner tatsächlich in größerer Zahl im Temenos gehalten und möglicherweise in den Inkubationsraum geführt wurden.15 11 Vgl. generell zum Folgenden zuletzt Burkert 1992, 77; Lorenz 2000, 206-212, bes. 211f (=22013, 212-220, bes. 217f). 12 IG IV2 1, Nr. 122 = Fall Nr. 26 Herzog (Übersetzung ebd.) = T. 423 p. 226 bzw. 234 Edelstein. 13 Lorenz 1990, 155-160. Die Satire im Rahmen der Komödie geht aller Verschleierung zum Trotz davon aus, dass es sich um Auftritte des Kultpersonals handelte, vgl. Aristoph. Plut. 653ff. 14 Zum heilenden Kontakt mit der Zunge vgl. unten S. 40. 15 Das älteste größere, archäologisch nachweisbare Gebäude (Gebäude E nach Kavvadias/Burford), um 430 v. Chr. entstanden, besaß einen Hof, der durch eine Mauer mit irregulärem Verlauf geteilt war (im Sommer 2002 nach neuen archäologischen Arbeiten wieder gut sichtbar). Vielleicht sollte diese Mauer das Geschehen dahinter, also
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Die Goldelfenbeinstatue von Thrasymedes von Paros, die das Kultbild im spätklassischen Tempel von Epidauros darstellte, zeigte den Gott mit einem Stab, der eine Hand über das Haupt der Schlange oder der Natter hielt, andererseits ergänzte aber ein Hund, der ihm zur Seite lag, die plastische Gruppe. So schildert das Pausanias, und so lassen es jene Silbermünzen von Epidauros aus dem vierten Jahrhundert v. Chr. erkennen, die wahrscheinlich die Kultstatue wiedergeben wollen.16 Damit ist noch einmal dokumentiert, dass der Hund an diesem Wallfahrtsort der Natter als gleichrangiges Attribut gegenüberstand. Ein Votivrelief aus Epidauros, das sich jetzt im Nationalmuseum in Athen befindet, macht die Hunde zum Begleiter der erstmals im homerischen Epos erwähnten Asklepiossöhne Podaleirios und Machaon.17 Die kultische Bedeutung des Hundes in Epidauros wurde auch vom Verfasser jener Erzählung berücksichtigt, der die Geburtsgeschichte des Asklepios als Ursprungs- und Gründungsmythos des argivischen Heiligtums gestaltete: Koronis, die mythische Mutter des großen Heilers, sei mit ihrem Vater aus Thessalien ins Land gekommen. Sie war von Apollon schwanger und kam nun auf dem Boden von Epidauros nieder. Das Kind wurde am Berge Titthion ausgesetzt und von einer Ziege, die sich von ihrer Herde entfernt hatte, gesäugt. Auch ein Hund aus derselben Herde machte sich davon und bewachte den Knaben, bis ihn der Hirte Arasthanas auf der Suche nach seinen entlaufenen Tieren fand. Da erstrahlte das Kind in magischem Glanz und es zeigte sich, dass es alles heilen konnte.18 So schildert es Pausanias, doch erlauben Bildquellen aus Athen die Vermutung, dass die Geschichte schon um 400 v. Chr. so erzählt wurde.19 Die Ziege als Nährmutter des Asklepios ist wohl in die Geschichte gekommen, um das Verbot von Ziegenopfern für Asklepios aitiologisch herzuleiten.20 Nach einer Variante, die der Stoiker Apollodoros von Athen aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert bietet, wurde Asklepios freilich von einer Hündin gesäugt, bis
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die Aktionen des Kultpersonals und die Annäherung der Hunde und Nattern, vor den Blicken der Außenstehenden abschirmen? – Vgl. dazu Tomlinson 1983, 72f. Paus. 2, 27, 2 = T. 630.688 Edelstein; Münzen: Silber-Trihemidrachmen von Epidauros, BMC Peloponnesus, 156, Nr. 7, Abb. 29, 14; Babelon, Traité II 3, Nr. 679-681; Krause 1972, 251f, Fig. 14-18; vgl. Holtzmann, LIMC Nr. 84. Relief Nationalmus. Athen Inv.Nr. 1426; vgl. Nilsson 1906, Nr. 7; Hausmann 1948, Fig. 10; Kerenyi 1948, Fig. 15; Burkert 1992, 77. Paus. 2, 26, 3ff = T. 7 Edelstein. Vgl. dazu unten S. 33. Zu diesem Verbot vgl. Graf 1997, 97 mit Belegen.
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ihn Jäger (im Griechischen bekanntlich κυνηγέται, also wörtlich ‚Hundeführer‘) fanden. Apollodor erzählt dann weiter, das Kind sei zum Kentauren Cheiron gebracht worden, und lokalisiert damit die Geschichte in Thessalien, also im Sinne der Ansprüche von Trikka. Dementsprechend erzählt er weiter, Asklepios hätte seine Heiltätigkeit zuerst in Trikka und dann in Epidauros begonnen.21 Ein ganz wesentlicher Faktor im Aufstieg des vormaligen Heros Asklepios zum panhellenischen Heilgott war offenbar die Übertragung des Kultes aus Epidauros nach dem Piräus und schließlich weiter nach Athen. Aus dem Tempel von Piräus hat sich nun inschriftlich ein Kultgesetz erhalten, das zeigt, dass auch die kultische Rolle des Hundes von Epidauros an den neuen Kultort übertragen wurde. Vorgeschrieben wird da ein Voropfer von jeweils drei Kuchen an Maleatas, Apollo, Hermes, Iaso, Panakeia sowie zuletzt 'für die Hunde und Hundeführer' (κυσίν πόπανα τρία. κυνηγέταις πόπανα τρία).22 Burkert hat daran gedacht, dass es sich konkret um Statuen handelte, vor denen die Gaben deponiert wurden. Dies ist gut vorstellbar, doch sollte man einen sprachlichen Umstand bedenken: Das Wort 'Hundeführer' hat zwar im Griechischen, wie schon erwähnt, meistens die Spezialbedeutung 'Jäger', ist aber als Wortzusammensetzung so durchsichtig, dass man es wohl auch auf die Grundbedeutung reduzieren kann. Man kann somit auch erwägen, dass es sich um die Asklepios-Söhne Podaleirios und Machaon handeln könnte, die ja auf Reliefdarstellungen von den Tieren begleitet werden.23 Solche Reliefdarstellungen zeigen den Hund schließlich auch in Athen selbst in klarer Verbindung mit Asklepios. Besonders wichtig ist hier jene skulpierte und beschriftete Stele, die Anfang des vierten Jahrhunderts v. Chr. in Athen zur Erinnerung an die Gründung des Asklepieions durch einen gewissen Telemachos aufgestellt wurde. Dieses Denkmal wurde erst durch akribische Archäologenarbeit aus Fragmenten, die über die verschiedensten Museen verstreut sind, rekonstruiert. Die wichtigsten Publikationen dazu stammen von Otto Walter und Luigi Beschi. Das Monument bestand demnach aus einem mit ausführlicher, aber ebenfalls teilweise verlorener Inschrift versehenen Pfeiler, dessen Oberteil reliefiert war und seinerseits eine doppelseitig skulpierte Platte trug. Darauf erblickte man Hygieia, die auf der im Heiligtum vorhandenen Trapeza saß, mit 21 Apollod. Fgr.Hist 244 F 138 = Theodoret. Graec.aff.cur. VIII,19ff = T. 5 Edelstein. Vgl. Burkert 1992, 77. 22 IG II/III2 4962 = LSCG 21. 9f; vgl. Burkert 1992, 77. 23 Neben dem oben erwähnten Stück aus Epidauros vgl. u. a. auch jenes aus Athen, Nr. 68 bei Holtzmann, LIMC, und das Telemachos-Monument, dazu vgl. den nächsten Absatz. – Burkert 1992, 77 verweist darauf, dass Hunde und Hundeführer auch in der Parodie eines Kults aus der Feder des Komikers Platon vorkommen: Plat. Com. Phaon fr. 188, 16 ( = PCG p. 511 = Athen. X, 441 (p.502 Loeb)).
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Asklepios, durch medizinische Instrumente charakterisiert, und andererseits das Tor zum Heiligtum. Während Schlange und Hahn an dessen Giebelverzierung auf den Asklepioskult Bezug nehmen, hat Luigi Beschi den Storch, der auf einem Baum hinter dem linken Mauerzug sitzt, als topografische Anspielung auf das dem Asklepieion am Fuße der Akropolis benachbarte Pelargikon erkannt. Hunde erscheinen nun auf den Reliefs des Monuments gleich mehrfach: Unter der Trapeza beziehungsweise unter dem Sitz der Hygieia ruht ein mächtiger Molosser, und auf der Reliefzone des Pfeilers blicken zwei Tiere mit erhobener Pfote zu einem Asklepios-Sohn, vermutlich Machaon, auf. Dazu kommt noch eine Asklepios-Tochter in Hundebegleitung. Dahinter steckt wohl mehr als nur die „qualità eroica della scena“, von der Beschi spricht.24 Ein Bruchstück eines Votivreliefs aus dem Heiligtum am Fuße der Akropolis zeigt wiederum einen Hund zu Füßen des Podaleirios.25 Und ein weiteres solches Stück stellt ebenfalls eine Illustration zur epidaurischen Geburtsgeschichte dar.26 Schließlich ist noch darauf zu verweisen, dass ein bedeutender attischer Vasenmaler, der als Meidias-Maler bekannt ist, offenbar die epidaurische Geburtsgeschichte zum Vorwurf für die Gestaltung eines rotfigurigen Tellers genommen hat: Er zeigt den Asklepios-Knaben von der Ziege gesäugt und vom Hund des Aresthanas bewacht.27 Dies alles macht es wahrscheinlich, dass auch am Fuß der Akropolis von Athen heilige Hunde gehalten wurden.28 Auch für das Asklepios-Heiligtum von Lebena an der kretischen Südküste sowie für die Kultfiliale auf der römischen Tiberinsel gibt es entsprechende Hinweise.29 All dies zeigt wohl mit großer Klarheit, dass der Hund nicht nur als vages Kennzeichen der Heroenwelt oder als gelegentlich vorkommendes ikonographisches Attribut des Asklepios zu betrachten ist, sondern in der kultischen Realität in einer festen Verbindung zu ihm stand.
24 Walter 1930; Beschi 1967, bes. 383 (Hygieia). 389 (Lage beim Pelargikon). 417f (Machaon, Asklepios-Tochter), Abb. 1 (p.382). 9 (p.402). 10 (P.403). 22 (p.411); Holtzmann LIMC Nr. 394 mit Text und Rekonstruktionszeichnung nach L. Beschi. 25 Holtzmann LIMC Nr. 68, Nat.Mus. Athen Inv.-Nr. 2399. 26 Holtzmann LIMC Nr. 5, mit Verweis auf die Interpretation von Svoronos. 27 Holtzmann LIMC Nr. 1: Teller des Meidias-Malers, vgl. dazu auch Holtzmann p. 892. 28 Vgl. auch noch die Geschichte vom wachsamen Hund im athenischen Asklepieion Ael.nat.anim. VII, 13. 29 Vgl. Thraemer 1896, 1682; Deubner 1900, 39 (Athen, Lebena); Schmidt 1909, 45 nach Paul. Fest. 110M.
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Sie war so konstitutiv für den gesamten kultischen Komplex, dass sie auch von Epidauros nach dem Piräus und nach Athen übertragen wurde – auf jenem Weg also, der für den Aufstieg des heilkundigen Heros zum panhelleischen Heilgott so wesentlich geworden ist. Damit stehen unsere Überlegungen an jenem Punkt, an dem die Belege dafür vorzuführen sind, dass der Hund auch im alten Orient mit Gestalten verwandter Funktion verbunden war oder eine Rolle in Ritualen spielte, die der Abwehr von Krankheit und Übel dienten.30
3. Altorientalische Gottheiten und Riten mit Hunden Chronologisch am weitesten zurück reicht wohl die Beziehung zwischen der mesopotamischen Heilgöttin Gula und dem Hund. Sie, die in den Texten auch mit Baba, der sumerischen ‚Ärztin der Schwarzköpfigen‘, gleichgesetzt wurde, besaß in Nippur einen Tempel, der den sumerischen Namen É-ur-gi2-ra trug, was soviel bedeutet wie ‚Haus der Hunde‘. Auf kassitischen Grenzsteinen (kudurru) erscheint sie mit dem Hund, und ein neuassyrischer Text verspricht: „... wenn (ein kranker (unreiner) Mann) den Hund der Gula berührt, ist er (wieder) rein.“ 31 Ein Hymnus, der nach der altbabylonischen Epoche von einem gewissen Bullussarabi verfasst wurde, sehr weit verbreitet war und bis in die Seleukidenund Partherzeit immer wieder abgeschrieben wurde, setzte sie mit der sumerischen Heilgöttin Nintinugga (‚Herrin, die die Toten belebt‘) gleich und legte ihr als Selbstprädikation den Satz in den Mund: „Die Toten bringe ich aus der Unterwelt zurück.“ 32 Ansonsten kommt sie aber vor allem in Fluchformeln vor, die sie als Gottheit ansprechen, die die Menschen mit Krankheit straft, besonders aber mit Wunden, die sich wie Geschwüre ausbreiten.33
30 Das im Folgenden gebotene Material habe ich – zum Großteil – in etwas anderer Anordnung bereits vorgestellt, Lorenz 2000, 262-266 (= ²2013, 265-269). 31 Fuhr 1977, 135f.; Stager 1991, 41; Lorenz 2000, 264 (= ²2013, 267). 32 Hymnus des Bullussarabi, I 8 und (X) 179 = TUAT II 5 (1989) 759 (hier auch Angaben zur Textüberlieferung); 764. Für den Hinweis auf diese Stelle danke ich R. Rollinger. Vgl. zur Totenerweckung auch unten S. 57. 33 Fuhr 1977, 136
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Gula verkörpert damit den Typus einer ambivalenten Heilgottheit, die Krankheit sendet und auch wieder wegnehmen kann.34 Vor diesem kultgeschichtlichen Hintergrund hat man eine viel diskutierte archäologische Fundsituation beim Gula-Tempel von Isin im südlichen Mesopotamien zu sehen. In diesem Heiligtum hat man ungefähr in der Zeit zwischen 1050 und 900 v. Chr. eine gepflasterte Tempelrampe zugeschüttet und in die so gewonnene Schicht insgesamt dreiunddreißig Hundegräber eingetieft. Unter den dort beigesetzten Vierbeinern waren fünfzehn Welpen und eine Totgeburt, nur neun Tiere waren älter als eineinhalb Jahre. Unter den erwachsenen Exemplaren hatten zwei schwere, schlecht verheilte Knochenbrüche erlitten. Bei einem Tier war eine schwere Beinhautentzündung (Periostitis ossificans) eingetreten, bei einem anderen hatte sich die linke Vorderpfote im Verheilen um eineinhalb Zentimeter verkürzt. Die Hunde waren ohne Beigaben in die Erde gebettet, doch fanden sich im Bereich der erwähnten Straßenrampe Bronzeplättchen und Terrakotten, die Hunde darstellten, und eine kleine Bronzestatuette eines knienden Beters mit Hund.35 Eine fragmentierte Hundeterrakotta trug folgende Weihinschrift: „Zu Gula, der Herrin von Egalmah, / der Herrin über das Leben, der großen Ärztin …, / die Atem des Lebens schenkt, / seiner Herrin, / hat Ili...daja / gebetet, und sie hat sein / Gebet erhört … / Atanah-ili … / hat (diesen) Hund geweiht.“ 36 Diese Funde aus Isin wurden sicherlich zu Recht herangezogen, um den Sinngehalt jener babylonischen Bronzestatuetten zu eruieren, die im Heraion von Samos in Schichten des siebenten vorchristlichen Jahrhunderts gefunden wurden. Es bleibt offen, ob es orientalische Kaufleute oder Griechen mit Orienterfahrung waren, welche die Statuetten auf die ägäische Insel gebracht und sie der Hera geweiht haben.37
34 Vgl. zu den Typen von Heilgottheiten Lorenz 1988 passim. 35 Hrouda 1977, passim, bes. 17-19 (Beschreibung, Datierung ); 43ff. (Terrakotten); 52 (Bronzebleche); 97-102 (Boessneck zu den Knochenfunden). Taf. 14-17. 25; Plan 3. Ferner Hrouda 1981, bes. 9; 16; 18; 66f (Entdeckung des Gula-Tempels, Hortfund von Hundeterrakotten); Kurzbeschreibungen auch bei Driesch 1989, 19f; Stager 1991, 42, Lorenz 2000, 262f (= ²2013, 265f.). 36 Übersetzung von Edzard/Wilcke in Hrouda 1977, 90, unter Weglassung einzelner diakritischer Zeichen. 37 Zu den Funden Kyrieleis 1979, vgl. Furtwängler 1978, 113f; entsprechend interpretiert bei Burkert 1992, 75-77 mit Abb. S. 76.
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An der levantinischen Mittelmeerküste sind bei Ausgrabungen noch weitere ‚Hundefriedhöfe‘, die dem fünften vorchristlichen Jahrhundert angehören, zum Vorschein gekommen – freilich können sie nicht direkt mit einem Heiligtum und einer Gottheit in Beziehung gesetzt werden. Der größte davon, erst um 1990 von amerikanischen Archäologen entdeckt, wurde etwa zwischen 500 und 450 v. Chr. in Askalon im Süden Palästinas angelegt. Die ehemalige Philisterstadt wurde damals von einem phönikischen Statthalter, wahrscheinlich aus Tyros, verwaltet, und hatte einen kanaanäisch-phönikischen Charakter. Auf einer Fläche innerhalb der Zitadelle, die um das Jahr 450 v. Chr. mit einem großen Warenmagazin verbaut wurde, haben die Ausgräber mehr als 700 Hundeskelette gefunden; da der Westteil des Bezirks im Laufe der Jahrhunderte von der Brandung ins Meer gerissen worden ist, könnte der Friedhof aber einstens auch tausende davon geborgen haben. Die Tiere wurden alle in der gleichen Haltung – auf der Seite liegend, die Beine abgebogen und den Schwanz um die Hinterläufe gelegt – ohne Beigaben in Gruben gelegt, wobei spätere Deponierungen manchmal die früheren störten. Mit sechzig bis siebzig Prozent Welpen war die Altersverteilung fast ident mit Isin; ein Heiligtum konnte aber nicht festgestellt werden. Der Ausgräber von Askalon, Lawrence E. Stager, verweist auf weitere sieben Hundegräber der gleichen Periode im benachbarten Ashdod und in Tell Qasile (Tel Aviv); auf der Zitadelle von Berytos, dem heutigen Beirut, wurden ähnliche Funde gemacht.38 Um den Motivationen für die kultischen Beziehungen zwischen der Heilgottheit und dem Hund und für die Beisetzungen auf die Spur zu kommen, muss man sowohl vom Wesen der Gottheit als auch von der Rolle des Hundes im Alten Orient ausgehen: Gula verkörperte, wie bereits herausgestellt, den Typ der ambivalenten Heilgottheit, und so machte es Sinn, ihr ein Tier als Stellvertreter für bedrohte Personen anzubieten – ein Verfahren, das im Zweistromland auch sonst sehr beliebt war, etwa unter Verwendung von Ferkeln. Doch auch der Hund bot sich dafür an, und dies aus durchaus widersprüchlichen und schillernden Gründen. Einerseits war er Begleiter und Wächter des Menschen und im günstigen Fall stark mit einer Person verbunden; andererseits war er als Fleischtier uninteressant, und es kamen damals wie heute mehr Welpen zur Welt, als man brauchen konnte; ein materieller Verlust war also kaum gegeben, wenn man ein solches Tier der 38 Stager 1991, der Befund von Askalon 27-39, bes. 30f und 38f; die Hinweise auf Ashdod etc. 39; die Information über Beirut entstammt einem Vortrag des Ausgräbers Uwe Finkbeiner, Tübingen.
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Gottheit stiftete. Zudem gab es viele streunende Hunde – gerade unter ihnen wohl viele voll von schwärenden Wunden und Geschwüren, also von Gula geradezu gezeichnet. Oft genug leckten sie ihre Wunden und kamen letztendlich erstaunlicherweise doch davon. Geht man von solchen Motiven und Beobachtungen aus, so kann man durchaus verstehen, dass unter den erwachsenen Tieren von Isin solche mit schweren Verletzungen, die vielleicht entzündet waren und eiterten, auffallend stark vertreten waren. Aber auch die Dominanz von Welpen überrascht nicht – verstärkt wurde sie womöglich dadurch, dass man sie besonders gern benutzte, um Gefahr von Kindern abzuwenden. Doch in welcher Art und Weise wurden die Tiere der Gottheit übereignet? Vielleicht wurden sie einfach in den Tempelbezirk verbracht. Sie lebten dann dort als Eigentum der Gula, die deshalb als Hundeführerin dargestellt werden konnte, und sie wurden nach ihrem natürlichen Tod im vorgesehenen Bereich begraben. Denkbar ist es aber auch, dass man sie auf unblutige Art getötet hat – grobe Gewalt wäre ja an den Skeletten sichtbar. Den konkretesten Hinweis gibt wohl eine Stelle im Jesaja-Buch, verfasst im fünften oder vierten vorchristlichen Jahrhundert und damit zeitlich und räumlich gar nicht weit entfernt von der Anlage in Askalon. Sie wendet sich gegen nichtjüdische Kultbräuche und listet dabei in Stichworten vielerlei auf, um schließlich auch Hundetötungen zu erwähnen: „Man schlachtet einen Stier, man tötet einen Menschen, man opfert ein Schaf, man erwürgt einen Hund ..“ 39 Die vielen Hundevotive aus unterschiedlichem Material sowie die Darstellungen von Männern mit Tieren vertreten dann die realen Opfertiere und deren Stifter. Im westsemitischen Bereich, also insbesondere in Syrien und Phönikien und in deren Ausstrahlungsbereichen wie Kilikien und Zypern, dominierten im späten zweiten und ersten vorchristlichen Jahrtausend ambivalente Heilgottheiten männlichen Geschlechts, so zum Beispiel Rešep, Mukol und Eshmun. Rešep ist für unsere weiteren Überlegungen besonders bedeutsam. Er lässt sich in der altsyrischen Stadt Ebla bis in die Texte des dritten vorchristlichen Jahrtausends zurückverfolgen.40 Aus den keilschriftalphabetischen Texten aus Ugarit (13. Jhdt. v. Chr.) ergibt sich unter anderem, dass man ihn in dieser Stadt mit dem mesopotamischen Unterwelts39 (Trito)-Jesaja 66,3. 40 Unter der Namensform Rasap, vgl. Haas 1994, 546-548.
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und Seuchengott Nergal parallelisierte, dass er monatliche Opfer erhielt und dass seine Statue ebenso wie jene der sogenannten hurritischen Astarte oder der ‚Astarte des Feldes‘ bei einem großen Festritual in den Königspalast überführt wurde. Beim Empfang der hurritischen Astarte musste sich der König von Ugarit in hurritische Gewänder kleiden, um der Göttin zu bieten, was sie erwarten konnte.41 Hier gerinnt die Verbindung mesopotamischer, westsemitischer und anatolischer Elemente, die für diese Region typisch ist, gleichsam zur Szene. Es illustriert im Übrigen die Ambivalenz des Rešep, dass ein ugaritischer Mythos die Auslöschung eines Teils der Königsfamilie auf ihn zurückführt, und dass eine Beschwörung Baal anfleht, seine Pfeile abzuwehren,42 während andererseits theophore Personennamen ihren Trägern den Schutz vor Seuchen vermitteln sollten.43 Anscheinend vermutete man den Wohnort des Gottes in Anatolien, und zwar in der sonst unbekannten Stadt Bibit(u) und damit dort, wo auch die Hethiter den Hauptsitz ihres Schutzgottes Nubadig ansetzten.44 Jener Beschützer der Hethiter teilte mit dem westsemitischen Gott im Übrigen auch mehrere Beinamen, die auf den militärisch-kriegerischen Aspekt der beiden Gestalten hinweisen: ‚Nubadig des Bogens‘, ‚des Kriegers‘, ‚des Heeres‘, ‚des Schildes‘.45 Doch nicht nur in Ugarit wurde Rešep verehrt; auch in Sidon war im ersten vorchristlichen Jahrtausend ein Stadtteil nach ihm benannt, man verehrte ihn ebenfalls in Karatepe, und im nordsyrischen Sam'al stellte er eine der Hauptgottheiten dar.46 Mukol begegnet im spätbronzezeitlichen Palästina in Beth Šean,47 während Ešmun im ersten Jahrtausend in Sidon eine herausragende Rolle spielte.48
41 KTU 1.47,27 und 1.118,26 (Götterlisten in Keilschrift) in Verbindung mit RS 20.24,26 (akkadische Götterliste aus Ugarit); KTU 1.43 (= TUAT II,3 p. 326f); 1.91; 1.148; vgl. Haas 1994, 557f.; Niehr 1998, 41; ebd. 52 auch Parallelwiedergabe der Götterlisten. – Zu Nergal als Seuchengott und zu Rešep vgl. Schretter 1974, 88-98; 111-130 mit zahlreichen Belegen. 42 Beschwörung I auf der Sammeltafel KTU 1.82, Zeile 3 (= TUAT II,3, p. 337, Übersetzung von Dietrich/Loretz): „Ba’al [weh]re die Pfeile des Raschap ab,/ erkenne, wenn er sie auf ihr Leibesinneres (wörtl. ihre Nieren und ihr Herz) losschießt!“ 43 KTU 1.14 (Schicksal der Familie des Königs Kirtu), 1.107,156, vgl. 1.100,30-34 (theophore Namen). Dazu Niehr 1998, 36. 44 KTU1.100,30-31 (Die Sonnengöttin sucht Rašpu in Bibitu) (= TUAT II,3 p. 347 (Übersetzung von Dietrich/ Loretz)); vgl.KTU 1.115,11; 1.171,3, dazu Barré 1978, 467 mit Anm. 32; Niehr 1998, 75. 45 Barré 1978, 466f mit Belegen. 46 KAI 15; KAI 214,2-3.11.18; 215,22; vgl. Barré 1978, 466; Niehr 1998, 123; 160. 47 Möglicherweise handelt es sich um eine Lokalversion des Rešep, in der Ikonographie unter starkem ägyptischem Einfluss, vgl. dazu Niehr 1998, 99f. 48 KAI 14,17; 15.16; vgl. Niehr 1998, 123.
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Es gibt, wie bereits mehrfach gesehen wurde, einen Hinweis, dass diese männlichen Seuchen- und Heilgottheiten Syriens und Phönikiens in ähnlicher Weise mit dem Hund verbunden wurden wie die mesopotamische Gula. Es handelt sich dabei um eine phönikische Inschrift der Zeit um 450 v. Chr. auf einer Kalksteinplatte aus Kition, der Phönikerstadt auf Zypern. Sie nennt unter der ‚Belegschaft‘ des dortigen Tempels für Astarte und den zuvor genannten Mukol Hunde (klbm) und Welpen (grm).49 Wir fügen hinzu, dass im zweiten Jahrtausend auch in den Heiligtümern verwandter hethitischen Gottheiten Hunde gehalten und mit spezieller Nahrung versorgt wurden: Dies gilt für Jarri, den hethitischen Pest- und Kriegsgott, den ‚Herrn des Bogens‘ und ‚Gott der Vernichtung‘, der zusammen mit der ‚Ištar der Flur‘ Muršili in die Schlacht vorausgeeilt sein soll, und für die große Göttin Nikkal/Niggalu. Die Hunde bekamen Gebildbrote in Gestalt von Schiffchen zu fressen, die mit einer genau vorgesehenen Fülle versehen waren: Blut, Fettstücke vom Schaf, Gerstenbrei, Grütze und Bröckchen eines bestimmten Brotes.50 Doch zurück nach Zypern: Manfred Schretter und Walter Burkert haben darauf aufmerksam gemacht, dass die transkulturellen Beziehungen vom phönikischen Kition weiter zu den zypriotischen Griechen gelaufen sind: in Idalion nämlich, das Kition im Inneren der Insel benachbart war, ist eine Gleichsetzung von Rešep-Mukol mit dem griechischen Apollon belegt, der hier den Beinamen Amuklos erhielt.51 Es ist hier nicht der Ort, umfassend über die Basis und die Gründe für diesen Synkretismus zu reflektieren, doch sei immerhin auf einen Aspekt besonders hingewiesen: Eine wesentliche Funktion Apollons war ohne Zweifel die des Initiationsgottes für die heranwachsenden jungen Männer – und zwar eine Funktion, die eng mit dem Charakter der kaum stratifizierten griechischen Gesellschaft der ‚Dark Ages‘ verknüpft war und keine religionssoziologische Parallele im Alten Orient hatte. Insofern greifen wir hier wohl eine genuin griechischen Komponente des Gottes. Da sich die Initiation der jungen Leute aber nicht zuletzt in Form einer rituell und festlich ausgestalteten Jagd unter Anleitung älterer Männer abspielte, ergaben sich für den Gott, der darüber wachte, zwanglos bestimmte Attribute – neben dem jugendlichen Erscheinungsbild und der festlichen Lyra insbesondere Pfeil und Bogen und – eben der (Jagd-) Hund.52 Das passte vortrefflich 49 CIS 86; vgl. dazu Schretter 1974, 157f.; Burkert 1975; Stager 1991, 39f mit Abb. der Inschrift und älterer Literatur. 50 Zu Jarri KBo 1.3 + Rs. 19; 5.8 Rs. III 29; KUB 19.37 Vs. II 40 (= AM 159, 171) und KUB 41.17, Vgl. Haas 1994, 369; zu Nikkal/Niggalu (bzw. sumerisch NIN.GAL) KUB 45.47 + Bo 4186 (= ChS I/3.1 1994, Nr.70) Rs III 16‘-20‘, vgl. Haas 1994, 376. 51 Idalion: Donner/Röllig 1966/69, Nr. 34; Schretter 1974, 151-173, bes. 155ff; Burkert 1975 passim. 52 Mehr zu Initiation und Jagd: Lorenz 2000, 304-307 (= ²2013, 303-306).
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zur Ikonographie und zum Kult eines Rešep-Mukol und hat wohl die Identifikation der beiden Gottheiten sehr erleichtert. Das Ergebnis war eine Gottheit mit sehr vielen und unterschiedlichen, ja widersprüchlichen Funktionen und Konnotationen – und dies gilt selbst für die Hunde in ihrem Gefolge. Vorläufig halten wir aber eines fest: Es zeichnet sich unübersehbar eine Brücke von Rešep/Mukol zu Apollon und von diesem zu seinem griechischen Kultgenossen beziehungsweise Kultnachfolger, also zu Asklepios und seinen Hunden ab! Doch es gibt noch einen zweiten Strang von Überlieferungen und Relikten, die den Hund als Lebewesen zeigen, das im Rahmen ritueller Abwehr von Krankheit und Übel eingesetzt wurde. Wir meinen die einschlägigen hethitischen Rituale, die unter anderem dadurch auffallen, dass sie mehrmals davon sprechen, das Tier sei zu zerteilen oder zu verbrennen – eventuelle archäologische Spuren dieses Tuns müssten dies also erkennen lassen.53 Im Prinzip unterscheiden die Ritualtexte terminologisch genau zwischen dem Anliegen, das Tier gleichsam als Ersatz oder Tauschobjekt statt des Betroffenen preiszugeben – für eine solche Substitution wird das hethitische Wort tarpašša (luwisch: tarpalli) verwendet – oder es gleichsam als Vehikel für den Abtransport des Übels zu benützen. Für letzteres, die Elimination, steht der churritische Terminus nakušši. In der Realität sind die Ritualhandlungen freilich nicht immer eindeutig dem einen oder dem anderen Typ zuzuordnen, zumal beide mit dem Tod des eingesetzten Tieres enden konnten. Immerhin gilt, dass nakušši-Rituale auch mit minderwertigen oder ausgefallenen Tieren vollzogen werden konnten.54 Das Motiv, dass der Hund die Krankheit ablecken kann – es begegnete uns in den Heilungsberichten von Epidauros – wird mit besonderer Deutlichkeit und wiederholt in einem Beschwörungsritual ausgesprochen, das einem Priester namens Zuwi zugeschrieben wurde: „Wie das Hündchen seine neun Gliedmaßen ableckt, ebenso soll es – ich nenne den Menschen bei seinem Namen – auch die Krankheit von dessen Gliedmaßen ablecken. Ich husche von hinten an ihn heran … Und ein Hündchen halte ich an seinen Kopf … Die Krankheit soll es ablecken.“ 55
53 Das Material auch in diesem Fall von mir schon einmal dargeboten: Lorenz 2000, 143-146 (= ²2013, 154-157). 54 Z. B. Mit Vögeln, Fischen, Mäusen oder Eidechsen, vgl. Haas 1994, 895-897 mit zahlreichen Beispielen. 55 KUB 35.148 Rs. III 14-28 (CTH 412); vgl. Collins 1990, 214f mit Text in Umschrift; Haas 1994, 901.
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In diesem Fall erfahren wir nicht, was mit dem Welpen weiter geschieht, wohl aber in anderen Fällen. So heißt es im Ritual einer Beschwörerin, ein Ferkel sei zwischen den Betroffenen und dem Auftraggeber des Rituals hin und her zu schwenken, zu töten und dann mit Wein und Gebäck zu begraben. Dann wird auch ein kleiner Hund zum tarpalliSubstitut erklärt, die Ritualherren spucken ihm ins Maul, sodann wird er getötet und ebenfalls vergraben.56 Ein analoges Ritual für den hethitischen König und die Königin apostrophiert den Welpen als 'Esel', der das Übel wegtragen soll und sagt, dass das Hundejunge nachher zerteilt werden müsse.57 Wenn das Heer der Hethiter eine Niederlage erlitten hatte, nahm das Ritual eine besonders aufwendige und schaurige Form an: „Wenn Truppen vom Feind besiegt werden, dann richtet man hinter dem Fluss das Ritual folgendermaßen her: Hinter dem Fluss schneidet man einen Menschen, ein Zicklein, einen kleinen Hund (und) ein Ferkel mitten durch und legt auf die eine Seite die (einen) Hälften, auf die andere die (anderen) Hälften hin. Davor macht man ein Tor aus Weißdorn und zieht eine Schnur quer darüber. Daraufhin zündet man vor dem Tor auf der einen Seite ein Feuer an (und) auch auf der anderen Seite zündet man ein Feuer an. Die Truppe geht mitten durch.“ 58 Falls das Heer auf seinem Marsch ungünstigen Vogelzeichen begegnete, reagierte man ähnlich, doch beschränkte sich der Aufwand auf einen Ziegenbock und einen Welpen.59 Im hethitischen Bereich sind bisher archäologisch noch keine Hundebeisetzungen nachgewiesen, die direkt mit solchen Ritualen in Verbindung zu bringen wären. Es gibt allerdings einen Fundkomplex aus wesentlich späterer Zeit, der wie eine Illustration zu diesen Texten wirkt. Er stammt aus der lydischen Hauptstadt Sardes und ist etwas vage datiert; die größte Wahrscheinlichkeit spricht aber für das sechste Jahrhundert v. Chr. Es handelt sich um dreißig kleine Gruben beziehungsweise Depots im sogenannten ‚Lydian trench‘ mit jeweils fast identischem Inhalt: eine Weinkanne, ein Becher sowie eine flache
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CTH 404; KUB 32.115+, Vs. II,50-54; vgl. Collins 1990, 218 (mit Text in Umschrift); Haas 1994, 908. KBo 4,2 II 5-14 und 61-62; Collins 1990, 217 (Text mit Umschrift) KUB 27.28 Rs. IV 45-52; vgl. Kümmel 1967, 151; Collins 1990, 219f (Text mit Umschrift); Haas 1994, 899. KBo 23.8 bv. 9-18; Collins 1990, 213.
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Schale und ein Eisenmesser waren jeweils um einen Krug gruppiert, in dem sich ein zerschnittenes Hundebaby befand.60 Wir fassen zusammen: Es gab im Alten Orient vom dritten bis ins erste vorchristliche Jahrtausend Kultstätten für Seuchen- und Heilgötter, an denen Hunde gehalten wurden, und Orte, wo die Tiere begraben wurden – vor allem Welpen oder solche Exemplare, die durch Krankheit und Wunden gezeichnet waren. Wie diese Tiere zu Tode kamen oder gebracht wurden, ist freilich nicht klar; es gibt jedoch keine Spuren für den Gebrauch von Messer oder Beilen. Insgesamt handelt es sich um eine Tradition, die allem Anschein im sumerischen Mesopotamien ihren Ausgang nahm und im westsemitischen Bereich und Zypern, aber auch im hethitischen Anatolien ihre Fortsetzung fand. Daneben gibt es Belege für blutige Hundetötungen mit dem Ziel, bedrohlichen Mächten einen Stellvertreter für gefährdete Personen anzubieten oder aber ein Übel, das auf das Tier übertragen worden war, mit diesem zu entfernen und zu vernichten. Hier handelt es sich, nach der Quellenlage zu schließen, um eine anatolische Tradition. Die Welt Phönikiens, Nordsyriens und Kilikiens bildete spätestens seit dem 14. Jahrhundert v. Chr. und ins erste Jahrtausend hinein eine Kontaktzone, in der sich diese Traditionen verbinden konnten. Zugleich war dies der Bereich, aus dem Orientalen im ersten Jahrtausend westwärts fuhren, und in dem die Griechen des achten und siebenten Jahrhunderts diese Traditionen im persönlichen Zusammenleben kennenlernen konnten. In einem nächsten Schritt soll gezeigt werden, dass die Hundetötungsrituale, die in der ‚klassischen‘ griechischen Welt vollzogen wurden, im Hinblick auf Motive, allenfalls angesprochene Gottheiten und Details des Vollzugs in deutlichem Konnex zu den anatolischen Belegen stehen.
4. Hundetötungsrituale in Griechenland Aus den Quellen zur Geschichte der griechischen Religion ist uns eine Reihe von Nachrichten über Hundetötungsrituale erhalten, die über verschiedene sachliche Querverbin-
60 Hanfmann 1962/63; Greenewalt 1978; Zusammenfassung auch bei Day 1984, 25
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dungen zum Gesamteindruck führt, dass hier Einflüsse kleinasiatischer Provenienz wirksam waren, die letztlich auf die Rituale der Bronzezeit zurückgehen könnten. In einem ersten Fall ist es die schaurige und ausgefallene Gesamtinszenierung: Curtius, Livius und Plutarch berichten uns von boiotischen und makedonischen Ritualen, bei denen das Heer beziehungsweise die Bürgerschaft zwischen dem Vorder- und dem Hinterleib eines in der Körpermitte auseinander gehauenen Hundes hindurchzog.61 Die Parallele zu den erwähnten Ritualen für das hethitische Heer nach einer Niederlage beziehungsweise nach ungünstigen Vogelzeichen ist so offensichtlich, dass an eine unabhängige Entstehung schwer zu denken ist. Die Anlässe, nämlich der Tod Alexanders des Großen, und ein Akt, der mit dem lateinischen Terminus 'lustratio' umschrieben wird, fügen sich durchaus zu den Situationen, in denen das hethitische Ritual greifen sollte. Freilich enthalten die Quellen selbst in diesem Fall keinen Hinweis auf eine kleinasiatische Herkunft der magischen Vorschriften oder auf den Vermittlungsweg, auf dem diese nach Griechenland gekommen sein könnten. Kaum anders liegen die Dinge, wenn man bei Pausanias liest, jede Abteilung der spartanischen Epheben hätte bei ihren Kriegsspielen dem Enyalios im Phoibeion unweit von Therapne nächtens einen jungen Hund als Opfer dargebracht.62 Pausanias rationalisiert, der Hund werde geopfert, weil dem wehrhaftesten der Götter wohl auch das wehrhafteste Haustier genehm sei, und erzählt noch, die Epheben würden anlässlich des Opfers abgerichtete Eber aufeinander loslassen. Als Zweck des Hundeopfers ist aber doch anzunehmen, dass die jungen Männer ganz analog zu den einsatzbereiten oder kämpfenden Truppen vor bedrohlichen Mächten oder Wesen, die sich an ihre Fersen heften mochten, gefeit gemacht werden sollten, und dass sie dieses Ritual bei der Einführung ins Kriegshandwerk kennenlernen sollten. Schließlich ist anzumerken, dass Enyalios niemand anderer ist als der Kriegsgott Ares unter einem Namen, der möglicherweise kleinasiatischer, nämlich karischer Herkunft ist.63 Was Pausanias als Opfer für diesen Gott bezeichnet, müsste man als Religionshistoriker wohl präziser als Tötungsritual mit substituierender oder elimina-
61 Curtius 10,9,12 (Makedonien, beim Tod Alexanders des Großen); Livius 40,6 (182 v. Chr., Makedonien); Plut. qu.R. 111 (Boiotien); vgl. Nilsson 1967, I,106. Nicht als Abwehrritual, sondern als grausame Form der Todesstrafe begegnet eine analoge Szene als Bestrafung des Pythios durch Xerxes bei Herodot (7,39). 62 Paus. 3,14,9 63 Fauth 1964a, Sp. 527
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torischer Funktion in jener Sphäre, über die der Kriegsgott wacht, umschreiben.Solche Unschärfen in der Diktion später antiker Quellen sind aber bekanntlich gang und gäbe. Recht ähnlich liegen die Dinge bei der nächtlichen Opferung junger schwarzer Hunde, die im Kult der Göttin Hekate beziehungsweise Enodia ihren Platz hatte. Pausanias nennt sie als Besonderheit neben den eben besprochenen spartanischen und lokalisiert sie im kleinasiatischen Kolophon.64 Wieder ist die Funktion dieser Tiertötungsrituale leicht aus dem Wesen der göttlichen Adressatin zu verstehen. Hekate ist die halb dämonische, halb göttliche Herrin der Gespenster und Verfolgerin der Blutbefleckten, Mörder und Totschläger; als Enodia waltete sie, wie der Name sagt, en hodois, auf den Wegen oder Wegkreuzungen. Aus der hippokratischen Schrift ‚Über die heilige Krankheit‘ wissen wir, dass sie auch als Urheberin epileptischer Anfälle betrachtet wurde.65 Es machte ebenso Sinn, ihr und ihrer Meute ein Ersatzopfer preiszugeben, wie dies zum Schutze von Heeren und Soldaten Sinn machte. Nun gibt nicht nur die Lokalisierung der Hundeopfer in Kolophon Anlass, die Wurzeln und Vorbilder der griechischen Hekate in Kleinasien zu suchen. Es scheint auch, dass Hesiod eine besondere Beziehung zu ihr hatte, die aus den Versen 411-432 seiner Theogonie spricht.66 Das mag mit seinem biographischen Hintergrund zusammenhängen, denn seine Familie stammte aus dem karischen Kyme, und es ist klar, dass er auch andere orientalische Motive ins Griechische übertrug. Hekata begegnet schließlich auch noch als Beiname der Artemis, die über die Geburten wacht. Sie steht damit mit Eileithya oder Elioneia (so ihr Name in Argos) in der Reihe jener Göttinnen, die die schicksalhaften Stunden für Mutter und Kind regierten – Situationen, in denen die Griechen ebenfalls Hunde, und insbesondere Welpen, opferten.67 Wieder ist hier der Gedanke des Ersatzopfers wohl die beste Erklärung: Anstelle des bedrohten Kindes, vielleicht aber auch für die Mutter, sollte der kleine Hund den lauernden Mächten preisgegeben werden.68
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Paus. 3,14,9. Zum Hundeopfer für Hekate vgl. Kraus 1960, 25; Day 1984, 27f mit Literatur mor. sacr. 1,35 und 1,38 (Krankheitsbilder mit Kotabgängen und Angstzuständen). Vgl. dazu Burkert 1977, 266. Die Verse werden teilweise als Interpolation betrachtet, doch vgl. West 1966, 276-280. Artemis Hekata, die über Geburten wacht, bei Aischyl.Hiket. 675f; vgl. Nilsson 1967, I, 725 Im Rahmen dieser Vorstellung sind Gottheiten als Adressaten im Grunde überflüssig. Die Verbindung des Rituals mit dem Kult der Geburtsgöttin ist möglicherweise sekundär; eine andere Möglichkeit ist die, dass Eileithyia und die anderen Göttinnen nicht rein positiv als Helferinnen, sondern als ambivalent und damit potentiell bedrohlich aufgefasst wurden.
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In der Summe ergibt sich aus dem zuletzt ausgebreiteten Material meines Erachtens ein recht geschlossenes Bild für die Herkunft der Hundetötungsrituale in Griechenland: Die Riten, die Gefahren von den Heeren abwenden sollten, liefern so komplexe Parallelen zu den hethitischen Fällen, dass an Zufälle kaum zu denken ist; die ‘Opfer’ für Enyalios gelten einer Gottheit wohl kleinasiatischer Provenienz mit dem Funktionsbereich Krieg und Heer und lassen an analoge Anlässe denken. Hekate, eine Göttin mit starken kleinasiatischen Bezügen, erhält die Opfer in Bedrohungssituationen, die jenen der Heereslustrationen eng verwandt sind, und auch die Hundetötungen zugunsten der Gebärenden und ihrer Kinder werden unter einem verwandten Bedrohungsbild vollzogen. Man ist doch wohl berechtigt, die These zu formulieren: Hier ist ein ritueller Komplex, der schon im bronzezeitlichen Kleinasien entstanden ist, von den Griechen übernommen worden. Die nächstliegende Vermutung zum Vermittlungsweg wird sich auf das Nachleben hethitischen Erbes in den sogenannten späthethitischen Staaten Kilikiens und Syriens und auf die intensiven griechischen Kontakte mit dieser Zone ab ca. 750 v. Chr. beziehen. Es wurde schon dargelegt, dass in Kilikien und Syrien in der genannten Epoche zwei Traditionslinien zusammenliefen und aktuell waren: Präsenz und Beisetzung von Hunden in heiligen Bezirken von Heil- und Seuchengöttern wie Gula und Rešep (nicht notwendig verbunden mit Tötungsritualen), eher mesopotamischen Ursprungs, sowie drastische Hundetötungs- und Zerstückelungsrituale mit dem Charakter von Ersatzopfern zur Abwehr drohenden Übels, eher aus dem hethitisch-churritischen Ritualschatz stammend. Die Übertragung der letztgenannten Tradition nach Griechenland lässt sich anhand der eben besprochenen Riten verfolgen. Bei den Hunden als heiligen Tieren haben die bisherigen Überlegungen und religionsgeschichtlichen Linien bis zu Rešep beziehungsweise Apollon Amuklos in Kition und Idalion geführt, und eine beiläufige Parallele zu den Hunden des Asklepios, der als Sohn eben dieses Apollon galt, ist festgestellt. Damit stehen wir vor dem nächsten Gedankenschritt und dieser betrifft den Namen des Asklepios.
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5. Thesen 5.1 Der Name Asklepios: Der Heiler mit dem Hund Der Name des Asklepios hat sich bislang einer befriedigenden etymologischen Herleitung und Deutung entzogen.69 Hier sei nun eine Deutung zur Diskussion gestellt, die davon ausgeht, dass es sich um eine griechische Neubildung in Anlehnung an semitische Vokabeln handelt. Zunächst ist festzuhalten, dass der Name des Heros beziehungsweise des Gottes in zahlreichen phonetischen Varianten belegt ist – was schon für sich genommen einen Hinweis darauf darstellt, dass er aus einem fremden Idiom übernommen, der griechischen Zunge nicht gemäß und in seiner Bedeutung für viele Sprecher oder Schreiber undurchsichtig war. Neben dem Ἀσκληπιός der Ilias und der anderen literarischen Quellen steht der Αἰσχλαβιός einer Bronzestatuette aus einem Fund aus Bologna; in Epidauros ging man anscheinend während des fünften vorchristlichen Jahrhunderts von der Form Αἰσκλαπιός auf Ἀσκλαπιός über, außerdem finden sich noch Ἀσχλαπιός in Orchomenos und Ἀγλαπιός in Thalamai.70 Hier sei nun vorgeschlagen, hinter diesen Formen zwei Wörter aus den Sprachen des Alten Orients anzusetzen, die im Akkadischen als asû(m) ‚Arzt‘ und kalbu(m) ‚Hund‘ belegt sind.71 asû(m) wurde in der Form ’asja ins Aramäische übernommen. Es bezeichnet tendenziell eher den praktisch tätigen Heiler, während eine weiterer Terminus, akk. (w)ašipu, eher den Beschwörer meinte; in der Praxis waren die beiden Sphären freilich nicht so scharf getrennt.72 kalbu(m) lautete im Ugaritischen wohl /kalb-/ und im Syrischen kleb, im Hebräischen khleb-.73 69 Vgl. Fauth 1964b, Sp.644f mit älterer Lit.; Burkert 1992, 78. 70 Αἰσκλαπιός: IG IV I2, 136, Epidauros; Anf. 5. Jhdt., vgl. Kavvadias, Fouilles d’Epidaure 37, Nr. 8 und 10, vgl. IG IV 1202f; Troizen: IG IV 771. Αἰσχλαβιός: Inscriptiones Graecae Antiquissimae 549, Bronzestatuette aus Fund bei Bologna, 5.Jhdt.. Ἀσκλαπιός: IG IV 1204, Epidauros, etwa Mitte 5.Jhdt.. Ἀσχλαπιός: IG VII 3191, Orchomenos. Ἀγλαπιός: Dickins 1904/05, 131f, Thalamai. Zu den Belegen vgl. Schmidt 1905, 40; Fauth 1964b 644, dort auch schon der Hinweis, dass die Formenvarianz auf fremde Herkunft hinweist. 71 AHw 76 und 424f. 72 Über die begriffliche Trennung vgl. Ritter 1965. 73 Köhler-Baumgartner, Hebr.Wb. – Für eingehende philologische Auskünfte, auf die ich mich hier stütze, danke ich Manfred Schretter und Robert Rollinger. Es sei nicht verhehlt, dass Kollege Schretter meiner These der
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Eine griechische Wort- beziehungsweise Namensschöpfung Ἀσκλαπιός oder Ἀσκληπιός hätte demnach die Bedeutung ‚Arzt‘ oder, neutraler, ‚Heiler mit dem Hund oder mit Hunden‘ gehabt. Sie wäre sehr gut geeignet gewesen, als Name einer Gestalt zu dienen, die im Wissen um die kultische Verbindung einer Göttin Gula oder eines Gottes Rešep mit dem Hund oder um die Methoden orientalischer Beschwörungspriester bei der Abwehr von Seuchen und Übeln konzipiert wurde und Exotisches in sprachlich gräzisiertem Gewand repräsentierte. Um diesem Vorschlag zu folgen, darf man sich nicht daran stoßen, dass im Akkadischen und im Aramäischen bisher kein entsprechendes Kompositum belegt ist, und man muss auch phonetische Veränderungen, insbesondere eine Umformung von ’asja oder einer ähnlichen Lautgestalt zu Ais- und von kal(a)b zu klap oder klep vielleicht im Anschluss ans Syrische im Zuge der Übernahme ins Griechische für möglich halten. Hier dürfen nun meines Erachtens die überzeugenden Argumente Geltung beanspruchen, die Walter Burkert in seiner ‚Orientalizing Revolution‘ vorgetragen hat. Zahlreiche Beobachtungen und Beispiele belegen nämlich, wie frei die Griechen mit sprachlichem Material aus dem Alten Orient umgegangen sind, um es der eigenen Sprache anzupassen. Diese Beobachtungen haben Burkert bekanntlich darin bestärkt, den Beinamen Asgelatas, den Apollon nach inschriftlichen Zeugnissen auf der Insel Anaphe bei Thera/ Santorin geführt hat, vom akkadischen ašu gallatu (‚großer Arzt‘) herzuleiten. Dies stellt eine sachliche und sprachliche Parallele zu unserer These dar.74 Inhaltlich handelt es sich auch hier um die griechische Modifikation einer Epiklese beziehungsweise Funktionsbeschreibung für die Gottheit in ihrer heilenden Rolle. Lautlich wird auch hier mit einer Verschiebung von a > e gerechnet, die in zahlreichen anderen Beispielen von Übernahmen orientalischer Termini zu beobachten ist. Unter den Beispielen, die Burkert anführt, sind wohl daleth > delta und aramäisch laqna > lekane besonders eingängig.75 Bei den Namensvarianten Ἀσκλαπιός und Ἀσκληπιός entspricht die geografische Verteilung zudem Übernahme als griechischer Name skeptisch gegenübersteht; ich trage sie hier aufgrund meiner Einschätzung der griechischen Reaktionen auf sachliche und sprachliche Vorlagen dennoch vor. 74 Burkert 1992, 77f. Dem Verfasser ist der Gedanke zur Deutung des Asklepios-Namens zunächst spontan bei der Beschäftigung mit orientalischen Texten zur Verwendung des Hundes in Kult und Magie gekommen. – Die frühe, aber doch jüngere Nebenform, Aiglatas bildet eine schöne Parallele dazu, dass ein Zweig der Überlieferung, repräsentiert durch Isyllos von Epidauros, dem Asklepios eine Mutter Aigle geben wollte (Isyllos paian D 10,19). 75 Burkert 1992, 36 und 82. Außerdem verweist er auf Gallu > Gello, Kubaba > Kubebe, Baal > Belos, Mada > Medes und hält dementsprechend auch taw(a)tu > Tethys für möglich, Burkert 1990, 82 und 93.
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den Dialektregionen, die Variante Ἀσκληπιός passt ins Ionische der homerischen Sprache. In der Anlautvariante von Αἰσκλαπιός – sie hat bekanntlich auf das Lateinische weitergewirkt – könnte noch das j der aramäischen Form ’asja nachwirken, wobei wieder auf die parallele Nebenform Aiglatas zum Asgelatas des Apollon von Anaphe zu verweisen ist. Wir arbeiten im Folgenden mit der Hypothese, dass der Name ‚Asklepios‘ in etwa ‚der Arzt‘ oder ‚der Heiler mit dem Hund‘ bedeutet. Nach allem, was oben über die kultische Bedeutung des Hundes dargelegt wurde, ist es wohl klar: Mit diesen Worten ließ sich ein Aspekt beziehungsweise eine Funktion einer Heilgottheit vom Typus des Rešep sehr gut bezeichnen; auch als kultische Anrede, Anrufung oder Titulatur (Epiklese) einer solchen Gottheit sind sie gut vorstellbar. Denkbar freilich wäre es auch, dass eine solche Bezeichnung an Heilern hing, die unter Berufung auf Rešep oder eine verwandte Gottheit tätig wurden und bei von ihnen vollzogenen Ritualen ‚mit Hunden arbeiteten‘. Wie der rituelle Einsatz von Tieren aussehen konnte, wissen wir aus den oben besprochenen Quellen. Solche Riten konnten wiederum in einem Tempelbezirk vollzogen werden, sie könnten aber auch charakteristische Methoden im Repertoire jener ‚orientalischen Wanderpriester‘ gewesen sein, über deren mögliches Auftreten im früharchaischen Griechenland seit entsprechenden Vermutungen Walter Burkerts in der Forschung immer wieder nachgedacht wird.76 Damit ergibt sich die These: Der Name Asklepios bezeichnet eine Gestalt, die direkt aus orientalischen Gottheiten und Riten abgeleitet wurde.
5.2. Mythen und Kulte um Asklepios im Lichte der Orient-These Im Folgenden gilt es zu prüfen, wie sich diese These mit den Informationen verträgt, die uns die älteren griechischen Quellen über Asklepios liefern, und ob sie sich dadurch bewährt, dass sie uns hilft, bestimmte Details besser zu verstehen. Gleichzeitig soll untersucht werden, ob sich die Indizien für einen altorientalischen Ursprung der AsklepiosGestalt im Sinne des einleitend aufgestellten Katalogs ergänzen und vermehren lassen. Auch die Gegenprobe anhand des boiotischen Askalaphos soll nicht übersehen werden.
76 Vgl. dazu u. a. Rollinger 1996, 202-210
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5.2.1. Die älteren Asklepios-Mythen und frühe Kultpartner des Asklepios Asklepios existierte, wie bereits festgestellt, in der griechischen Literatur gut zwei Jahrhunderte lang implizit oder explizit als Heros. Die Belege aus dieser Phase seien als Basis für die weiteren Überlegungen zunächst etwas genauer rekapituliert. Die einzige Stelle im fortlaufenden Erzählzusammenhang der Ilias, an der Asklepios – freilich nicht als handelnde Person – mit mehr als einem Wort erwähnt wird, findet sich im vierten Gesang. Da wird Machaon zum verwundeten Menelaos gerufen und als Sohn des Asklepios, des amymonos ieteros vorgestellt. Machaon hat eine Gefolgschaft aus dem rossenährenden Trikka nach Troia geführt und kennt Heilmittel, die der Kentaur Cheiron einst seinem Vater, also dem Asklepios, gegeben hatte.77 Aufgrund der Lokalisierung der Kentaurenheimat in späteren Quellen wird man sich diese Begegnung zwischen Asklepios und Cheiron im Pelion-Gebirge vorstellen. Neben Machaon begegnet noch Podaleirios als Arzt und Achäer, wobei ihre Verwandtschaftsbeziehung nicht direkt angesprochen wird.78 Dazu kommt eine Meldung im Schiffskatalog: Dort figuriert Machaon zusammen mit seinem Bruder Podaleirios als Sohn des Asklepios, und die beiden führen nicht nur Leute aus Trikka, sondern auch aus Ithome sowie aus Oichalia, der Stadt des Eurytos Oichalieus.79 Hier kommen Ortsnamen ins Spiel, die primär nach Messenien weisen, wobei freilich Oichalia schon den antiken Homer-Erklärern Probleme bereitete.80 Einerseits wurde es mit Andania an der Nordgrenze dieser Landschaft gegen Arkadien gleichgesetzt, andererseits überhaupt in Arkadien gesucht.81 In den Frauenkatalogen oder Ehoien war dann nach dem Ausweis mehrerer kurzer Fragmente zu lesen, Asklepios sei der Sohn Apollons und der Thessalierin Koronis gewesen, die freilich heimlich den Ischys heiratete, also einen Heros, Dämon oder Gott, dessen Namen nichts anderes bedeutet als ‚Macht, Kraft, Stärke‘. Apollon wurde durch einen
77 Il. 4, 193-219. Zu Cheiron als Kentaur und Kenner von Heilmitteln, über die er Achilleus belehrte, vgl. Il. 11, 830ff, in anderen Belangen wird Phoinix – also ‚der Phöniker‘ – als Lehrer des Helden eingeführt, Il. 9, 438. – Machaon wird nochmals 11, 511ff – wo seine Verwundung durch Hektor erzählt wird – ausdrücklich als Sohn des Asklepios und Arzt bezeichnet. 78 Il. 11, 833ff. 79 Il. 2, 729-733 80 Vgl. dazu Meyer 1972, 251f s.v. 81 Pherekydes FGrH 2 F 82a versus Paus. 4,2,2f.33,4f.
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Raben davon benachrichtigt – darin steckt offenbar das Wortspiel korax zu koronis – und war darüber erzürnt. Über seine weitere Reaktion steht nichts in den erhaltenen EhoienFragmenten, doch erfahren wir durch Pherekydes von Athen und von Pindar, dass er seine Schwester Artemis für seine Rache einsetzte. Offenbar stand in den Ehoien auch schon, dass Zeus den Asklepios mit dem Blitz niedergestreckt habe. Stark zerstörte Textpartien beziehen sich offenbar auf den Konflikt zwischen Zeus und Apollon, der daraus resultierte: Phoibos wandte sich gegen die Kyklopen, die den Donnerkeil für Zeus gefertigt hatten, und wurde schließlich dazu verurteilt, in den Dienst eines Sterblichen zu treten.82 Den Grund für das Strafgericht, das Zeus über Asklepios ergehen ließ, findet man schließlich bei Pindar: Asklepios habe versucht, Tote wieder zum Leben zu erwecken, und so den Zorn des obersten Olympiers herausgefordert. Pindar nahm im Jahr 474/73 v. Chr. die Tatsache, dass der Besitzer des in Delphi siegreichen Wagengespanns, Hieron von Syrakus, krank war, zum Anlass, die Asklepios-Geschichte in seine dritte Pythische Ode einzuflechten. Er bezeichnete den Heiler in diesem Zusammenhang explizit als Heros (ἤρωα παντοδαπᾶν ἀλκτῆρα νούσων, Pyth. 3, 7) und erzählte, dass Apollon das Asklepios-Kind am Scheiterhaufen aus dem Leib der brennenden Koronis gerettet habe – eine unübersehbare Parallele zum Mythos von Dionysos und seiner Mutter Semele. Ischys, den Nebenbuhler Apollons, lässt er im Übrigen aus Arkadien nach Thessalien an den Boibis-See kommen, wo Koronis lebte. Sodann folgt die bereits erwähnte Geschichte von der versuchten Totenerweckung und Bestrafung durch Zeus.83 Anspielungen darauf finden sich auch im Agamemnon des Aischylos und in der Alkestis des Euripides.84 Es ist klar, dass diese literarischen Überlieferungen das Thema entwickeln, indem sie aufeinander Bezug nehmen. Sie sind also in einer intertextuellen Perspektive zu betrachten. Darüber hinaus liegt aufgrund dessen, was wir über viele andere Mythologeme wissen, eine weitere Annahme nahe: Man wird davon ausgehen dürfen, dass zumindest ein Teil 82 Hesiod fr. 122.123.125 Rzach = T.21.22.24a Edelstein; p. 107-109 in der Übersetzung von L. Und K. Hallof, die der Anordnung der Fragmente nach Merkelbach/West folgt. Dabei auch eine Benennung der Asklepios-Mutter als Arsinoe, die auf die spartanisch-messenische Variante der Genealogie deutet, vgl. dazu unten S. 57 Anm. 104. 83 Pind. Pyth. 3,1-58, bes. 25ff (Ischys-Episode); 47ff (Heilungen, Totenerweckung und Strafe). 84 Aischyl. Agam. 1019-1024 (= T. 66 Edelstein); Eurip. Alcest. 1-7.122-129 (= T. 67.107 Edelstein); hier 965-971 (=T. 220 Edelstein) übrigens die Variante, dass Apollon selbst den Söhnen des Asklepios Heilmittel übergeben habe.
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der Mythen, die sich in dieser literarischen Überlieferung finden, Beziehungen zwischen Asklepios und jenen Heroen oder Gottheiten herstellen will, die in den alten und großen Heiligtümern zusammen mit ihm verehrt wurden. Im Hinblick darauf müssen die wichtigsten alten Verehrungsstätten hier noch einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Wir beginnen mit jenem Asklepieion, dessen hochaltertümlichen Eindruck uns die Beschreibung durch Pausanias sehr lebendig vermittelt, nämlich Titane. Schon das Kultbild des Asklepios selbst erregte dort die besondere Aufmerksamkeit des Reiseschriftstellers: „Aus welcher Holzsorte das Kultbild gefertigt ist oder ob es aus Metall besteht, konnte ich nicht erfahren; auch nicht, wer es gemacht hat … Vom Kultbild ist nur das Gesicht und die Hände und die Füße sichtbar, es ist ihm ein weißer wollener Chiton und ein Himation übergeworfen.“ Dies deutet möglicherweise auf ein Xoanon aus dunkel glänzendem Holz, vielleicht auch auf ein Sphyrelatum hin. Daneben gab es, Pausanias zufolge, in Titane noch eine weitere Statue des Asklepios. Sie stand in der Säulenhalle des Tempels, war aus Stein und hieß die gortynische. Dies heißt wohl, dass den Gläubigen hier eine ‚moderne Version’ des aufsteigenden Heros oder Gottes vor Augen gestellt wurde. Zum Xoanon der Koronis und zu ihrem Kult, der hier besonders verankert war, weiß Pausanias Folgendes zu berichten: „ Auch ein hölzernes Götterbild der Koronis ist da, jedoch nicht im Tempel aufgestellt, sondern, nachdem man einen Stier, ein Lamm und ein Schwein geopfert hat, trägt man die Koronis in den Tempel der Athena und verehrt sie dort. Was davon zum Geopferten gehört, verbrennen sie, und es genügt ihnen nicht, die Schenkeln auszuschneiden. Sie verbrennen alles auf der Erde – außer den Vögeln. Diese verbrennen sie auf dem Altar.“ Das Ziel der Prozession mit dem Bild der Koronis war ein Athena-Tempel, indem ebenfalls ein Holzbild dieser Göttin stand, das vom Blitz getroffen und dennoch seiner Altehrwürdigkeit wegen nicht ersetzt worden war. Die vierte altertümliche Kultstatue von Titane stellte Hygieia dar, nach späterer Auffassung eine der Töchter oder auch die Gattin des Asklepios: „Ebenso (scil. wie bei Asklepios) verhält es sich bei der Statue der Hygieia, auch diese kann man nicht leicht sehen, so sehr umgeben sie die Haare der Frauen, die sich für die Göttin scheren lassen, und die Bänder babylonischen Gewebes. Wer eines von beiden sich gnädig gestimmt machen möchte, der ist angewiesen, das zu verehren, was sie Hygieia nennen.“ Die mythische Familie des Asklepios wurde in Titane außerdem noch durch Statuen des Alexanor und des Euamerion repräsentiert. Der Name des Erstgenannten wird 51
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als ‚der die Müdigkeit abwehrt‘ gedeutet und galt als Enkel des Asklepios über seinen Sohn Machaon. Nach Sonnenuntergang bekam dieser Heros, dem man die Gründung des Heiligtums zuschrieb, ein Ganzopfer; während Euamerion (‚der Gute‘, ‚der Milde‘) ein Götteropfer erhielt. Außerhalb der Asklepios-Genealogie waren in der Stoa des Asklepieions noch eine bemerkenswerte Reihe weiterer Gottheiten durch Xoana, also durch altertümliche hölzerne Götterbilder, vertreten: Es handelte sich um Dionysos und Hekate, Aphrodite, die kleinasiatische Göttermutter und Tyche.85 Nun zu den anderen älteren Asklepieien: In Epidauros ging Apollon einerseits am Berghang als Maleatas, andererseits aber auch im Tal als Pythios dem Asklepios historisch voraus; daneben hatten, abgesehen von einer Statue der Epione, nur noch Artemis und, ein wenig in Randlage, Aphrodite und Themis einen Platz im Heiligtum.86 In Sikyon befanden sich am Eingang des Temenos Sakralräume für Hypnos, den personifizierten Schlaf, und für Apollon Karneios87, für Piräus nennt die schon oben besprochene Inschrift neben Maleatas und Apollon noch Hermes, Iaso, Akeso, Panakeia und die ‚Hundeführer‘88, und für Athen selbst bezeugt das Telemachos-Monument durch seine Bilder Podaleirios und Machaon, ferner durch die fragmentarische Inschrift Hygieia, und Pausanias erwähnt auch noch seine Kinder.89 In Sparta befanden sich in der Nachbarschaft des Asklepiostempels mit dem Holzbild aus Keuschlamm Heiligtümer der Eileuthyia, des Apollon Karneios und der Artemis Hegemone; im Umfeld eines weiteren Asklepieions stand ein Tempel mit einem Xoanon einer bewaffneten Aphrodite.90 Die Konstruktion des großen Heiligtums in Messene fällt zwar in die hellenistische Zeit, aber vielleicht ist es doch von Interesse, wer dort, abgesehen von den Bezügen zu den thebanischen Befreiern Messeniens, als Kultgenossen des Heilgottes installiert wurde: Artemis (sie hatte als Limnatis ja schon auf dem Abhang des Ithome-Berges, auf dem Zeus Ithomaios residierte, ein Heiligtum), Apollon, Tyche und Herakles. 85 Paus. 2, 11, 4–12, 2. Die Altertümlichkeit von Titane mag darin begründet sein, dass der Weg von Argos nach Sikyon, an dem es lag, mit der zunehmenden Dominanz von Korinth ins Abseits geriet. 86 Paus. 2, 27, 5. Vgl. Tomlinson 1983, 75f, 93. 87 Paus. 2, 10, 2 = T.747 Edelstein 88 Vgl. oben S. 32. 89 Inschrift des Telemachos-Monuments: T. 720 Edelstein; Paus. 1, 21, 4f. 90 Paus. 3, 14, 6f; 3, 15, 10.
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Im Folgenden sei versucht, unter der Annahme wesentlicher orientalischer Anregungen die literarische Überlieferungen mit diesen kultisch-religiösen Gegebenheiten in Beziehung zu setzen. Dabei soll die ‚Elterngeneration‘ des Asklepios im Mittelpunkt stehen – also Apollon, Koronis und Ischys –; dann sollen einige vorläufige Überlegungen zu anderen Kultpartnern und Mythen folgen.
5.2.2. Apollon In Epidauros lässt es sich zeigen, dass Apollon dem Asklepios historisch voranging und im Heiligtum präsent blieb. In Sikyon erhielt er als Karneios im Asklepieion selbst Verehrung, in Sparta in der unmittelbaren Nachbarschaft, im Piräus fand er sich unter den Gottheiten, die von den Pilgern, die den Heilgott aufsuchten, Voropfer erhielten. Die bisherigen Überlegungen haben zu dem Denkansatz geführt, dass der Name Asklepios die spezifische Rolle Apollons als ‚Heiler mit dem Hund’ ansprach, die er in Anlehnung an Rešep/Mukol mancherorts bekam, und dass damit die Grundlage dafür gegeben war, dass sich eine Gestalt dieses Namens – mythisch wie kultisch – von ihm abspalten und verselbständigen konnte. Was die literarische und mythische Seite dieses Vorganges betrifft, so kann man die Nennung des Asklepios als Vater mythischer Ärzte in der Ilias – freilich ansonsten nicht als handelnde Person – als geschickten Kunstgriff begreifen, mit dem die heroische Szene um eine weitere Gestalt bereichert und Kenntnisse des Dichters über orientalische Ideen und Gestalten in leicht verschlüsselter Form eingesetzt werden. Der Verfasser der Ehoien – er schrieb jedenfalls vor dem fünften Jahrhundert und damit vor dem Aufstieg des Asklepios zum selbständigen Gott – hat im Falle des Asklepios wie auch sonst versucht, das Verhältnis zwischen den Heroen und den olympischen Göttern mit den Mitteln der genealogischen Erzählung zu klären. Dies geschah aber nicht in freier Willkür, sondern unter Bezugnahme auf das literarisch, vor allem durch das Epos Vorgegebene und auf die kultischen Gegebenheiten. Im Falle des Asklepios hieß dies, dass er nun als Sohn des großen ambivalenten Seuchen- und Heilgottes Apollon eingeführt wurde. Das passte gut für eine Gestalt, die im Epos wie ein Heros figurierte, denn Heroen wurden ja stets in eine mehr oder weniger enge Beziehung zu Gottheiten gesetzt. Dazu kam, dass Asklepios tatsächlich einen Teilaspekts Apolls verkörperte, an mehreren
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Kultorten mit ihm zusammen verehrt wurde und mit wichtigen Elementen seines Kults (Inkubation, Rolle des Hundes) verbunden war. Diese genealogische Einordnung warf freilich auch die Frage nach der Mutter auf.
5.2.3. Koronis Die mythische Asklepios-Mutter Koronis, die für uns ebenfalls zum ersten Mal in den Ehoien fassbar wird, ist im Hinblick auf den Fragenkatalog, der in der Einleitung dieses Beitrags formuliert wurde, besonders interessant. Sie ist ja offensichtlich eine alte Kultpartnerin des ‚Heilers mit dem Hund‘, was Pausanias’ Bericht über Titane eindrucksvoll zeigt. Neben dem Xoanon, das in einer Prozession zum Athena-Tempel mitgeführt wurde, erwähnt er, wie oben ausgeführt, Opferriten. Es handelt sich um ein aufwändiges Holokaustopfer eines Stieres, eines Lammes und eines Schweines, das auf dem Erdboden vollzogen wird, und – besonders auffällig – um Vögel, die auf einem Altar verbrannt werden. Das weckt Assoziationen an hurritisch-hethitische Holokaustopfer und – an Vogelopfer für Ištar.91 Mit geschärfter Aufmerksamkeit wird man sich daher auch dieser Gestalt nähern und zunächst fragen, ob ihr Name einen Hinweis auf ihren Charakter enthält. Im Gegensatz zu jenem des Asklepios entspricht er einem griechischen Wort. Dieses κορωνίς erscheint in den Epen als Adjektiv und Beiwort für Schiffe, wird als 'gekrümmt' übersetzt und charakterisiert offensichtlich die Silhouette, die die Schiffe der homerischen Zeit abgaben, wenn sie mit ihrem geschwungenen Bug auf dem Wasser schaukelten.92 Schon früh, nämlich bei Archilochos, kennzeichnet es aber auch Rinder mit ihren gekrümmten Hörnern.93 Die Verbindung zwischen der Krümmung und dem Rinderhorn, aber auch jene zwischen den beiden Bildern – schaukelnde Schiffe und langsam pendelnde Rinderköpfe mit ihrem Gehörn – ist leicht nachzuvollziehen; man wird an die sprachliche Wurzel denken, die auch im lateinischen cornu vorliegt.
91 Brandopfer: Haas 1994, 661-665, vgl. bes. den Verweis auf die Opferlisten S. 663: Vögel, Lämmer, Schafe, Ziegen und Rinder als die gewöhnlichen Brandopfer. Vogelopfer: Das älteste Beispiel dafür stammt aus Alalah und betrifft einen Eid beim Wettergott und bei Ištar, AIT *126, vgl. dazu Janowski/Wilhelm 1993, 152-158; Haas 1994, 658. 92 Il. 18, 338f; Od. 19, 182.193. 93 Archilochos fr. 48D, vgl. Theokr.25, 151.
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Daneben steht im altgriechischen Lexikon freilich auch das Substantiv κορώνη ‚Krähe‘, das etymologisch mit κόραξ ‚(Kolk)Rabe‘ und lateinisch cornix zusammengebracht wird. Der Name von Apollons Geliebter und Braut lautet aber nun einmal Κορωνίς und auch inhaltlich macht es nicht viel Sinn, dahinter eine Krähe zu vermuten. Deutet man ihn aber im Wortsinn des erwähnten Adjektivs als ‚die mit den (krummen) Hörnern‘ oder einfach ‚die Gehörnte‘, so wäre er durchaus als Chiffre für eine weibliche Gestalt geeignet, die zwei Hörner oder eine Hörnerkrone trägt – und genau dies ist die Ikonografie für syrisch-phönikische Göttinnen, insbesondere für ‚‘Anat‘ in Ugarit und für ‚‘Attart‘/‘Aštart, die syrisch-palästinensische Variante der Ištar! Wir verweisen hier nur auf ein ugaritisches Rollsiegel, das beide Göttinnen darstellt und der geflügelten ‘Anat die Hörnerkrone verleiht, oder auf eine Darstellung derselben Göttin auf einer Elfenbeinplatte vom Bett des Palastes in Ugarit, wo sie zwei junge Männer säugt.94 ‚‘Attart‘/‘Aštart wiederum ist wohl die Göttin, die in entsprechendem Schmuck auf einer Stele im ägyptischen Stil aus Bet-Šean erscheint.95 Aus der Ähnlichkeit der Funktionen heraus ergab sich auf dem Weg ins erste Jahrtausend in der Levante eine Tendenz zur Austauschbarkeit und letztlichen Verschmelzung der beiden Gottheiten.96 Nicht genug damit – aus Ugarit kennen wir die bereits erwähnten feierlichen Prozessionen mit der Statue der hurritischen Astarte und des Rešep97, und eine Prozession zum Athena-Tempel bildet auch in Titane ein Hauptelement des Koronis-Kults. Zusammen mit den einleitend bemerkten Opfern ist uns all das Anlass genug, das Paar Apollon/Koronis mit Rešep/‘Anat (‘Aštart) in Parallele zu setzen.98 Das heißt nicht zwingend, dass das Vorbild ausschließlich in Ugarit zu suchen sei, wo die Verhältnisse am besten dokumentiert sind, wohl aber in einem eng umschriebenen geografischen Umfeld, in dem entsprechende kultische und mythische Traditionen im ersten Jahrtausend fortleben konnten.99
94 Pope/Röllig 1965. 241 mit Abb: 2; Gese 1970, 159 mit Abb. 16 (Rollsiegel aus Ugarit RS 5089 = AO 17242; ca.1450/1365 v. Chr.). 95 Pope/Röllig 1965, 252 mit Abb. 7; Gese 1970, 159 erinnert auch an die Ba’alat von Byblos mit Kuhhörnern, etwa auf der Jehawmilk-Stele ANEP Nr. 477; Abb.16 bei Gese. 96 Vgl. dazu Gese 1970, 161. 97 KTU 41, vgl. Niehr 1998, 41 mit Lit. Vgl. oben S. 38. 98 Antikes Bildmaterial zu Koronis fehlt auffälliger Weise fast völlig; das wenige zeigt keine charakteristischen Details, also auch keine Hörnerkrone, vgl. Simon 1992. 99 Das Fortleben von Ἀnat dokumentiert u.a. eine phönikisch-griechische Bilingue des vierten Jahrhunderts v. Chr. aus dem zyprischen Lapethos, die die Göttin als ‚Zuflucht(?) der Lebenden‘ anspricht:KAI 42, 1; vgl. Gese 1970, 157.
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5.2.4. Ischys Den Ehoien beziehungsweise Pherekydes und Pindar zufolge erregt Koronis den Zorn Apolls, indem sie die Ehe mit Ischys schließt – also mit einem männlichen Wesen, dessen Name im Griechischen einfach ‚Stärke‘ bedeutet, das aber sonst im Mythos keine individuellen Züge erhält. Sieht man aber in Ugarit Parallelen zur ganzen Konstellation, so muss es auffallen, dass dort auch der Götterkönig Baa/Ba’lu selbst hymnisch als ‚Heilender‘ (rpu) und als der ‚Starke‘ angesprochen wurde.100 Angesichts der Tatsache, dass ‘Anat, mit Ištar/Astarte eng verwandt, in Ugarit als seine Geliebte galt, dass noch im fünften vorchristlichen Jahrhundert eine phönikische Priesterschaft Baal als Gatten der ‘Anat betrachtete, wie das eine aramäische Inschrift aus Ägypten lehrt101, liest sich der griechische Mythos nun fast schon als Versuch einer Antwort auf die Frage: War die ‚Gehörnte‘ nun die Partnerin des ‚Starken‘ (Baal) oder des Rešep/Apoll? Dass sich Koronis für Ischys entscheidet, wird in den Ehoien zum Anlass für ihre Tötung durch Artemis oder – nach Pindar noch konkreter – für ihre Verbrennung. Hier könnte ein aitiologischer Bezug zu den Holokaustopfern für Koronis vorliegen.102 Gleichzeitig wird Koronis durch ihre Sterblichkeit in den Bereich der Heroinen verwiesen; auf die Parallele zum Mythos von Zeus, Semele und Dionysos – der in Titane in der Stoa zu sehen war – wurde schon hingewiesen.
5.2.5. Weitere Mythen und Kultpartner rund um Asklepios Nach so vielen orientalischen Bezügen für Asklepios und seine Mutter Koronis, wie sie in Titane verehrt wurde, sei auch noch daran erinnert, dass die Statue der Hygieia an diesem Ort mit Bändern ‚aus babylonischem Stoff‘ behängt wurde.103 Dies könnte mehr als nur ein Kuriosum sein und an die Ursprünge des Kultkomplexes erinnern. Schließlich sei noch herausgestellt, dass die wichtigsten Kultgenossinnen des Heilers in den Asklepieien gut in das nunmehr entwickelte Bild passen. Dies gilt insbesondere 100 KTU 1.108, bearbeitet von Dietrich/Loretz 1980, 171-179 und 1991, 822f ( = TUAT II, 6); vgl. Haas 1994, 559f. 101 Dupont-Sommer 1956, 79ff; 84ff; Gese 1970, 157. 102 Vielleicht ist wegen der Beziehung koronis/korone besonders an die Verbrennung der Vögel auf dem Altar zu denken. 103 Vgl. oben S. 51.
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für Aphrodite, die in der Stoa in Titane bemerkenswerterweise durch ein Xoanon vertreten war und auch im Temenos von Epidauros einen Tempel erhielt. In Sparta wurde sie – auffälligerweise in ihrer bewaffneten Erscheinungsform – in der Nachbarschaft eines Asklepieions verehrt. Über ihre Bezüge zu ‚‘Attart/‘Aštart muss hier nicht viel ausgeführt werden.104 Ähnliches gilt für Hekate, Artemis und Eileithyia, die in Titane, Sparta und Epidauros in oder nahe bei den Asklepieien verehrt wurden: Sie fügen sich nicht nur von den Funktionen her, sondern auch unter der hier entwickelten religionsgeschichtlichen Perspektive sehr gut zu einem Kultkomplex kleinasiatisch-syrischer Provenienz und empfingen, wie oben ausgeführt, des öfteren Hundeopfer. Nachdem sich so viele Parallelen zwischen Apollon, Asklepios und Koronis und orientalischen Gottheiten und Kulten ergeben haben, scheint es auch vertretbar, zu einem weiteren Element des Asklepios-Mythos zurückzukehren und zu überlegen, wie weit es sich vom orientalischen Hintergrund abhebt. Schließlich begegnete offenbar schon in den Ehoien das Motiv, dass Asklepios versuchte, Tote wieder aufzuwecken, und dafür von Zeus mit dem Blitz bestraft wurde. Auch darin könnte eine Anspielung auf altorientalische Überlieferungen liegen: Schon in den Fara-Texten ist eine Göttin Nintinugga belegt, eine ‚Herrin, die den Toten belebt‘, die dann später mit Gula identifiziert wurde. Noch Nabonid beschrieb in einem Text eine Traumvision, in der er Gula erblickte, ‚die die Sterbenden/Toten heilt, die Geberin langen Lebens‘.105 Diese Idee mag im Orient durchaus auch auf andere Heilgottheiten übertragen und den Griechen bekannt geworden sein – der griechische Mythos, oder vielmehr die religiösen Denker, die dahinter stehen, weisen sie aber zurück, indem sie von der Bestrafung des Asklepios durch Zeus erzählen. Der Arzt Asklepios ist für den Verfasser der Ehoien und für Pindar ein Heros und den Göttern nahe, aber der Versuch der Totenerweckung wird ihm als Hybris und Grenzüberschreitung ausgelegt, die die Strafe des höchsten Gottes herausfordert. 104 Wenn in Sparta Arsinoe, die Schwester der Leukippiden, als Mutter des Asklepios galt (vgl. das oben S. 50 erwähnte Ehoien-Fragment sowie Apollod. 3, 10, 3, 5f; Paus. 2, 26, 7; 4, 3, 2), so könnte durch die Beobachtung, dass Arsinoe bzw. Arsinoe Kypris auch ein – allerdings spät belegter – Name der Aphrodite war (Strab. 17, 800; Athen. 7, 318d) ebenfalls ein – anders verschlüsselter – Bezug zu den westsemitischen Göttinnen hergestellt werden. Die Bedeutung des Namens deutet auf die wehrhafte Seite der Aphrodite. 105 Vgl. Edzard 1965, 78 unter Verweis auf SAHG sum. Nr. 41 (Gottesbrief an N.); Butler 1998, 233 (Nabonid 8, VII 12‘-15‘ Text in Umschrift mit Übersetzung).
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Einige vorläufige Gedanken seien am Ende dieses Abschnitts noch zu den AsklepiosSöhnen geäußert. Das Epos führt ja zunächst einmal Podaleirios und Machaon ein, zwei große Kämpfer, die zugleich ärztliche Kenntnisse besitzen. Der Name Podaleirios ist bisher nicht befriedigend gedeutet.106 Der Bruder des Podaleirios führt hingegen einen der geläufigsten griechischen Termini im Namen, der freilich – bemerkenswert genug – keine indogermanische, sondern eine semitische Etymologie aufweist. Mit akkadisch mahasu ‚schlagen, treffen‘ hängt aramäisch maha ‚die Schlacht‘ zusammen, von denen griechisch μάχ nicht zu trennen ist.107 Asklepios steht in der Ilias als Vater der beiden noch sehr im Hintergrund, was noch dadurch unterstrichen wird, dass der eigentliche Verwalter des Wissens um Heilmittel Cheiron ist, der dieses Wissen ja auch an Achilleus weitergibt. Asklepios selbst bleibt im Grunde unlokalisiert, Machaon wird als Herr von Trikka ebenso an den äußeren Rand Thessaliens versetzt wie Cheiron. Je mehr man orientalische Einflüsse in Betracht zieht, desto entschiedener stellt sich die Frage: Ist hier wirklich die Kenntnis eines thessalischen Kults für Asklepios und seine Söhne die Basis, oder wird die Landschaft Thessalien vom Ependichter in literarisch-erzählerischer Absicht mit Gestalten besiedelt, für die er sich aus anderen Quellen inspirieren ließ?108 Der Schiffskatalog nennt nun als Herrschaftsgebiet der beiden Brüder Orte, die schon für die Antike nicht wirklich eindeutig in Thessalien lokalisierbar waren. Fast sieht es so aus, als hätte der Verfasser Namensähnlichkeiten zwischen Toponymen benützt, um die in der epischen Erzählung gegebene Verankerung der Heiler in Thessalien mit dem Wissen um Kultorte des ‚Heilers mit dem Hund‘ – sei das nun Apollon selbst oder der verselbständigte Asklepios – in Messenien und/oder Arkadien zu versöhnen.
106 Vielleicht wäre zu erwägen, ob Podaleirios denjenigen meint, ‚der die Füße salbt‘: λίπα αλείφεσθαι, ‚sich reichlich mit Öl einschmieren‘ setzt Burkert bei seinem hier schon mehrfach zitierten Überlegungen mit dem akkadischen lipû (Akk. lipâ) ‚Fett‘ in Beziehung, und wir fügen hinzu, dass der Sinn des Namens damit nach neuerer Auffassung jenem des phönikischen Heilgottes Ešmun nahekommt, der in einem Vertrag zwischen Baal von Tyros und Asarhaddon aus dem Jahre 676 v. Chr. zum ersten Mal belegt ist. Er wurde unter anderem auf der Insel Arwad südlich von Al Mina und im Heiligtum von Amrith verehrt. Sein Name wird vom nordwestsemitischen Wort für Öl, šmn, hergeleitet und bezeichnet seinen Träger somit als ‚Salber‘ oder ‚Heiler‘ Burkert 1992, 36 mit Hinweis auf AHw 555, aber auch auf idg. Vergleichsmaterial Chantraine 1968/80, 642; Niehr 1998, 120 mit Hinweis auf Lipinski1973; Xella 1992 und Xella 1993. 107 Burkert 1992, 39. 108 Auffällig ist, dass das Epos zur ‚Belebung‘ Thessaliens auch ziemlich häufig auf eponyme Gestalten zurückgreift, vgl. Lorenz 1996, 51.
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5.2.6. Askalaphós Abschließend noch ein Wort zum boiotischen Helden Askalaphós: in der Ilias gilt er als großer Kämpfer und Sohn des Enyalios, also des Kriegsgottes Ares. Nachdem ihn der Trojaner Deiphobos getötet hat, kann Athene Ares nur mit Mühe davon abhalten, seinen Sohn entsprechend zu rächen. Der Schiffskatalog ordnet den Helden zusammen mit seinem Bruder Ialmenos als Führer der boiotischen Minyer ein und gibt ihm eine Mutter mit dem durchsichtigen, aber nichtssagenden Namen Astyoche.109 Diese Geschichte könnte damit zu tun haben, dass ‚heilsame Hunde‘ in Tiertötungsritualen für Enyalios alias Ares eine entscheidende Rolle spielten; die Lokalisierung des Helden in Boiotien könnte in Zusammenhang mit jenem Ritual zum Schutz des Heeres stehen, das offenbar noch bis in späte Zeiten in Boiotien üblich blieb.110 Auffällig ist im Übrigen, dass dem Askalaphós im Schiffskatalog mit Ialmenos ein Bruder beigesellt wird, dessen Name wiederum einen Bezug zum Wortfeld von ιὰομαι, ἰατρός usw. andeuten könnte.
5.2.7. Zur Äskulap-Natter Von der Natter des Asklepios war hier bislang nicht die Rede. Die Spuren der religionsgeschichtlichen Entwicklung, wie sie hier nachgezeichnet werden, führen eben – um es ein wenig scherzhaft auszudrücken – über die Hundefährten in den Orient. Es fehlt aber auch nicht an Verbindungen zwischen Nattern und orientalischen Heilgottheiten: In Mesopotamien trug eine behütende Gottheit den sumerischen Namen Nirah, was soviel wie ‚Natter‘ bedeutet. Später wurde sie als Bote des (ursprünglich wohl elamischen) Heilgottes Sataran aufgefasst. In der Brechung der Rešep-Gestalt, die uns durch die ägyptischen Stelen vermittelt wird, überreicht eine Göttin auch diesem Gott zwei Schlangen oder Nattern.111 Evidentermaßen existierte aber auch auf der griechischen Seite eine starke, letztlich aus der Bronzezeit herrührende Tradition des Schlangenkults. Ähnlich wie bei der Ent109 l. 13, 519. 15, 110ff; Schiffskatalog: 2, 511-516 110 Vgl. oben S. 43.– Erinnert sei auch daran, dass im Tempel des hethitischen Kriegsgottes Jarri heilige Hunde gehalten und rituell gefüttert wurden, vgl. oben S. 39 f. (bes. Anm. 50). 111 Edzard 1965, 120; Gese 1970, 143f mit Abb. 12.
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wicklung der facettenreichen Apollon-Gestalt, die uns in der homerischen und archaischen Epoche entgegentritt, mögen sich auch im Asklepios-Kult Elemente verschiedener Herkunft zu einem neuen Ganzen verbunden haben.
5.3. Zusammenfassung und Schluss Im Ganzen führen unsere Überlegungen zu folgendem Schluss: Asklepios ist ein verselbständigter Aspekt Apolls, sein Name entspricht einer semitischen Bezeichnung seiner Rolle als ‚Heiler mit dem Hund‘. Der Gang der religionswissenschaftlichen Entwicklung, die zu diesem Ereignis führte, lässt sich zusammenfassen wie folgt: Apollon war im innergriechischen Kontext insbesondere mit der Jünglings-Initiation verbunden; Pfeil und Bogen sowie der Jagdhund als Begleiter entsprachen dieser Funktion. In der Levante wurde er mit Rešep/Mukol verknüpft, der Seuchen- und Heilgottheit mit kriegerischer Note, die ebenfalls mit dem Hund verbunden war. Der komplexe und facettenreiche Gott, der so entstand, fand wohl schon in der früharchaischen Zeit vor allem auf der Peloponnes Eingang in zahlreiche Kulte und Kultstätten, und zwar zusammen mit der Göttin, die im Orient seine Partnerin war, also mit ‘Anat beziehungsweise mit Ištar/Astarte. Parallel dazu übernahm Hellas diverse Hundetötungsrituale anatolischer Provenienz. Um die Rolle des göttlichen ‚Heilers mit dem Hund‘ zu bezeichnen, wurden die entsprechenden semitischen Vokabeln zum gräzisierten Namen Asklepios umgeformt. Das Epos gebraucht ihn zum ersten Mal und verleiht ihn einer Gestalt, die es nur lose mit Thessalien verbindet, – durch das Prestige Homers wurde diese Verbindung aber zum fixen Bestandteil der nachfolgenden Tradition. Im Kult wurde Apolls Aspekt als ‚Heiler mit dem Hund‘ allmählich als eigener Adressat der Verehrung abgespalten und trat neben den Seuchengott; gleichzeitig erklärten Männer wie der Verfasser der Ehoien, Pherekydes und andere die Asklepios-Gestalt zum Sohn Apolls und seiner aus dem Orient übernommenen Partnerin, der gehörnten Göttin. Manche zusätzliche Spuren der orientalischen Herkunft des Asklepios lassen sich im Kult, in der mythischen Familie, in einigen Erzählmotiven und in der Konstellation der Kultpartner entdecken. Die Gestalt, die im Zuge des skizzierten Prozesses ins kollektive Bewusstsein der Griechen trat, figurierte im literarischen Kontext implizit oder explizit unter den Heroen, 60
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stieg letztlich im fünften Jahrhundert aber doch zur panhellenischen Gottheit auf. Diese unterschied sich von Apoll nun in einem bedeutsamen Punkt: Es handelt sich nicht mehr um einen ambivalenten Seuchen- und Heilgott, sondern eindeutig um einen göttlichen Arzt. Dieser wurde im religiösen Bereich gewissermaßen zum Gegenstück des profanen, aufklärerisch orientierten Ärztestandes, der sich im fünften Jahrhundert v. Chr. in Hellas entwickelte.
Erstveröffentlichung in:
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Religionskritik in der antiken Naturwissenschaft als Teil interkultureller Auseinandersetzung1 Ausgangspunkt: Religionskritik in der Schrift ‚Über die heilige Krankheit‘ (Περὶ ἱερῆς νούσου) Den Ausgangspunkt jener Überlegungen, die hier vorgestellt werden sollen, soll ein Schlüsseltext jenes großen Mentalitätswandels bilden, für den der Philologe Wilhelm Nestle vor mehr als sechzig Jahren das Motto „Vom Mythos zum Logos“ geprägt hat. Gemeint ist die hippokratische Schrift ‚Über die heilige Krankheit‘ – nach heutiger Terminologie ist damit das Anfallsleiden Epilepsie gemeint –, die wohl in die Zeit gegen 400 v. Chr. zu datieren ist. Gleich zu Beginn seiner Schrift2 benennt der hippokratische Autor3 jene Leute, deren religiös-magische Krankheitsauffassung er bekämpfen will: Es sind Zauberer, μάγοι, Reinigungspriester, καθάρται, Bettelpriester, ἀγύρται, Aufschneider, ἀλαζόνες. Diese Leute behaupten, die Krankheit sei göttlichen Charakters und werde den betroffenen Menschen von Zeus, Apollon, Poseidon, Hekate, Kybele oder anderen Gottheiten geschickt. Um zu entscheiden, welche Gottheit jeweils hinter den Anfällen eines bestimmten Patienten steht, liefern jene zweifelhaften Heiler auch noch Kriterien und Symptome für eine Art ‚Differentialprognose‘: „Wenn der Kranke eine Ziege nachahmt, und wenn er (wie ein Löwe) brüllt und mit der rechten Seite zuckt, dann sagen sie, die Göttermutter (Magna Mater, Kybele) sei schuld. Wenn er aber lauter und schriller schreit, dann vergleichen sie das mit dem Wiehern eines Pferdes und sagen, Poseidon sei schuld.“ 4 Diese ‚Diagnosen‘, von denen es im hippokratischen Text noch eine ganze Reihe gibt, lassen sich konkret mit den jeweiligen Gottesvorstellungen verknüpfen. Die oben zitierten Beispiele etwa haben damit zu tun, dass Magna Mater im religiösen Kult mit Ziege
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Ausgearbeiteter Vortrag für die Veröffentlichung einer Vortragsreihe an der Universität von Bayreuth im Jahr 2005. Morb. Sacr. 1, 10. Keine Schrift innerhalb des Corpus Hippocraticum kann zweifelsfrei Hippokrates von Kos zugeschrieben werden. Deshalb ist hier die Rede von dem hippokratischen Autor, Hippokratiker o. ä. Morb. sacr. 1, 33f.
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und Löwe assoziiert wurde5, Poseidon hingegen mit dem Pferd.6 Letzteres mag seinen anschaulichen Grund darin haben, dass man das Donnern und Beben des Bodens unter den Hufen einer Pferdeherde oder eines Reitertrupps mit dem Rollen von Erdbeben und Meeresbrandung verknüpfte, also mit Naturphänomenen, als deren furchtbarer Herr Poseidon ja auch gegolten hat. Nach diesem Bericht über Heiler, die das Anfallsleiden als Folge von Götterzorn interpretieren, wendet sich unser Autor diversen Reinigungsriten zu: „(...) sie nehmen Reinigungen (καθαρμοί) vor, indem sie die von der Krankheit Befallenen mit Blut oder Ähnlichem ‚reinigen‘ (καθαίρουσιν)“ und „(...) sie entsühnen, und das Unreine verbergen sie in der Erde oder werfen es ins Meer oder bringen es weg in die Berge, wo niemand es berühren und darauf treten kann.“7 Schließlich werden den suspekten Heilern noch Tabus zugeschrieben, mit denen sie die Kranken belegten: Sie „verboten viele Speisen (…) so von Salzwasserfischen Barben, Schwarzschwänze, Pfriemenfische und Aale, denn diese Fische sind besonders gefährlich; ferner Fleisch von Ziegen, Hirschen, Schweinen und Hunden (denn dieses Fleisch bringt den Bauch am meisten in Unordnung) (…) Ferner verboten sie, auf Ziegenfell zu schlafen oder eines zu tragen (…).“ 8 Die Kritik, die der Hippokratiker der religiös-magischen Krankheitsauffassung entgegensetzt, bewegt sich im Wesentlichen auf drei Ebenen: 1. Er zweifelt an den lauteren Motiven der Heiler. 2. Er bietet eine innerweltliche, im damaligen und prinzipiell auch im heutigen Sinne ‚naturwissenschaftliche‘ Erklärung für die Krankheit. 3. Er setzt dem Glauben an Gotteszorn und Gottesstrafe als Krankheitsursache nicht etwa Atheismus entgegen, sondern einen sehr betonten sublimierten Gottesbegriff. Auf der ersten Ebene bewegt er sich etwa, indem er einen Teil der Heiler als ἀλαζόνες9 bezeichnet, und indem er allen vorwirft, sie würden mit ihren Erklärungen und Anordnungen nur ihre eigene Unwissenheit bemänteln.10 Die innerweltliche, ‚naturwissenschaftliche‘ Ätiologie der Epilepsie, die der Autor vertritt, ist berühmt: Ihr zufolge befällt die Krankheit nur sogenannte Schleimtypen. Das sind Menschen, die vom Embryonalstadium an zu viel Schleim im Leib haben – damit wird 5 6 7 8 9 10
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Vgl. etwa Burkert 1977, 276f. (zum Löwen). Vgl. Burkert 1977, 217f. Morb. sacr. 1, 40. 42; vgl. dazu schon Ilias I, 312f.; dazu Lorenz 1990, 55f. Morb. sacr. 1, 13-15. Der Etymologie nach bedeutet das Wort „Hallo-Rufer, Marktschreier‘‘. Morb. sacr. 1, 11f.
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das Leiden als Erbkrankheit definiert! Freilich bestehen in der individuellen Biographie Chancen für eine natürliche Reinigung des Embryos im Mutterleib oder auch noch in der Kindheit. Wenn diese Katharsis allerdings nicht eintritt, manifestiert sich schließlich bei Heranwachsenden das Anfallsleiden. Diese Erklärung bewegt sich im Rahmen der bekannten Säftelehre, und obwohl sie vom modernen Verständnis der Sachlage weit entfernt ist, kann sie insofern als wissenschaftlich bezeichnet werden, als sie in wesentlichen Teilen – etwa im Hinblick auf die behauptete Erblichkeit des Leidens – im Prinzip prüfbar war und ist. Im Übrigen steht das Konzept der Säftelehre offensichtlich im Zusammenhang mit der antiken Lehre von den vier Elementen.11 Schließlich zur dritten Ebene in der Argumentation des Hippokratikers. Sie wird beispielhaft durch Sätze wie die folgenden repräsentiert: In den Reden der Zauberer und Heiler „geht es gar nicht um die Frömmigkeit, sondern um die Unfrömmigkeit, und darum, dass die Götter nicht existieren, und ihre fromme Gottesfurcht ist in Wahrheit Gotteslästerung (ἀσεβές), wie ich zeigen werde.“12 Und konkret zur heiligen Krankheit: „Ich allerdings bin fest davon überzeugt, dass der Leib eines Menschen nicht von einem Gott befleckt wird (ὑπὸ θεοῦ μιαίνεσθαι), das Hinfälligste vom Reinsten (τὸ ἐπικηρότατον ἀπὸ τοῦ ἁγνοτάτου), (…) sondern vielmehr sollte der menschliche Leib, wenn er von etwas anderem befleckt ist oder sonst etwas erlitten hat, von der Gottheit gereinigt und entsühnt werden (τὸ θεῖόν ἐστι τὸ καθαῖρον καὶ ἁγνίζον)“.13
1. Zur historischen Herkunft dieser Gedanken: 1.1. Die Heiler und ihre Lehren: Einige dieser Tabus, welche die καθαρταί, kathartai, und ihre Kollegen den Kranken vorgeschrieben haben, sind für Religionshistoriker relativ bekannt und gut verständlich, so zum Beispiel die Meidung der schwarzen Farbe, oder das Verbot, Hände oder Beine zu überkreuzen – dies könnte nach einer verbreiteten Vorstellung böse Geister daran hin-
11 Vgl. dazu unten S. 73. 12 Morb. sacr. 1, 27. 13 Morb. sacr. 1, 44.
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dern, auszufahren. Unspezifisch wie sie sind, liefern sie kaum Anhaltspunkte, um ein bestimmtes Herkunftsgebiet dieser Vorstellungen zu postulieren. Im Zusammenhang mit dem Verbot von Hundefleisch ist zunächst festzuhalten, dass sein Verzehr ohnehin nicht üblich war. Um zu verstehen, wieso es manche Heiler darüber hinaus ausdrücklich verboten haben, gibt es immerhin einen Ansatzpunkt: Es ist gut belegt, dass Hunde im damaligen Griechenland häufig in apotropäischen Ritualen als Substitutionsopfer herangezogen wurden. Sie wurden den bedrohlichen göttlich-dämonischen Mächten gleichsam als Ersatz für gefährdete Menschen angeboten. Junge Welpen waren davon besonders betroffen. Die betreffenden Riten hatten insbesondere Gottheiten wie Hekate, Ares, Artemis oder Geburtsgottheiten zu Adressaten, und starke Indizien deuten darauf hin, dass sowohl diese Göttergestalten als solche wie auch das rituelle Muster der Hundeopfer im Zuge ihrer historischen Genese durch kleinasiatische Vorbilder geprägt worden sind.14 Andere Tabus, die der Hippokratiker aufzählt, hat die Forschung lange Zeit kaum erklären können. So sind die von den Heilern tabuisierten Fischarten ausgezeichnete Speisefische, und es gibt keine älteren oder gleichzeitigen griechischen Quellen, die irgendwelche magischen Vorstellungen mit ihnen verbänden. Auch die von unserem medizinischen Autor kolportierte Behauptung, dass diese Tiere gefährlich wären, entbehrt jeder praktischen Grundlage. Vor einigen Jahren hat mich ein Blick über die Grenzen des griechischen Kulturraumes hinaus auf eine überraschende Lösung des Rätsels gebracht: Alle vier Fischarten, die von den Zauberern und Magiern gegen 400 v. Chr. mit einem Tabu belegt worden sind, spielten nämlich in Ägypten eine kultische Rolle, die mit lokalen Speisetabus verbunden war! Besonders gut belegt ist das für die Seebarbe: Schon im Alten Reich, um 2425 v. Chr., als der Pharao Ni-user-Rê in Abusir ein Sonnenheiligtum errichten ließ, haben die Ägypter die jahreszeitlichen Wanderungen dieses Fisches, von dem man im Übrigen zwei Unterarten kannte, vom Nildelta über tausend Kilometer bis in die Gegend von Assuan und
14 Auf den anatolisch-iranischen Raum deuten auch die Klassifikationen, die der Autor für die Heiler wählt: Beim Terminus μάγοι, hergeleitet vom iranischen magupat, schwang damals wohl noch sehr deutlich der Hinweis auf persisches Priesterwissen mit, und ἀγύρται, also Leute, die für ihr Wissen Spenden einsammelten, sind vornehmlich für den Kult der Kybele bzw. Meter belegt. Zum Ganzen vgl. Lorenz 2000, 203-205 (2. Auflage 2013, 210211) sowie 2004(a), 342-350 (= der entsprechende Beitrag „Asklepios, der Heiler mit dem Hund, und der Orient“ in diesem Sammelband S. 34-45); zu Hekate besonders Burkert 1977, 266; Day 1984, 27f.
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Elephantine beobachtet. Die dortigen Priester betrachteten den Fisch als heiliges Tier des Flussgottes, was umso leichter verständlich ist, als seine Ankunft in Oberägypten alljährlich in etwa mit dem Beginn der großen, für das Wohl des Landes entscheidenden Überschwemmung zusammenfiel!15 Aus dieser Bedeutung der Seebarbe resultierte jedoch kein generelles Speiseverbot, das für ganz Ägypten gegolten hätte, sondern lediglich örtliche Meidungen, insbesondere in Elephantine und im Deltagebiet. Es ist hier nicht der Ort, auch auf die anderen Fischarten, die der Hippokratiker erwähnt, im Detail einzugehen, doch verhielten sich die Dinge auch in diesen Fällen ähnlich. Insgesamt galten in Ägypten an jedem Ort des Landes je nach den dort verehrten Gottheiten und deren heiligen Tieren unterschiedliche Vorschriften über Meidungen, Tabus und Speiseverbote. Das komplizierte Regelwerk, das sich so ergab, wurde in der Spätzeit, also im ersten Jahrtausend v. Chr., inschriftlich festgehalten, und zwar in der Form der sogenannten ‚kulttopographischen Listen‘, die an den Säulen und Mauern großer Tempel angebracht wurden, etwa in Dendera, Edfu oder Kom Ombo.16 Seit etwa 660 v. Chr. war für Griechen die Möglichkeit gegeben, diese Vorstellungswelt und dieses Regelwerk kennenzulernen. Denn seit damals lebten Söldner und Händler hellenischer Provenienz im Land am Nil. Wir wissen heute, dass sie im weiteren Lauf der Geschichte auf der militärischen Karriereleiter bis in Positionen aufsteigen konnten, die man als ‚Generalsränge‘ bezeichnen könnte.17 Man kann davon ausgehen, dass insbesondere im sechsten und fünften Jahrhundert v. Chr. Ägypter, Griechen oder Graeco-Ägypter aus Mischehen mit ägyptischen Weisheiten im Gepäck auch nach Athen und ins übrige Griechenland gekommen sind. Möglicherweise geschah das vermehrt, nachdem die Athener 455/54 v. Chr. zugunsten des aufständischen Libyers Inarosch eine große Militärintervention im Land am Nil unternommen hatten. Man darf sich jedenfalls vorstellen, dass auf den Marktplätzen griechischer Poleis Männer auftraten, die dem Publikum verkündeten: Wer von der heiligen Krankheit befallen ist, sollte bestimmten Speisegeboten folgen, die in den heiligen Aufzeichnungen Ägyptens festgehalten seien.
15 Vgl. Lorenz 2000, 154f. (= ²2013, 164f.) und 2004(b), 81-83 mit Abbildung 1 nach Edel 1961/63 (= der entsprechende Beitrag „Tiere kennen und die Tierwelt erklären – Leistungen und Irrwege der alten Kulturen in diesem Sammelband S. 229. f.). 16 Vgl. Gamer-Wallert 1970, 14.39-42.52; Lorenz 2000, 154f. (= ²2013, 164f.). 17 Dazu besonders Haider 1996, 95-112 sowie 2004, 447-452.
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Die kleine Liste tabuisierter Fischarten, die in der ‚Schrift über die heilige Krankheit‘ enthalten ist, könnte im Prinzip sogar zum genauen Herkunftsort jener Magier und Heiler führen. Lücken in den ägyptischen Quellen erschweren dies, doch käme etwa der zwanzigste unterägyptische Gau (Gau der Falkenmumie, nördlich von Bubastis) in Betracht; auf jeden Fall wird man aber an das östliche Nildelta denken dürfen. Blicken wir nochmals zurück: Im ägyptischen Kontext sind die Ritualvorschriften, um die es hier geht, Teil eines komplexen Systems, eben der Kult-Topographie, die sich letztlich dem jahrtausendelangen Wirken einer Priester-Elite verdankt. Innerhalb dieses Rahmens sind sie auch gut verständlich. Eine spontane Entstehung derart ausgefallener und spezifischer Fischtabus in Hellas selbst kann man nach Lage der Dinge mit großer Sicherheit ausschließen. Wenn Heiler, die ihre Dienste in Athen oder in anderen Poleis auf der Agora anpriesen, die ägyptischen kulttopographischen Listen ausbeuteten und ihre Vorschriften auf die individuelle Situation von Kranken anwandten, die den epileptischen Episoden entkommen wollten, so lösten sie diese Tabus freilich völlig aus ihrem ursprünglichen Kontext und präsentierten sie als nicht weiter ableitbares, geheimnisvolles Wissen. Im Übrigen ist auch ein Tabu gegen Ziege und Ziegenfell, wie es der Hippokratiker ebenfalls kritisch diskutiert und mit empirischen Argumenten ad absurdum führt, in Ägypten nachweisbar: Es erscheint in mehreren Zauberpapyri, aber auch in spätzeitlichen Beischriften zum Totenbuch – und zwar als Vorschrift, die vor oder bei bestimmten Ritualhandlungen zu beachten ist.18 Fassen wir zusammen: Es ist möglich, die Gegnerschaft des hippokratischen Verfassers von ‚de morbo sacro‘ näher zu identifizieren. Es handelt sich einerseits um Leute, die auf religiösen Ideen anatolisch-orientalischer Prägung aufbauten, andererseits um solche, die explizit ägyptische Kultvorschriften im griechischen Kontext umfunktionierten. Die Religionskritik, die hier geübt wird, ist also nicht nur als Markstein in einer innergriechischen geistesgeschichtlichen Entwicklung zu sehen. In diesem Sinn ist sie immer schon gewürdigt worden; es gibt darüber hinaus aber auch einen Aspekt von Kulturkontakt und Kulturkonflikt! Um die Themenstellung dieser Tagung konkret anzusprechen: Es handelt sich auch um einen Fall interkultureller Religionskritik.
18 Vgl. Lorenz 2000, 161. 194f. (= ²2013, 171. 201f.).
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Wenden wir uns nun der Frage zu, was sich zur Herkunft der hippokratischen Gegenkonzepte sagen lässt, also zur Säftelehre und zu der sublimierten Gottesauffassung, die der Autor den religiös-magisch arbeitenden Heilern entgegenhält. Es sei zunächst nach Vorläufern in Hellas gefragt und anschließend danach, ob auch auf dieser Ebene externe Anregungen anzunehmen sind.
2. Zur Herkunft der Säftelehre bzw. Elementenlehre: Die Säftelehre, wie sie in den hippokratischen Schriften vorkommt – auf Hippokrates als Person ist sie nicht zurückzuführen – stellt sich ziemlich deutlich als medizinische Umformung der naturphilosophischen Lehre von den vier Elementen dar, aus denen die Welt aufgebaut ist. Unsere Quellen dokumentieren freilich nicht die explizite Übertragung der Elementenlehre auf die Säfte im Körper durch einen namentlich bekannten Denker. Vielmehr weisen Indizien darauf hin, dass das medizinische Denken der Griechen ursprünglich von drei wesentlichen Säften im Körper ausgegangen ist, nämlich Blut, Schleim und Galle. Diese Dreiheit dürfte in einem weiteren historischen Schritt vermehrt beziehungsweise im Sinne der Vierzahl, wie sie durch die Elementenlehre vorgegeben war, komplettiert worden sein: Die Mehrzahl der Autoren führte als vierte Substanz das merkwürdige Konstrukt der Schwarzen Galle ein, aber auch das Wasser konnte hier eintreten.19 Die Lehre von den vier Elementen ihrerseits ist in der Zeit, die vor der Entstehung der hippokratischen Schriften liegt, am klarsten bei Empedokles (~ 490-435/30 v. Chr. belegt).20 Der Mann aus Akragas bezeichnete sie als ῥιζώματα (also als ‚Wurzeln‘, ‚Grundstoffe‘), die durch Neikos und Philotes getrennt und zusammengefügt würden. Diese Termini, die in der Normalsprache ‚Streit‘ und ‚Freundschaft‘ bedeuten, stehen im Sinne einer personalistischen Redeweise und eines biomorphen Denkens für jene Naturkräfte, die man unter Verwendung mehr mechanistischer Kategorien als ‚Anziehung‘ und ‚Abstoßung‘ bezeichnen würde. Im Empedokles-Fragment 26 Diels-Kranz ist sogar ausdrücklich die Rede 19 Wasser begegnet vor allem in der Schriftengruppe, die aus de genitura, de natura pueri sowie de morbis IV besteht; die Schwarze Galle erscheint zuerst in der Schrift de natura hominis, vgl. dazu Schöner 1964, 30ff.; Kudlien 1967, 68f. 77-88; Lonie 1981, 54-62; Lorenz 1990, 315; Jouanna 1992, 442-452. 20 Vgl. bes. περὶ φύσεως 31 B 17. 21. 38. 71 DK. Besonders prägnant fr. 17 DK, Zeile 18: πῦρ καὶ ὕδωρ καὶ γαῖα καὶ ἠέρος ἄπλετον ὓψος. Den Zusammenhang zwischen der hippokratischen Lehre und den Anschauungen des Empedokles betont auch Nutton, NP 10 (2001) Sp. 1209 s. v. Säftelehre.
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davon, dass aus jenen Elementen auch Menschen und Tiere entstehen (γίγνονται ἄνθρωποί τε καὶ ἄλλων ἔθνεα θηρῶν). Damit ist man der klassischen Säftelehre schon ziemlich nahe. Ähnliches findet sich bekanntlich auch bei den Ioniern, nämlich bei Heraklit aus Ephesos, um 500 v. Chr., also knapp zwei Generationen vor Empedokles, und bei Anaxagoras aus Klazomenai, einem Zeitgenossen des Denkers aus dem griechischen Sizilien.
3. Zur Herkunft der sublimierten Gottesauffassung in ‚de morbo sacro‘: Der Hippokratiker weist den Gedanken, dass eine Gottheit eine Krankheit, die er mit Verunreinigung gleichsetzt, schicken könnte, als blasphemisch zurück. Er hält dem die Idee entgegen, dass die ‚Gottheit‘ oder das ‚Göttliche‘ absolut rein sei. Es ist evident, dass eine solche Überlegung den großen Ependichtern, auf die der homerische Götterhimmel zurückgeht, niemals in den Sinn gekommen wäre. Sie gehört einer späteren Phase des griechischen Denkens an. Dem Inhalt und dem Wortlaut nach findet sich die engste Parallele zur hippokratischen Formulierung auch hier wieder bei einem Vorsokratiker, nämlich bei Anaxagoras (~500-428 v. Chr.). Bei diesem bereits erwähnten ionischen Denker, der um das Jahr 461 nach Athen gekommen und einige Zeit als Lehrer des Perikles tätig gewesen war, aber um 431 vor einer Anklage wegen Asebie nach Lampsakos auswich, heißt es: „Der Geist (νοῦς) (sic!) ist das feinste aller Dinge und das reinste [!] und er besitzt von allem alle Kenntnis und hat die größte Kraft.“21 Wie bereits erwähnt, vertrat Anaxagoras neben dieser Gottesauffassung auch die Lehre, dass die Welt aus Elementen oder Grundbausteinen aufgebaut sei, deren Zahl aber bei ihm nicht auf vier begrenzt war. Die Idee von einem göttlichen Geist, der alles bewegt, ohne Körperkräfte und Gliedmaßen einzusetzen, begegnet noch mehrfach bei den Vorsokratikern. Was wir in der Nachfolge von Hermann Diels mit ‚Geist‘ übersetzen, heißt dabei das eine Mal νοῦς, nous, wird also mit einem Ausdruck bezeichnet, der zum Wortfeld ‚denken‘ gehört, das andere Mal mit dem Terminus φρήν, phren, der im anatomischen Kontext das Zwerchfell meint 21 Fr. 59 B 12 DK: „(νοῦς) ἔστι γὰρ λεπτότατόν τε πάντων χρημάτων κὰι καθαρώτατον, κὰι γνώμην γε περὶ παντὸς πᾶσαν ἴσχει καὶ ἰσχύει μέγιστον.“
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und der emotionalen Sphäre näher steht, dann wieder mit bemerkenswerten Kombinationen beider Termini.22 Zuletzt sei noch daran erinnert, dass auch Heraklit aus Ephesos (ca. 540-480 v. Chr.) das Wesen der Welt aus vier Grundelementen erklärte, die freilich von ihm in gewisser Weise hierarchisiert wurden: Am Anfang stand nach seiner Lehre ein vernunftbegabtes Feuer, das sich in Luft, Wasser und Erde verwandelt.23
4. Mögliche externe Anregungen für Elementenlehre und Gottesauffassung: Sind wir mit der eben angedeuteten historischen Herleitung der ‚fortschrittlichen‘ hippokratischen Ideen schon am Ende des Eruierbaren? Nicht unbedingt! Schließlich beginnt die Forschung die sozialen und kulturellen Entwicklungen in Hellas aufgrund intensiver archäologischer Arbeit und kulturvergleichender Studien immer deutlicher in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Mehr und mehr gelangen wir zu einem neuen Geschichtsbild, das die griechische Kultur nicht einfach als Ergebnis einer autarken und endogenen Entwicklung und Entfaltung sieht. Vielmehr erscheint sie als schöpferische Antwort auf eine sehr spezifische Situation: Nach dem Zusammenbruch der mykenischen Kultur haben sich neben deren Restbeständen zunächst wenig stratifizierte Stammesgesellschaften etabliert. Nur sehr langsam veränderte sich diese Welt zunächst durch Bevölkerungswachstum und allmähliche soziale Differenzierung. Im achten und siebenten Jahrhundert v. Chr. beschleunigte sich dieser Wandel jedoch, und er gewann an Dynamik unter anderem durch intensive Kontakte mit dem Alten Orient. Erst in der Auseinandersetzung
22 Xenophanes fr. 24 DK: „(...) ganz Auge, ganz Geist, ganz Ohr“; fr. 25 DK: „(...) erschüttert alles ohne Mühe mit des Geistes Denkkraft“: ἀλλ‘ ἀπάνευθε πόνοιο νόου φρενὶ (sic!) πάντα κραδαίνει. Eine andere Variante bietet Empedokles, Katharmoi, fr. B 133 und fr. 149 Mansfeld = 134 DK: Die Gottheit ist nicht für unsere Augen und Hände greifbar, hat auch selbst keine Glieder, ist vielmehr „ein Geist, ein heiliger und übermenschlicher, (…) der mit schnellen Gedanken den ganzen Weltenbau durchstürmt“: ἀλλὰ φρὴν ἱερὴ καὶ ἀθέσφατος ἔπλετο μοῦνον φροντίσι κόσμον ἅπαντα καταΐσσουσα θοῆισιν. Schwierig zu übersetzen ist hier vor allem das Wort ἀθέσφατος, athesphatos, wohl herzuleiten von θεός, theos und φημί, phemi: Nach Liddel-Scott: ‚selbst für einen Gott nicht sagbar, oder nicht von der Gottheit, schrecklich‘, an den Belegstellen Il.3, 4; Od.7, 273; 11, 373 ‚weithin wirkend, unaussprechlich schön‘. 23 Fr. 64.75 Mansfeld = 22 B 31 (Umwandlungen des Feuers) und 64 DK (Alles steuert der Blitz).
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mit dieser Welt entstand im Laufe von Jahrzehnten und Jahrhunderten im Übrigen ein Bewusstsein einer eigenen griechischen Identität.24 Lagen die zentralen Zonen griechisch-altorientalischer Begegnung zunächst in Kilikien, Syrien und Phönikien sowie Zypern, so folgte ab etwa 660 v. Chr. die Auseinandersetzung mit der anderen uralten Schriftkultur im Osten der Mittelmeerwelt, nämlich mit Ägypten. Dort beendete damals Psammetich I. das assyrische Intermezzo mit Hilfe karischer und griechischer Söldner. Die Kontakte der Griechen mit dem Land am Nil intensivierten sich in der Folge; im sechsten vorchristlichen Jahrhundert sind sie dann vor allem für die Insel Samos und für Ionien besonders dicht belegt. Durch Herodot weiß man von jeher von den Kontakten zwischen Polykrates, der Samos etwa ab 540 bis 522 v. Chr. als Tyrann beherrschte, und Amasis, dem Pharao der Jahre 570 bis 526. Gerade in den letzten Jahrzehnten hat die archäologische Forschung reichlich Material zu Tage gefördert, das die griechisch-ägyptischen Kontakte dokumentiert. Unter anderem ist klar geworden, dass die griechischen Kouros-Statuen ägyptischen Vorbildern nicht nur folgen, sondern ihren Ursprung verdanken. Samos besitzt mit den Riesen-Kouroi der Jahre 590/80 besonders spektakuläre Beispiele dafür; doch auch die Kleinfunde aus dem dortigen Heraion beleuchten den Austausch zwischen Ägäis und Nil in vielen Facetten. Klarerweise ist neben den frappanten formalen Abhängigkeiten der Kouros-Statuen von ägyptischen Vorbildern zu beachten, dass sie im gänzlich anderen griechischen sozialen und kulturellen Kontext auch ganz andere Funktionen erhielten als in Ägypten. Vor allem wurden sie zum Inbegriff des jungen Mannes zum Zeitpunkt der Initiation ins Erwachsenenleben. Vor diesem Hintergrund wird man nicht mehr ganz überrascht sein, wenn Peter W. Haider vor kurzem die These vorgebracht hat, dass auch die Elementenlehre der griechischen Naturphilosophen möglicherweise eine Vorstufe in Ägypten hat.25 Um die gedankliche Form, in der diese Vorstufe auftrat, zu verstehen, ist zunächst auf die ägyptische theologische Idee zu verweisen, dass nicht nur Menschen, sondern auch Götter Seelen haben. Diese Denkfigur erlaubte es zum Beispiel, heilige Krokodile als Ba des Gottes Sobek zu sehen oder den heiligen Widder von Mendes als Ba des Osiris. Die
24 Vgl. Ulf 1996 und Rollinger/Ulf 2004, vom Verf. dort Arbeiten zum Heroenkult sowie zum Kult von Apollon und Asklepios. [Beide Aufsätze in diesem Sammelband vgl. S. 25 ff. (Apollon/Asklepios) und S. 101 ff. (Heroenkult)]. 25 Haider 2004, 466f. und 470f.
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ältesten Belege für ein solches Konzept finden sich in der Zeit des neuen Reiches im sogenannten ‚Buch von der Himmelskuh‘.26 In diesem gedanklichen Rahmen konnten auch Naturphänomene und traditionelle Gottheiten, die ihrerseits damit in Verbindung standen, mit übergeordneten Gottheiten in Beziehung gesetzt werden, und es entstand eine spezifische Theologie, die in der ägyptischen Spätzeit blühte. Solches theologisches Denken führte seit der ramessidischen Ära auch zu einem Konzept wie dem folgenden: Der Schöpfer- und Allgott Amun-Re besitzt vier Bas beziehungsweise ‚Seelen‘, nämlich Re, verbunden mit dem Feuer, sodann Osiris, verbunden mit Nun, dem Urgewässer, weiters Geb, Verkörperung der Erde und Schu, der Verkörperung der Luft.27 Diese Lehre wurde zur Zeit des Amasis, den man als politischen Partner des Polykrates kennt, in einem großen Heiligtum in Mendes in Gestalt von vier gewaltigen monolithischen Schreinen oder Naoi monumental umgesetzt.28 Dieser Ort im sechzehnten unterägyptischen Gau erlebte unter der Dynastie der Saiten, die Psammetich gegründet hatte, eine Blütezeit; er fungierte als Hafen und Zugang zu jenen Festungen im östlichen Delta, wo auch Griechen stationiert waren.29 Geht man davon aus, dass Griechen in Ägypten diese Ideen kennenlernten, so beginnt man die Lehren der Vorsokratiker anders zu lesen. Sie lassen sich ja durchaus als Auseinandersetzung mit den ägyptischen Konzepten verstehen: Der absolute Obergott, τὸ θεῖον, to theion, begegnet als νοῦς, nous, oder φρήν, phren, oder beides; bei Heraklit als vernunftbegabtes Feuer, aus dem die anderen Elemente hervorgehen und eine Vielzahl bilden, was inhaltlich stark an Amun-Re in der Theologie von Mendes erinnert. Freilich fehlt den Größen, die diese Lehre postuliert, das Personale und der Zusammenhang mit erzählbaren Mythen und rituellen Kultgebräuchen; die Gottheiten des möglichen ägyptischen Vorbilds sind also sozusagen aus dem mythisch-rituellen Kontext gelöst und ‚physikalisiert‘. Erinnern wir uns abschließend noch einmal an die Argumentation des hippokratischen Autors von ‚περὶ ἱερῆς νούσου‘: Er stellt der simplen Religion der Heiler und Zauberer und den Tabus einer zumindest partiell ägyptisierenden Magie, die in seinen Tagen offenbar 26 27 28 29
Vgl. Kessler 1989, 12; Lorenz 2000, 159 (= ²2013, 168f.) (heilige Tiere als Bas der Götter); Haider 2004, 467. Die Belege aus Hymnen an Amun bzw. Amun-Re bei Haider aO., vgl. auch Assmann 1983. Vgl. Haider 2004, 467 mit Abb. 11 auf S. 491 (nach Arnold 1922). Vgl. Haider aO.
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aktuell war, eine sublimierte Gottesauffassung und die rationale Säftelehre gegenüber, die durch die Lehre von den vier Elementen inspiriert ist. Auf der Suche nach den historischen Ursprüngen dieser seiner Gegenkonzepte stößt man zunächst auf jene Phase der griechischen Geistesgeschichte, in der sich die ionischen Philosophen und in ihrer Nachfolge auch Männer wie Empedokles über das Wesen der Welt den Kopf zerbrachen. Es spricht viel dafür, dass sie sich dabei nicht einfach im innergriechischen Diskurs bewegten oder sich freier und abstrakter Spekulation hingaben, sondern sich mit Konzepten auseinandersetzten, die die Frucht ägyptischen Denkens waren. Diese Konzepte wurden dabei enttheologisiert, entmythisiert, ‚physikalisiert‘. Solcherart weiterentwickelt, dienten sie dem Hippokratiker und seinesgleichen als intellektuelles Instrumentarium, um eine Szene von Magiern und Heilern zu bekämpfen, die ihrerseits neben anatolisch-iranischen Ideen eine andere Schicht ägyptischen Glaubens importierte, nämlich Elemente aus den Ritualordnungen, die freilich aus ihrem politisch-sakralen Kontext gerissen wurden. Wenn dieses Bild zutrifft, so bedeutet das, dass die Religionskritik der griechischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft interkulturelle und interreligiöse Aspekte hat, die bisher noch nicht gesehen wurden.
Erstveröffentlichung in:
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Ulrich Berner/Ulrike Tanaseanu-Döbler: Religion und Kritik in der Antike (= Religionen in der pluralen Welt. Religionswissenschaftliche Studien, hrsg. von Chr. Auffarth, Günter Kehrer, Michael Zank), LIT-Verlag, Berlin 2009, 17-28.
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Von Tabu und Gottesstrafe zur Chirurgie und Nervenforschung – Über die Vielfalt der antiken Krankenbehandlung1 Wenn Sie die Stichworte Medizin und Antike hören, denken Sie vermutlich an Hippokrates, und im Zusammenhang mit ihm an den Hippokratischen Eid und seine hohe Ethik, an die Vier-Säfte-Lehre und an eine ganzheitliche Auffassung von Gesundheit und Krankheit, die der modernen Medizin bedauerlicherweise abhanden gekommen sei. Das Anliegen meiner heutigen Ausführungen ist es, dieses Bild zu bereichern und zu differenzieren. Einerseits möchte ich Ihnen einige Aspekte der religiös-magischen Krankheitsauffassung im Altertum vorführen, die historisch älter ist als die hippokratischen Lehren, dann einige Aspekte hippokratischer Theorie und Praxis und schließlich spätere Entwicklungen, die in der Tätigkeit spezialisierter Chirurgen und in offensiver anatomischer Forschung gipfelten. Schon hier sei festgehalten, dass es sich dabei nicht um eine strikte Ablösung von Denkweisen und Handlungsmustern handelt, sondern um ein zunehmend widersprüchlicheres Nebeneinander, das für den Hellenismus und die frühe römische Kaiserzeit zu einem sehr komplexen Gesamtbild führt. Außerdem möchte ich die antiken Entwicklungen in den drei genannten Phasen durch Kulturvergleich in einen größeren Rahmen stellen. Besonders dabei sollen einige neue Ergebnisse meiner eigenen Forschungen einfließen.
1. Gottesstrafen, Heilungsrituale und Tabus Die religiös-magische Krankheitsauffassung der Griechen begegnet gleich in einem der ältesten und berühmtesten Stücke griechischer Literatur und Dichtung: Schon die ersten Verse der Ilias, wohl im siebenten Jahrhundert v. Chr. entstanden, schildern eindrucksvoll eine Seuche im Lager der Griechen vor Troia. Es ist der erzürnte Gott Apollon, der mit seinem silbernen Bogen die todbringenden Pfeile verschießt. Zuerst sterben durch seinen 1
Es handelt sich hier um die Verschriftlichung eines Vortrags im Rahmen der Kremser Humanistischen Gesellschaft im Jahr 2002.
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Angriff Maultiere und Hunde, dann aber brennen die Totenfeuer rastlos für die Achäer, die die Seuche hinwegrafft. Der Seher Kalchas verkündet, was zu tun ist: Agamemnon muss Chryseis, die Tochter eines Apollonpriesters, die er verschleppt und versklavt hat, zu ihrem Vater zurückschicken; außerdem bringen die Griechen dem Gott große Tieropfer von Stieren und Ziegen auf die Brandopferaltäre. Zuvor freilich müssen sie sich reinigen und „die Befleckung (ta lymata) ins Meer werfen.“ 2 Wie man sich Letzteres genau vorzustellen hat, ist gar nicht so leicht zu sagen. Aufgrund späterer Beispiele wird man am ehesten an Packungen oder Abreibungen mit Sand oder Lehm, Mehl oder Kleie denken müssen. Auch Senf oder Zwiebeln kommen in Betracht. Diese Mittel, von denen man annahm, dass sie Unreinheiten aufzusaugen oder anzuziehen vermochten, konnte man in die Wogen werfen. Die Szenerie ist im Übrigen kennzeichnend für eine frühe Kultur. In Apollon begegnet uns nämlich der Typus des ‚ambivalenten Heilgottes‘: Er sendet das Übel, er ist aber auch derjenige, den man durch Gebet und Opfer, allenfalls auch durch Wiedergutmachung eines Ärgernisses dazu bringen kann, die Krankheit wieder wegzunehmen. Der Gott mit dem silbernen Bogen begegnet in dieser Funktion nicht nur literarisch, sondern auch an Kultorten, zu denen man mit entsprechenden Anliegen pilgerte: In Phigalia Bassai hoch in den Bergen Arkadiens verehrte man ihn als Apollon Epikourios, in Lindos auf Rhodos und in Kos hatte er ebenfalls diese Funktion, in Epidauros auf der Anhöhe über dem berühmten Theater rief man ihn als Apollon Maleatas an, und auch die Römer errichteten ihm als Apollon Medicus auf der Tiberinsel schon früh, das heißt wohl im vierten Jahrhundert v. Chr., ein Heiligtum. Parallel zu den religiösen Riten im engeren Sinn, also Gebet und Opfer, erfolgt in der epischen Erzählung aber auch noch eine Manipulation, die eine Unreinheit wegnehmen soll – und zwar ganz konkret und anschaulich, als ob es sich um Schweiß oder etwas Klebriges handelte, das entfernt werden muss. Es ist im Übrigen nicht nur Apollon, der Krankheit als Gottesstrafe schicken kann, sondern auch anderen Gottheiten schrieb man solches zu, so zum Beispiel Zeus, der in der Odyssee dem Riesen Polyphem geistige Verwirrung als ‚Krankheit des Zeus‘ sendet.3 Neben diesen von mir so genannten ‚ambivalenten Heilgottheiten‘ spielte nun in Griechenland ein ausschließlich wohltätiger göttlicher Arzt eine stetig wachsende Rolle, näm2 3
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Il. I, 37-67. 308-317. Od. 5, 394ff.; 9, 410ff.
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lich Asklepios oder mit seinem lateinischen Namen, der von einer der vielen inschriftlich belegten griechischen Namensvarianten abgeleitet ist, Aesculapius. Im homerischen Epos begegnet er als Arzt und Vater von Machaon und Podaleirios, die man zu den Verwundeten ruft, und seit Hesiods Frauenkatalogen galt er als Sohn Apollons und einer sterblichen Frau mit dem Namen Koronis – freilich stand er zunächst nur im Range eines Heros. Ein besonders alter Kultort des Asklepios war Titane in den Bergen zwischen Sikyon am Golf von Korinth und Nemea in der Argolis, dessen Bauten und Statuen der Reiseschriftsteller Pausanias im zweiten nachchristlichen Jahrhundert sehr genau beschrieben hat. Er erwähnt unter anderem mehrere sehr alte, mit Kleidern behängte Holzstatuen der dort verehrten Gottheiten, was vermuten lässt, dass die Anfänge des Heiligtums ins siebente oder sechste Jahrhundert v. Chr. gehörten. Eine besondere Rolle spielte dort eine uralte Statue der Koronis, der auch besondere Riten galten. Dazu zählte eine Prozession und die in Griechenland seltene Opferung von Vögeln. Das Standbild der Göttin Hygieia, der personifizierten Gesundheit, wurde in Titane merkwürdigerweise mit Binden aus babylonischem Stoff behängt. Auch in Sparta gab es mehrere kleine, aber sehr alte Heiligtümer des Asklepios. Es war dann das fünfte und vierte Jahrhundert v. Chr., in dem der berühmteste Wallfahrtsort unter der Patronanz des mythischen Heilers seinen Aufstieg nahm, nämlich Epidauros, das um 420 v. Chr. auch eine wichtige ‚Filiale‘ am Fuß der Akropolis erhielt. Was die Pilger in diesen Heiligtümern erlebt haben, wurde mit einem Schleier des Geheimnisses umgeben. Im ersten großen Gebäude von Epidauros, das die Archäologen nach alter Zählung als ‚Gebäude E‘ bezeichnen, hat man anscheinend die entscheidenden Vorgänge vor unerwünschten Blicken geschützt, indem man den Innenhof durch eine Blendmauer mit merkwürdigem Grundriss in zwei Hälften teilte. Neugierigen, die auf einen Baum kletterten, um von oben in die Räume zu blicken, in denen die Heilungssuchenden des Nachts ruhten und ihre entscheidenden Erlebnisse hatten, hielt man vor, dass der Gott solche Leute herunterstürzen ließe. Und so sind wir einerseits auf offizielle, von Priestern zusammengestellte Heilungsberichte angewiesen, die in Epidauros um 300 v. Chr. auf großen, teilweise erhaltenen Inschriftentafeln aufgestellt wurden, und andererseits auf eine ironisch-satirische Schilderung durch den Komödiendichter Aristophanes. Diesen Quellen kann man unter anderem Folgendes entnehmen: Wer die Nacht im Heiligtum verbrachte, konnte von heiligen Tieren ‚geheilt‘ werden, die dort herumliefen. So heißt es in den Inschriften von Epidauros: „Ein Hund heilte einen Knaben aus Aigina. 83
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Dieser hatte ein Gewächs am Hals. Als er zu dem Gott gekommen war, behandelte ihn einer von den heiligen Hunden im Wachen mit der Zunge und machte ihn gesund.“ 4 Als ein Anderer mit einem Geschwür an der Zehe im Heilraum lag, „kam eine Schlange (bzw. Natter) aus dem Heilraum, heilte seinen Zehen mit der Zunge und zog sich, nachdem sie das getan, wieder in den Heilraum zurück. Als er aufwachte und gesund war, sagte er, er habe ein Gesicht gesehen, es habe ihm geträumt, dass ein Jüngling von stattlicher Gestalt eine Arznei auf den Zehen aufgestrichen habe.“ 5 In anderen Fällen handelt es sich um Begegnungen mit Asklepios selbst, der den Kranken den Leib aufschlitzt, um verderbliche Gegenstände oder Blutegel herauszuholen: „Euhippos trug eine Lanzenspitze sechs Jahre im Kiefer. Als er im Heilraum schlief, nahm ihm der Gott die Lanzenspitze heraus und gab sie ihm in die Hände. Als es Tag geworden, ging er gesund heraus mit der Lanzenspitze in den Händen. – Ein Mann aus Torone mit Blutegeln. Dieser schlief im Heilraum und sah einen Traum: er glaubte, der Gott habe ihm die Brust mit einem Messer aufgeschlitzt, die Blutegel herausgenommen und dann die Brust wieder zusammengenäht. Als es Tag geworden, kam er heraus mit den Tieren in den Händen. Er hatte sie verschluckt durch die Arglist seiner Stiefmutter, die sie in einen Mischtrank geworfen, den er austrank.“ 6 Es ist besonders zu beachten, dass die Patienten in den zuletzt genannten Fällen nach einer blutigen Operation eine im wahrsten Sinne des Wortes handgreifliche Krankheitsursache in den Händen halten: eine Lanzenspitze, in andern Fällen Blutegel, einen Blasenstein oder Ähnliches. Breites völkerkundliches Vergleichsmaterial ist meines Erachtens die Basis für eine – zugegeben ernüchternde – Erklärung dazu: Es waren Mitglieder des Kultpersonals, die in diesen Fällen, als Asklepios, als Jüngling oder sonst als Begleiter des Gottes verkleidet, an den Kranken Scheinoperationen im Stil neuzeitlicher indigener Medizinmänner oder auch philippinischer Heiler in Szene gesetzt haben. Genau das legt uns im Übrigen auch Aristophanes in seiner deftigen Satire auf den Heilbetrieb in den Asklepieien nahe.7 4 5 6 7
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Fall B 26 Herzog. Fall A 17 Herzog. Fall A 12 und 13 Herzog, vgl. Fälle A 14 und B 25. „Zuerst nun nahm er (scil. Asklepios) Neokleides vor,/ Rieb Salbe, stieß sodann drei Knollen Knoblauch,/ Echt Tenischen zusammen, Feigensaft / und Mastix tat er in den Mörser, goß / Darüber dann den schärfsten sphettischen Essig; / Damit bestrich er ihm die Augenlider, / Die umgestülpten, denn so biß es mehr!/ Da sprang der heulend auf und floh; … / Dann setzt er (scil. Asklepios) sich zum Reichtum hin, betastet / Den Kopf ihm rings und nimmt ein reines Tuch / Und wischt ihm ab die Lider; Panakeia / Verhüllt ihm Kopf und Angesicht rundum / Mit einem Purpurschleier. Plötzlich schnalzt / Der Gott, und aus dem Innern schossen vor / zwei ungeheure Schlangen -…/ Die krochen unterm Schleier sanft hinauf / Und leckten ihm die Lider, wie mir schien; / Und eh du, Frau, zehn Becher Wein verschluckst, / Stand Plutos aufrecht da und konnte sehn! / … / … Alsbald verschwand / Im Heiligtum der Gott mit seinen Schlangen. / … Loblieder sang ich laut dem Gott, daß er / So schnell den Reichtum sehend, aber blinder / Als je den Neokleides werden ließ.“ (Aristoph. Plutos, 716-747). Siehe auch Aristoph. Plutos, 653-670.
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Kranke mochten also zum ambivalenten Gott Apoll beten und ihm opfern, sie mochten sich einer aufwändigen Wallfahrt und einem mehrtägigen Aufenthalt in einem Asklepieion unterziehen. Eine dritte Möglichkeit war, dass sie den Rat umherziehender Wanderpriester, Zauberer oder Magier suchten. Diese forschten dann nach Indizien, welcher Gott dem Patienten grollte und deshalb die Krankheit geschickt hatte, und gaben Anweisungen, bestimmte Speisen oder Verhaltensweisen zu meiden – Anweisungen freilich, die im magischen Denken verwurzelt waren. All dies wurde um 420 v. Chr. einem aufgeklärten Arzt zum Ärgernis, der eine der berühmtesten Schriften verfasst hat, die uns aus dem Altertum unter dem Namen des Hippokrates überliefert sind, ohne dass seine Autorenschaft abgesichert und bestätigt werden könnte. Wir meinen den Verfasser der Schrift Über die heilige Krankheit. Darunter ist die Epilepsie zu verstehen, die ihr Opfer im Anfall packt und beutelt wie ein erzürntes mächtiges Wesen – was übrigens auch ihr griechischer Name in seiner Grundbedeutung ausdrückt. Im Ton der Entrüstung zeichnet der hippokratische Autor ein Bild dieser Leute: „Diejenigen, die als erste diese Krankheit als heilig erklärt haben, waren Leute von dem Schlage, wie es auch jetzt Zauberer, Entsühner, Bettelpriester und Aufschneider gibt, die alle beanspruchen, besonders gottesfürchtig zu sein und mehr als andere zu wissen. Diese Menschen wählten die Gottheit als Deckmantel für ihre Hilflosigkeit ...“ 8 Die Art, wie sie die erzürnte Gottheit eruieren, schildert der Hippokratiker folgendermaßen: „Wenn der Kranke eine Ziege nachahmt, und wenn er (wie ein Löwe) brüllt und mit der rechten Seite zuckt, dann sagen sie, die Göttermutter (Magna Mater, Kybele) sei schuld. Wenn er aber lauter und schriller schreit, dann vergleichen sie das mit dem Wiehern eines Pferdes und sagen, Poseidon sei schuld.“ 9 Diese Identifikationen, die sich im Text noch fortsetzen, haben ihren Grund darin, dass die Magna Mater im religiösen Kult mit Ziege und Löwe assoziiert wurde, Poseidon aber mit dem Pferd, dessen Hufedonnern mit dem Rollen von Erdbeben und Meeresbrandung verknüpft wurde – also mit jenen Naturphänomenen, deren furchtbarer Herr Poseidon im besonderem Maße war. Dann spielt der Verfasser der hippokratischen Schrift auf Reinigungsriten an, wie wir sie schon aus der Ilias kennen: „... sie nehmen Entsühnungen vor, indem sie die mit der Krankheit Befallenen mit Blut oder ähnlichem ‚reinigen‘“ und „...sie entsühnen, und das Unreine verbergen sie in 8 9
Hipp. morb. sacr. 1, 10f. Hipp. morb. sacr. 1, 33f.
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der Erde oder werfen es ins Meer oder bringen es weg in die Berge, wo niemand es berühren oder darauf treten kann.“ 10 Schließlich folgen die Tabuvorschriften: „... sie verboten ... viele Speisen, deren Genuss kranken Menschen unbekömmlich ist: So von Salzwasserfischen Barben, Schwarzschwänze, Pfriemenfische und Aale (denn diese Fische sind besonders gefährlich), ferner Fleisch von Ziegen, Hirschen, Schweinen und Hunden (denn dieses Fleisch bringt den Bauch am meisten in Unordnung)... Ferner verboten sie schwarze Kleider zu tragen (denn schwarz ist die Farbe des Todes), auf Ziegenfell zu schlafen oder eines zu tragen, dann ein Bein über das andere zu legen oder eine Hand auf die andere (denn dies alles seien Hindernisse).11 Einige dieser Tabus sind für Religionshistoriker relativ bekannt und verständlich, so zum Beispiel die Meidung der schwarzen Farbe, oder das Verbot, Hände oder Beine zu überkreuzen – dies könnte nach einer verbreiteten Vorstellung böse Geister daran hindern, auszufahren. Andere sind kaum aufzulösen, denn vor allem die tabuisierten Fischarten sind ausgezeichnete Speisefische, und es gibt keine unabhängigen griechischen Quellen, die irgendwelche magischen Vorstellungen mit ihnen verbänden. Die vom Hippokratiker aufgestellte Behauptung, dass die Tiere gefährlich wären, entbehrt jedenfalls jeder praktischen Grundlage – allerdings deutet das verwendete Wort ‚epikerotatoi‘ auch eher auf eine dämonische, magische Gefahr.
1.1. Kulturvergleich All diese griechischen Vorstellungen sind als solche bemerkenswert. Darüber hinaus kann man sie einer kulturvergleichenden Betrachtung unterziehen, die auf verschiedenen Vergleichsebenen zu interessanten Ergebnissen führt. Zunächst einmal ist festzustellen: Der Typus der ambivalenten Heilgottheit, wie Apollon sie darstellt, ist in alten Kulturen weit verbreitet und sozusagen normal: Die altägyptische Sachmet, die durch Frauenstatuen mit Löwinnenkopf dargestellt wurde, verkörpert ihn ebenso wie die mesopotamische Gula oder ihr männliches Gegenstück Nergal, der syrische Rešep, der altindische Rudra oder der altmexikanische Tlaloc.
10 Hipp. morb. sacr. 1, 40. 42. 11 Hipp. morb. sacr. 1, 12-14. 17-19.
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Spezialisierte, ausschließlich wohlmeinende Heilgottheiten vom Schlage des Asklepios sind hingegen im universalhistorischen Vergleich ausgesprochen selten. Sicher belegte Beispiele bietet etwa das Ägypten der Spätzeit mit Amenophis, Sohn des Hapu, und Imhotep. In beiden Fällen handelt es sich um historische Persönlichkeiten, die jedenfalls ab dem siebenten beziehungsweise vierten Jahrhundert v. Chr. als göttliche Gestalten figurieren. Indien kannte vermutlich ab der Zeitenwende einen – nicht sehr volkstümlichen – Heilgott Dhanvantari; in China erzählte man nur von einem mythischen Begründer der Heilkunst namens Huang-ti, der aber keinen lebendigen Kult erhielt. Ein möglicher Hintergrund für die Entstehung dieser Gestalten könnte es sein, dass es in den betreffenden Kulturen – und nur in diesen! – einen ärztlichen Berufsstand gab, der sich weitgehend aus den religiösen Bindungen gelöst hatte. Die Heilgötter wurden nun zum Gegenbild und Gegenpol, zum Komplement dieses Ärztestandes. Soweit die eher allgemeine Vergleichsebene. Wendet man sich den Details rund um die griechischen Heilgottheiten, Riten und Tabus zu, so gelangt man zu einem höchst bemerkenswerten Ergebnis: Hellas stand hier unter einem sehr starken altorientalischen, in einzelnen Punkten auch unter ägyptischem Einfluss! Zunächst zeigt sich eine enge Verwandtschaft des Heilgottes Apollon mit dem bereits erwähnten syrischen Heilgott Rešep, der mancherorts auch unter dem Namen Mukol verehrt wurde. Auch dieser Gott wurde als junger Mann mit Pfeil und Bogen dargestellt; mit seinen Geschoßen verbreitete er Krankheiten; gleichzeitig wurde er um Schutz vor solchem Unglück angefleht. Die Göttin Astarte (verwandt mit der mesopotamischen Ištar) galt als seine Gattin und Kultpartnerin in gemeinsamen Tempeln und Festen, so zum Beispiel in Ugarit. Dieser syrisch-phönizische Gott wurde nun auf Zypern, wo Griechen und Phöniker vielerorts zusammenlebten, auch ausdrücklich mit Apollon gleichgesetzt. So bezeugt es eine wichtige Inschrift aus Idalion12 im Inneren der Insel. Verständlich wird das Ganze, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Apollon in der frühgriechischen Gesellschaft die zentrale Funktion hatte, über die Einführung der jungen Männer ins Erwachsenenalter (Initiation) zu wachen. Dazu gehörte ein Aufenthalt der Jünglinge in den Wäldern für eine große Jagd – und dementsprechend war auch Apollon mit Pfeil und Bogen bewaffnet; daneben trug er die Leier für die begleitenden Feste. Auch von einem (Jagd-)Hund wurde er begleitet, und das ergab eine neue Verbindung zu den 12 Vgl. DNP 5 (1998), 889 mit weiterführender Literatur.
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erwähnten altorientalischen Heilgottheiten: Man stellte sie in Begleitung von Hunden dar, und in ihren Tempeln wurden Hunde und Welpen gehalten. Zum Teil wurden sie den ambivalenten Heilgottheiten gleichsam als Stellvertreter für bedrohte Menschen geopfert oder gestiftet, teilweise galt ihre Berührung als heilsam. Die Existenz solcher Hunde im Tempel des Rešep/Mukol und der Astarte ist auch durch eine Inschrift aus dem zypriotischen Kition belegt.13 Die oben erwähnten Inschriften aus Epidauros zeigen, dass solche Tiere auch dort ‚zur Belegschaft‘ des Asklepios-Heiligtums gehörten. Darüber hinaus gibt es entsprechende Hinweise für Piräus und Athen. Es zeigt sich letztlich auch in den bildlichen Darstellungen, dass die Hunde ursprünglich für Asklepios ebenso wichtig waren wie die Natter. All das fügt sich nun durch eine frappante Entdeckung zu einem Gesamtbild: Der Name des Gottes Asklepios oder Asklapios ist nämlich unverständlich, wenn man ihn mit Hilfe griechischer Wortstämme zu deuten versucht, aber er wird verständlich, wenn man semitische Wörter zugrundlegt: azu heißt im Akkadischen Arzt oder Heiler, kalbu(m) Hund, und so bekommt der Gottesname die Bedeutung Heiler mit dem Hund.14 Dies mag ursprünglich ein Beiname Rešeps beziehungsweise Apollons gewesen sein, dann machten die Griechen (konkret Homer und Hesiod) daraus eine selbständige Mythenfigur und erklärten sie zum Sohn des jugendlichen Gottes! Schließlich löste Asklepios seinen Vater in der Rolle des Heilgottes weitgehend ab. In diesem Licht versteht man auch Koronis, die Mutter des Asklepios, neu: Sie entspricht der Astarte, sie ist Partnerin des Rešep/Apoll; deshalb bekommt sie die seltenen Vogelopfer wie Astarte, und schließlich lässt sich ihr Name als ‚die Gehörnte‘ verstehen – das entspricht dem Erscheinungsbild der syrischen Göttin mit einer Hörnerkrone. Letztendlich werden noch mehr Details rund um Apoll und Asklepios im Rahmen einer solchen Erklärung verständlich, doch würde dies im vorliegenden Rahmen zu weit führen. 2004 erschien ein Beitrag zu einem Sammelband über die griechische Archaik aus unserem Innsbrucker Institut, in dem ich diese Dinge mit ausführlichen Belegen diskutiere.15 Ein Blick über die Kulturgrenzen bringt aber auch eine überraschende Lösung für die Frage nach den Speiseverboten, die den aufgeklärten Hippokratiker kritisch stimmten:
13 Vgl. oben S. 39, bes. Anm. 49. 14 Ausführlich dazu und mit Belegen vgl. folg. Anm. 15 Vgl. dazu oben S. 25-66, bes. S. 54 f. = „Asklepios, der Heiler mit dem Hund, und der Orient.
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Die vier Fischarten, die von seinen Widersachern, den Zauberern und Magiern, mit Tabu belegt wurden, spielten nämlich in Ägypten eine entsprechende Rolle!16 Besonders gut belegt ist das für die Seebarbe. Schon im Alten Reich, um 2425 v. Chr., hat man die jahreszeitlichen Wanderungen dieses Fisches, von dem man zwei Unterarten kannte, vom Nildelta über tausend Kilometer bis in die Gegend von Assuan und Elephantine beobachtet und ihn zum heiligen Tier des Flussgottes gemacht, weil seine Ankunft in Oberägypten in etwa mit dem Beginn der großen Überschwemmung zusammentraf. Nun folgte daraus nicht etwa ein generelles Speiseverbot für ganz Ägypten, sondern es wurden lediglich örtliche Meidungen durchgesetzt. Sie galten insbesondere in Elephantine und im Deltagebiet. Bei den anderen Fischen, etwa den Aalen, verhielt es sich ähnlich, desgleichen bei vielen anderen Tierarten. An jedem Ort des Landes herrschten somit je nach den dort verehrten Gottheiten und deren heiligen Tieren unterschiedliche Vorschriften. Wieder war es die Spätzeit der ägyptischen Kultur und Geschichte, in der das komplizierte Regelwerk der Speisetabus für die einzelnen Regionen oder Gaue des Landes am Nil inschriftlich festgehalten wurde, und zwar in den sogenannten ‚kulttopographischen Listen‘, die an Säulen und Mauern in großen Tempeln wie jenen von Dendera, Edfu oder Komombo angebracht sind. Durch sie ist die Forschung über diese Dinge ziemlich gut informiert, wenngleich da und dort noch Details unklar sind: Einzelne Fischnamen sind noch nicht hinlänglich zoologisch identifiziert, es gibt Lücken im Text und Ähnliches. Dennoch ist es ziemlich klar: Seit etwa 660 v. Chr. lebten Griechen in Ägypten und lernten die einschlägigen Ideen der Einheimischen kennen, auch wenn sie diese nicht immer ganz verstanden. Schließlich kamen Ägypter oder, noch wahrscheinlicher, Griechen oder Graeco-Ägypter aus Mischehen, die ägyptische Weisheiten im Gepäck hatten, nach Athen und anderen griechischen Zentren und verkündeten hier: Wer von der heiligen Krankheit befallen ist, sollte jenen Speisegeboten folgen, die in unseren heiligen Aufzeichnungen festgehalten sind. Und sie griffen dabei auf eine Kombination solcher Tabus zurück, wie sie in einem bestimmten ägyptischen Gau gültig war, und dies wahrscheinlich ihrem Herkunftsort entsprechend. Die Indizien deuten am ehesten auf den zwanzigsten unterägyptischen Gau, jedenfalls aber ins östliche Nildelta.
16 Eingehende Auseinandersetzung mit dieser Hypothese vgl. unten S. 229 ff. = „Tiere kennen und die Tierwelt erklären – Leistungen und Irrwege der alten Kulturen“ (2004), mit Abbildung 1 nach Edel 1961/63 und Lorenz, G.: Tiere im Leben der alten Kulturen. Schriftlose Kulturen, Alter Orient, Ägypten, Griechenland und Rom, 2000, 154f. (²2013, 164f.).
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Der hippokratische Autor meinte in seiner rationalistischen Denkweise, sie hätten Kenntnis davon, dass es sich um schwer verdauliche Sorten handelt; durch die Verwendung des Wortes epikerotatoi signalisiert er aber doch auch, dass es sich um magische Vorstellungen handelt. Auch für das Tabu auf Ziegen und Ziegenfelle finden sich ägyptische Parallelen, etwa in einem Eid, den Priester bei Antritt ihrer Funktion zu schwören hatten, oder in Sprüchen des berühmten Totenbuches. Insgesamt ergibt sich also für den Bereich der religiös-magischen Vorstellungen folgendes Bild: Von der homerischen bis in die klassische Zeit teilten die Griechen, generell gesehen, jene Denkmuster, wie sie in allen alten Kulturen verbreitet waren: Ambivalente Seuchen- und HeilGottheiten, die über die Menschen Strafe verhängen oder Hilfe bringen, magische Reinigungsriten, Tabus zum Schutz vor bestimmten Leiden. Dies entspricht einer bestimmten Entwicklungsstufe in der Geistes- und Kulturgeschichte und sagt noch nichts über Kontakte und Einflüsse. In den geschilderten konkreten Fällen zeigt es sich aber sehr wohl, dass altorientalische und – ab einem Zeitpunkt, der etwa hundert Jahre später lag – auch ägyptische Vorstellungen und Riten übernommen wurden. Vermittelt wurde all dies durch Kolonisation und direkte Nachbarschaft, durch die große Literatur, insbesondere das Epos und Hesiod, durch Rückkehrer und Wanderpriester.
2. ‚Hippokratische‘ Krankheitslehre und Behandlungsmethoden Der Autor der Schrift Über die heilige Krankheit setzt dem Glauben an Gottesstrafen, Reinigungsriten und Tabus jene neue Theorie entgegen, die gemeinhin als typisch hippokratisch gilt. Wir meinen die Lehre von den vier Körpersäften – Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle. Wenn sie sich im Gleichgewicht befinden, so ist der betreffende Mensch nach der besagten Theorie gesund, während ein Ungleichgewicht negative Symptome nach sich zieht. Im konkreten Fall führt er die Epilepsie auf einen Überschuss an Schleim (griechisch phlegma) im Gehirn zurück. Schon im Mutterleib werde der Keim zur Erkrankung gelegt, wenn der Embryo nicht ausreichend vom Phlegma gereinigt werde. Das Kind, das als Phlegma-Typ zur Welt kommt, habe in den ersten Lebensjahren noch die Chance, den
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überschüssigen Saft auf dem Umweg über Geschwüre, Speichel- und Schleimabfluss loszukriegen. Geschieht das nicht, so stellen sich beim Erwachsenen die Krampfanfälle ein.17 Somit hat das Leiden eine erbliche Komponente, es manifestiert sich beim Erwachsenen, und es hat eine natürliche Ursache. Man darf die Götter damit nicht in Zusammenhang bringen – ja, das sei sogar Blasphemie – Rituale und Tabus sind sinnlos. Diese weltanschaulichen Konsequenzen zeigen das Revolutionäre an der neuen medizinischen Lehre. Darin liegt auch ihre enorme historische Bedeutung, selbst wenn kein Behandlungsvorschlag für die Krankheit folgt. Diese geistesgeschichtliche Bedeutung der hippokratischen Lehren ist schon oft gewürdigt worden. In meinen Arbeiten habe ich mich aber im Besonderen der Frage zugewandt, wie die praktische Seite der ‚neuen Medizin‘ des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts aussah. Wie weit änderten sich die Erfahrungen, die ein Patient machte, wenn er wegen eines inneren Leidens bei den Ärzten Rat suchte? Die Antwort lautet: Die Dinge änderten sich nicht so radikal, wie man glauben könnte. Zwar gab es tatsächlich eine neue Art von Krankenbehandlung, die direkt mit den neuen Theorien zusammenhing, nämlich die Diätetik. Sie bestand darin, dass die Ärzte den Menschen Anleitungen zur Lebensführung gaben, um sie in den geforderten Gleichgewichtszustand zu bringen: Die Speisen wurden als feucht oder trocken, kalt oder warm eingestuft, und dementsprechend empfohlen oder verboten; darüber hinaus ging es auch um die Anwendung kalter oder warmer Bäder, um Spaziergänge, sportliche Übungen und manches mehr. Aber im Übrigen wurden alle traditionellen Methoden weiter angewandt, manchmal modifiziert. Zu diesem Traditionsschatz gehörten schon seit der Frühzeit Brech- und Abführmittel sowie Brennen und Schneiden. Mit der letztgenannten Formel ist einerseits die Verwendung des Brenneisens oder Kautérs gemeint, also eines Metallinstruments, das im Feuer erhitzt und dann auf die Haut gedrückt wurde, andererseits jene des Skalpells, das für den Venenschnitt beim Aderlass verwendet wurde. Es muss betont werden, dass das Brennen und Schneiden nicht nur zur Behandlung von Wunden, sondern auch bei den verschiedensten inneren Erkrankungen, so zum Beispiel bei Kopfschmerzen oder bei Lungenentzündung, praktiziert wurde. Ergänzt wurden diese althergebrachten Methoden durch die Schröpfung, bei der ein erhitzter Schröpfkopf auf die Haut gesetzt wurde, und durch pflanzliche ‚Brennmittel‘, die Rötungen und Blasen auf der Haut hervorriefen. 17 Hipp. morb. sacr. 2-5.
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Der gemeinsame Nenner, der ursprünglich hinter all diesen Maßnahmen stand, war die Absicht, einen schlechten Stoff aus dem Körper herauszuholen oder ihn gleich an Ort und Stelle zu vernichten. Dabei blieb man, trotz der neuen Theorien, und man verwendete – entgegen dem Klischee von der sanften hippokratischen Medizin – die durchaus deftigen Mittel teilweise recht exzessiv. Ein Beispiel dafür sei hier etwas ausführlicher wiedergegeben: Eine bestimmte Nierenerkrankung wurde darauf zurückgeführt, dass Schleim und Galle in bestimmten Körpergefäßen zusammenströmten. Diese Körpergefäße waren zwar teilweise mit Blutgefäßen identisch, die die heutige Anatomie kennt, doch die Verbindungsstücke dazwischen existierten nur in der Vorstellung der Ärzte. Dies wird deutlich, wenn man die Beschreibung ihres Verlaufes liest: „...der hohlen Adern, welche sich vom Kopfe längs der Gurgel durch das Rückgrat nach dem außen am Fuß gelegenen Knöchel und dem Zwischenraum zwischen der großen Fußzehe und den übrigen Zehen hinziehen. “Die Ärzte arbeiteten bei der angenommenen Störung dieser Adern zunächst mit massiven pflanzlichen Abführmitteln (Eselsgurke, Nieswurz, Purgierwinde etc.). Besserte sich der Zustand nicht, so setzten sie an nicht weniger als dreizehn Körperstellen, die offensichtlich in Relation zu dieser gedachten Ader standen, Brandwunden: „... Man bringe (dem Kranken) am rechten Schulterblatt vier Brandherde bei, im Hohlraum der rechten Hüfte drei, unter der Hinterbacke zwei, in der Mitte des Oberschenkels zwei, oberhalb des Knies einen und oberhalb des Knöchels einen. Eine solche Behandlung mit dem Glüheisen läßt bei dem Patienten die Krankheit weder nach oben noch nach unten weiter vordringen.“ Außerdem brannte man noch an Stellen, wo Schmerzen auftreten, und erläuterte: „...brennen aber muß man Fleischteile mit Glüheisen, die knochigen und sehnigen Partien mit Lampendochten.“ 18 Das Beispiel ist unter verschiedenen Aspekten bezeichnend: • Man erklärt sich ein Krankheitsbild mit Hilfe der Vier-Säfte-Lehre. Schleim und Galle gehören zu den klassischen Säften und sind nach der Annahme des hippokratischen Verfassers am falschen Orte konzentriert. • Man kennt das Körperinnere nicht wirklich, sondern man trifft spekulativ Annahmen über die Strukturen, die sich darin befinden, und über ihre Funktionsweise.
18 Hipp. morb. int. 18.
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• Man verwendet traditionelle Behandlungsmethoden, gibt ihnen aber teilweise einen neuen Sinn: Die Brandwunden, die man setzt, sollen – wohl durch Narben, die dabei entstehen – den schädlichen Säften den Weg absperren. Andererseits brennt man doch auch schlicht an den schmerzenden Stellen, wo das Übel offenbar konzentriert ist und vernichtet werden muss. • Die Medizin des fünften und vierten Jahrhunderts agiert keineswegs nur zurückhaltend und ganzheitlich, sondern durchaus massiv und lokal. Dies gilt übrigens nicht nur für die Schule von Knidos, sondern auch für jene von Kos, welche die medizinhistorische Forschung aufgrund diverser, nicht immer sicherer Indizien in den Texten zu unterscheiden versucht.
2.1. Kulturvergleich Zur Vier-Säfte-Lehre gibt es nur in zwei anderen alten Kulturen deutliche Parallelen: in Indien und in China. Die Ähnlichkeiten beziehen sich dabei weniger auf die Einzelheiten – wie zum Beispiel die Anzahl der Grundsubstanzen – als auf die Grundzüge des Denkmusters. In Indien etwa führte man Krankheiten auf die Effekte dreier Stoffe zurück, die als Schadstoffe das Blut belasten und Körperteile wie Fleisch und Knochen schädigen konnten. Es handelte sich bei diesen drei doṣa um Lufthauch oder Wind, Galle und Schleim. Man versuchte diese schädlichen Stoffe ebenfalls mit Hilfe des Aderlassmessers und des Brenneisens zu bezwingen; besonders beliebt waren darüber hinaus die Verwendung von Blutegeln und eine spezielle Ätzpasta. Und auch in Indien dachte man sich den Körper von zahlreichen, teilweise fiktiven Gefäßen durchzogen, deren Zahl man mit siebenhundert allerdings sehr hoch ansetzte. In China bilden die sogenannten ‚Fünf Agenzien‘ das Gegenstück zu den Säften der Hippokratiker. Es zeigt sich aber deutlich, dass diese Lehre erst in einem späten Stadium der Han-Zeit über ein älteres System gestülpt wurde. Dieses ist nicht zuletzt durch medizinische Texte greifbar, die aus einem im Jahre 165 v. Chr. versiegelten Grab stammen und damit klar datierbar sind. Hier stößt man wiederum auf halb fiktive Körpergefäße (mo), die im Endstadium des Konzepts die Zwölfzahl erreichten. In ihnen zirkulierte nach der Auffassung der han-zeitlichen Ärzte Pneuma oder Energie (qi), das in günstiger oder schlechter, zum Beispiel allzu kalter Form vorliegen konnte. Die Ärzte suchten es zu be93
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einflussen – und zwar, der Leser ahnt es schon, durch Schneiden mit feinen Messern und Stechen mit Nadeln, wobei in vielen Fällen ausdrücklich der Austritt von Blut erwünscht war, oder durch Brennen. Dafür verwendete man Kegel aus Wermutblättern. Eine wesentliche Gemeinsamkeit mit dem alten Hellas ist, dass man die Stellen fürs Schneiden und Brennen entlang der hypothetischen Gefäße ansetzte, soweit man nicht unmittelbar am Ort des Schmerzes eingriff (sogenanntes locus-dolendi-Stechen). Unschwer erkennt man in alledem die Vorstufen der Akupunktur und Moxibustion. Das Gesamtbild, das der Kulturvergleich für dieses Stadium der griechischen Entwicklung ergibt, lässt eines deutlich werden: In drei großen Kulturregionen haben sich hier unabhängig voneinander ähnliche Entwicklungen vollzogen. Neue naturphilosophische Theorien, die übrigens auch in allen drei Bereichen aufklärerischer Kritik an alten religiös-magischen Ideen dienten, haben zum Teil neue Behandlungsformen aufkommen lassen, zum Teil aber nur zur allmählichen Abwandlung uralter Traditionen geführt.
3. Chirurgie und Nervenforschung Jenen Bereich der Chirurgie, der sich mit der Versorgung von Wunden und Knochenbrüchen oder mit der Reposition verrenkter Glieder beschäftigte, hat es in der Antike wie in anderen Kulturen stets gegeben, und in die Phase der hippokratischen Medizin fallen auch manche Verbesserungen auf diesem Gebiet. Anders verhält es sich mit dem Bemühen, mit dem Skalpell bei Krankheitsbildern Abhilfe zu schaffen, die nicht durch äußere Einwirkung entstanden, also bei inneren Leiden. Diese Chirurgie im engeren Sinne hatte ihren Ursprung primär in Alexandria; die Rolle Pergamons in diesem Zusammenhang ist nicht ganz geklärt. Am westlichen Eckpunkt des Nildeltas hatte nach dem Zerfall des Alexanderreiches die Dynastie der Ptolemäer Residenz bezogen; vor allem die ersten Herrscher betätigten sich zwischen 300 und 250 v. Chr. als große Förderer der Wissenschaften, indem sie Gelehrte dorthin beriefen und für ihre Tätigkeit honorierten. In diesem Rahmen unternahmen es zwei bedeutende Ärzte, als Forscher durch Experimente mit dem chirurgischen Instrumentarium, die Lage und Funktionen der Organe zu 94
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erforschen und neue Behandlungsmethoden zu entwickeln. Es handelt sich um Herophilos aus Chalkedon (gegenüber von Byzanz am Bosporus gelegen) und den etwas jüngeren Erasistratos aus Keos (einer Insel südöstlich von Kap Sunion). Von beiden behaupten die antiken Quellen, sie hätten die schlimmste Form von Versuchen praktiziert, die man sich vorstellen kann: die Vivisektion am Menschen. Ptolemaios I. und seine Nachfolger hätten ihnen dafür verurteilte Verbrecher zur Verfügung gestellt.19 Tatsächlich machten die beiden Forscher Entdeckungen, die jedenfalls nur durch Lebendversuche an höheren Säugetieren erzielt werden konnten. Unter anderem identifizierten sie in den geöffneten Körpern ihrer Versuchsobjekte Stränge, die ähnlich aussahen wie Sehnen, aber offenbar für Empfindung und Wahrnehmung in von ihnen versorgten Körperteilen zuständig waren. Denn bei Durchtrennung dieser Stränge stellte sich regional Empfindungslosigkeit und Lähmung ein. Aufgrund der äußeren Ähnlichkeiten mit Sehnen – diese hießen auf Griechisch neuron, Mehrzahl neura – nannten sie diese Gebilde oder Organe ‚Empfindungssehnen‘ (neura aisthetika) – und das bedeutete nicht mehr und nicht weniger als die Entdeckung der Nerven (die Wortgeschichte von lateinisch nervus verlief im Übrigen parallel dazu von der Bedeutung ‚Sehne‘ zur Übernahme der medizinischen Spezialbedeutung). Den ersten Schritt tat in dieser Hinsicht Herophilos, den zweiten Erasistratos, indem er die Unterscheidung zwischen sensorischen und motorischen Nerven traf. Der Gedanke, dass diese Entdeckung, eine der bedeutendsten der Medizingeschichte, durch qualvolle oder sogar tödliche Menschenversuche erreicht wurde, ist nicht leicht zu ertragen. Man mag daher überlegen, ob die beiden Forscher nicht auch durch – ebenfalls qualvolle und schwerwiegende – Tierversuche so weit kommen konnten. Doch meines Erachtens müssen wir den Angaben der antiken Quellen folgen, solange wir keine triftigen quellenkritischen Überlegungen dagegen ins Treffen führen können. Unser Unbehagen, unsere Bestürzung und der Schock, der unser in mancher Hinsicht idealisiertes Bild des Altertums treffen mag, all dies ist für sich allein kein derartiges Argument. Übrigens wurde die Vorgangsweise der Alexandriner schon in der Antike kritisiert, und sie dürften in diesem Punkte auch keine Nachfolger gefunden haben. Jedenfalls schweigen die Quellen für die späteren Jahrhunderte. Dies gilt allerdings nicht für analoge Tierexperimente, die etwa von Galenos von Pergamon, dem Hofarzt des Kaisers Mark Aurel, durchgeführt wurden – und das sogar in der Öffentlichkeit. 19 Vgl. bes. Celsus med. prooem. 23-24; 40-44; 74).
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Herophilos und Erasistratos haben aber auch versucht, mit den Methoden der großen Chirurgie zu heilen. Erasistratos wagte es zum Beispiel, bei Bauchfellentzündung den Eiter operativ aus dem Bauchraum zu entfernen. Im weiteren Verlauf der Geschichte wurden vor allem zwei Operationen häufig und offenbar erfolgreich durchgeführt: Die Staroperation und die Entfernung von Blasensteinen. Die fortgeschrittensten Chirurgen schafften es dabei sogar große Blasensteine mit Spezialinstrumenten innerhalb der Harnblase zu zertrümmern, um sie sodann besser entfernen zu können.20 Die antiken Autoren Celsus und Rufus von Ephesos haben die entsprechenden Instrumente so genau beschrieben, dass sie in archäologischen Fundbeständen identifiziert werden konnten. Sie werden heute zum Beispiel in Cambridge oder im Römisch-Germanischen Museum in Mainz ausgestellt. Außer diesen Standard-Operationen weiß man auch noch, dass bei Kehlkopfdiphtherie der Luftröhrenschnitt durchgeführt oder dass der Leistenbruch operativ korrigiert wurde. Dies alles musste ohne Narkose geschehen, weil Narkotika wie die Mandragora aus der Familie der Nachtschattengewächse, die bereits bekannt waren, nicht mit der nötigen Präzision dosiert werden konnten. Dementsprechende Warnungen finden sich etwa bei Dioskurides.21 Angesichts dieser Gegebenheiten wird man sehr gut nachvollziehen können, wie Celsus die Eigenschaften eines guten Chirurgen definiert: „Ein Wundarzt muß im kräftigen Mannesalter oder wenigstens diesem näher stehen als dem Greisenalter. Seine Hand sei sicher und fest und zittere nie; er sei ebenso geschickt im Gebrauche der linken als der rechten Hand. Scharf und hell sei die Sehkraft seiner Augen, furchtlos sein Gemüt, und mitfühlend sei er nur in der Weise, dass es sein fester Wille ist, den in Behandlung genommenen Kranken zu heilen, ohne sich von dessen Geschrei rühren und zu größerer Eile bestimmen zu lassen, als sie die Umstände erfordern, oder zu weniger und kleineren Schnitten als nötig sind. Vielmehr führe er alles aus, als ob durch das Klagegeschrei des Kranken bei ihm gar kein Mitleid erregt würde.22
20 Cels. med. VII, 7, 14. 26, 2f. 21 Cels. med. VII, prooem. 22 Dioskur. mat. med. IV, 76.
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3.1. Kulturvergleich Die chirurgischen Maßnahmen, die wir zuletzt beschrieben haben, suchen in der Welt der alten Kulturen im wahrsten Sinne des Wortes ihresgleichen. Lediglich das alte Indien kannte Vergleichbares: Die Blasensteinoperation wird im Werk des Arztes Sušruta erwähnt,23 das mit einem gewissen Vorbehalt in die Gupta-Zeit datiert werden kann. Damit käme man ins vierte oder fünfte Jahrhundert n. Chr. Übrigens betont der indische Verfasser, dieser Eingriff sei nur im äußersten Notfall und mit Erlaubnis des Königs durchzuführen. Auch der Starstich und die Öffnung der Bauchhöhle, um Eiter abfließen zu lassen, waren in Indien bekannt. In all diesen Fällen könnten freilich aufgrund der Kulturkontakte, die zum entsprechenden Zeitpunkt längst etabliert waren – man denke nur an die Gandhara-Kunst –, antike Vorbilder eine Rolle gespielt haben. In China hat sich unter der Dominanz der konfuzianisch orientierten AkupunkturMedizin und der taoistischen Pharmakologie keine Chirurgie entwickelt, die auch nur ansatzweise mit den antiken Leistungen vergleichbar wäre. Die anatomischen Entdeckungen der Alexandriner schließlich stehen für das Altertum weltweit völlig allein; erst in der europäischen Neuzeit ist man über sie hinausgekommen. Natürlich stellt sich in einem solchen Fall die historische Frage, welche besonderen Voraussetzungen es gewesen sein mögen, die diese Singularität gezeitigt haben. Auf der Suche nach einer Antwort hat man wohl die besonderen Verhältnisse im frühen Ptolemäerreich ins Auge zu fassen. Hier wurde die dichte formelle und informelle Normenkontrolle, die in den kleinräumigen, demokratisch bis oligarchisch organisierten griechischen Poleis und Staaten gegeben war, von ganz anderen Verhältnissen abgelöst: Generäle mit makedonischgriechischem kulturellem Hintergrund, die zugleich die Machtvollkommenheit des Pharaonentums übernahmen, bestimmten nun als Wissenschaftsmäzene, was möglich war und was nicht. Zudem agierten sie als Exponenten einer zunächst nicht sehr großen herrschenden Minderheit gegenüber einer großen fremdkulturellen Bevölkerung; verurteilte Verbrecher aus den Kreisen der Unterworfenen galten mit Sicherheit besonders wenig. In dieser Situation war es relativ leicht, dem schon lange gewachsenen bohrenden Forschungsgeist griechischer Provenienz, der zudem in Ägypten auf anregende einheimische Wissenstraditionen stieß, exzessive Möglichkeiten zu eröffnen. 23 Sušruta-Samhita IV, 7, 13.
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Was die massiv eingreifende Chirurgie betrifft, so profitierte sie in ihren Anfängen wohl auch von dieser großen Experimentierphase. Im weiteren Verlauf bestätigten die Erfolge den neuen Zweig der ärztlichen Kunst, die schon in der klassischen Zeit als Téchne, als Handwerk also, etabliert worden war. Als solche bewegte sie sich abseits jenes Bereiches, in dem die Tabus religiös-magischen Charakters eine Rolle spielten – ganz abgesehen davon, dass die Aufklärung deren Geltung geschwächt hatte. Solche Tabus waren es aber, die etwa in Indien und China alle Ansätze zu anatomischer Forschung unterbanden.
4. Schlussgedanken Unsere Untersuchung hat gezeigt, wie falsch es wäre, schlechthin von ‚der antiken Haltung‘ bei der Bewältigung von Krankheit zu sprechen. Vielmehr existierte eine große Vielfalt von Denk- und Verhaltensweisen, die sich historisch entwickelt hat. In der homerischen und archaischen Zeit schritt man sicherlich primär zu Heilmaßnahmen, die in gewissem Sinne den Elementargedanken der Menschheit entsprachen – Brennen und Schneiden, Brech- und Abführmittel seien hier genannt. Vielfach war diese Vorgangsweise in den Glauben an Gottesstrafen, Abwehrriten und Tabus eingebettet. Diesen Glauben teilte man, seinem prinzipiellen Charakter nach, ebenfalls mit der ganzen Menschheit; die konkreten Ausprägungen in Hellas waren aber stark durch altorientalische und ägyptische Inhalte geprägt. Die klassische Zeit brachte mit der Vier-Säfte-Lehre ein naturwissenschaftliches Konzept und eine umfassende Theorie, die die Praxis aber nicht gänzlich umgekrempelt hat. Teilweise wurden nur die alten Heilmaßnahmen neu begründet. Darin zeigt sich die Antike mit ihren unabhängigen Schwesterkulturen in Indien und China verwandt. Im religiösen Bereich wurde diese Entwicklung vom Aufstieg eines ausschließlich wohltätigen Heilgottes in der Gestalt des Asklepios begleitet, der den ambivalenten Apollon weitgehend verdrängte. Der Hellenismus und die römische Kaiserzeit brachte dann eine Chirurgie, die sich zu massiven Eingriffen entschloss – sie hat ihre Parallelen in Indien. Dort handelt es sich freilich nicht sicher um unabhängige Meister ihres Faches, sondern möglicherweise um gelehrige Schüler des griechisch-römischen Westens.
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Die gleichen Epochen der Antike sahen auch die aggressive anatomische Forschung der Alexandriners und Galens. In diesem Punkt greifen wir nun tatsächlich – von der universalhistorischen Rundschau bestätigt – eine Singularität des klassischen Altertums.Zugleich erreicht hier die Antike eine erstaunliche und bestürzende Modernität und Aktualität.
Erstveröffentlichung in: Von Tabu und Gottesstrafe zur Chirurgie und Nervenforschung Über die Vielfalt der antiken Krankenbehandlung, Kremser Humanistische Blätter 6 (2002), 53-76.
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Die griechische Heroenvorstellung in früharchaischer Zeit zwischen Tradition und Neuerung 1. Der Terminus ‚Heros‘ und seine Implikationen Spätestens seit dem siebenten Jahrhundert vor Christus ist für Griechenland die Vorstellung literarisch belegt, dass (männliche und weibliche) Vorfahren mit außergewöhnlichen Fähigkeiten am Anfang wichtiger sozialer Gruppen und Institutionen stünden und Zuwendung in den Formen des Totenrituals erhalten sollten. So jedenfalls möchte der Verfasser den Terminus ‚Heros/Heroine‘, orientiert am altgriechischen Sprachgebrauch und an der deutschen Gegenwartssprache, explizieren und im Folgenden verwenden. Dabei geht es nicht zuletzt um einen praktikablen Mittelweg zwischen umfassender und konkreter Begriffsexplikation, um möglichst alle Gestalten unterschiedlicher historischer Genese und religiöser wie sozialer Funktion einzuschließen, die in Altertum und Gegenwart unter diesem Terminus subsumiert worden sind. Im Hinblick auf die folgenden Überlegungen bedarf der eine oder andere Aspekt der Heroenvorstellung eines kurzen Kommentars:1 Die außergewöhnlichen Fähigkeiten, die den Heroen zugeschrieben wurden, konnten auf verschiedenen Ebenen liegen. In vielen Fällen wurde von ihrer erstaunlichen Körperkraft erzählt, die sie befähigt haben sollte, gewaltige Kriegstaten zu vollbringen, Untiere und Ungeheuer zu besiegen oder eindrucksvolle Bauten zu errichten. Der Ilias-Dichter betont, dass zwei der besten unter den Lebenden – also den Zeitgenossen mit normalen menschlichen Kräften – einen Stein nicht auf einen Wagen heben könnten, den Hektor mit Leichtigkeit geworfen hätte.2 Vielleicht liefert sogar die Sprache ein Indiz, dass diese Eigenschaft die schlechthin grundlegende war: Es gibt zwar keine allgemein anerkannte Etymologie des griechischen Wortes ‚Heros‘, doch es bleibt erwägenswert, ihm die Grundbedeutung ‚der Starke‘ zuzuweisen. Jedenfalls würde dies zur lautgeschichtlich entsprechenden Sanskrit-Wurzel sara 1 2
Immer noch nützlich und reich an Belegen der Artikel von Eitrem 1912 in der RE. Il. 12, 447. Auf die Stelle weist Hadzisteliou-Price 1973, 129 besonders hin.
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passen3, eine einleuchtende Bedeutung für die Namen der Göttin Hera (‚die Starke‘) und des Helden Herakles – des Muskelhelden schlechthin! – und seiner Verwandten4 sowie für viele weitere Eigennamen mit dem Element hero-/a- ergeben. Sogar eine Übereinstimmung mit Hesychs Worterklärung wäre dann zu konstatieren, die ἣρως zunächst mit δυνατός, ἰσχυρός gleichsetzt und dann erst mit γενναῖος, σεμνός.5 Das Außergewöhnliche an den Heroen bestand manchmal auch im Besitz von Zaubermitteln oder wunderbaren Tieren (z.B. Gorgonenhaupt des Perseus, Pegasos als Tier des Bellerophon, die redenden Pferde Achills) und schließlich in einem Naheverhältnis zu den Göttern. Da mochte der Liebespartner der göttlichen Sphäre angehören – das ist ja das häufigste Erzählmotiv, das die Heroinen über die gewöhnlichen Menschen hinaushebt –, oder es wurde von einem besonderen Schutz- und Vertrauensverhältnis zwischen Gott und dem Heros erzählt. Diese herausragenden Gestalten konnten mit Hilfe verschiedener Erzähltypen an den Anfang von Gruppen und Institutionen gestellt werden: Man konnte sie als Urahnen oder Urmütter an die Spitze in einer Zeugungsreihe von Familien, Bevölkerungssegmenten wie Phratrien oder Phylen oder regionalen Volksgruppen stellen; man konnte ihnen die Führungsrolle bei Wanderung und Landnahme oder den Gründungsakt von Poleis, Amphiktyonien oder religiösen Kulten zuschreiben. Ganz konkret mochten auch die ersten Altäre oder Tempel an heiligen Stätten, ferner Burgen oder Mauern von ihnen errichtet sein; einem weiteren Erzähltyp zufolge hatten sie den Menschen Fähigkeiten und Kenntnisse wie Ackerbau, Weinbau oder Feuergebrauch vermittelt. Als Überwinder von Untieren und Unholden stellte man sie gewissermaßen auch an den Anfang der vertrauten Kulturlandschaft. Die rituellen Einzelzüge, die den sozusagen klassischen Heroenkult mit dem Totenritual verbinden, sind vielfältig: Da werden dunkelfarbige Tiere als Ganzopfer dargebracht –
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Vgl. etwa die Bezeichnung Sarasvati (‚stark an Wasser‘) für den Indus. Iphikles, im arkadischen Pheneos verehrt und von der Mythologie zu seinem Zwillingsbruder gemacht, trüge dann der Semantik nach den gleichen Namen; Alkmene, die in Boiotien als seine Mutter galt, passt als ‚Starksinnige‘ gut zu ihrem Sohn und zu ihrer göttlichen Konkurrentin, vgl. dazu auch unten S. 129 f. Vgl. Hadzisteliou-Price 1973, 133 mit Hinweis auf Eitrem 1912, 1111. Die dort hergestellte Verbindung von sansk. sara mit lat. servare und damit der semantische Sprung von ‚stark‘, ‚fest‘ zu ‚dienen‘ stößt auf phonetische Schwierigkeiten (Ἣρα erscheint kyprisch/arkadisch ohne das dann zu erwartende Digamma), scheint aber auch keineswegs nötig und zwingend. Daran hat sich auch Pötscher 1961, 302ff und 1987, 134-137 zu Recht gestoßen. Sein Gegenvorschlag – Verbindung mit ὣρα und mit der Bedeutung ‚reif‘ – führt aber m. E. in neue Probleme und Unstimmigkeiten.
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sie sind also ähnlich den Grabbeigaben für die Hinterbliebenen tabu, dem Gebrauch und dem Genuss entzogen -, Dämmerung oder Nachtzeit gelten als die rechte Stunde dafür. Blut, Wein und – reinigendes oder durststillendes – Wasser6 scheinen ebenfalls eine wichtige Rolle zu spielen. Geopfert wird an einem alten Grab beziehungsweise in dessen Zugang (Dromos) oder auch an anderen Bauresten oder natürlichen Geländemarken, die als Gräber interpretiert werden;7 schließlich werden eigene Kultplätze eingerichtet, die nicht selten im Tempel oder Temenos einer Gottheit liegen, aber weiterhin als Gräber angesprochen werden. Mitunter wird eine (Toten-)Schlange als Adressat der Opfergabe betrachtet; vermeintliche Relikte, vor allem Skelette, Knochen oder auch Gegenstände wie das angebliche Szepter Agamemnons, der Schild des Diomedes oder das Fell des Erymanthischen Ebers werden als Reliquien verehrt. Zumindest in Einzelfällen schließlich nehmen Spiele und Gemeinschaftsmähler einen Platz im Ritual ein; eine Affinität zur Orakel- und Heilfunktion ist gegeben. Wenn sich eine größere Anzahl von Griechen durch die Verehrung eines Heros oder einer Heroine untereinander verbunden wusste oder auch zu einem entsprechenden Fest zusammenkam, so muss jedenfalls die Gefühlsqualität, die sich dabei einstellte, manches mit dem sozusagen gewöhnlichen Totenritual gemeinsam gehabt haben: Das Gemeinschaftsgefühl wurde genährt durch die Idee der Deszendenz, der gemeinsamen Tradition oder des Vorbilds und Auftrags; erstrebt wurde die Zufriedenheit, Zuneigung und wohl auch der Schutz des toten Heros. Andererseits gab es natürlich auch Unterschiede: Das Gefühl der existenziellen Bedrohung, die Furcht vor Angriffen aus dem Totenreich, vor dem Nachgeholtwerden durch Krankheit und Tod, die bei aktuellen Todesfällen die Gefühlslage in einer Weise bestimmten, die auch aus den Totenritualen und -festen wie den Anthesterien ablesbar ist, müssen im Heroenkult in den Hintergrund getreten sein; die positiven und negativen Gefühle der Geschwister, Kinder und Enkel, die sich an reale Menschen mit ihren geschätzten oder auch unsympathischen Charakterzügen erinnerten, fehlten selbstverständlich; dafür bestand mangels konkreter Erinnerung großer Freiraum zur narrativen Erweiterung der tradierten Biographie des fiktiven Verstorbenen. Abschließend lässt sich sagen, dass die Heroen ihrem Wesen nach den griechischen Göttern sehr nahe standen, zumindest solange theologisch-philosophisches Denken die
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Zur Bedeutung von Wein und Wasser bzw. Wein- und Wassergefäßen schon unter den Votivgaben des 8./7. Jhdts. v. Chr., die an mykenischen Gräbern deponiert wurden, vgl. Hägg 1987, 96f. sowie unten S. 108. Dazu ausführlich unten S. 108 ff.
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Gottesvorstellung noch nicht sehr gesteigert und sublimiert hatte, und sich im Wesentlichen dadurch von ihnen unterschieden, dass sie – anders selbst als sterbende Gottheiten, die ja wieder ins Leben zurückkehren – als definitiv verstorben galten.
2. Frühe Belege und Indizien für die Heroenverehrung Die Frage, wann die Verehrung der Heroen durch die Griechen eingesetzt beziehungsweise einen neuen Aufschwung genommen hat, beschäftigt die Forschung, insbesondere angeregt durch die Arbeiten angelsächsischer Forscher wie J. N. Coldstream und A. M. Snodgrass, in den zurückliegenden Jahrzehnten wieder verstärkt. Chronologisch gesehen, kommen dafür im Wesentlichen das achte und siebente Jahrhundert vor Christus in Betracht. Natürlich ist jede Nennung einer Gestalt, die in den ältesten Schriftquellen explizit oder implizit der Welt der Heroen zugeordnet wird, für das historische Problem relevant. Am konkretesten bekommt man dieses aber dort zu fassen, wo man literarische Anspielungen auf die oben kurz skizzierten rituellen Ausdrucksformen des Heroenglaubens sowie archäologische Quellen entsprechender Kulte entdeckt. Die Texte, Funde und Interpretationsansätze, die in der neueren Diskussion zum Heroenkult im engeren Sinne eine Rolle spielen, seien nun im Folgenden kurz vorgestellt. Dabei wird vor allem auf Publikationen der letzten zwanzig Jahre Bezug genommen und die Stellungnahme im Allgemeinen darauf beschränkt, ob der Bezug des Materials zum Heroenkult einsichtig ist. Weitere Überlegungen zum Kult wie auch zur eher gedanklich-literarischen Seite des Heroenkonzepts kommen im Übrigen weiter unten zur Sprache.
2.1. Literarische Belege Dass Hesiod das Vorhandensein der Heroenvorstellung in Griechenland bereits voraussetzt, steht in der Forschung vor allem auf Grund der berühmten Passage in den Erga (156-173) praktisch außer Diskussion. Schwierigkeiten macht lediglich die Tatsache, dass nach Hesiod anscheinend nur ein Teil der Heroen vor dem boiotischen Theben und vor Troja vom Tode umhüllt wurde, während die anderen am Rande des Okeanos auf den seligen Inseln ein glückliches Leben führen sollen. Die zweite dieser Vorstellungen, die bei 104
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Hesiod nicht ganz bruchlos vereint und ausgeglichen erscheinen, ist in der Forschung unterschiedlich erklärt worden. Es könnte sich hier um das Fortleben mykenischer Vorstellungen handeln, wie besonders Martin. P. Nilsson vermutet hat, während Walter Burkert mit dem Hinweis, dass auch der sumerische Flutheld auf die Insel Dilmum entrückt wird, in diesem wie in vielen anderen Fällen orientalische Anregung erwägt.8 Hinsichtlich der homerischen Epen erscheint es nicht ganz so klar, ob sie den – auch rituell schon entwickelten – Heroenkult voraussetzen oder nicht. Während Coldstream die Ansicht vertreten hat, dass es im Wesentlichen die außerordentliche Wirkung dieser Dichtungen gewesen ist, die den Kult aufblühen und sich über ganz Griechenland verbreiten ließ,9 hat Theodora Hadzisteliou-Price in einem vielbeachteten Aufsatz aus dem Jahre 1973 ein anderes Bild gezeichnet: Demnach hätte der Heroenkult zur Zeit der Ependichter schon existiert. Zwar sei die dramatische Zeit beider Dichtungen eben jenes Zeitalter, in dem die Heroen gelebt und vor Troja gefochten haben sollen, und so könnten jene Aspekte, die die Heroenvorstellung mit dem Totenkult verbinden, kaum zum Tragen kommen,10 dennoch gebe es noch genug der Reflexe, die zeigen, dass die Dichter den Heroenglauben und -kult als bekannt voraussetzen. So käme das Attribut ἡμίθεοι nicht nur bei Hesiod, sondern ebenso gut in der Ilias (12, 23) vor;11 und die Dioskuren, die Brüder der Helena, würden als Tote unter der Erde angesprochen (Il. 2, 243).12 Besonders wichtig ist der genannten Forscherin der mehrfach erwähnte Grabhügel des Ilos, des Eponyms von Ilion/Troja, der laut Il.11, 166-169 in der Mitte der Ebene auf dem Weg zur Stadt gelegen war.13 Il. 10, 414f. ist er jener – anscheinend markante und respektierte – Ort, wo Hektor mit den Trojanern Rat hält. Mit der letztgenannten Stelle ist freilich das Problem verbunden, dass sie der Dolonie angehört, die von vielen Forschern als besonders später Teil des Epos an angesprochen wird.
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Vgl. Nilsson 1976, 325ff., Burkert 1977, 305; zur ganzen Diskussion Bichler 1995, 49f. mit Anm. Vgl. bes. Coldstream 1976, 14f. Hadzisteliou-Price 1973, 129. Hadzisteliou-Price 1973, 132 und 133 (ἡμί θεοι sind die Heroen allerdings erst nach ihrem Tode; das Epos blickt hier sozusagen auf den Zustand voraus, auf den Hesiod zurückblickt.). 12 Hadzsteliou-Price 1973, 135. In der Nekyia werden ihnen götterähnliche Ehren zugesprochen: Od.11, 298f. In Therapnai wurden sie zusammen mit Helena verehrt, vgl. unten S. 112. 13 Ob mit dem Worte πόλις im griechischen Text die Akropolis oder die Stadt als Ganzes gemeint ist, ob der Hügel somit innerhalb des befestigten Gebiets oder zwischen dem Schiffslager und der Festung vorzustellen sei, ist unklar (Hadzisteliou-Price 1973, 138). Weitere Erwähnungen: Il.11, 371; 20, 232 sowie die oben im Text im Folgenden zu besprechende Stelle.
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Eine analoge Schwierigkeit betrifft das mächtige Grab des Aipytos in Arkadien, das im Schiffskatalog figuriert (Il. 2, 603f.). Hier bekennt sich Hadzisteliou-Price zu jener sehr umstrittenen Forschungsmeinung, die die genannte Aufzählung der Griechenkontingente vor Troja als besonders alten Teil des Epos betrachtet; gleichzeitig betont sie jedoch, dass dies in ihrer Sicht keineswegs auch schon bedeutet, dass das Grab des Aipytos ein mykenisches Relikt ohne Bezug zur Eisenzeit sein müsse.14 Für die Odyssee verweist Hadzisteliou-Price auf die bekannte Stelle, wo Proteus dem Menelaos ankündigt, dass er ins Elysion eingehen werde (Od.4, 563), was sich eng mit der oben erwähnten Passage in Hesiods Erga berührt und auf die Nekyia: Teiresias, keineswegs ein kraftloser Schatten, wie es der bekannten homerischen Hadesvorstellung entspräche, bekommt da von Odysseus das Versprechen eines schwarzen Schafes als Opfergabe.15 Auf all diesen Hinweisen baut die Forscherin die Ansicht auf, dass auch die Totenspiele für Patroklos die Wettkämpfe im Heroenkult reflektieren und nicht das normale Totenritual bzw. eine dichterische Fiktion, die dann auf den Heroenkult gewirkt hat. Die Spiele beim Pelopion in Olympia etwa, die ja auch älter seien als die Epen, haben nach ihrer Meinung den Ependichter inspiriert und nicht umgekehrt – eine These, der kürzlich auch Wickersham gefolgt ist.16 Im Ganzen reichen die von Hadzisteliou- Price vorgebrachten Argumente wohl aus, um die Existenz nicht nur einzelner Heroengestalten, sondern auch des Heroenkultes vor der Abfassung der Epen anzusetzen.17 Die Schwierigkeit, dass besonders wichtige Beispiele, die die genannte Forscherin beibringt, vermutlich späte Partien der Dichtungen angehören,18 kann freilich nicht ganz übersehen werden.
14 Hadzsteliou-Price 1973, 140f. Ein analoger Fall findet sich im Troerkatalog, Il.2, 814: Der Hügel Batieia (so seine Benennung durch die Menschen) ist für die Götter (!) das Grabmal der sprunggewandten Myrine (vgl. auch unten S. 141, Anm. 131). 15 Hadzisteliou-Price 1973, 134f. Mit Hinweis darauf, dass das schwarze Schaf als Totenopfer auch 10, 527, in der Kirke-Episode, begegnet. 16 Hadzisteliou-Price 1973, 143; Wickersham 1991, 5. Herrmann 1987, 430 möchte solche Spiele wegen des „Nachklangs bei Homer“ und wegen des auch sonst aufwändigen Totenkults der Bronzezeit auch schon für die mykenische Zeit erwarten bzw. voraussetzen, obwohl ein eigentlicher Nachweis auch nach seiner Ansicht nicht möglich ist. 17 So urteilt auch Patzek 1992, 171 und 176. 18 Dazu gehört m. E. auch der Schiffskatalog.
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Mit dieser Überlegung streifen wir erstmals die Datierungsfrage der Epen, zu der sich alle Forscher, die sich mit den Anfängen des Heroenkults befassen, nolens volens, implizit oder explitit, äußern müssen. So scheint Hadzisteliou-Price, die sehr betont, dass die Epen Verhältnisse der geometrischen Zeit und nicht etwa mykenische Zustände zum Hintergrund haben, eher an das Ende des achten Jahrhunderts v. Chr. zu denken. Da Coldstream die ersten archäologischen Indizien für den Heroenkult um etwa 750/730 v. Chr. ansetzt19 und ihn von den Epen inspiriert sieht, muss er auch die Epen höher hinauf rücken. Stefan Hiller vertritt zwar wie Hadzisteliou-Price die Meinung, dass die Epen den Heroenkult bereits reflektieren und sucht den historischen Hintergrund für die in der Odyssee erzählte Fahrt des Menelaos nach Ägypten ebenfalls im achten Jahrhundert v. Chr.20 Da die Ereignisse des Lelantischen Krieges, die Gräber am Westtor von Eretria21 und von Salamis auf Zypern für ihn eine Lebenshaltung reflektieren, die aus der Nachahmung der homerischen Welt erwächst, ergibt sich allerdings auch nach Hiller ein früher Ansatz für die Epen.22 Die Annahme, dass der Heroenkult mehr oder minder ungebrochen in die mykenische Zeit zurückreicht und dass die homerischen Griechen buchstäblich auf den Spuren der Mykenäer wandelten, macht es Hiller im Übrigen möglich, die Epen zugleich als Zeugnis für diesen Kult und als Vorbild für seine Verbreitung und Intensivierung zu sehen.23 Anders als Hiller geht der italienische Gelehrte Carlo Brillante von einer Abfassung beider homerischen Dichtungen wohl um 700 v. Chr. aus; aus den bildlichen Darstellungen von Sagenszenen aus dem siebenten und sechsten Jahrhundert, die oft stark von der Gestaltung dieser Stoffe in den Epen abweichen, erschließt er aber, dass Ilias und Odyssee noch nicht stark verbreitet waren und dementsprechend auch keinen dominierenden Einfluss gehabt haben können, was sich erst im 6.Jhdt. geändert hätte.24 Die Annahme eines kontinuierlichen Heroenkultes seit mykenischer Zeit verbindet ihn aber mit Hiller.25 Die Frage der Kontinuität des Heroenkultes und des Zeitpunkts der epischen Reflexe soll unten (S. 116 ff., 132 f.) wieder aufgenommen werden; vorläufig sei unsere Skizze einiger wichtiger Forschungspositionen zur frühen literarischen Bezeugung des Heroenkultes 19 20 21 22 23 24 25
Die Jahreszahlen hängen an der Datierung der spätgeometrischen Keramik, vgl. dazu unten S 109. Vgl. dagegen ausführlich Haider 1988, 211-220 mit Diskussion älterer Literatur. Vgl. dazu unten S. 115. Hiller 1983, bes. 9 (mit Hinweisen auf Coldstream und Snodgrass), 10 (Menelaos-Fahrt) und 13. A.O. Bes. 10f. Zur Kontinuitätsfrage vgl. unten S. 116 ff. Brillante 1986, 167. Brillante 1986, 169.
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abgeschlossen. Im Folgenden wenden wir uns den vermutlichen archäologischen Indizien für das Aufkommen dieses Kultes zu.
2.2. Archäologische Indizien Manchmal tut man gut daran, sich zu erinnern, dass archäologische Fundbestände nie für sich selbst sprechen, sondern interpretiert werden müssen. Das gilt auch und im besonderen Maße für jene Materialien, die mit den Anfängen des griechischen Heroenkults in Zusammenhang gebracht werden. Sie zerfallen im Wesentlichen in drei Kategorien: • Erstens vermutliche Votivdepots aus dem achten und siebenten Jahrhundert v. Chr. amykenischen Gräbern, • zweitens Kultspuren gleichen oder auch höheren Alters an Stätten, die durch spätere Schriftzeugnisse (Inschriften oder Literatur) mit dem Heroenkult in Verbindung gebracht werden, aber keine mykenischen Grabstätten aufweisen, und schließlich • drittens auffällige Anlagen der geometrischen und archaischen Epoche, die manche Forscher auch ohne schriftliche Indizien daran denken lassen, dass hier Heroen verehrt wurden. Die drei Gruppen von Fundbeständen seien im Folgenden, auch wieder mit Bezug auf ihre Bedeutung in der neueren Diskussion und in aller gebotenen Kürze, besprochen. Dabei betrachten wir die einzelnen Kategorien zunächst für sich; die Frage nach ihrem historischen Zusammenhang wird sich anschließend stellen. Zunächst zu den Depots, die entweder in der Einsturzmulde oder im Dromos mykenischer Kuppelgräber oder auch an bzw. in Kammergräbern aus der Bronzezeit angelegt wurden: Sie waren, wie der schwedische Archäologe Robin Hägg anlässlich einer neuerlichen kritischen Revision der Bestände betont, nicht ganz einheitlich zusammengesetzt, doch gehörten so gut wie immer große Ton- und Bronzegefäße dazu, die am ehesten für Wasserspenden (Reinigungen, Bäder) gedacht gewesen sein mögen. Dazu kamen kleinere Trink- und Spendegefäße, Miniaturkeramik, Terrakottaschilde, bemalte Pinakes sowie Figuren von Pferden, Reitern oder auch weiblichen Gestalten aus eben diesem Material,
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Fibeln und Gewandnadeln.26 Brandspuren, Aschenreste und Tierknochen sind nach Hägg nur in geringem Maße vorhanden.27 Dem Stil nach setzen die Funde, Coldstream zufolge, in der Regel im ausgehenden achten Jahrhundert ein,28 mancherorts auch erst im siebenten Jahrhundert v. Chr. Sie ziehen sich dann über Jahrhunderte, meist bis in die klassische Zeit.29 Der zeitliche Abstand bzw. Bruch zwischen mykenischer Anlage und späteren Votiven ist stets eindeutig,30 neue Beisetzungen sind nicht erfolgt. Regional konzentrieren sich diese Depots an mykenischen Gräbern auf drei griechische Landschaften: Für die Argolis sind insbesondere die Flur Prosymna beim Heraion von Argos sowie die Schacht-, Rund- und Kammergräber von Mykene, aber auch das engere Stadtgebiet von Argos zu nennen,31 einen weiteren Schwerpunkt bildet Messenien im weiteren Umkreis von Pylos, wo es anscheinend auch zu Ganzopfern von Hirschen und Ochsen gekommen ist,32 und schließlich ist eine Reihe weiterer derartiger Plätze etwas lockerer in Attika und Boiotien verstreut (Menidi, Aliki, Thorikos; Orchomenos und Theben).33 Dazu kommen noch Einzelfälle aus Arkadien (Tholos von Analipsis) und Korinth sowie von den Inseln Kephallenia, Paros und Delos, wenn man die ‚Theke der Opis und Arge‘ hier einreihen möchte.34 Versuchen wir diese Funde für sich zu betrachten und ihre Bedeutung vorläufig einzuschätzen, so wird man eines wohl sagen können: Die Depots galten der rituellen Ehrerbie-
26 Die entscheidende und seither viel diskutierte Zusammenstellung des Materials lieferte Coldstream 1976, 9-12, dazu die oben erwähnte Revision Hägg 1987, 93-99. Den eher bescheidenen Charakter der Gaben betont Morris 1988, 753. Den Hinweis auf die Miniaturkeramik verdanke ich einem Referat von David Boehringer, Freiburg i. Br., mit Bezug auf den Kult in Thorikos (Attika). 27 Hägg 1987, 96 und 98. 28 Coldstream 1976 passim, bes. 9 und 15. Das bedeutet in Coldstreams Terminologie Late Geometric II, was wesentlich ist, denn von den orientalischen Typenreihen datierbare Fundbestände aus Euboia, Zypern, Kilikien und Phönikien ergeben jetzt, dass die spätgeometrische Keramikproduktion schon um 800 v. Chr. begann (vgl. dazu P. W. Haider 1996, 60 Anm.4) – das wäre nach Coldstreams Klassifikation Late Geometric I. Vgl. dazu auch die Tabelle Coldstream 1977, 385. 29 Die interessante Frage, wann und warum die Kulte enden, steht hier nicht zur Diskussion. 30 Dies betont zu Recht und mit großem Nachdruck Hadzisteliou-Price 1973, 129 und 131. 31 Vgl. Coldstream 1976, 9f.; Morris 1988, 759 spricht für Prosymna von 12 strong cults, für Mykene von 6 und für Argos von 3. 32 Coldstream 1976, 10f. 33 Coldstream 1976, 11. Vgl. auch de Polignac 1984, 138 über das Grab des Amphios und Zethos über einem helladischen Grab am Rand der Kadmeia. 34 Vgl. Coldstream 1976, 10 (Korinth, Analipsis) und 12 (Kephallenia/Metaxata, Delos); zu Delos auch Andronikos 1968, 128, Brillante 1986, 171; zu Koukounaries auf Paros Morris 1988, 751f., jeweils mit Hinweisen auf die Ausgrabungsberichte und ältere Literatur. Morris gibt zu bedenken, dass es sich im Falle von Paros möglicherweise um einen Höhlenkult gehandelt haben könnte, bei dem die in der besagten Höhle vorhandenen mykenischen Gräber gar nicht wahrgenommen wurden – vielleicht eine ähnliche Situation wie in Ithaka, vgl. dazu unten S. 113.
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tung gegenüber den Grabinhabern, von denen man wissen musste, dass sie vor längerer Zeit verstorben waren. Jedenfalls handelte es sich nicht um den Totendienst an Eltern oder Großeltern. Damit nähert man sich ohne Zweifel dem Inhalt des Terminus Heroenkult. Die spezifischen rituellen Besonderheiten, die das Heroenopfer später aufwies, zeichnen sich aber nicht ganz so deutlich ab, wie man dies wünschen möchte, und vor allem – dies ist besonders irritierend – fehlt eine inschriftliche Zuweisung einer Votivgabe an einen konkreten Heros. Am Nächsten kommt dem noch der Schriftzug auf einer schwarz glasierten Scherbe des 5. Jhdts. mit dem Wortlaut τοῦ ἡρῶος ἐμι aus dem Bereich des Gräberrunds A zu Mykene – doch fehlt auch hier der Name.35 Auch die Stifter werden nirgendwo schriftlich genannt, und ihre soziale Herkunft lässt sich aus Wert und Art der Votive nur vage erschließen.36 Für die zweite Gruppe von Fundbeständen mit frühen Kultspuren gibt es zwar, wie bereits gesagt, einen Heroennamen aus historisch hellerer Zeit, aber keinen klaren Bezug auf ein mykenisches Grab. Auch hier seien die wichtigsten Örtlichkeiten genannt, wobei es jeweils auf die frühen eisenzeitlichen Kultspuren, auf die früheste Benennung in historisch hellerer Zeit und auf die bronzezeitlichen (oder gegebenenfalls älteren) Funde ankommt. Amyklai in Lakonien: Es sind hier keine mykenischen Bauten nachgewiesen, wohl aber Opferreste aus mykenischer, protogeometrischer und geometrischer Zeit; später entstand ein eindrucksvoller Kultplatz für Apollon und Hyakinthos, einen Heros mit klar vorgriechischem Namen.37 Gipfel des Hymettos in Attika: Auf dem ‚Hausberg‘ Athens reicht die Keramik bis ins 10. Jhdt. zurück, und Graffiti aus dem 7. Jhdt., die durch ihre große Zahl (154) einen wichtigen Platz in der Geschichte der Alphabetisierung Griechenlands einnehmen, nennen neben Zeus den Herakles als hier verehrte Gestalt.38 Freilich – bei näherem Zusehen reduziert sich die Rolle des Herakles an dieser Stätte sehr, denn es sind nur zwei – noch
35 Vgl. Coldstream 1976, 10, auch Morris 1988, 752. 36 Eine Studie von David Boehringer wird demnächst einen Versuch in dieser Richtung präsentieren. 37 Vgl. Dietrich 1987, 486 mit Lit., Leveque 1991, 264 versieht die Datierung der Kultspuren in Amyklai für das 10. Jhdt. mit einem Fragezeichen, reiht es aber für das 9.Jhdt. als gesichert ein. Er bietet eine Liste von chronologisch weit in die Dark Ages zurückreichenden Heiligtümern, die für die hier folgende Aufzählung ausgewertet worden ist. Funde aus Sklavochori bei Amyklai belegen vielleicht einen Heroenkult für Agamemnon und Kassandra/ Alexandra, vgl. Antonaccio 1993, 55 mit Lit. 38 Vgl. M. K. Langdon, A Sanctuary of Zeus on Mount Hymettos (= Hesperia Suppl. 16) 1976; Brillante 1986, 171; Stoddart/Whitley 1988, 764.
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dazu fragmentarische – Graffiti auf Fels und auf einem Gefäßrand, die sich mit einiger Wahrscheinlichkeit auf den Heros beziehen.39 Athen, Heiligtum des Akademos/Hekademos: Nicht weit von der Stätte, an der Jahrhunderte später die Schule Platons ihren Sitz fand, sind zwei Fundbestände zutage gekommen, die in der hier zu referierenden Diskussion eine Rolle spielen: Ein Depot von etwa 200 Kantharoi aus der Zeit um 900 v. Chr. sowie, etwa 150 englische Fuß entfernt, ein Lehmziegelgebäude mit sieben Räumen aus dem späten 8. Jhdt. Einer dieser Räume barg einen Opferherd mit mehreren Aschenschichten, Tierknochen und spätgeometrischer Keramik. „In der Nähe“ wurden auch die Reste einer frühhelladischen Siedlung festgestellt, aber wiederum kein Grab.40 Athen, Bereich des Erechtheions auf der Akropolis: Die exakte Lokalisierung der Kultmale für den Heros Erechtheus im berühmten Bau des späten 5. Jhdts. ist bekanntlich nicht ganz einfach, während die Stelle des Kekropions durch die Bauabrechnung eindeutig beschrieben wird. Wieder handelt es sich nicht um wirkliche Gräber, wohl aber, unter der Nordhalle des Erechtheions, um einen alten, umfriedeten Kultplatz unter freiem Himmel, der vermutlich bis in die neolithische Zeit zurückgeht. Das Kekropion könnte ein Felsbuckel gewesen sein, der als Grab betrachtet wurde. Olympia: Bekanntlich ist auch das Pelopion kein mykenisches Grab, obwohl es später als Grab des Pelops aufgefasst wurde; auch mykenische Siedlungsreste fehlen in der Altis, und die bisher spärlichen mykenischen Kleinfunde vermehren sich nur langsam. Nach Meinung von Hans-Volker Herrmann reichen diese zwar schon aus, um Kontinuität (welcher Art?) zu belegen, aber auf sicherem Boden, was die kultische Bedeutung des Platzes betrifft, bewegen wir uns doch erst für das achte Jhdt. v. Chr. Später hatte hier der Heroenkult für Pelops durchaus eine gut belegte eigenständige Bedeutung neben dem von Hera und Zeus, und vielleicht macht es auch Sinn, Pisa und damit den Ort, wo der Mythos den König Oinomaos ansiedelt, nach dem Vorschlag von Herrmann auf dem benachbarten Hügel bei dem Dorfe Drouva zu suchen.41
39 Vgl. Langdon 1976, 15 (Graffito Nr. 9 auf Gefäßrand) und 41 (Graffito Nr. 173 auf Felsboden). Langdon ist überdies der Auffassung, dass der Herakles-Kult vom Zeus-Kult unabhängig zu sehen ist, da ihm ein Altar in 31 Meter Entfernung vom Zeus-Heiligtum gewidmet war (S. 98). Ein mythisch-kultischer Zusammenhang der beiden auch sonst in der Mythologie verbundenen Gestalten wird aber durch diesen Befund nicht ausgeschlossen. 40 Coldstream 1973, 16; Brillante 1986, 170f.; auch Morris 1988, 753. 41 Vgl. Herrmann 1987, 426ff., bes. 427 und 436 über mykenische Funde, 433f. über die Kontinuitätsfrage (auch mit Hinweisen auf die Skepsis von Burkert, Desborough, Coldstream und Rolley) sowie 430 über den Pelops-Kult.
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Therapnai in Lakonien: Die Höhe über dem Ostufer des Eurotas südlich von Sparta trug in spätmykenischer Zeit eine kleine Siedlung, über der später das Menelaion, in klassischer Zeit mit einem Stufenbau ausgestaltet, entstanden ist. Weihegeschenke wurden aber spätestens seit dem 7. Jhdt. v. Chr. hier deponiert. Bei einer Grabungskampagne des Jahres 1974 holte man aus einer Grube, in der – wohl bei der Fertigstellung des Menelaions – ältere Votivgaben deponiert wurden, unter anderem einen protokorinthischen Aryballos mit der Aufschrift: „Deinis hat diese Dinge der Helena, der Gattin des Menelaos, gestiftet“, sowie einen Bronzehaken mit der Widmung „Für Helena“.42 Neben Helena wurden auch Menelaos und die Dioskuren hier verehrt.43 Wieder wurde kein Grab gefunden, doch hat H. W. Catling vermutet, dass die zwei Geländekuppen, auf denen sich die Votivgaben befanden, als Grabhügel für den Heros und die Heroine betrachtet wurden.44 Mykene, Agamemnoneion: Ein kleiner Kultschrein, den Graffiti auf Vasen dem Agamemnon zuweisen, befand sich nicht an der Stelle einer mykenischen Beisetzung, und nach Pausanias 2,16, 6 lokalisierte man das Grab des Heros etwa in einer Entfernung von einem Kilometer. Die hier gefundenen Votivgaben setzen mit dem ausgehenden achten Jahrhundert ein und reichen ohne Unterbrechung ins fünfte, was Coldstream mit der Zerstörung Mykenes durch Argos im Jahre 468 v. Chr. in Zusammenhang gebracht hat. Der Kult lief bis in die hellenistische Zeit weiter, wie Keramik und beschriftete Dachziegel zeigen. Die Datierung der erwähnten Graffiti schwankt freilich zwischen dem sechsten und dem vierten Jahrhundert.45 Sunion an der Ostspitze Attikas: Ein Schrein für den Heros Phrontis dürfte hier ab etwa 700 v. Chr. existiert haben.46 Die Odyssee (3, 284f.) erzählt, Menelaos habe an diesem Ort seinen Steuermann begraben. Morris meint, dies könnte genügt haben, um auf dem Kap einen Kult einzurichten,47 doch muss natürlich die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass die Verse jünger sind und einen schon vorhandenen Kult aufgreifen.
42 Catling 1975/76, 13f. und 1976/77, 36 mit Abb. 25-27. 43 Vgl. die Zusammenfassung des Wissensstandes bei Catling 1976/77 passim; bes. 36 mit Hinweis auf den Neufund einer Votivstele für Menelaos; ferner Kirsten/Kraiker 51967, 408f.; Coldstream 1976, 15; Dietrich 1987, 486 (mit Lit.). 44 Catling 1975/76, 14 und 1976/77, 34; Morris 1988, 753. 45 Cook 1953 passim, bes. 33. 64ff. mit fig. 38; dazu Coldstream 1976, 10 und 15 sowie Hägg 1987, 97; Morris 1988,753. 46 Picard 1940; Abramson 1979; danach Morris 1988, 753. 47 Morris 1988, 753.
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Ithaka: In einer Höhle oberhalb der Polis-Bucht an der Westküste jener Insel, die in der klassischen Zeit und auch heute wieder diesen Namen trägt,48 sind Funde zutage gekommen, die von der mykenischen Zeit bis ins erste Jahrhundert n. Chr. reichen. Besonders bemerkenswert erscheinen dabei rund ein Dutzend Dreifußkessel aus dem neunten oder achten Jahrhundert. Eine Inschrift bezeugt, dass hier Odysseus verehrt wurde – aber erst für die Zeit um etwa 100 v. Chr.! Da nicht einmal die Identifikation der homerischen Insel Ithaka mit jenem Eiland, das später diesen Namen trug, gesichert ist, muss es offen bleiben, ob wir es hier mit einem früh einsetzenden Heroenkult zu tun haben, und ob wir ihn mit Odysseus in Verbindung bringen dürfen. In der Höhle gab es übrigens mykenische Gräber, doch ist es nicht gewiss, dass die Stifter der archaischen Votive sie überhaupt wahrgenommen haben.49 Vielleicht sollte man auch das Heiligtum der Artemis – und Iphigenie! – in Brauron unter dieser Rubrik in die Betrachtungen einbeziehen.50 Aufs Ganze gesehen muss auffallen, dass jene Stätten, die relativ frühe Kultspuren aufweisen und für die uns gleichzeitig auch die Namen der später hier verehrten Heroen bzw. Heroinen bekannt sind, überwiegend nicht an mykenischen Gräbern, sondern vielmehr am Ort mykenischer Siedlungen oder Kultplätze lokalisiert waren.51 Auch bestand an der Mehrheit dieser Orte in historischer Zeit neben dem Heroenkult ein Kult für eine der sogenannten olympischen Gottheiten. Zur Minderheit gehören in diesem Zusammenhang Therapnai, wo aber immerhin die Dioskuren Verehrung genossen, die notorisch zwischen dem Status von Heroen und jenem von Göttern schwanken, die Akademie in Athen sowie das Agamemnoneion von Mykene und wohl auch Itahaka. Unter den Heroen bzw. Heroinen, die an solchen alten Kultstätten einen Kult erhielten, sind im Übrigen Zentralfiguren der griechischen Mythologie beziehungsweise der Epen wie Herakles, Pelops, Agamemnon, Menelaos, Helena und Iphigenie.
48 Das bedeutet noch nicht eo ipso, dass der Odyssee-Dichter wirklich diese Insel gemeint bzw. sie gekannt hat, vgl. Sieberer 1990 passim. 49 So Morris 1988, 753 unter Hinweis auf Benton 1934/35, 52 bis 56; vgl. Sieberer 1990 passim, bes. 162f. Morris weist aO übrigens darauf hin, dass eine Inschrift des 7. Jhdts. – es handelt sich um IG IX, 1, 653 –, die aus der Höhle stammen soll, sich auf Athena und Hera bezieht. 50 Das Fundmaterial läuft dort in LH IIIB und C allmählich aus und setzt mit dem 8./7. Jhdt. wieder ein, vgl. Hollinshead 1980, 31-36. 51 Das ist einer der Gründe, weshalb Antonaccio 1993, bes. 59 und 61, Heroenkult und Grabkult trennen möchte. Sunion und der Hymettos scheinen im Übrigen in mykenischer Zeit keine Rolle gespielt zu haben.
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Zuletzt noch einige Worte zur dritten Gruppe, zu den Anlagen der geometrischen und archaischen Epoche, welche die Forschung auch ohne schriftliche Indizien an Heroenkult denken lassen. Am wichtigsten ist hier ohne Zweifel das sogenannte Heroon von Lefkandi auf Euboia. Bekanntlich gehört die dortige Hauptbestattung – es handelt sich ja um einen Krieger, dessen Leichnam verbrannt worden war, um eine körperbestattete Frau und um die Skelette der vier Pferde, die vermutlich den Leichenwagen gezogen hatten, sowie für die Zeit überraschend reiche Beigaben – ins zehnte vorchristliche Jahrhundert. Sie war unwissentlich über einem mykenischen Grab (so drückt es Welwei 1991 aus) beziehungsweise im Zentrum eines protogeometrischen Friedhofs (so Brillante 1986, 171) angelegt worden; darüber entstand ein Apsidengebäude von bemerkenswerter Größe, das wohl dem Totenkult diente, aber nur kurze Zeit in Benützung war, weil es bald einstürzte. Es wurde aufgefüllt und mit einem großen Hügel überdeckt, ein Friedhof davor wurde noch bis etwa 825 v. Chr. mit weiteren Beisetzungen belegt. Der Umstand, dass der archäologische Befund eine kultische Bedeutung der Stätte wohl nur für drei bis fünf Generationen vermuten lässt, spricht für die Einschätzung der Skeptiker, die bezweifeln, dass es sich um einen Heroenkult im späteren Sinne gehandelt habe.52 Skepsis ist auch gegenüber der Einschätzung von Stefan Hiller angebracht, in der Beisetzung des Herrn von Lefkandi spiegle sich ein Lebensstil nach dem Modell der heroischen Tradition, die damals als existent und vorbildhaft vorausgesetzt wird.53 Bei dem Toten von Lefkandi handelt es sich wohl um einen führenden Gutsherrn, der seine Chancen in einer begünstigten Region, die nach den Umbrüchen des zwölften und elften Jahrhunderts relativ früh zur Ruhe gekommen war,54 zu nutzen wusste. Sein Andenken und die Aura um seinen Begräbnisplatz waren stark genug, um bis zu den Enkeln und Urenkeln weitere Beisetzungen anzuziehen, dann aber verebbten sie. Ein weiterer Kult für erst jüngst Verstorbene erscheint durch den archäologischen Befund in der geometrischen Nekropole am Barbouna-Hügel von Asine nahegelegt: Robin Hägg interpretiert eine Anlage von drei kreisrunden Steinplattformen und einem Depot
52 Vgl. etwa Calligas 1988, 232, Welwei 1991, 59 und 1992, 70, Antonaccio 1993, 51; skeptisch auch schon de Polignac 1984, 92 und Mazarakis-Ainian 1985, 8. Hauptpublikation des archäologischen Befundes Popham/Sackett 1968, kurz zusammengefasst auch bei Blome 1984, Calligas aO.; vgl. ferner Brillante 1986, 171; Morris 1988, 753. 53 Hiller 1983, 14. Vgl. dazu auch unten S. 117. 54 Ein Indiz dafür sind neben dem relativ großen Bauaufwand die orientalischen Beigaben.
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erstklassiger spätgeometrischer Trinkgefäße lokaler Produkte als Stätte für Totenmahlzeiten, die allerdings nicht sehr lange in Gebrauch war.55 Längeren Bestand hatte ein anscheinend ebenfalls geheiligter Platz auf Naxos: Eine Anzahl von Gräbern der späten geometrischen Phase wurde hier im Schutt der verlassenen bronzezeitlichen Siedlung (Grotta) beziehungsweise im Bereich der damals noch erkennbaren mykenischen Befestigung (Mitropolis-Areal) angelegt. Direkt über einer Einzelbeisetzung dieser Phase an der Befestigung fanden die Ausgräber eine meterdicke Aschenschicht. Während sie wuchs, wurde der Platz immer wieder neu mit Steinen eingefasst; die Feuer wurden in der mittleren geometrischen Phase – offenbar seltener – auf dafür angelegten einfachen Plattformen aus Steinen und Kieseln entzündet. In spätgeometrischer Zeit wurde der Platz dann anscheinend mit Lehmziegeln abgedeckt und ein Tumulus aufgehäuft. Abgesehen von Keramik des sechsten Jahrhunderts zeigen sich keine weiteren Hinweise auf einen fortgesetzten Kult, doch wurde erst in römischer Zeit an dieser Stelle gebaut.56 Schließlich gehört auch noch die Nekropole vor dem Westtor von Eretria zu dieser Gruppe: In ihrem Zentrum befinden sich die Gräber von sechs Kriegern – das älteste und reichste wird in die Zeit um 720 v. Chr. datiert – über denen um 680 ein dreieckiger Bau errichtet und bis in die erste Hälfte des fünften Jahrhunderts ein Kult ausgeübt wurde. Kinder und Jugendliche in der umliegenden Nekropole erhielten übrigens Erdbestattungen, ansonsten handelt es sich um Brandgräber. Dieser Befund wurde von den Schweizer Ausgräbern dahin gedeutet, dass hier ein großer Herr sowie seine Hetairoi zur letzten Ruhe gebettet und von der aufblühenden Polis Eretria in ihrer Gesamtheit verehrt wurden.57 In den zuletzt genannten Fällen wurde die Örtlichkeit einer Bestattung der geometrischen Zeit – anders als im Falle Lefkandis und Asines – über viele Generationen besonders respektiert. Asine und Eretria liegen im Übrigen der Chronologie nach gleich mit den Votivdepots an mykenischen Gräbern, Naxos reicht weiter zurück und nimmt dadurch eine Ausnahmestellung ein. Immerhin erfolgte gegen 700 v. Chr. auch hier eine deutliche Umgestaltung. Für Naxos und Eretria erscheint es vorstellbar, dass viele Generationen
55 Hägg 1983, 189-194. Als – möglicherweise auch in unserem Zusammenhang bedeutsame – Parallele zieht Hägg übrigens 28 Steinplattformen der Phase Troja VIII vor der damals sicher noch eindrucksvollen Befestigung der bronzezeitlichen Stadt heran (190f.). Auf Asine verweist auch Morris 1988, 753. 56 Vgl. die zusammenfassende Darstellung und Interpretation von Lambrinoudakis 1988, 235-245, bes. 238f. mit Plänen und Abb.; Morris 1988, 753f. referiert nach den vorausgegangenen Berichten von Lambrinoudakis/Zapheiropoulou 1983, 1984 und 1985. 57 Berard 1970, 68; vgl. Coldstream 1976, 15, de Polignac 1984, 140-146 (mit Betonung, dass es sich nicht um die Beisetzung eines Monarchen handelte, weil es in geometrischer Zeit gar keinen solchen gab) und Welwei 1991, 59.
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ein und derselben Familie Grabstätten geehrt haben, sodass aus dem einfachen Totenkult ein Ahnenkult wurde.58 Gefolgschaften mögen sich dabei angeschlossen haben – der Fall Eretria legt dies zumindest nahe, wenn nicht die aufstrebende Polis als solche hinter der dortigen Anlage steht. Dass man die Toten von Naxos und Eretria zu den Heroen zählte, wird neben der langen Dauer des Kultes durch die Aus- und Umgestaltung der Anlagen nahegelegt; sicher können wir uns dessen aber dennoch nicht sein.59
3. Zur historischen Einordnung der Heroenvorstellung – Teil I 3.1. Grundpositionen Zwei grundsätzliche Forschungstendenzen sind zu beobachten, wenn es um die historische Einschätzung und Einordnung der griechischen Heroenvorstellung und um die Interpretation des oben vorgestellten Quellen- und Fundmaterials geht, und sie sind offenbar vom Gesamtbild, das sich ein Forscher vom großen Ablauf der griechischen Geschichte macht, kaum zu trennen. Die eine dieser Denkrichtungen ist geleitet vom Gedanken einer starken Kontinuität zwischen der minoisch-mykenischen Kultur der Bronzezeit und der griechischen Kultur der Eisenzeit, die mit Homer und Hesiod auch in den Formen der großen Literatur zu uns zu sprechen beginnt. Die andere Haupttendenz betont eher den Bruch zwischen den beiden Perioden und die Neuerungen, die die Dark Ages und dann vor allem den großen Aufbruch ab etwa 750 v. Chr. prägen. Natürlich denkt man selten ganz eingleisig in dem einen oder anderen Sinn, vielmehr versucht man der sich abzeichnenden Komplexität der historischen Gegebenheiten durch Kombination der beiden Modelle Rechnung zu tragen; eine der Formeln dafür ist die 58 Die Überbrückung langer Zeitspannen wird man wohl als ausreichendes Kriterium betrachten können, um den Ahnenkult vom Totenkult zu unterscheiden. 59 Antonaccio 1993, 48ff. etwa plädiert für eine Trennung zwischen Heroenkult und Grabkulten, wie sie in Asine, Naxos und auch in Mykene gepflegt wurden. Bei letzteren hätte nämlich die Abstammung eine Rolle gespielt. Aber – woher wissen wir das?
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Rede von einer „Renaissance des achten Jahrhunderts“, welche zwar die bronzezeitlichen Traditionen wiederbelebt, ihrerseits aber ihre eigenen historischen Gründe gehabt hätte. Die Lektüre neuerer Arbeiten von Forschern, die den Gedanken der Kontinuität favorisieren, zeigt nun freilich eher eine allgemeine Zuversicht, dass auch der Heroenglaube des achten und siebenten Jahrhunderts entsprechende Ideen und Kulte der Mykenäer fortsetze, als dass konkrete Anhaltspunkte dafür beigebracht würden. Jene allgemeine Zuversicht beruht etwa auf der Annahme, dass die homerischen Epen zahlreiche Erinnerungen an die mykenische Epoche, ihren Glanz, ihre Beziehungen zum Orient und zu anderen Nachbarn enthielten;60 sie beruht auch auf der Idee, dass sich mit jenen Namen, die wohl auf die Bronzezeit zurückzuführen sind, auch zugehörige Erzählungen und Geschichten erhalten hätten.61 Stefan Hiller verweist überdies darauf, dass die olympischen Siegerlisten immerhin bis 776 v. Chr. zurückreichen, und das im Hinblick auf Leichenspiele für eine Person des heroischen Zeitalters.62 Man stellt auch Listen von Örtlichkeiten zusammen, an denen das archäologische Material keine oder nur relativ kurze Unterbrechungen der Besiedlung63 oder eines religiösen Kultes64 nach dem Zusammenbruch der Palastkultur um 1200 v. Chr. zu signalisieren scheint. Aus alledem wird so etwas wie eine innerliche Wahrscheinlichkeit abgeleitet, dass auch die Heroenverehrung im Allgemeinen oder aber konkrete Gestalten und Kulte wie jener des Pelops in Olympia – er ist verständlicherweise ein wichtiger Anlass für solche Erörterungen – kontinuierlich aus der mykenischen Zeit bis in die spätgeometrisch-früharchaische Epoche weitergewirkt haben.65
60 Vgl etwa Hiller 1983, 10f.; dort der bereits erwähnte Gedanke, dass die Griechen des achten Jahrhunderts auf ihren Fahrten nach Ägypten und Unteritalien oder bei der Gründung von Milet (Ankunft der Ionier hier schon um 1000 v. Chr.?) bewusst den Spuren ihrer mykenischen Vorfahren folgten; die Episoden um Menelaos in Ägypten, um Glaukos und Diomedes werden damit in Zusammenhang gesehen. Ausführliche Kritik an der Vorstellung, dass die Epen mykenische Zustände reflektieren, bei Hampl 1975, 75ff. und 165-168. 61 Hiller 1983, 12. 62 Hiller 1983, 12. 63 Vgl. die Liste der Siedlungen, die die submykenische Phase überdauert haben, bei Dietrich 1987, 485f. 64 Hinweise ebenfalls bei Dietrich 1987, 487, ferner die Liste bei Leveque 1991, 264. (Außer den schon oben genannten Heiligtümern nennt dieser noch das Artemision auf Delos, Agia Irini auf Keos, die Dikte-Höhle, Eleusis, Samos, die Grotte am Ida, Thermos in Aitolien, Ithaka (Aetos), Kameiros, Kato Symi auf Kreta, Antissa und Milet). Man könnte zum Beispiel jetzt das Heiligtum (des Dionysos?), das Gruben und Lambrinoudakis in Naxos freigelegt haben, hinzufügen. 65 Brillante 1981, 177ff.; auch Burkert, sonst sehr skeptisch gegenüber mykenischen Belegen für den Heroenkult, bewertet PY Tn 316 als „direkteres Zeugnis“ (1991, 528), Vgl. dazu auch unten S. 122f. (bes. S. 123, Anm. 84).
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Sobald es um konkrete Indizien für einen Heroenkult66 mykenischer Zeit geht, spielt ein einziges(!) Linear-B-Täfelchen aus Pylos (PY Tn 316) eine Hauptrolle. Man liest dort das Wort ti-ri-se-ro-e in einem kultischen Kontext: Carlo Brillante sieht hier den Kult eines trisheros schon mit dem Götterkult verbunden, wie das Jahrhunderte später noch häufig bei Heroen der Fall war, und stellt ein zweites Täfelchen (Fn 1204) daneben, wo der Ausdruck di-pi-si-jo-i, als δίψοι in klassisches Griechisch gebracht, darauf hinweise, dass schon die Mykenäer sich die Toten als durstig und daher Trankopfer begehrend vorgestellt haben. Außerdem interpretiert man Kultspuren der mykenischen Zeit am Gräberrund A von Mykene zumindest als wenig verschieden vom Heroenkult und sieht die dort Bestatteten als Wächter am Tor und damit ganz analog zu den bedeutenden Verstorbenen vor dem Westtor von Eretria.67 Folgt man der Kontinuitätsthese stricto sensu, so gibt es am Vorhandensein des Heroenkults im 8./7. Jhdt. v. Chr. nicht viel zu erklären; denkt man aber an eine Abschwächung nach 1200 und eine ‚Renaissance‘ nach 750 oder gar an eine Neuentstehung dieser Vorstellung, so muss man sie möglichst überzeugend in das Gesamtbild der Zeit nach 750 einordnen und somit historisch erklären. In diesem Zusammenhang wurden in den letzten Jahren vor allem drei Thesen, die in ihrem Erklärungsanspruch und in ihrer Reichweite unterschiedlich sind, diskutiert. a) J. N. Coldstream hat sich vor allem mit den Votivdepots an mykenischen Gräbern befasst und die Beobachtung herausgestellt, dass sie sich ausschließlich in jenen Regionen Griechenlands finden, wo sich die Bestattungsbräuche seit dem Ende der Bronzezeit stark verändert hatten: In Attika und Boiotien, in der Korinthia und der Argolis sowie in Elis, schließlich etwas später auch in Messenien waren die – meist mehrfach mit Körperbestattungen belegten – Kuppel- und Kammergräber obsolet geworden, sodass zum Beispiel „an eight century Athenian … greatly surprised“ bei ihrem Anblick war.68 Es war demnach gerade dieses „amazement“, das Fremdheitsgefühl der Griechen der spätgeometrischen Zeit gegenüber den Spuren einstiger Bräuche, ein wesentliches Motiv für die Anlage der Votivdepots an mykenischen Gräbern. Cold-
66 Brillante 1981, 175. 67 Brillante 1981, 175. 68 Coldstream 1976, 13f., das wörtliche Zitat 14. Kurze Referate über die Ansichten Coldstreams finden sich u. a. bei Brillante 1986, 170 sowie Morris 1988, 754.
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stream stellt auch die Gegenprobe dazu an: Wo kleinere Tholoi und Kammergräber weiterhin gebräuchlich waren, so zum Beispiel in Thessalien sowie auf Rhodos und in Kreta, wurden keine Votivdepots festgestellt.69 Im Zusammenhang mit den Bestattungsformen sei hier noch eine Überlegung von A. M. Snodgrass eingefügt: Es ist ihm zufolge schwer vorstellbar, dass der Kult an mykenischen Gräbern durch Homer angeregt wurde. Denn die Epen schildern ausschließlich Brandbestattungen, und dass es sich in den Tholoi und Kammergräbern um Körperbestattungen gehandelt hat, konnte den Menschen des achten und siebenten Jahrhunderts nicht entgehen.70 Umgekehrt, so fügen wir hinzu, ist es aber durchaus vorstellbar, dass die Kenntnis von sehr alten, großen und merkwürdigen Gräbern in der Argolis, Messenien und anderwärts in einer allgemeinen und vagen Form Eingang ins Epos gefunden hat, die konkrete Schilderung von Totenritualen sich aber an dem orientiert, was dem oder den Dichtern aus ihrer näheren Umgebung geläufig war.71
b) Die These von Coldstream wurde von anderen Forschern aufgenommen und soziologisch bzw. sozialgeschichtlich vertieft. A. M. Snodgrass (1980 und 1982) etwa zweifelte nicht nur an der Anregung des Grabkults durch die Epen, sondern er suchte auch eine neue Erklärung: Die Votive fänden sich vor allem in Gegenden, die im achten Jahrhundert, der Zahl und Größe der gefundenen Nekropolen nach zu schließen, einen starken Bevölkerungszuwachs erlebten, und wo offenbar freie Bauern verlassenes Land wiederbesiedelt haben. Für Kreta, Thessalien und Lakonien mit ihren halb- oder unfreien Bauern traf das nicht zu, sehr wohl aber für Attika, die Argolis und so weiter. Die Bauern hätten ihre Ansprüche auf die neuen Besitzungen dadurch legitimiert, dass sie sich gleichsam als Nachfolger und Erben der Inhaber der alten Gräber gaben.72 In etwas anderer Brechung haben Berard und de Polignac die ‚Legitimationshypothese‘ vorgetragen: Dem Heroenkult für jüngst Verstorbene, wie man ihn aus der
69 Achaia nimmt laut Coldstream 1976, 13f. eine Zwischenstellung ein (neben Pithos- und Kistenbeisetzungen wurde etwa in Pharai auch eine SG-Tholos entdeckt); für Lakonien fehlt Material aus dem 8.Jhdt. 70 Snodgrass 1982, 114ff.; 1987, 161ff. Ähnlich auch de Polignac 1984, 130. 71 Schon Andronikos 1968, 130f. hat den Entstehungsraum der Epen in einer Gegend gesucht, wo allein die Brandbestattung üblich war, und dies schon seit protogeometrischer Zeit, weil ja eine Erinnerung bis ins siebente Glied bestanden habe (Letzteres bezweifelt der Verf.). Konkret dachte er an Attika, Assarlik, Kolophon, Kreta und Thera. Die Arbeit von W. Sieberer 1996, 122f. zeigt, dass die Epen relativ wenige konkrete Angaben über das Mutterland enthalten. 72 Snodgrass 1980, 39f.
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Anlage des Heroons am Westtor von Eretria und den von Hesiod (erga 654-659) erwähnten Leichenspielen für Amphidamas in Chalkis herauslesen mag, maßen sie eine wichtige Funktion in der Formierung jener beiden Stadtstaaten auf Euboia bei. Darüber hinaus hat vor allem F. de Polignac 1984 herausgestellt, dass die Errichtung ländlicher Heiligtümer im äußersten Grenzbereich des Polis-Territoriums ein wichtiges Mittel war, um die Ansprüche eines solchen sich verstärkt organisierenden Staatswesens zu legitimieren und durchzusetzen. Als Musterbeispiel dafür wäre das Heraion von Argos zu sehen, das gleichsam eine starke Schachfigur war, welche die Argiver im Zuge des Wettbewerbs mehrerer freier Gemeinden (Argos, Mykene, Tiryns, Asine, Nauplia) um einen engen Siedlungsraum provokant nahe vor die Tore Mykenes gesetzt haben.73 J. Whitley hat (1988) diese Debatte noch einmal aufgenommen; für Attika sieht er ebenfalls den starken Bevölkerungszuwachs, denkt aber nicht an freie Bauern als Stifter der spätgeometrischen Votive, sondern eher an aristokratische Herren aus traditionsreicheren attischen Siedlungen, die das Alter ihres Geschlechts und ihres Siedlungsplatzes auf diese Art gleichsam inszenierten, um sich gegen die zunehmende Dominanz Athens zur Wehr zu setzen. Menidhi und Thorikos gehörten nämlich – ebenso wie Eleusis – zu den ganz wenigen Plätzen außerhalb Athens, für die der archäologische Befund eine Besiedlung schon in protogeometrischer Zeit ergibt.74 Ian Morris hat im gleichen Jahr eine besonders prägnante Formulierung für die Legitimationshypothese gefunden. In kritischer Distanz zur Rede von der ‚griechischen Renaissance des 8.Jhdts.‘ fand er, nicht die mykenische Kultur als solche habe die damaligen Griechen angezogen, vielmehr waren es die Mykenäer „themselves, in the present. Their tombs were nodes of power, narrow openings through which the 8th-century Greeks could reach out and touch these great men, drawing on their authority.“75 c) Walter Burkert, der der Forschung zu den griechisch-orientalischen Kulturkontakten im Allgemeinen viele Impulse gegeben hat, weiß auch unter den Heroen und Heroinen Gestalten in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken, in deren mythischer 73 Berard 1982, 90; de Polignac 1984, 59, vgl. auch Whitley 1988, 175 und 180. 74 Whitley 1988, passim, bes. 177f. Zur Quantifizierung: Nach Whitley sind in Attika für die submykenische Periode drei Siedlungsplätze erkennbar, für das 9.Jhdt. fünf bis sechs, für die Phase Spätgeometrisch II achtundzwanzig. 75 Morris 1988, 751. Vgl. zur ganzen Problematik auch Ulf 1990, 245f.
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Vita mehr oder minder zentrale Episoden auf orientalische Anregung zurückgehen könnten. Obwohl er mehrfach die Möglichkeit offen hält, dass diese orientalischen Anregungen schon in mykenischer Zeit wirksam geworden und dann durch die Dark Ages in die homerische bzw. archaische Epoche weitervermittelt worden sind, buchen wir hier, der Gesamttendenz seiner Forschungen folgend, die von ihm zur Diskussion gestellten Beispielsfälle unter den neuen Ideen, die wohl im achten und siebenten Jahrhundert v. Chr. aus dem Vorderen Orient in die griechische Welt eingeströmt sind. Im Falle des Herakles-Mythos etwa sind durch einen 1983 von J. Van Dijk edierten sumerisch-akkadischen Text die schon früher beobachteten Analogien zu mesopotamischen Gestalten zu deutlichen Parallelen geworden. Konkret ist die Rede vom Gott Ninurta, zu dessen zwölf Taten (!) auch die Siege über eine siebenköpfige Schlange und einen Löwen gezählt wurden. Die Hydra von Lerna und der Nemeische Löwe müssen dem Leser hier in den Sinn kommen, und damit Szenen, die kurz vor beziehungsweise um 700 v. Chr. auch in der griechischen Bildwelt auftauchen.76 Burkert betont zu Recht, dass sich damit neue Fragen auftun: Warum wurde aus der Schlange eine Wasserschlange, die ausgerechnet in Lerna haust, wie kommt der große Krebs, wie Iolaos in die Geschichte? Dies alles sind Symptome dafür, dass das vermutliche orientalische Vorbild in einer sehr freien Weise in den griechischen mythologischen Kontext eingebaut worden ist.77 Auch für das Erzähl- und Bildmotiv der Befreiung Andromedas durch Perseus macht Burkert altorientalische Vorläufer namhaft;78 in der Ikonographie gilt das Gleiche für die dem siebenten Jahrhundert angehörenden griechischen Darstellungen der Tötung der Gorgo durch Perseus, dem Athene beisteht: Sie haben wohl Vorlagen in den mesopotamischen Darstellungen des Kampfes zwischen Gilgamesch und Enkidu auf der einen Seite und Humbaba auf der anderen.79 Für das Amphitryon-Motiv denkt Burkert an das altägyptische Vorbild der Verbindung zwischen Amun und der Gattin 76 Burkert 1987, 14ff. mit Anm. Die Aufzählung der Trophäen Ninurtas findet sich bei Cooper 1978, 62-65 (Textzeilen 32-40 und 54-62) sowie van Dijk 1983, 68 (Textzeilen 129-133); vgl. auch 10-19. 77 Burkert 1987, 18. Was Herakles als kultisch verehrte Figur betrifft, erwägt übrigens de Polignac 1992, 123 direkten phönikischen Einfluss, soweit es die Verehrung des Heros/Gottes auf Kaps und Vorgebirgen (Lindos, Kos, Erythrai, Thasos) betrifft. 78 Es handelt sich um einen kanaanäischen Mythos, auf einem ägyptischen Papyrus mit kanaanäischem Namensmaterial überliefert (Astarte wird dem Meeresgott Jam als Braut angeboten), vgl. ANET 17f., sowie um eine Rollsiegeldarstellung aus Nimrud, vgl. Burkert 1987, 28 und 33, fig. 2. 7. Im Detail ist das Bild von seinen griechischen Nachahmern um- und missinterpretiert worden. 79 Burkert 1987, 26f.; vgl. auch Maaskant-Kleibrink 1989, 28.
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des Pharaos,80 für die Danaos-Geschichte schließlich an eine hethitische Erzählung über die Stadt Zalpa.81 Wenn von neuen Elementen im Bereich der Heroenvorstellung die Rede ist, muss – abgesehen von den drei oben behandelten umfassenderen historischen Hypothesen – auch noch einer Gruppe von Gestalten gedacht werden, auf die wiederum Walter Burkert zu Recht neuerlich die Aufmerksamkeit gelenkt hat: Es sind jene Heroen und Heroinen, die mit großer Wahrscheinlichkeit erst für die epische Dichtung erfunden worden sind und sich vielfach durch redende Namen auszeichnen, wie zum Beispiel Eteokles und Polyneikes, Patroklos und Telemachos oder Nausikaa. Diese Beispiele überzeugen ohne Weiteres, doch nennt Burkert auch Agamemnon, Menelaos, Hektor und Thersites in diesem Zusammenhang. Zweifel könnten sich hier auf die sprachliche Deutung der Namen oder auf die sehr wohl vorhandenen Kult- und Gedenkstätten beziehen, die sekundär auf die epische Dichtung gefolgt sein müssten, wenn man der genannten These folgt.82
3.2. Stellungnahme und weitere Überlegungen Der Verfasser bekennt, dass er der Annahme einer ausgeprägten Kontinuität zwischen der minoisch-mykenischen Bronzezeit und jenem Griechenland, wie es im achten und siebenten Jahrhundert wieder ins hellere Licht der Geschichte tritt, aus allgemeinen Erwägungen überwiegend skeptisch gegenübersteht. Auf einige Aspekte dieser Frage kommen wir unten 143 ff. noch einmal zurück. Was im Konkreten die Versuche anlangt, die Heroenvorstellung schon für die mykenische Ära nachzuweisen, urteilt Burkert m. E. wiederum zu Recht und sehr pointiert, dass die mykenischen Zeugnisse enttäuschend sind, ja dass in gewissem Sinn Linear B unser Nichtwissen über die mykenischen Mythen sogar vertieft.83 Selbst bei der Umsetzung
80 Burkert 1987, 29. Zur Verwandtschaft der Herakles-Mütter Alkmene und Hera, wohl auch der Semantik der Namen nach, vgl. oben S. 102. 81 Burkert 1991, 534. 82 Burkert 1991, 531. In den Namen der Atriden sieht Burkert den Charakterzug des Nicht-Wankens in dreifacher Brechung ausgedrückt: Agamemnon leitet er aus Aga-men-mon her, in Menelaos würde sich dann das gleiche Etymon verbergen, und die Atreidai wären als A-tresidai zu verstehen. 83 Burkert 1991, 527 und 528.
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der beiden eventuell einschlägigen Linear-B-Texte in die klassisch-griechischen Termini trisheros und δίψιοι wird man überdies angesichts der Textgattung und der Orthographieprobleme fragen müssen, ob nicht die Gefahr eines Zirkelschlusses nahe liegt!84 Die Kultspuren mykenischer Zeit am Gräberrund A – sie sind übrigens dürftig, was schon Mylonas gesehen hat – zeigen keinerlei Spezifikum des Heroenkultes; im Übrigen wird man damit rechnen dürfen, dass sich die Mykenäer vor dem großen Kulturbruch sehr wohl bewusst waren, dass dort ihre Herrscher mit einem gottähnlichen sakralen Nimbus, der sie weit über starke Wächter am Tor hinaushob, beigesetzt und zu verehren waren.85 Im Übrigen lagen die Gräber wohl schlicht deshalb vor dem Burgtor, weil zwischen oder in den Häusern und Palästen nicht der rechte Platz für sie war, sei es aus praktischen oder religiös-magischen Gründen. Eine Wächterfunktion sieht man wohl erst aus der rückblickenden ‚heroisierenden‘ Perspektive! Auch auf die Siegerlisten von Olympia, die den Beginn eines bedeutsamen Heroenfestes scheinbar in den Anfang des achten Jahrhunderts v. Chr. datieren, sollte man sich in Kenntnis der historischen Kritik an dieser Quelle besser nicht berufen.86 Konzentrieren wir uns nun auf die Überlegungen, die um die Entwicklungen im achten und siebenten Jhdt. v. Chr. kreisen! Der Gedanke Coldstreams, dass die spätgeometrischen und archaischen Votivgaben an mykenischen Gräbern Symptome für ein ehrfurchtsvolles Interesse sind, das nicht zuletzt durch die Fremdartigkeit dieser Anlagen ausgelöst wurde, überzeugt weitgehend; auch die Vermutung, dass ein Zusammenhang mit der Heroenvorstellung besteht, liegt nahe. Zumindest in Einzelfällen wäre es auch denkbar, dass die Votive eine Art versöhnender Gegengabe darstellten, nachdem man Knochen oder Grabbeigaben entnommen hatte. Vielleicht stammen wirklich die meisten als ‚Heroengebeine‘ verehrten Reliquien aus mykenischen Gräbern, wie das K. Tausend erwägt.87 Was andere mögliche Grabbeigaben betrifft, so gilt immerhin, dass fast alles, was etwa G. S. Kirk in seiner Einleitung zum Ilias-Kommentar als unzweifelhaft mykenisches Kulturgut in der Ilias nennt, gut und
84 Burkert 1991, 527 beurteilt die Täfelchen, wie bereits erwähnt, als direktere Zeugnisse, verweist aber zugleich darauf, dass der in Pylos verehrte Zeus-Sohn, den sie zu bezeugen scheinen, nach den Dark Ages verschwunden ist! 85 Vgl. dazu Mylonas 1951, 64ff.; 1961/62, 342ff. 86 Vgl. dazu Herrmann 1972, 216; Weiler 1988a,113ff. Gegen die Berufung auf die Olympionikenlisten auch Havelock 1992, 137. 87 Tausend 1990, 147.
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gerne aus geöffneten mykenischen Gräbern stammen könnte: Turmschild, Schwert mit Silberbeschlägen, Eberzahnhelm, Trinkbecher, Metall-Einlegearbeiten.88 Coldstreams erster Erklärungsansatz ließ aber noch manche Frage offen: Dass in einer Landschaft wie Euboia, wo der Wechsel im Grabkult ebenso stattfand wie im benachbarten Boiotien und Attika, noch keine Votivdepots an mykenischen Gräbern zutage gekommen sind,89 mag an der zufälligen Ungunst der Fundlage liegen; merkwürdiger ist schon, dass keiner der Votivgegenstände eine Inschrift trägt, die uns den Namen des nunmehr mit der Anlage verbundenen Heros oder den einer Heroine verriete. Wo uns relativ frühe Graffiti und Gefäßaufschriften solche Namen nennen, zum Beispiel in Therapnai oder am Hymettos, handelt es sich nicht gerade um Grabkulte. Auch kommen die Votive zwar in Landschaften vor, die den Epen zufolge Heimat der hervorragendsten Heroen sind, aber auch in Attika, das bekanntlich bei Homer keine große Rolle spielt. Akzeptiert man Coldstreams Annahme, dass die homerischen Dichtungen den Heroenkult anregten, so kann man sich vorstellen, dass der Heroenkult in so wichtigen ‚heroischen‘ Landschaften wie Lakonien, dem Raum um Troizen oder Thessalien eben andere Anknüpfungspunkte suchte als die mykenischen Gräber, die dort zu wenig vom Bekannten abwichen, um die Phantasie zu beschäftigen. Folgt man aber der Argumentation, dass das Epos den Heroenkult bereits kennt und ihn nicht erst anregt – und so denkt der Verfasser – so stellt sich umso dringender die Frage, warum die mykenischen Nekropolen und Gräber ausgerechnet im ausgehenden achten und im siebenten Jahrhundert das Interesse der Griechen auf sich zogen. Die oben von uns so genannte ‚Legitimationshypothese‘ von Snodgrass, Berard, de Polignac, Whitley und anderen stellt einen Versuch dar, einen Teil der soeben aufgeworfenen Frage zu beantworten. Bevölkerungsvermehrung, Landesausbau, das Besitzstreben freier Bauern, die Dynamik der entstehenden Poleis und ihre Konkurrenz um Territorien sowie die Rivalität ihrer führenden Familien hätten ihr zufolge die Motivationen dafür geliefert, Ansprüche durch den Kult längst verstorbener großer Vorfahren sinnenfällig zu machen. Diese Erklärung besticht unter anderem dadurch, dass sie weit mehr Phänomene umfasst als der erste Ansatz von Colstream, ohne ihn auszuschließen. Auch kommt sie ohne die
88 Kirk 1985, 8. Der oben geäußerte Gedanke ist nicht neu, vgl. Hampl 1975, 81ff. und 167f. mit älterer Lit. 89 Die Parallele zu Attika wiegt besonders schwer, wie Tausend 1990, 150 herausstellt, weil nach Coldstreams Modell beide Gegenden vom Bevölkerungswechsel der Umbruchszeit von 1200 v. Chr. verschont geblieben sein müssten. Zum Problem der Ethnogenese vgl. unten S. 143 ff.
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Idee aus, eine homerische dichterische Erfindung hätte Religion und Gesellschaft so stark verändert, wie dies der Heroenglaube mit all seinen Konsequenzen tat. Aber auch in diesem Fall bleiben noch offene Punkte. Einer dürfte sich relativ leicht erledigen lassen: Die Frage, ob es eher freie Bauern oder Aristokraten beziehungsweise Gemeinden waren, die in Attika (und anderswo!) die neuen Kulte stifteten, beruht wohl auf einer Alternative, die der gesellschaftlichen Realität des achten und siebenten Jahrhunderts v. Chr. nicht wirklich adäquat ist. Man kann ohne Weiteres an die Häupter relativ (!) wohlhabender Familien denken, die in immer noch überwiegend bäuerlichen Gemeinden zusammen mit einigen anderen den Ton angaben, ohne doch einen Geburtsadel darzustellen.90 Wenn sie an den Kultplätzen Ansprüche dokumentierten, so hatte dies sowohl für sie als Individuen wie für ihre Familien und Gemeinden Bedeutung. Prinzipiellerer Natur ist die Frage, ob man auch in Lakonien, Messenien, Elis oder Thessalien mit derselben Dynamik rechnen darf, die in der Argolis oder Korinth, in Attika oder Boiotien den Anlass zu Kultstiftungen gegeben haben soll. Liest man de Polignacs einschlägiges Buch: „La naissance de la cité grecque. Cultes, espace et société VIIIe–VIIe siecles avant J.-C.“, so wird einem überdies klar, dass zwar die Heroenkulte wegen ihres genealogischen Aspekts für die ‚Legitimationshypothese‘ besonders interessant sind, dass aber auch und gerade die Kultstätten für große Gottheiten, so die Heraien von Argos und Perachora, oder die Stätten für Initiationsriten etc. in dieses Konzept passen.91 Es bietet also keine spezifische Erklärung für den Heroenkult als ganz konkrete Erscheinung der religiös-gesellschaftlichen Sphäre. Dieser sehr umfassende Charakter der ‚Legitimationshypothese‘ führt wohl auch dazu, dass die naheliegende Frage, ob denn Kulte für Heroinen in gleicher Weise Ansprüche bekräftigen konnten wie solche für entsprechende männliche Gestalten, von ihren Verfechtern, so weit ich sehe, bisher nicht thematisiert wurde. Darauf kommen wir später noch zurück. Im Übrigen ist auch die geringe Zahl von Inschriften der Legitimationshypothese nicht besonders günstig. Kommen wir zuletzt auf den Einfluss zu sprechen, den der Vordere Orient und Ägypten bei der Ausformung des griechischen Heroenglaubens ausgeübt haben könnten.
90 Zur Problematik der Vorstellung von einem Geburtsadel im homerischen Griechenland vgl. Ulf 1990, 2-50, bes. 2f. zur Begriffs- und Wissenschaftsgeschichte; siehe auch Stein-Hölkeskamp 1989, 24ff. 54ff. mit Lit. 91 Vgl. de Polignac 1984, 42ff.60 (Perachora).
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Die Beispiele für Bild- und Erzählmotive vermutlich orientalischer Herkunft, die besonders Walter Burkert in die Diskussion über die Entfaltung der griechischen Heroenmythologie bzw. -ikonographie eingebracht hat (vgl. oben S. 120 f.), mögen unterschiedliche Grade der Sicherheit aufweisen; im Ganzen lassen sie sich aber gewiss nicht abweisen, und bei entsprechenden Erkenntnisbemühungen von Forschern, die in beiden Kulturbereichen bewandert sind, darf man wohl weitere Entdeckungen dieser Art erwarten (vgl. auch Rollinger 1996, S.156ff.). Es macht freilich, wie Burkert selbst herausstellt, einen Unterschied, ob ein ganzer Erzählfaden oder nur eine bestimmte bildhafte Szene aus einer Kultur in die andere übernommen wird. Im Falle der Parallele zwischen dem Kampf Gilgameschs gegen Humbaba und jenem des Perseus gegen die Medusa etwa urteilt Burkert selbst, dies sei „no borrowing of myth, but of an icon“.92 Bei den zwölf Taten des Herakles beziehungsweise des Ninurta hingegen verhält sich die Sache offenbar anders. Hier werden größere Teile einer ‚mythischen Vita‘ von einem mesopotamischen Gott auf einen griechischen Halbgott bzw. Heros übertragen, was den Charakter des Letzteren weit stärker beeinflusst, als dies eine einzelne Szenerie vermöchte. Wenn man sich unter solchen Aspekten genauer darüber Rechenschaft ablegt, auf welcher Vorstellungs- und Reflexionsebene die diversen orientalischen Einflüsse anzusiedeln sind, deren Einwirkung man vermutet, so vermag dies unsere historische Überlegungen vielleicht ein Stück voranzubringen. Je nachdem, ob es sich lediglich um einzelne bildhafte Szenen handelt oder um ganze Erzählfäden, um Motive, die in großer Literatur ihren Platz haben, oder um grundlegende Denkformen und -kategorien, ist nämlich auch an unterschiedliche Vermittlungswege beim eventuell anzunehmenden Kulturtransfer zu denken: Einzelne Bildmotive – etwa die Kämpfe gegen Löwen und andere Ungeheuer – können die Griechen schon von orientalischen Importstücken (Siegeln, Elfenbeinschnitzereien, Metall-Treibarbeiten etc.) abgelesen und in eigene Mythen eingebaut haben. Ob sie diese Motive dabei mehr oder weniger missverstanden haben, musste davon abhängen, ob deren mythischer Kontext sehr komplex und für sie auch dem Inhalt nach fremd war oder nicht; ferner davon, ob sie mehr oder weniger eingehende und für sie verständliche Kommentare – vielleicht
92 Burkert 1987, 26f.
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von orientalischen Händlern oder von Wanderpriestern,93 die die Ägäis befuhren – dazu erhalten haben. Andere Fälle von Kulturtransfer müssen auf einem engeren und längeren Zusammenleben von Orientalen und Griechen beruhen. Hierher ist das berühmteste und als solches am wenigsten umstrittene Ergebnis des griechisch-orientalischen Kulturkontaktes, die Übernahme des phönikischen Alphabets, zu rechnen.94 Jene literarischen Bilder der Ilias, die R. Rollinger in seinem erwähnten Beitrag auf orientalische Anregungen zurückführen möchte, besonders die feurige Aura rund um die Helden und die Göttin, die die Fäden des Kampfes zieht, dürften ihre Verbreitung wohl auch intensiven Kontakten verdanken. Denn sie hängen nicht an einzelnen Gestalten oder Szenen, sondern sie werden vom Dichter selbständig eingesetzt, und sie haben ihre vermutlichen Vorlagen in orientalischen Textgattungen, die mit der Herrscherpropaganda verknüpft waren und im alltäglichen Verkehr zwischen Händlern und Kunden wohl kaum eine Rolle gespielt haben. Sie setzen vielmehr das Interesse eines dichterisch Schaffenden an orientalischer Literatur auf einer höheren Reflexions- und Stilebene voraus. Je nach der Qualität der Kontakte, die für die Übernahme eines bestimmten Kulturelementes erforderlich sind, bestimmen sich für den Historiker auch die historischen Zeitabschnitte und die geografischen Räume, die für dessen Übernahme in Frage kommen. Eine Zusammenschau der einschlägigen schriftlichen Nachrichten und des relevanten archäologischen Materials95 führt nun auf eine markante Wende in den Beziehungen zwischen den Griechen und dem Orient: Während vor 750 v. Chr. vor allem phönikische Händler in der Ägäis tätig beziehungsweise ansässig waren und bei der Heimreise unter anderem griechisches Tafelgeschirr in die Levante brachten, wurden sie um die Mitte dieses Jahrhunderts aus dieser Position verdrängt. Nach diesem Zeitpunkt machten sich Griechen in syrischen und phönikischen Hafenorten sesshaft. Gegen 700 v. Chr. begannen sie sich in Kilikien niederzulassen, in weiterer Folge gelangten Soldaten und Handwerker ins mesopotamische Kernland; ab etwa 660 lebten dann Hellenen in langsam steigender Zahl in Ägypten, zuerst als Söldner und Offiziere, später als Händler und Handwerker,
93 Die persönlichen Kontakte mit Händlern müssen natürlich auch unterschiedliche Qualität angenommen haben, je nachdem, ob es sich um kurze Besuche gehandelt hat oder um Kontakte mit den Bewohnern von Handelsniederlassungen wie jener von Kommos in Süd-Kreta (dazu P. Haider 1996, 77ff.); neben Wanderpriestern und Magiern kommen auch Wanderärzte in Betracht. 94 Vgl. dazu unten S. 128. 95 Haider 1996, 59ff. Vgl dazu auch Haider 1988, 153-210, sowie die von ihm genannte ältere Literatur.
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und auch einzelne Festungen Palästinas erhielten im ausgehenden siebenten Jahrhundert griechische Besatzungen.96 Dass die Übernahme des phönikischen Alphabets in die zweite Hälfte des achten Jahrhunderts gehört und unmittelbar mit der oben angesprochenen Wendung der Dinge zusammenhängt, ist von Forschern wie Rhys Carpenter schon längst gesehen und auch in letzter Zeit von Eric Havelock und anderen bekräftigt worden.97 Doch fällt auch im Zusammenhang mit unserem Thema an der Chronologie der Entwicklungen einiges auf! Die archäologischen Indizien aller drei oben beschriebenen Kategorien, die mit dem Heroenkult in Zusammenhang gebracht werden, setzen fast durchwegs in der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts mit ziemlich reichen Fundbeständen ein. Sie setzen sich im siebenten Jahrhundert fort, wobei auch die Zahl der Fundplätze zunimmt. Besonders deutlich ist dies bei den Votivdepots an mykenischen Gräbern; unter den archäologisch greifbaren und später durch Schriftquellen benannten alten Heroenkultstätten sind einige vielleicht älter (Amyklai, Hymettos, Akademie, Erechtheion), die anderen werden ebenfalls in der genannten Periode erkennbar; Asine und Eretria gehören ebenso in die spätgeometrische Zeit, und in Naxos erfährt der ältere Grabkult durch Abdeckung und Tumulus einen Wandel. Das ist zunächst nur eine chronologische Abfolge; sie wirft aber die Frage auf, ob sich ein nachvollziehbarer sachlicher Konnex zwischen den historischen Erscheinungen herstellen lässt. Ein solcher Konnex ergibt sich nach Ansicht des Verfassers recht zwanglos, wenn man sich in die geistige Situation der Griechen hineinversetzt, die an der intensivierten Begegnung zwischen Orient und Okzident beteiligt waren: Vor allem diejenigen unter ihnen, die ab ca. 750 v. Chr. einige Jahre oder auch Jahrzehnte ihres Lebens in Syrien und Phönikien verbrachten – später kamen dann Kilikien und andere Länder des Orients hinzu –, haben dort ohne Zweifel einige kulturelle Erfahrungen gemacht, die weitreichende Denkanstöße nach sich zogen. Vor allem erlebten sie, die aus einer Welt der Oralität kamen, dort eine Welt der Literalität, und zwar nicht über Gespräche mit einzelnen Vertretern, wie man
96 Haider 1996, 75f. 97 Vgl. zur Datierung Carpenter 1933 und 1938 passim; neuerdings Havelock 1992, 135ff. und 145 (mit Lit.); zum Zusammenleben an zweisprachigen Orten Havelock 1992, 140. Vgl. ferner Stoddart/Whitley 1988 und die nächste Anm.
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sie zuvor schon im ägäischen Raum treffen konnte, sondern in ihrem ganzen komplexen Funktionszusammenhang.98 Unter anderem hatte für diese Kultur die Vergangenheit eine große Bedeutung, und dies in einer für die damaligen Griechen sicherlich ungewohnten zeitlichen Tiefendimension: Herrscherlisten, Annalen, Chroniken, aber auch öffentliche und private Verträge und Urkunden griffen über viele Generationen zurück, und man berief sich häufig auf uralte Traditionen, man stellte handfeste Ansprüche auf Macht, Rang und Gut, die, entsprechend schriftlich belegt, weit jenseits der Urgroßväter wurzelten.99 Außerdem übertraf auch die Architektur an Größe und angebbarem Alter alles, was die ägäische Heimat kannte, und an beschrifteten Sarkophagen und Gräbern konnte man das Kommen und Gehen der Geschlechter abzählen. Um in dieser Gesellschaft zu bestehen, war es nötig, das Alphabet zu erlernen; mit seiner Adaptierung für die griechische Sprache gewann man ein Instrument, das nun, wie man am Vorbild sah, nicht nur für praktische Zwecke der Wirtschaft, sondern im Prinzip auch dafür geeignet war, jene geschichtliche Dimension des Lebens zu erschließen, die im Orient so viel bedeutete. Wo aber fand derjenige, der, von solchen Erfahrungen durchdrungen, ins heimatliche Griechenland kam, jene Gegenstände und Gestalten, mit denen er die Tiefe der Zeit, die nun in einer anderen Weise auszudenken war, ausgestalten und bevölkern konnte? Was Coldstream mit dem Wechsel der Bestattungsformen in bestimmten Regionen erklärt – versteht es sich in dieser Phase transkultureller Anstöße nicht von selbst, und zwar in einem sehr viel größeren Zusammenhang? Liegt es nicht nahe, dass nun die Spuren der Vergangenheit im eigenen Land, die bisher ziemlich unbeachtet geblieben waren,100 mit neuen Augen wahrgenommen wurden? Einige dieser Überreste waren ansehnlich genug, so die Mauern und Gewölbe der großen Festungen und Kuppelgräber, die durchaus den
98 Havelock 1992, 140 verweist darauf, dass die Griechen auf Kreta und Zypern oder in al Mina sehen konnten, wie die Phöniker Objekte mit Hilfe von Inschriften selbst sprechen ließen. Die Anregung ist freilich viel umfassender zu sehen, und die Kontakte im syrisch-phönikischen Kernland haben wohl mehr Bedeutung als jene auf Kreta und Zypern – einerseits wegen des angesprochenen kulturellen Funktionszusammenhanges, und andererseits ist es wohl symptomatisch, dass im griechischen Mutterland direkt das phönikische Alphabet übernommen wurde und nicht etwa das kyprische Syllabar. 99 Ein ähnlicher Gedanke bei de Polignac 1992, 19. 100 Dies erschließt man nicht nur e silentio, sondern auch aufgrund direkter Zeichen solcher Missachtung, vgl. Cook/ Wace, ABSA 48 (1953), 69ff. über die Indifferenz gegenüber dem Epano-Phournos-Grab in Mykene, danach de Polignac 1984, 129.
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Vergleich mit dem aushalten konnten, was man im Orient sah, andere immerhin merkwürdig, wie die kleineren bronzezeitlichen Grabanlagen und Siedlungsreste. Von den realen Menschen, die diese Anlagen geschaffen hatten, wusste man freilich nichts. Zu dieser Annahme müssen wir kommen, wenn wir die Tatsache ernst nehmen, dass hinter dem spätgeometrischen Griechenland nahezu ein halbes Jahrtausend oder, anders ausgedrückt, fünfzehn bis sechzehn Generationen der Schriftlosigkeit lagen. Was man mündlicher Überlieferung zutrauen kann und was nicht, ist neuerdings wieder Gegenstand lebhafter wissenschaftlicher Diskussion. Insgesamt kann man das Ergebnis der neueren Forschungen zu diesem Thema aber wohl folgendermaßen zusammenfassen: Oralität vermag zwar Traditionen zu bewahren, aber jenseits einer Zeitgrenze von drei Generationen kann sie diese stark verändern. Außerdem und vor allem kommt es offenbar darauf an, dass die Traditionen, die vor dem Vergessen bewahrt werden sollen, haben, was man in Übertragung eines Ausdrucks aus einem anderen Forschungsbereich einen ‚Sitz im Leben‘ nennen könnte, also eine aktuelle und existentielle Bedeutung für Erzähler und Zuhörer.101 Das Ausmaß des materiellen und vor allem des gesellschaftlichen Umbruchs zwischen 1200 und 1000 v. Chr. gibt allen Anlass zu der Annahme, dass die Kunde von den Herren der Burgen und Tholoi bald keinen solchen ‚Sitz im Leben‘ mehr hatte.102 Setzt man die Entwicklung der Heroenvorstellung aufgrund der vorangegangenen Überlegungen nach 750 v. Chr. an, so lässt sich dafür etwa folgendes Modell entwerfen: Angeregt durch die Erfahrungen im Orient, nehmen die Griechen auch im Mutterland die Reste einer fernen, fremdartigen Vergangenheit neu wahr. Insbesondere die Monumentalität der Gräber und Burgen gibt in einigen Landschaften den Anstoß, deren einstige Inhaber 101 Vgl. etwa Goody/Watt 1986, 68f.; dort auch die Wortprägung „strukturelle Amnesie“. Die Autoren konzedieren, dass bestimmte „mnemonische Muster“ den Erinnerungszeitraum strecken könnten. Gerade das Beispiel der Tiv in Nigeria zeigt aber, wie leicht sich solche Erinnerungen verändern ließen, während die alttestamentlichen Genealogien aus der Welt von Schrift-Gelehrten stammen und nicht aus der Oralität. Vgl. etwa auch Thomas 1992, 108f. Die Drei-Generationen-Grenze hat wohl einen Reflex im griechischen Terminus τριτοπατρῆς (so auch Antonaccio 1993, 63, vgl. auch 58.) Angewandt auf den griechischen Fall, verquickt sich diese Debatte natürlich mit jener über Kontinuität und Diskontinuität zwischen Homer und Mykene, vgl. dazu etwa Ulf 1990, 233ff.; Patzek 1992 passim, bes. 73-104 mit Lit. 102 Die Vermutung, dass Nachrichten über die mykenische Welt durch fahrende Sänger in einer quasi-höfischen Welt der Dark Ages tradiert wurden, ist wohl sehr stark von der Analogie des europäischen Mittelalters beeinflusst, aber fragwürdig. Unter anderem ist zu beachten, dass im Übergang von der Spätantike zum Mittelalter die Schriftlichkeit nicht abgerissen ist, schon gar nicht über Jahrhunderte, und dass die materielle Hinterlassenschaft der Dark Ages auch in ihrer reichsten Ausprägung (etwa in Lefkandi) nicht auf eine solche höfische Gesellschaft hindeutet; auch von der homerischen Gesellschaftsstruktur her ist sie nicht zu postulieren, vgl. dazu Ulf 1990 passim; zur Frage der ‚Erinnerung‘ in den frühen dunklen Jahrhunderten auch Patzek 1992, 98ff. (mit Lit).
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mit einem möglicherweise damals schon altertümlich klingenden Wort als ‚die Starken‘ die ἣρωες, zu bezeichnen und ihnen außergewöhnliche Kräfte zuzuschreiben. An besonders merkwürdigen Gräbern bezeugt man ihnen in Formen des Totenkultes Respekt. So entsteht eine Vorstellungskategorie, die freilich nach Konkretisierung verlangt, nach individuellen Namen, Erzählungen, Lebensläufen, nach Szenen, Gestalten und Attributen, nach einer Ikonographie. Für diese Konkretisierung wird nun unterschiedlichstes Material aufgegriffen, das ‚icons‘ aus dem Vorderen Orient ebenso umfasst wie längere Geschichten dieser Provenienz, Lokalsagen, Namen und Gestalten aus Kulten103 und Kultaitien, die Fundgegenstände aus bronzezeitlichen Gräbern. Dazu kommen Neuerfindungen von Dichtern, Logographen und Genealogen im Dienste von Familien und Poleis. Außerdem wird dieses Stratum einer imaginären, unbestimmt fernen Vergangenheit von den Landschaften mit den meisten Anknüpfungspunkten (Argolis, Boiotien, Messenien) rasch auf andere ausgeweitet, überregionale Verknüpfungen werden durch Geschichten über Kriegs- und Raubzüge, Heiraten und Liebesbeziehungen, Flucht und Wanderung und ähnliche Erzählstoffe hergestellt. Die Epen – ihrerseits als literarische Großformen wohl kaum ohne das orientalische Vorbild denkbar – präsentieren ein Netzwerk solcher überregionaler Verknüpfungen in großartiger literarischer Form und liefern eine erste kanonische Darstellung der heroischen Welt. Das verhindert nicht, dass auch unkanonische Fassungen überleben, und dass, letztlich die ganze Antike hindurch, ins Bild der Heroenzeit je nach Bedarf neue Einzelheiten eingetragen werden. Sobald eine solche Kategorie besonderer Toter einmal zum Bestandteil der Vorstellungswelt geworden ist, ist man dann auch geneigt, ihr besonders ehrwürdige Verstorbene der jüngeren Zeit ebenfalls anzunähern. Einige Implikationen dieses Modells seien hier noch präzisiert: a) Den Einfluss der Begegnung mit dem Orient setzen wir auf verschiedenen Ebenen an: Am wichtigsten ist der grundsätzliche Anstoß, sich eine fernere Vergangenheit aufzubauen, was allerdings noch nicht eo ipso bedeutet, dass die Kategorie der Heroen als solche aus dem Osten übernommen wird. Bis auf Weiteres mag man davon
103 Darunter wohl auch solche für ‚gesunkene Gottheiten‘, vgl. unten S. 133 ff.
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ausgehen, dass sich die Griechen diese in recht eigenständiger Weise selbst geschaffen haben – auch wenn zu prüfen wäre, ob westsemitischer Ahnenkult oder (spät) hethitische Rituale zusätzliche Vorbilder für Einzelheiten geliefert haben. Jedenfalls kommen dann einzelne Bild- und Erzählmotive hinzu, schließlich die Anregungen für die episch-literarische Ausgestaltung der neuen Stoffe. b) Schon von der Entstehung her, nicht erst als Leistung der Ependichter, ist nach dem hier vertretenen historischen Modell in der Heroenvorstellung eine Tendenz zum Archaisieren angelegt; auch eine gewisse Neigung, die Welt der Heroen mit jener des Orients zu parallelisieren (etwa hinsichtlich der Bauten oder der monarchischen Struktur). c) Der Anstoß für die Entfaltung des Heroenglaubens wirkt weithin in der griechischen Welt; er geht nicht von Phänomenen aus, die auf wenige Landschaften beschränkt sind, wie die monumentalen Ruinen oder der Wechsel im Grabritus, von dem Coldstream ausgegangen ist, oder die Legitimationsbedürfnisse von Bauern oder Poleis in Regionen mit besonderer demographischer und sozialer Dynamik. Das schließt nicht aus, dass er sich in Landschaften, wo solche Motivationen gegeben waren, besonders früh und intensiv entfaltet hat, wie zum Beispiel in der Argolis, in Attika oder Boiotien. d) Die erzählerische Ausgestaltung der Heroenmythologie war ein Prozess, der sich in hohem Maße in der Welt der Literatur abspielte. Das erklärt vielleicht, warum sich auf den spätgeometrischen und archaischen Votiven an mykenischen Gräbern keine Inschriften mit Namen befinden. Wenn der ganze Prozess nach 750 einsetzte und die Epen in verschiedener Hinsicht einen ersten Höhepunkt darin bedeuten, so impliziert dies, dass der schöpferische Vorgang noch im siebenten Jahrhundert in vollem Gange war – Hesiods Werke passen bestens in diesen Rahmen – und dass von daher eine eher späte Datierung für die Epen in Betracht zu ziehen ist.104 Gestalten und Erzählungen höchst unterschiedlicher Provenienz haben in einer neuen 104 Unter den verschiedenen Argumenten, die für eine solche Spätdatierung angeführt werden können, verweise ich hier nur auf zwei: Die hochkomplexe Gesamtkomposition setzt Schriftlichkeit voraus, und die Übernahme der Schrift erfolgte erst gegen 700 v. Chr., vgl. dazu die Anm. 97 mit Lit.; einzelne Passagen in der Odyssee setzen die Öffnung Ägyptens für Griechen voraus, sie weisen somit in die Zeit nach 660, vgl. Haider 1988, 211-220 und Haider 1996, 96ff.
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Vorstellungskategorie ihren Platz gefunden, die ihrerseits eine Antwort auf eine sehr umfassende gedankliche Herausforderung darstellt. Diese unterschiedliche Herkunft der Heroengestalten äußert sich einerseits in den unterschiedlichen Kategorien archäologischer Funde, die oben besprochen wurden,105 andererseits lässt sie sich durch Analyse der Mythen und Riten, der Namen und Funktionen aufhellen. Die Palette reicht von ‚gesunkenen Gottheiten‘ – eine Bezeichnung, die wohl nach wie vor in bestimmten Fällen ihre Berechtigung hat – bis zu offensichtlichen Neuerfindungen aus literarischen und/oder gesellschaftlich-politischen Motiven. So erklärt es sich auch, dass einige Heroen und Heroinen reich entwickelte Kulte besaßen, während andere eine rein literarische Existenz ohne jede Verankerung in der Welt des Rituals geführt haben.
4. Einzelaspekte Es ist unmöglich, in diesem Rahmen auf alle Typen von Heroen einzugehen. Nur zwei davon, die in einem gewissen Sinn Kontinuität und Neuerung repräsentieren, sollen im Folgenden Gegenstand einiger Überlegungen sein; außerdem sei der Platz, den die Frauengestalten in der Heroenwelt einnehmen, unter einigen allgemeinen Aspekten ins Auge gefasst.
4.1. Gesunkene Gottheiten Der einstmals beliebte Gedanke, dass sich hinter einigen Heroen und Heroinen historisch ältere, also in erster Linie minoisch-mykenische Gottheiten verbergen könnten, die während der Dark Ages auf eine niedrigere Stufe in der Vorstellungswelt der Griechen sanken, stößt neuerdings bei manchen Forschern auf Skepsis. Er sei, so befindet etwa Theodora Hadzisteliou-Price, „long out of fashion, as it has no factual basis“.106 Und 105 Dies mag auch als Antwort auf die These von Antonaccio 1993, bes. 63 gelten, dass Grabkult und Heroenkult miteinander konkurrierten. 106 Hadzisteliou-Price 1973, 132 mit Verweis auf Hack 1929, 60f. Auch Coldstream 1976, 8 bemerkt en passant, um 1920 (als Farnell sein bekanntes Werk verfasste) sei es „fashionable“ gewesen „to explain away almost all heroes as faded deities“, ohne sich dann weiter um diese Möglichkeit zu kümmern.
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doch erscheint er, wenn schon nicht der Terminologie nach, so doch in der Sache, häufig in der Handbuchliteratur.107 In der Tat scheint es auch ohne Berufung auf Linear-B-Texte möglich, eine Anzahl von Kriterien zu nennen, um aus der großen Menge solche Heroengestalten herauszuheben, für welche die erwähnte historische Genese in Betracht kommt. Dabei sind diese Kriterien kumulativ zu sehen; das heißt, wenn eines allein erfüllt ist, so wird dies für die besagte Hypothese nicht ausreichen oder auch eine ganz andere Erklärung erlauben,108 doch steigt die Wahrscheinlichkeit, wenn mehrere gleichzeitig zutreffen. Es geht also, beiläufig nach Bedeutsamkeit gereiht, um folgende Merkmale einer Heroengestalt, die es zu beurteilen gilt: • Der Name ist entweder griechisch nicht etymologisierbar oder aber als Kultepiklese zu verstehen, die weithin reichenden Glanz, Blick, Schutz oder Macht, Kraft und Heiligkeit oder Ähnliches ausdrückt. Die Religionsgeschichte kennt genügend Fälle, in denen solche Ehrentitel den ursprünglichen Namen einer Gottheit in den Hintergrund drängen. In unserem Zusammenhang ist insbesondere daran zu denken, dass eine griechische Epiklese nach und nach einen griechischen Namen ersetzte oder auch ganz einfach einen vorgriechischen Kulttitel übersetzt, der nicht mehr in der Originallautung weitertradiert wurde. • Die im Zusammenhang mit dem Heros oder der Heroine überlieferten Riten enthalten Elemente, die mit dem oben einleitend beschriebenen, am Totenritual orientierten Heroenkult nichts zu tun haben, zum Beispiel die Verehrung heiliger Bäume oder Ähnliches. Wie immer, ist dabei auch die Möglichkeit zu berücksichtigen, dass sich solche Riten manchmal aus Kultaitien rekonstruieren lassen. • Die antike Überlieferung erwähnt ihrerseits explizit oder zeigt indirekt, dass der Kult zwischen ‚Götterkult‘ und ‚Heroenkult‘ schwankte. • Der Mythos setzt den Heros oder die Heroine in mehrfache, jedenfalls in andere Beziehungen zu ‚olympischen‘ Gottheiten als die bloße Abstammung; etwa als Ehepartner oder auch als Gegner in mythischen Kämpfen. • Frühe Texte, allen voran die Epen oder Hesiod, reden davon, dem Heros oder der Heroine sei Unsterblichkeit verliehen worden. 107 Vgl. etwa die Artikel über die einzelnen Heroen im Kleinen Pauly. Burkert 1977, 314f. ist überzeugt, dass die alte Kontroverse „mit einem Sowohl-Als auch zu schlichten“ sei. 108 So könnte ein nichtgriechischer Name für sich allein auch auf orientalische Herkunft hindeuten; eine Mehrzahl von Gräbern könnte ihre Ursache in politischen Interessen und Ansprüchen haben usw.
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• Es gibt mehrere Kultstätten für den Heros oder die Heroine, insbesondere auch mehrere Orte, an denen Gräber gezeigt werden. • Der Kultplatz befindet sich im Temenos oder im Tempel einer ‚olympischen‘ Gottheit. • Der Heroenname wird nach Ausweis späterer Quellen mit jenem einer Gottheit zur Doppelbezeichnung des bekannten Typs, etwa ‚Zeus Agamemnon‘, kombiniert. • Die Quellen – allzu oft ist das freilich erst Pausanias – erzählen von sehr alten Kultbildern, insbesondere Xoana. Klassische Fälle, auf die eine Reihe dieser Kriterien zutrifft, wären etwa Ariadne, Helena, Pasiphae, Phaidra, Menelaos,109 die Dioskuren, aber auch Iphigenie, Erechtheus/ Erichthonios, Herakles, Asklepios und Perseus.110 Soweit die Kultstätten solcher Heroen auch archäologisch untersucht sind und in der oben (Abschnitt 2) referierten Diskussion eine Rolle spielen, sind es auffälligerweise jene, wo keine mykenischen Gräber eine Rolle spielen, sondern bronzezeitliche Siedlungsreste oder eventuell auch Kultplätze. Das muss zu denken geben. Man muss sich schließlich fragen, wie sich das „Sinken“ dieser Gottheiten abgespielt haben mag, da es in Zeiten, in denen niemand in der Lage war, eine gezielte Religionspolitik zu betreiben, kaum ein bewusstes, intentionales ‚Absenken‘ gewesen sein kann. Aber man kann an einen Reflex soziokultureller Vorgänge in der religiösen Sphäre denken. So könnten jene Bevölkerungsgruppen, die diese göttlichen Wesen verehrten, nach und nach an gesellschaftlicher Bedeutung verloren haben, etwa durch zahlenmäßige Abnahme, sozialen Abstieg oder durch ethnische Assimilation oder eine Kombination dieser Faktoren. An einem bestimmten Punkt einer solchen Entwicklung war es dann möglich, einzelne mythische Gestalten, die für jene schwindenden Sondergruppen von Bedeutung waren, unter die halbgöttlichen fernen Vorfahren einzureihen, die man – noch in unscharfer Abgrenzung gegen die θεοί und θεαί – als ἣρωες bezeichnete. Wenn weibliche Gottheiten einem solchen Prozess unterlagen, boten sie überdies eine ideale Ergänzung für die männliche Heroenwelt der Herren der Burgen und Tholoi.111
109 Berechtigte Hinweise auf den heiligen Baum in seinem Heiligtum im arkadischen Kaphyai (vgl. Paus. 8, 28, 3) sowie auf die Beziehung zur unsterblichen Helena, die ihm nach Od. 5, 561ff. zu einem Platz auf den Inseln der Seligen verhilft, bei Maaskant-Kleibrink 1989, 7. 110 Burkert 1977, 314 denkt, wohl zu Recht, auch an Achilleus und Alexandra/Kassandra. 111 Vgl. dazu unten S. 139 ff.
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Wenn dies ein angemessenes Modell für das ‚Absinken‘ von Gottheiten ist, dann liefert es zugleich auch eine Vorstellung davon, wie mykenische Gottheiten den tiefen soziokulturellen Umbruch nach 1200 überdauert haben, um am Ende der Dark Ages als Heroen und Heroinen fortzuleben. Betont sei, dass dieses Modell auch und gerade dann plausibel bleibt, wenn jener Umbruch mit größeren ethnischen Veränderungen verbunden war: Es bedarf keines direkten Nachweises der späteren Heroennamen in Linear-B-Texten, da es mit der Tradierung bzw. Übersetzung von Kulttiteln rechnet, und es passt auch auf einen vielleicht jahrhundertelangen ethnischen Assimilationsvorgang, der etwa im achten und siebenten Jahrhundert zum Abschluss kam. Der oben angesprochene archäologische Befund – Kultstätten solcher Heroen und Heroinen nicht an mykenischen Gräbern, sondern an Siedlungs- und Kultplätzen – fügt sich als Indiz für einen solchen Vorgang hier gut ein.112 Wenn man im Übrigen in diesem Zusammenhang mit Kontinuität der betreffenden Gestalten trotz Kulturbruchs und jahrhundertelanger Oralität und Schriftlosigkeit rechnet, so ist dies dadurch zu rechtfertigen, dass sie für ihre Verehrer – anders als die mykenischen Fürsten, Heerführer und Beamten – auch unter den radikal veränderten Bedingungen der Dark Ages einen sehr bedeutenden und kontinuierlich aktuellen ‚Sitz im Leben‘ hatten, nämlich im Rahmen von Riten, die der Fruchtbarkeit, der Initiation, der Orakelsuche, der Förderung schwieriger Geburten, der Krankenheilung oder ähnlichen Zwecken dienten.
4.2. Eponyme War soeben von einer Gruppe von Heroen und Heroinen die Rede, der vermutlich ein höheres Alter zukommt, so gibt es daneben auch Heroentypen, die das Signum einer späten Entstehung an sich tragen. Dies gilt wohl zum Großteil für diejenigen Heroen, deren – gut aus dem klassischen Griechisch verständliche – Namen kämpferische Tugenden oder 112 Die Schwierigkeit, dass selbst an diesen Stätten so gut wie immer ein mehr oder minder langer Hiatus in den Fundbeständen zwischen der bronzezeitlichen/submykenischen und der eisenzeitlichen/geometrischen Phase festzustellen ist, sei hier nicht übergangen. Ein solcher Hiat muss aber nicht unbedingt das völlige Verschwinden der bronzezeitlichen Bevölkerung anzeigen; es genügt, dass diese Bevölkerung im Zuge des Umbruchs dezimiert, materiell verarmt, in ihrer Organisation gestört und vielleicht auf regionale Rückzugsgebiete ausgewichen war (vgl. zu den Verhältnissen der submykenischen Zwischenzeit Patzek 1992, 94f. mit Lit.). Auch unter solchen Umständen kann der Nimbus alter Siedlungen und Kultstätten erhalten geblieben sein, gestützt auch durch minder ansehnliche Reste. Mangels präziser Erinnerung konnten auch mittelhelladische Reste zu neuen Ehren kommen, z. B. in Olympia.
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auch die Fähigkeit zu klugem Rat in der Versammlung ausdrücken bzw. dementsprechend bei Heroinen Hinweise auf das nach dem Geist der Zeit ideale weibliche Rollenbild.113 Besonders überzeugend ist die Spätdatierung bei solchen Gestalten wie Neoptolemos, dessen Benennung schon ausdrückt, dass er den Kampf erneuert und fortsetzt, den sein Vater Achill ausgefochten hat, und der im Epos die Achilleus-Handlung nahtlos im Sinne der dichterischen Konzeption fortführt. Daneben sind es noch die Eponymen, die – schon nach dem seinerzeitigen Urteil von Farnell und noch nach dem von Burkert114 – eine historisch junge Schicht der Heroenwelt repräsentieren. Wir kommen damit auf einen Typ von Heroen zu sprechen, bei dem die kultische Komponente kaum vorhanden ist, und dem auch keine frühen archäologischen Fundstätten zugeordnet werden können. Als Heroen bezeichnet man sie im Grunde nur kraft der Tatsache, dass sie von Dichtern – und dann auch von Genealogen ohne künstlerische Ambition – in einen engen Handlungs- oder Abstammungszusammenhang mit Heroen anderer Genese gebracht worden sind. Einige Beobachtungen, die ihre Häufigkeit, geografische Verteilung und Funktion bei Homer und Hesiod betreffen, seien im Folgenden vermerkt. In der Ilias kommt die Eponymenfunktion etwa dreißig bis vierzig Helden zu. Dabei ist die Zahl der eindeutigen Eponymen unter den Trojanern etwa doppelt so groß wie unter den Achäern.115 Offenbar war dies neben der Erfindung von Namen, die kämpferische Tugenden ausdrückten, das wichtigste Mittel, um die geografisch und ethnografisch einigermaßen gut bekannte Landschaft Nordwest-Kleinasien116 mit imaginären Einzelpersonen zu bevölkern, während für den griechischen Bereich mehr anderes Namensmaterial zur Verfügung stand.117 Für das Mutterland ist ein gewisser Schwerpunkt im Bereich Elis/ Achaia/Arkadien sowie für Thessalien zu erkennen, wobei die Nennungen von Aipytos in Arkadien sowie jene von Thessalos und Phylakos in Thessalien dem Schiffskatalog an113 Z. B.: Admetos, Alkandros, Amyntor, Kaletor; Agamede, Chrysothemis, Eurynome, Polykaste. 114 Vgl. Farnell 1921, 19. 115 Für die trojanische Seite nennen wir hier Asios 1-3 (Numerierung nach dem Namensverzeichnis in der Ausgabe bzw. Übersetzung von Roland Hampe bei Reclam 1979), Askanios 1 und 2, Dardanos, Idaios 1 und 2, Ilioneus, Ilos, Imbrios, Lykaon, Pedaios, Satnios, Simoeisios, Skamandrios 1 und 2, Thymbraios, Troilos, Tros 1 und 2; dazu unter den als Verbündete beteiligten Völkern Ainios, Imbrasos, Paion, Thrasios; für das Mutterland Aleisios, Anchialos (für das kilikischeAnchialos?) Eioneus 1, Epeios, Peleus, Pheres. 116 Vgl. dazu Sieberer 1996, 123f. 117 Über die griechisch-trojanische Doppelwelt wird hinausgegriffen mit Phoinix 1 und 2; Minos stellt einen Sonderfall dar, da er sich wahrscheinlich von einer bronzezeitlichen Landesbezeichnung herleitet, vgl. dazu Haider 1988, 16-18 mit Lit.
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gehören. Heroinen spielen dabei fast keine Rolle, worauf wir im nächsten Abschnitt noch zurückkommen müssen. In der Odyssee, die ja wesentlich andere Inhalte darstellt, wird dieser Bestand kaum erweitert – als Ausnahmen anzumerken sind lediglich die kunstverständige Achaierin Mykene und der Umstand, dass unter dem Namen Aiolos in der Ilias der Vater des Sisyphos erscheint,118 und zwar in Ephyra, einer Stadt im rossenährenden Argos, angesiedelt, in der Odyssee hingegen ein König und Vater des Kretheus in Thessalien – allerdings in der Nekyia, die möglicherweise jünger ist als das Gesamtwerk und von den (pseudo)hesiodeischen Ehoien beeinflusst sein könnte.119 In Hesiods Theogonie ist Kadmos, wenn man ihn als Eponym zur thebanischen Burg Kadmeia sehen will, neben Eleuther, der zur Stadt Eleutherai, ebenfalls in Boiotien, gehört, der einzige Eponym. Ganz am Schluss des Werkes freilich begegnet noch Latinos.120 Man hat allerdings mit Recht bemerkt, dass dieser Schluss wie eine Einleitung zu den Frauenkatalogen bzw. Ehoien wirkt,121 und in den dortigen Kontext würde die Ausweitung des Eponymen-Prinzips auf Völker am Rande der bekannten Welt im Grunde viel besser passen. Der geografische Horizont, der in den Ehoien durch die Erfindung von Eponymen markiert wird, reicht vom fernen Westen über die Skythen im Norden immerhin bis zu den Arabern im Süden. Deren angeblicher Stammvater Arabos figuriert als Neffe des Danaos und – in schöner Demonstration von Kenntnisreichtum – als Schwiegervater des Phoinix und Enkel des Belos, hinter dem unschwer die Gottesbezeichnung Baal zu erkennen ist.122 Man schätzt, dass uns von den Ehoien trotz neuerer Papyrusfunde nur etwa ein Fünftel erhalten ist,123 und so lässt es sich nicht statistisch nachweisen, dass ihr Dichter in besonderem Maße bestrebt war, zuvor noch nicht mit Heroen-Ahnen versehene griechische Landschaften in diese Vorstellungswelt einzubeziehen, obwohl dies naheliegt. Immerhin finden sich Graikos für Nordwestgriechenland und Makedon; außerdem scheint ein gewisses Interesse für Lakonien und die dorischen Phylen vorhanden zu sein.124 118 Er ist vom Windgott zu unterscheiden. 119 Od. 11, 237. 120 Theog. 1013. 121 Vgl. dazu u. a. die Einleitung zur Textausgabe von L. und K. Hallof, 1994, XXXVf. 122 Ehoien 137 p. 119 Hallof. In diesen Anspielungen stecken natürlich Datierungshinweise. Zu Skythes vgl. Ehoien 150, 16 p. 122 Hallof (in diesem Fall überzeugend ergänzt). 123 Vgl. Hallof/Hallof 1994, XXXIII. 124 Nach Lakonien gehören die in älteren Quellen noch nicht erwähnten Eponyme Amyklas, Lakedaimon, Lapithes (Eh. 171 p. 124 Hallof/Hallof; zu einer angeblichen Stadt Lapithaion) und Taygete; zu den Phylen Eh.10, 6ff. p.
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Allein in den erhaltenen Textpartien in den Ehoien sind rund dreißig Eponymen zu finden, die nicht im homerischen Epos vorkommen. Setzt man für das Gesamtwerk etwa fünfmal so viele an, so erscheint die Aussage berechtigt, dass der Autor von dieser Möglichkeit geradezu exzessiv Gebrauch gemacht hat. Neben der Erfassung weiterer Landschaften ging es ihm offensichtlich auch darum, Genealogien nach hinten zu verlängern, um sie schließlich zusammenzuschließen. So bekommt der Arkader Aipytos einen Großvater Arkas und Zeus und Kallisto als Urgroßeltern. Wichtiger ist aber, dass so auch Stheneboia zu seiner Cousine wird, und damit ist eine Verbindung zu jenen Nachkommen hergestellt, die sie zusammen mit ihrem Gatten Proitos hat.125 Hyakinthos bekommt mit Amyklas, Lakedaimon und Taygete drei Generationen von Vorfahren und wird auf diese Art mit den Tyndariden und Penelope verknüpft.126 Selbst in den Ehoien, die ja mythische Genealogien in der weiblichen Linie verfolgen, finden sich nur ganz wenige weibliche Eponyme. Das führt uns auf die Frage der Heroinen.
4.3. Heroinen Wie fügen sich die Heroinen insgesamt in das Bild der sich entfaltenden Heroenvorstellung, das hier skizziert worden ist? – Eines ist zunächst einmal klar: Die mykenischen Burgruinen, die wuchtigen Tholoi und die Waffen unter den bronzezeitlichen Grabbeigaben boten mehr Ansatzpunkte für die Imagination einer heroischen Männergesellschaft als für ihr weibliches Pendant.127 Auch die These, dass Heroenkulte der Legitimation territorialer und anderer Ansprüche dienen mochten, kann – abgesehen von den einschränkenden Überlegungen, die oben (S. 124) vorgebracht wurden – für die Heroinen nur in abgeschwächtem Maße gelten: In einer überwiegend patriarchalischen Gesellschaft, wie es die griechische im achten und
87 Hallof/Hallof. Wenn die Anordnung der Fragmente durch die modernen Philologen das Richtige trifft, strebte das Werk auch auf die Herrschaft der Atriden in der Argolis und in Lakonien zu. 125 Die Linie, die von Arkas über Apheides und Aleos zu Auge und deren Gatten Herakles führt (vgl. Stemma 17 bei Hallof/Hallof), ist im erhaltenen Text nicht explizit belegt, siehe zu Auge Eh.165 p. 123f. Hallof. Zu den Herakliden vgl. Ulf 1996, 252ff. 126 Ehoien 171 p. 124f. Hallof. Vgl. dazu auch Calame 1987, 155f. 127 Die Gewandnadeln unter den spätgeometrischen und archaischen Votiven können darauf hindeuten, dass die Stifter an Empfängerinnen dachten, müssen dies aber nicht, vgl. Coldstream 1976, 9.
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siebenten Jahrhundert v. Chr. ohne Zweifel war, können ja Erbansprüche auf Territorien, Ämter, Priesterwürden (ausgenommen weibliche) und Ähnliches durch Berufung auf Vorfahren in weiblicher Linie bei weitem nicht so gut begründet werden wie auf Deszendenz in männlicher Linie. Dieser Umstand findet seinen Niederschlag unter anderem auch in der Namensgebung beziehungsweise in den Deszendenzangaben im Epos.128 All dem zum Trotz gibt es aber eine Anzahl von Heroinen mit großer religiös-kultischer oder mythisch-literarischer Bedeutung. Es ist schon längst vermutet worden, dass sich darin die große Bedeutung weiblicher Gottheiten in der minoisch-mykenischen Kultur reflektiert. Hier ist nicht der Ort, um dies erneut und systematisch an den einzelnen Heroinengestalten zu prüfen. Eine vorläufige Durchsicht der oben erwähnten Kategorien von Kultplätzen und Gestalten ergibt aber Folgendes: An jenen Stätten der Heroenverehrung, die dem archäologischen Befund zufolge an alte Siedlungen und Kultplätze anknüpfen, sind die Heroinen als Inhaber wohl an der Überzahl. Auch unter jenen Gestalten, auf welche mehrere der religionsgeschichtlichen Indizien für vermutlich gesunkene Gottheiten zutreffen (vgl. oben S. 134), sind deutlich mehr Heroinen als Heroen. Besonders stark vertreten sind sie auf Kreta.129 Obwohl somit eine größere Anzahl mythischer Frauengestalten bronzezeitlicher Herkunft zur Verfügung stand, war ohne Zweifel weiterer Bedarf zur Ergänzung des Gesamtbildes der Heroenwelt nach der weiblichen Seite hin zu befriedigen. Der Fall der Andromeda zeigt, dass orientalische Anregungen ein wichtiges Reservoir dafür lieferten. Dazu kam die dichterische Neuerfindung. Die durchsichtigen Namen, die etwa die Ependichter den von ihnen geschaffenen Figuren gaben, drückten vor allem Klugheit, Güte und Kunstfertigkeit aus. Die zweite Hauptmöglichkeit, den Bestand an Heroinen durch literarische Erfindung zu vergrößern, wurde hingegen auffallend wenig genützt: Die Eponymenfunktion spielt im Epos bei weiblichen Gestalten fast gar keine Rolle! Danae mag einfach ‚die Danaerin‘ heißen, Briseis ist eine der üblichen Wortbildung entsprechende
128 Vgl. dazu die Arbeit von Higbie 1995 passim, bes. 111-135. 129 Vgl. etwa Leveque 1991, 269 mit besonderem Hinweis darauf, dass Aphrodite mit Pasiphae, Phaidra, Ariadne und Eileithyia identifiziert wurde, sowie auf die Kultkontinuität von MM III bis in die römische Zeit in Kato Symi. Leveque führt aus, dass während der Dark Ages ein neues Gleichgewicht zwischen dem maskulinen und dem femininen Element im Pantheon hergestellt wurde, und zwar durch die Vermehrung der männlichen Gestalten, u. a. durch Zeus und Apollon.
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Herkunftsbezeichnung für eine Frau aus Brisa auf Lesbos,130 zwei weitere Fälle sind in sich problematisch.131 Wie wenig ist das doch gegenüber dreißig bis vierzig männlichen Eponymen! Selbst für die Ehoien gilt dasselbe, obwohl sie sich mit Abstammungen in der weiblichen Linie befassen und von Eponymen geradezu wimmeln, wie oben ausgeführt: Nur Aigina, Astereis (zur thessalischen Stadt Asterion?) und Taygete fügen sie dem hinzu, was wir aus dem Epos kennen. Selbst in Fällen, in denen ein grammatikalisch feminines Toponym den Anstoß zur Kreation einer Eponyme hätte geben können, erfolgen maskuline Bildungen: Amyklas für Amyklai, Krisos für Krisa, Magnes für Magnesia, Oineus für Oinoe bei Argos.132 All dies stützt wohl in hohem Maße die oben vorgebrachte Überlegung, dass die Dichter der archaischen Zeit mehr oder minder spontan männliche Repräsentanten für Völker und Orte imaginierten, weil auch die Legitimierung von Ansprüchen eben primär in der männlichen Linie erfolgte. Der Einbau weiblicher Linien diente offenbar nur da und dort einer genealogischen Verknüpfung, die erfolgte, als schon ein gewisser Kanon von Abstammungs- und Erblinien in männlicher Deszendenz vorlag.133 In der Summe hat sich somit Folgendes ergeben: Die ersten Anstöße aus dem Orient wie auch die monumentalen Anknüpfungspunkte, die die Griechen im Heimatland für die Entfaltung der Heroenvorstellung vorfanden, wirkten eher zugunsten männlicher Heroen. Sie konnten auch Legitimationsbedürfnissen besser dienen. Unter den historisch alten Gestalten, die in die neue Vorstellungskategorie aufgenommen wurden, hatten hingegen feminine Figuren das Übergewicht. Die Dichter vermehrten sie insbesondere um Verkörperungen des weiblichen Rollenmaterials ihrer Zeit. Weibliche Eponyme hingegen hatten in der patriarchalischen Gesellschaft der homerischen und früharchaischen Epoche keine rechte Funktion und wurden deshalb sehr selten erfunden.
130 Denkbar wäre freilich, dass sie ursprünglich mit dem lakonischen Briseiai zu tun hatte und von dorther mit Agamemnon assoziiert wurde, der sie in der Ilias bekanntlich an Achill weitergibt. Eine andere Verknüpfung von lakonischer und trojanischer Frauengestalt besteht im Falle von Alexandra/Kassandra, vgl. etwa Burkert 1977, 314 mit Lit. 131 Hermione (Od .4, 4): Namensgleich mit der Stadt in der Argolis, hat aber in der Mythologie keine Beziehung zu ihr. Myrina: Die Identität der im Hügel Batieia vor Ilion begrabenen (Il. 2, 814; vgl. oben S. 106, Anm. 14) mit der Eponymin zur gleichnamigen lemnischen Stadt (belegt erst bei Hekataios FGrH 1 F 138c) ist ungewiss (vgl. H. v. Geisau, Kl. Pauly 3, 1520 s. v.). 132 Amyklas: Eh. 171, p. 124 Hallof; Krisos: Eh. 58, 17, p. 109 Hallof; Magnes: Eh. 7, 2 und 8, 1, p. 86 Hallof; Oineus: Eh. 122, 1, p. 116 Hallof. 133 Vgl. oben S. 139.
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Der Verfasser möchte diesen Abschnitt der vorliegenden Studie nicht beschließen, ohne auf eine Studie mit dem vielversprechenden Titel „The stuff of which Greek heroines are made“ einzugehen, die M. Maaskant-Kleibrink im Jahre 1989 veröffentlicht hat. Einleitend beklagt die Forscherin, diese Gestalten würden „systematically overlooked“, freilich nicht ohne Gründe, die schon in der Antike lägen, denn „the misogyny of the Greek and Roman world contributed to the fact that very important heroines ... disappeared from the centre to the margin of the Classical culture“134. Aus unserer Sicht verhält sich die Sache eher so, dass die Heroinen in der Heroenwelt von vornherein eine begrenzte Rolle spielen und durch ganz bestimmte Typen vertreten waren – und zwar nicht aufgrund vordergründiger Frauenfeindschaft, sondern aufgrund der gesamten Entstehungsgeschichte und der soziokulturellen Funktion dieser Vorstellungsschicht. Die großen Frauengestalten der attischen Tragödie erscheinen in dieser historischen Perspektive als bemerkenswerte Bereicherung des überkommenen Erzählguts – also das Gegenteil einer fortschreitenden Marginalisierung der Heroinen. Die Hauptthese von Maaskant-Kleibrink, nämlich dass eine Reihe wichtiger Heroinen auf Gottheiten mit einer langen Geschichte zurückzuführen sind, teilt der Verfasser im Prinzip und in manchen Details,135 nicht jedoch die Argumentation, die zwei angebliche Indizien dafür besonders in den Vordergrund rückt: Einerseits soll dies das Erzählmotiv der wunderbaren Entrückung sein, wie es in der Geschichte von Iphigenies Opferung oder von Helenas Entführung vorkommt,136 und andererseits der Bildtyp der Frau mit erhobenen Armen, der die „goddess in epiphany“ erkennen lässt.137 Abgesehen von der Vieldeutigkeit des Motivs, die die Autorin selbst beiläufig anspricht, indem sie von einer Geste des Gebets, der Unterwerfung und der Epiphanie spricht, geht es auch nicht an, nach Zeit, künstlerischer Reife und Inhalt völlig unterschiedliche Werke undifferenziert als Stütze dieser These heranzuziehen.138 Letztendlich muss es wohl bei traditionelleren, aber weniger anfechtbaren Argumenten bleiben. 134 Maaskant-Kleibrink 1989, 2. 135 So etwa die Hinweise auf Helena Dendritis, auf ihre Rolle bei der spartanischen Mädcheninitiation und auf ihre Unsterblichkeit nach Od. 5, 561ff. (Maaskant-Kleibrink 1989, 7); auf Iphigenies Namen und ihre Verbindung mit dem Kurotrophos-Kult in Brauron (Seite 43 mit Verweis auf Zuntz 1971, 142-147). 136 Maaskant Kleibrink 1989, 5ff. und 43ff. Diese Erzählungen sind eindeutig aitiologische bzw. literarische Kunstgriffe, um irritierende Geschichten zu entschärfen bzw. mit ganz anderen, meist neu entworfenen, zu verknüpfen. 137 Maaskant-Kleibrink 1989, 6f. Insbesondere die „Divine Nurses“ sollen dahinterstehen. 138 So geht es Maaskant-Kleibrink 1989, 6f. um einen protokorinthischen Aryballos ohne Beischriften, der auf die Entführung Helenas durch Theseus gedeutet wird; 43 um das berühmte pompeianische Wandgemälde, das die Entrückung Iphigenies zeigt; 8 werden tausende Statuetten, die den genannten Gestus zeigen, als ritualisierte Pandoras verstanden, weil Pandora selbst aus Ton geformt wird.
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5. Historische Einordnung – Teil II: Heroenvorstellung und Ethnogenese Mehrere der in dieser Arbeit zitierten wissenschaftlichen Autoren kämpfen mit dem Problem, dass in der Ausprägung der Heroenvorstellung deutliche Unterschiede zwischen dorischen und nicht-dorischen Regionen bestehen müssten, wenn zwei Prämissen zuträfen: a) Der Heroenkult bewahrt dank ununterbrochener Tradition Erinnerungen an die mykenische Zeit. b) Im nicht-dorischen, insbesondere im ionisch-attischen Bereich besteht weitgehend ethnische Kontinuität zwischen Bronze- und Eisenzeit, im dorischen hingegen als Folge der dorischen Wanderung ein deutlicher Bruch. Demnach konnte die Heroenverehrung im nicht-dorischen Gebiet mehr oder minder bewusst und direkt ans mykenische Erbe anknüpfen, in der dorischen Dialektzone hingegen nicht – wegen des Traditionsbruches, der mit der dorischen Wanderung einhergegangen war. Schon in der für die neuere Forschungsdiskussion grundlegenden Arbeit von 1976 hatte Coldstream, diese Prämissen voraussetzend, angenommen, die Heroenkulte seien dort besonders stark, wo die Landesbewohner der spätgeometrischen und archaischen Zeit aufgrund ihrer Autochthonie, die er offenbar auch in der historischen Realität als gegeben ansah, zum einen den Anspruch erhoben, von den Heroen abzustammen, und wo zum anderen während der Dark Ages auch die Bestattungsweise gewechselt hatte, also etwa ganz besonders in Athen.139 Andere Autoren setzen den Effekt der dorischen Wanderung geringer an, so Carlo Brillante, der meint, die Wanderung sei unter der Führung vornehmer Familien in geordneten Bahnen verlaufen, und daher nicht so umstürzend in ihrer Wirkung gewesen; anders als im Übergang von der Spätantike zum Mittelalter habe daher in Griechenland Kontinuität geherrscht.140
139 Coldstream 1976, 14 und bes. 17; referiert u. a. von Morris 1988, 754. 140 Brillante 1981, 49-51.
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Ähnlich überlegt Pierre Leveque, eigentlich seien nur Randgruppen der protogriechischen Bevölkerung (scil. der mykenischen Ära) von einer sekundären Wanderung erfasst worden, sodass letztlich keine „differenze notevoli“ zwischen dorischen und nicht-dorischen Gebieten entstanden: Mythen und Riten seien nach dem Fall der Paläste in dorischen wie nicht-dorischen Gebieten weitertradiert worden.141 Ian Morris schließlich geht im Anschluss an J. T. Hooker davon aus, dass die Vorstellung, wonach die Dorer erst nach dem Trojanischen Krieg eingewandert seien, schon im achten Jahrhundert v. Chr. existierte, und die Dorer deswegen nicht glaubten, von den Heroen abzustammen, während Solon für die Athener schon im siebenten Jahrhundert den Anspruch erhob, die ältesten der Ionier zu sein.142 Abgesehen von den frühen Datierungen geben die zugrundeliegenden Quellenstellen keine Basis für die Vorstellung der dorischen Wanderung, wie C. Ulf 1996, 251ff. eingehend zeigt. Doch folgen wir weiter dem Gedankengang von Morris: Er betont anhand einer linguistischen Landkarte, dass die spätgeometrischen und archaischen Kulte an mykenischen Gräbern die Dialektgrenzen völlig ignorieren, insistiert aber, dass diese Opfer und Riten für die Dorer nicht das Gleiche bedeutet haben können wie für Athener oder Arkader(!), „who professed always (Hervorhebung vom Verf.) to have occupied the same land“143. Schließlich hätten es die Spartaner auch der Auffindung der Gebeine des wohlgemerkt nicht-dorischen Heros Orestes zugeschrieben, dass sie um 550 v. Chr. Tegea besiegen konnten.144 All diesen Überlegungen ist grundsätzlich entgegenzuhalten: Es gibt zwar örtliche und regionale Unterschiede in den Ausprägungen des Heroenglaubens, aber überregionale Gegensätze zwischen dem dorischen und dem nicht-dorischen Gebiet sind nicht aus dem Material ersichtlich, sondern bei dessen Interpretation aufgrund von Vorannahmen (dorische Wanderung bzw. ethnische Kontinuität) postuliert. Das gilt für alle oben diskutierten Phänomene: Die Grabkulte verteilen sich ebenso auf das dorisch wie auf das nicht-dorische Gebiet145 wie die archäologisch früh belegten Kulte, die an mykenische Siedlungen oder Kultplätze anknüpfen und später Heroen und Heroinen galten. Die eventuell auf 141 Leveque 1991, 261 und 266 sowie die Ausführungen auf den Seiten dazwischen. 142 Morris 1988, 756 mit Hinweis auf eine Quellensammlung zur dorischen Wanderung bei Hooker 1976, 213-222, die mit Od. 3, 304ff und 19, 175ff. sowie Hesiod fr. 9 und 233 einsetzt. 143 Morris 1988, 756. 144 Hdt. I, 68. 145 Das sieht Morris ja selbst; betont wird es auch von Tausend 1990, 150f.
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einen Heroenkult beziehbaren Anlagen geometrischer Zeit tun dies ebenso wie die Nennungen von Heroen in den Epen und bei Hesiod, die vermutlich gesunkenen Gottheiten und Eponymen ebenso wie die Heroinen. Den Konsequenzen dieses Befundes weicht man auf zwei Wegen aus: Man hält entweder zwar an der dorischen Wanderung fest, minimiert aber ihren Einfluss, auch wenn dabei merkwürdig unrealistische Bilder einer Migration entstehen – oder man erkennt die gleichmäßige Verteilung der Zeugnisse zwar an, legt ihnen aber ganz verschiedene Bedeutungen bei, die so nicht belegt sind.146 Weniger gezwungen ließe sich der Heroenkult samt seinen vielfältigen Ausprägungen in ein anderes Gesamtbild der ethnischen Verhältnisse einordnen, das doch in Erwägung gezogen werden sollte: Während der Dark Ages lebten in allen(!) Teilen Griechenlands Gruppen, die einer verarmten und zersplitterten mykenischen Restbevölkerung angehörten, neben Zuwanderergruppen, die in sich nur mäßig differenziert waren, und dies unter wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnissen, die kein Bewusstsein einer gemeinsamen griechischen Identität zuließen.147 Die bekannten Dialekte bzw. Dialektgruppen bildeten sich im Lande, unter anderem durch regionale Zeitunterschiede bei den Zuwanderungen, durch unterschiedliche Zahlenverhältnisse und sonstige Relationen zwischen Einwanderern und Ansässigen sowie durch die Wirkung von Verkehrslinien und -barrieren, wobei sich die Differenzen freilich bekanntermaßen in Grenzen hielten. Ein Gemeinschaftsbewusstsein der einzelnen Dialektgruppen ließ aber aus den gleichen Gründen auf sich warten wie das Gefühl einer gesamtgriechischen Identität – die Ethnogenese eines neuen Volkes war erst im Gange. Der Vorgang der Ethnogenese, von dem wir hier sehr bewusst sprechen, wurde nun, soweit es die Ausbildung gemeinsamer Vorstellungen betrifft, durch den Heroenglauben ab etwa 750 v. Chr. wesentlich unterstützt: Allein schon die Zusammenfassung einiger älterer Gestalten unterschiedlicher religions- und mythengeschichtlicher Herkunft, anonymer Ahnen und vieler zusätzlich imaginierter Figuren unter einem neuen, wenngleich archaisierenden Oberbegriff und ihre Einordnung in eine unbestimmte fernere Vergan146 Selbst die These, die Grabkulte hätten in Attika ganz anderen Legitimationsbedürfnissen gedient als in der Argolis, ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Letztlich war der Unterschied wohl nicht so fundamental, vgl. oben S. 125. 147 Vgl. dazu die Ausführungen von Patzek 1992, 86ff. 110ff. mit Lit. Ausführlich zur Einwanderungsfrage Hampl 1975, 100ff.
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genheit bedeutete viel, weil sie eine Vorstellung schuf, die mehrere Landschaften gedanklich miteinander verband. Die narrative Verknüpfung der namentlich benannten und individualisierten Heroen und Heroinen aus verschiedenen Landschaften durch Erzählungen über Kriegszüge, Heiraten, Entführungen, Flucht und Rückkehr legte zudem nach und nach ein Netz von Beziehungen über die geistige Landschaft Griechenlands. Unter anderem müssen dabei aitiologische Momente, die ebenfalls erst unter den Verhältnissen ab dem ausgehenden achten Jahrhundert auftreten konnten, eine beträchtliche Rolle gespielt haben: Es gab nun – und das setzt in der Realität einen intensivierten Binnenverkehr und in den Köpfen entsprechende Reflexionen voraus! – zum Beispiel Männer, die Fragen zu überregionalen Namensgleichheiten stellten: Warum etwa wird Ariadne sowohl auf Kreta als auch auf Naxos verehrt? Die Sage von der Entführung durch Theseus beantwortet diese Frage, an die sich früher oder später freilich weitere nach anderen Kultorten (Athen, Argos, Lemnos, Amathus) anschlossen. Sie wurden nach dem gleichen Muster gelöst; das Ergebnis findet sich bei den Atthidographen beziehungsweise bei Plutarch.148 Eine erste großartige Bündelung dieser vielen Fäden liegt uns in den Epen vor. Eine Perspektive aus der Sicht Kleinasiens verrät sich in ihnen des Öfteren.149 Könnte es sein, dass erst aus dieser Perspektive die Unterschiede zwischen den gesunkenen Göttern und Göttinnen Lakoniens und den imaginären Inhabern der Gräber in der Argolis und in Messenien so weit verschwommen sind, dass sie sich in einer Kategorie zusammenfassen ließen? Die Zentralgestalten der Epen, Achilleus und Odysseus, sind in Randlandschaften des damaligen Griechenland beheimatet und nicht dort, wo man, an den archäologischen Indizien orientiert, die Ursprünge und Zentren der Heroenvorstellung suchen möchte. Liegt dies etwa daran, dass die beiden Heroen eben wegen dieser Ferne von den Brennpunkten noch nicht stark narrativ vorgeprägt und somit voll nach den Bedürfnissen der Dichter charakterisierbar waren?150 Das gesamtgriechische Heer vor Ilion unter dem Oberbasileus Agamemnon war wohl eine Idealvorstellung des Dichters, die nicht ohne das Wissen um orientalische Verhält148 Plut. Theseus 19-21. 149 Vgl. dazu Sieberer 1996, 122f., 129f. 150 In der Rolle des Thessalers Achilleus vor den Mauern Ilions drückt sich wohl auch ein Bewusstsein von Zusammenhängen zwischen diesen – nach den Begriffen der heutigen Dialektgeographie – aiolischen Gebieten aus, obwohl der Terminus Aioler bei Homer auf Kleinasien beschränkt ist, vgl. Ulf 1996, 250.
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nisse zustande kam.151 Dass sich dieses Heer ausgerechnet in Aulis und die Flotte damit in den Gewässern vor Chalkis und Eretria sammelt, weist wieder auf die Blütezeit dieser großen Handelszentren der spätgeometrischen und archaischen Zeit. Es war diese Zeit, in der die Heroenwelt konzipiert und zu einer imaginären gemeinsamen Vergangenheit der Griechen integriert wurde. Durch ihre erklärende und verbindende Funktion und durch ihre weithin anerkannte literarische Ausformung in den Epen wurde sie ein wichtiges Element für die Ethnogenese und das Identitätsbewusstsein jenes Volkes, das uns in der archaischen Zeit unter dem Hellenennamen entgegentritt.
Erstveröffentlichung in:
Christoph Ulf (Hrsg.): Wege zur Genese griechischer Identität. Die Bedeutung der früharchaischen Zeit, Akademie Verlag, Berlin 1996, S. 20-58.
151 Vgl. dazu Ulf 1990, 268.
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Seelenwanderungslehre und Lebensführung in Oberschichten: Griechenland und Indien Edward Burnett Tylors Animismus-Theorie mag heute in vielen Punkten modifizierungsbedürftig sein – eines aber hat er sicher richtig gesehen: der Seelenglaube ist eine religiöse Theorie mit beträchtlichem Erklärungswert: Tod, Schlaf, Träume, Visionen und Krankheiten werden durch sie verständlich und mancherlei Richtlinien für das menschliche Handeln lassen sich aus ihr ableiten, so etwa in Form von Tabus oder Ritualen des schamanistischen Formenkreises. Seelenwanderungslehren wie jene der griechischen Pythagoreer oder der indischen Jainas stellen nun eine der möglichen Formen der Systematisierung des Seelenglaubens dar, welche seinen Erkärungswert weiter steigern und auch die Basis für Verhaltenspostulate gesteigerter Konsequenz bilden. Die Hypothese bzw. das Modell, das hier entwickelt werden soll, lässt sich folgendermaßen umschreiben: Jenes Plus an Welterklärung und Verhaltenskonsequenz ist – im Vergleich zu den einfacheren Formen des Seelenglaubens – an die Existenz von deutlich stratifizierten Gesellschaften gebunden und steht in enger Beziehung zu den Lebensformen sozialer Oberschichten. Zwei Gründe lassen sich für diese These namhaft machen: 1) Die Idee, dass die Seelen nach bestimmten Regeln durch menschliche und tierische Existenzformen wandern, ja vielleicht auch in andere Gegenstände, Pflanzen und sogar in die Götterwelt eingehen können, bringt ein neues Verständnis für die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier; sie gibt aber auch eine Antwort auf die große Frage, die in Kulturen mit deutlich geschichteter Gesellschaft besonders drängend wird: Warum erleiden Menschen so unterschiedliche Schicksale, warum geraten sie – schon durch Geburt! – in eine bestimmte Schicht oder Kaste und damit in so unterschiedliche soziale Rollen? – „Das sind Folgen des Verhaltens der Seele in früheren Körpern.“ – Diese Antwort vermag einerseits auf das Selbstgefühl Privilegierter bestätigend, konfirmierend und auf ihr Gewissen entlastend wirken; andererseits gibt sie aber auch dem, was Benachteiligte erdulden, einen höheren Sinn. 153
Seelenwanderungslehre und Lebensführung in Oberschichten: Griechenland und Indien
2) Wenn aus der Metempsychosis-Lehre Konsequenzen gezogen werden, die über punktuelle Tabus und schamanistische Ansätze hinausgehen, so handelt es sich vor allem um weitreichende Tötungsverbote und Speisegebote. Diese greifen aber derart ins tägliche Leben ein, dass nicht nur eine Existenz als Jäger oder Metzger, als Fischer oder Krieger, sondern meist auch die als Bauer (besonders als Viehzüchter) unmöglich wird. Und das bedeutet in traditionellen Kulturen eo ipso den Ausschluss von mehr als 90% der Bevölkerung und die Begrenzung der Anhängerschaft entweder auf Oberschichten, die ihr Einkommen aus Großgrundbesitz, Handel sowie aus Gewerbe beziehen oder auf unproduktive Außenseiter beziehungsweise ‚Aussteiger‘ der Gesellschaft. 3) Diesem soziologischen Dilemma können die Verfechter der Seelenwanderungslehre nur durch Kompromisse in der Lebensführung entgehen, auf die sich entweder die ganze Gemeinde einlässt oder nur ein Teil davon: eine Abstufung der Gebote nach äußerem und innerem Kreis, nach Weihegraden oder ähnlichen Prinzipien ist die Folge. Das ist eine Hypothese, gewissermaßen eine idealtypische Entwicklung im Sinne von Max Weber, der zu diesen Dingen bereits viele tiefsinnige Bemerkungen gemacht hat. Im Folgenden möchte ich nun prüfen, wie weit die Geschichte der Pythagoreer diesem Idealtypus entspricht, um dann mit einigen Hinweisen auf indische Parallelen und Sonderentwicklungen historische Regelmäßigkeiten und Spezifika der einzelnen Kulturen anvisieren zu können. Zunächst zu den Pythagoreern der älteren Phase, womit wir die Zeit bis zum vierten Jahrhundert v. Chr. meinen: Ihre Lehren, die uns freilich nur sehr fragmentarisch überliefert sind, beziehen sich nur selten ausdrücklich auf soziale Abstufungen. Doch fehlen solche Gedanken nicht ganz. So verkündet Empedokles, der im Wesentlichen pythagoreisches Gedankengut vertritt, ein mühseliges Leben sei die Strafe für Vergehen in einem früheren Leben. Als Gründe für solche Strafen nennt er vor allem den Meineid und Mord.1 Platon, der seinem pythagorisierenden Timaios im gleichnamigen Dialog die Seelenwanderungslehre in den Mund legt, baut die zweitrangige gesellschaftliche Rolle der Frau als Selbstverständlichkeit in dieses Weltbild ein: Frauen sind die Wiedergeburten feiger und unsteter Männer und gehen, 1
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Seelenwanderungslehre und Lebensführung in Oberschichten: Griechenland und Indien
wenn sie sich nicht bewähren, in tierische Existenzen über, die von den Vierbeinern in absteigender Linie bis zu den Wassertieren reichen.2 Die weitreichenden Konsequenzen der Seelenwanderungslehre für eine systematische Lebensführung sind hingegen – gemessen an der ungünstigen Quellenlage – früh und deutlich belegt: Gegen Tiertötung spricht sich Empedokles aus: Er fordert, man müsse endlich aufhören mit dem misstönenden Morden, bei dem vielleicht der Vater den Sohn emporhebt, um ihn zu töten.3 Und er rühmt die Goldene Zeit, in der noch kein Stierblut auf den Altar kam; Leben zu entreißen und Glieder hinunterzuschlingen sei damals die größte Befleckung gewesen.4 Xenophanes erzählt die Anekdote von Pythagoras, der im Heulen eines geprügelten Hundes die Stimme eines verstorbenen Freundes wiederzuerkennen meinte.5 Der Naturphilosoph aus Kolophon erzählt die Geschichte zwar in spöttischer Absicht, gerade deshalb muss sie aber ein Charakteristikum der Pythagoreer treffen. Der berühmte Mathematiker Eudoxos von Knidos schreibt um 370 v. Chr., Pythagoras sei so nachdrücklich gegen jede Tiertötung aufgetreten, dass er nicht mit Köchen und Jägern zusammenkommen wollte.6 Auch die bereits zitierten Empedokles-Stellen deuten eine vegetarische Haltung an, die dann ihren Reflex in der Mittleren attischen Komödie des vierten vorchristlichen Jahrhunderts fand.7 Kein Problem scheint den frühen Pythagoreern jedoch die Beteiligung an kriegerischen Unternehmungen gewesen zu sein. Dies ergibt sich sowohl e silentio aus den pythagoreischen Lehrtexten selbst, in denen nie der Krieg thematisiert wird, als auch indirekt durch Berichte über ihre Politik im Unteritalien des 6./5. Jahrhunderts v. Chr. Zwar sind es relativ späte Quellen wie Diodor, Jamblichos oder Justin, die uns über in Politik verstrickte Pythagoreer berichten, aber sie basieren weithin auf dem ziemlich verlässlichen Autor Timaios von Tauromenion (heute Taormina auf Sizilien), der dank seiner Herkunft gut über Unteritalien informiert gewesen ist und um 300 v. Chr. schrieb. Danach leiten Pythagoreer ab dem Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. die Politik Tarents und Krotons – die letztgenannte Stadt ist auch für die berühmt-berüchtigte Zerstörung von Sybaris anno 510 v. Chr. verantwortlich; im 4. Jahrhundert v. Chr. wird Archytas, der pythagoreische
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Platon, Timaios 42 mit 91 und 92. fr. B 136/137 DK. fr. B 128 DK. fr. B 7 DK. Eudoxos bei Porphyrios, vit. Pyth. 7; vgl. auch Jamblichos, vit. Pyth. 100. Alle Belege dafür in deutscher Übersetzung bei van der Waerden 1979, 182-185.
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Seelenwanderungslehre und Lebensführung in Oberschichten: Griechenland und Indien
Zahlentheoretiker und Freund Platons, sieben Mal zum Strategen von Tarent gewählt – gegen den bisherigen Usus der Polis, der nur eine zweimalige Wahl vorsah! Ein Rechtfertigungsgrund für solche Verstöße gegen das Tötungsverbot ist uns nicht überliefert; vielleicht bietet jedoch die antike Diskussion über Tierschonung einen Hinweis, wo mehrfach die Differenzierung zwischen schädlichen und unschädlichen Tieren eine große Rolle spielt. Daraus würde sich dann – auf den Menschen bezogen – der Schluss ableiten lassen, dass sich das Tötungsverbot nur auf Seelen in harmloser, unterlegener und unschädlicher Verkörperung beschränkte (griechisch: dikaioi; lateinisch: innocentes), nicht aber auf Feinde (griechisch: adikoi; lateinisch: nocentes). Nun zur sozialen Stellung der Pythagoreer in der Epoche bis zum 4. Jahrhundert v. Chr.: Direkte biografische Nachrichten sind selten. Zum Beispiel erfahren wir von Jamblich, vit. Pyth. 5-9, dass Pythagoras der Sohn eines reichen Kaufmanns, Archytas jedoch ein großer Gutsbesitzer gewesen sei. Hingegen zeigen indirekte Nachrichten eine deutlich ausgeprägte aristokratisch-oligarchische Politik des ‚Ordens‘: Das pythagoreisch dominierte Kroton interveniert 510 v. Chr. wohlgemerkt zugunsten von wohlhabenden Exil-Sybariten in der Nachbarstadt. Diese militärische Aktion hat allerdings einen inneren Konflikt in Kroton zur Folge, denn die Pythagoreer weigern sich, dem Antrag des demokratisch gesinnten Bevölkerungsteils stattzugeben, der vorsah, dass die Amtsträger vor (erlosten) Vertretern der Bürgerschaft Rechenschaft abgeben sollen; auch stellen sie sich gegen die Verlosung des eroberten Landes sowie gegen die Forderung, dass die Staatsämter für alle Bürger zugänglich sein sollten. Ninon, ein Vertreter der ‚Demokraten‘, wirft ihnen dann auch in der Volksversammlung vor, dass ihre Philosophie eine Verschwörung gegen die Volksmenge sei, und dass sie andere wie Tiere unterwerfen wollten. Ihr Verbot, Bohnen zu genießen, legt er folgendermaßen aus: Als demokratische Prozedur seien den Pythagoreern Verlosungen verhasst; da diese durch weiße und schwarze Bohnen entschieden werden, seien ihnen nun die Bohnen verboten.8 Diesen Konflikt können die Pythagoreer noch durchhalten, aber die anhaltende soziale Spannung, die hinter diesen Vorwürfen steht, entlädt sich dann ca. 450 v. Chr. in einem für sie katastrophalen Umsturz: In ganz Unteritalien werden ‚demokratische‚ Verfassun8
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Als moderner Religionshistoriker wird man den Grund für das Bohnenverbot sicherlich woanders suchen, nämlich in magischen und animistischen Vorstellungen. Die äußere Ähnlichkeit der Hülsenfrucht mit einer menschlichen oder tierischen Niere oder mit Hoden mag hier eine Rolle gespielt haben; vielleicht sahen sie darin einen Sitz der Lebenskraft beziehungsweise der Seele?
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gen eingeführt und die Pythagoreer als Repräsentanten der oligarchisch-aristokratischen Regierungsform verfolgt. Die Überlebenden flüchten und werden – nunmehr ohne (Gemeinschafts-)Besitz – großteils ins Außenseiterdasein abgedrängt: bettelnd, zerlumpt, in ihrer Lebensführung vegetarisch ausgerichtet – so zeichnet die Mittlere Komödie ihre ‚Pythagoristen‘. Diesen Weg des Außenseitertums scheinen die Vertreter der ‚reinen‘ Schule dem Weg des Kompromisses vorgezogen zu haben, den der andere Teil der Pythagoreer einschlug und der dann auch der zukunftsweisende werden sollte. Dieser Kompromiss ist ein tief einschneidender und zwar sowohl im inhaltlichen als auch im äußerlichen organisatorischen Bereich. Zuerst zur inhaltlichen Ebene: 1) Statt eines konsequenten Tötungsverbotes und seiner vegetarischen Konsequenz wird lediglich der Verzehr bestimmter tierischer Körperteile tabuisiert: Herz und Hirn, Gebärmuttter, Hüfte, Hoden sowie die Schamteile.9 Es handelt sich dabei um solche Körperteile, die nach archaischen Vorstellungen Sitze besonderer Kräfte beziehungsweise die Seelensitze selbst sein konnten.10 2) Das Tötungs- beziehungsweise Speiseverbot wird auf bestimmte Tierarten begrenzt, und zwar: a) auf Ackerstier und Widder,11 wiederum zwei Tierarten, um die alte religiöse Vorstellungen kreisen; b) auf nicht opferbare Tiere (wie heilige Fische) oder unschädliche Tiere.12 Was die Ebene der Organisation betrifft, bilden sich immer stärker zwei Gruppen heraus: die Mathematiker mit ihrer strengen sowie theoretischen Ausrichtung und die Akusmatiker, die vor allem praktisch tätig werden. Wann der Weg des Kompromisses eingeschlagen und wie weit er beschritten wird, diese Fragen sind aufgrund der schlechten Quellenlage in der Forschung umstritten. Bezüglich des inhaltlichen Kompromisses scheint eine Datierung ab 450 v. Chr. gerechtfertigt; und wahrscheinlich scheint auch – nach K. v. Fritz –, dass es im 6. und 5. vorchristlichen Jahr-
9 Aristoteles bei Aelian, v. h. 4, 17; Gellius 4, 11. 10 Vgl. dazu Arbesmann 1929, 35ff. mit Hinweisen auf altindische Parallelen und europäische Folklore. Zur Gebärmutter als einem (oft widerspenstigen!) ‚Tier‘ im Körper der Frau vgl. etwa Platon, Timaios 91 BC und ‚Hippokrates‘, morb. mul. II, 201; nat. mul. 14 und oft. 11 Aristoxenos, fr. 29a. 12 Jamblich, vit. Pyth. 85. 98f.
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hundert Akusmatiker waren, die Politik betrieben, – das heißt: in der Organisation muss sich schon im 6. Jahrhundert v. Chr. eine kompromissfähige Haltung entwickelt haben. Solcherart schillernd und widersprüchlich hat der Pythagoreismus auch vom Hellenismus über die römische Kaiserzeit bis in die Spätantike hinein fortexistiert. Insbesondere der Pythagoreismus des Kompromisses bleibt weiteren Kreisen zugänglich, entwickelt aber doch eine gewisse Affinität zur Oberschicht. Dies zeigt unter anderem die Lehrer-Schüler-Linie Qu. Sextius-Sotion-Seneca Minor; Letzterer muss allerdings den pythagoreischen Vegetarismus auf äußeren Druck hin aufgeben13 – in bestimmten Phasen der Prinzipatszeit galt jede östliche Geistesströmung, also auch der Pythagoreismus, als verdächtig und damit als gefährlich. Das Pythagoreertum scheint somit dem aufgestelltem Modell weitgehend zu entsprechen. Aber nun zur Gegenprobe am indischen Material! Wenn der Althistoriker das indische Material sichtet, so erkennt er – ohne daraus eine wechselseitige Abhängigkeit folgern zu lassen –, dass es der Jainismus ist, der die stärksten Ähnlichkeiten zum Pythagoreismus aufweist. Denn nicht nur der absoluten Chronologie nach fällt die Entstehung dieser Religion etwa in die gleiche Zeit, auch unter den Aspekten der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ist der Hintergrund ein ähnlicher: Handel und Gewerbe blühen an Ganges und Indus fast in derselben Intensität wie rund um die Ägäis und das Ionische Meer, und lassen hüben wie drüben städtische Zentren entstehen. Die Folgerungen, die sich aus der Metempsychosis-Lehre ergeben, finden wir nun auch im Jainismus: Die Jainas erklären in ihren Lehrtexten wie in ihrer reichen Erzählliteratur Menschenschicksale aus früheren Existenzen, und das auch ganz konkret mit Bezug auf die soziale Position. Auf böse Taten folgt schlechtes karma und damit die Wiedergeburt in einer schlechteren Existenz. Gute Taten bringen gutes karma und ein besseres nächstes Leben, was uns unter anderem die beliebte Geschichte von Shalibhadra zeigt, die Hans von Glasenapp in seinen „Literaturen Indiens“ nacherzählt hat:14 Ein armer Hirtenknabe erhält die lang ersehnte Reisspeise, schenkt sie jedoch aus Mitleid einem Asketen; aus dieser Tat folgt gutes karma, das sich dann auch auf sein nächstes Leben auswirken soll: er wird als Sohn eines reichen Kaufmanns wiedergeboren. Sein Vater wendet sich im Laufe 13 Sen. Epist. 108. 17-22. 14 v. Glasenapp 1961, 152f.
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seines Lebens dem Mönchstum zu, stirbt dann auch den Hungertod des Weisen, wird als Gott wiedergeboren und beschenkt nun als solcher seinen Sohn mit seinen Schätzen. Auch der Religionsstifter Mahavira Jina soll aus der sozialen Führungsschicht hervorgegangen sein. Eine Legende erzählt sogar, dass die Seele Mahaviras vor seiner Geburt aus dem Mutterleib einer brahmanischen Mutter in den einer Frau aus der Ksatriya-Kaste . versetzt worden sein soll15 – und dies ist wohl ein Reflex der Wertschätzung dieser Kaste unter den Jainas. Die Konsequenzen der Seelenwanderungslehre für eine systematische Lebensführung sind in der jainistischen Literatur im Grundton dieselben wie die in den pythagoreischen Quellen. Jedoch: die Stellungnahmen zu Tierquälerei, Tiertötung und Jagd sind wesentlich nachdrücklicher und der Kreis der explizit geschützten Lebewesen ist viel weiter gespannt! Auch die Begründung mit der Anwesenheit von (wandernden) Seelen in den Lebewesen ist analog, wenn sie auch im Jainismus überlagert und überhöht wird durch ein allgemeines Prinzip, das dem Pythagoreertum gänzlich fehlt: das ahimsa-Prinzip. . Damit sind wir bei einem Punkt angelangt, der in unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung ist: Der Katalog verachteter beziehungsweise verbotener Berufe ist bei beiden Geistesströmungen im Prinzip gleich motiviert, im Jainismus ist er nur wiederum (aufgrund des ahimsa!) detaillierter und weiter reichend, was einen sozialen Effekt zur Folge hatte, . der bis in unser Jahrhundert angehalten hat: die große Mehrzahl der Laien sind auch heute noch Kaufleute und Beamte. Die Gliederung der Anhängerschaft findet sich bei den Jainas als ein Nebeneinander von Mönchs- und Laiengemeinde, wobei freilich dem rigorosen Charakter des Jainismus entsprechend der jainistische Laie wohl strengere Regeln zu beobachten hat als es der pythagoreische Mathematiker (also der Angehörige des inneren Kreises!) jemals zu tun hatte: Der jainistische Laie muss in erster Linie darauf achten, Tiere nicht grob zu schädigen – eine Lockerung des Maßstabes, wenn man bedenkt, dass für den Mönch kompromisslos das ahimsa-Gebot gilt! .
15 Vgl. v. Glasenapp 1964, 318; Schubring 1935, 26.
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Neben solchen Verwandtschaften lassen sich freilich auch tiefgehende Unterschiede zwischen Pythagoreertum und Jainismus namhaft machen: a) Die historische Entwicklung und der Wandel im Jainismus sind noch wesentlich schwieriger zu verfolgen als bei den Pythagoreern.16 b) Möglicherweise ist die jainistische Entwicklung zum Vegetarismus schrittweise verlaufen, nachdem ursprünglich nur das Nicht-Töten beziehungsweise die Schuldlosigkeit am Tode des Tieres gefordert war.17 c) Die jainistischen Prinzipien mussten auch die Teilnahme am Krieg unmöglich machen; gleichzeitig werden materieller Besitz und Geschlechtlichkeit abgelehnt – eine solche Lebensführung muss zwangsläufig den Ausstieg aus der gesellschaftlichen Schichtung nach sich ziehen. Und erst nachdem man einen Kompromiss eingegangen war, indem man Lebensregeln für die Laien schuf, konnte sich die Wendung zur Oberschichtenreligion ergeben. Das heißt, dass politisch-militärische Führungspositionen, wie sie gerade die Anfangsphase des Pythagoreertums prägen, erst für Jainas einer späteren Entwicklungsstufe – der Stufe des äußersten Kompromisses – ihrer Religion denkbar geworden sind. Und sie werden es, – ja, die Kompromisse innerhalb des Jainismus führen recht gründlich vom einen Gegenpol zum anderen: Jainistische Könige dürfen nun sogar (offiziell) Krieg führen!18 d) Während die asketischen Traditionen Indiens, die zumindest in die Zeit der älteren Upanischaden zurückreichen, im Jainismus (und ebenso im Buddhismus) zu einem Mönchstum im Vollsinn des Wortes führten, hat es seinen guten Grund, dass wir im Bezug auf die Pythagoreer zwar gelegentlich von einem ‚Orden‘, aber nicht von ‚Mönchen‘ sprechen: Die charakteristische Kombination von strenger Besitzlosigkeit und dauernder Enthaltsamkeit kam in den pythagoreischen Zirkeln offenbar nicht zustande.
16 Vgl. etwa die quellenkritischen Untersuchungen zur Frage des Fleischgenusses bei den Jainas von Alsdorf 1961, 557ff; bes. 564ff. 17 Vgl. Alsdorf 1961 loc. cit. 18 v. Glasenapp 1964, 326f. mit Belegen.
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Wenn wir nun den Jainismus mit seinen Charakteristika dem Pythagoreertum gegenüberstellen, so wird Folgendes deutlich: Am Anfang der Entwicklung steht in Indien die asketische Tradition, die die Befreiung des Menschen von Bindungen und Verstrickungen in der Welt anstrebt und die das ahimsa. Prinzip begründet, das dann in einem intensiven animistischen Klima eine Generalisierung erfährt. Im Pythagoreertum hingegen steht am Anfang der Entwicklung das Streben nach einer (magischen) Reinigung des Menschen, damit er in der Welt tätig werden kann, - ein Ziel, das dem Jainismus entgegengesetzt ist. Und nun noch einen Seitenblick auf den Buddhismus, der in seinen Anfängen dem Jainismus sehr ähnlich ist. Im Laufe der historischen Entwicklung jedoch treten immer stärkere und ins Wesentliche gehende Unterschiede zu Tage: Die buddhistische Lebensführung hat nicht das Ziel, die Seelenwanderung bis zur optimalen Existenzebene fortzuführen, sondern das Gegenteil: Sie will ihr endgültig entgehen! Das gilt jedenfalls für die Mönchsgemeinde; den Laien verspricht die kompromisshafte Laienethik Aśokas schon ein etwas leichter zu erreichendes Ziel: die richtige Lebensführung bringt den Lohn im Himmel. Auch die soziale Stellung der Buddhisten lässt sich deutlicher umreißen, und zwar aufgrund des Quellen- und Hintergrundwissens, das wir vor allem durch die AśokaInschriften besitzen: Aśoka dürfte sich die buddhistische anti-brahmanische Tendenz zunutze gemacht19 und dabei die Unterstützung aufsteigender Gesellschaftsschichten gewonnen haben. Auf dem Weg zum Mahayana-Buddhismus kommt dann auch der Gedanke auf, dass schon inbrünstige Buddha-Verehrung allein zur Erlösung führt: Damit ist aber die Lebensführung nicht mehr so entscheidend für die Erlösungshoffnung des Einzelnen und die soziale Weichenstellung, die den Buddhisten entweder ins asketische Aussteigertum oder in eine Schicht ohne physische Gewalt geführt hat, verliert sich im Nebel einer sanften, aber weniger verbindlichen Frömmigkeit.
19 Die Brahmanen stießen sich wohl daran, dass der Herrscher nicht nach den Erbfolgeregeln an die Macht gekommen war. Vgl. Schneider 1980, 146 und 153f.
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Unsere allgemeine Hypothese über die Seelenwanderungslehren und ihre Affinität zu Oberschichten scheint sich also zu bestätigen – und vor dem Hintergrund dieser Regelhaftigkeit heben sich die Besonderheiten in Ursprung und Fortentwicklung der einzelnen Religionen umso deutlicher ab.
Erstveröffentlichung in:
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Theologische Literaturzeitung 1990, 115. Jahrgang, Heft 6, Sp. 409-416. (Es handelt sich hier um die Verschriftlichung eines Vortrages, der bei der Tagung der Deutschen Vereinigung für Religionsgeschichte am 4.10.1988 in Hannover gehalten worden war.)
Seelenwanderungslehre und Lebensführung in Oberschichten: Griechenland und Indien
Literaturverzeichnis ALSDORF, L.: Beiträge zur Geschichte von Vegetarismus und Rinderverehrung in Indien, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz, geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse, 1961. ARBESMANN, R.: Das Fasten bei den Griechen und Römern (= RGVV XXI, 1) 1929. FRITZ, K. v.: Mathematiker und Akusmatiker bei den alten Pythagoreern (= Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse 1960, Heft 11) 1960. GLASENAPP, H. v.: Die Literaturen Indiens von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, mit Beiträgen von H. Bechert und H. W. Schomerus (= Handbuch der Literaturgeschichte in Einzeldarstellungen, Kröners Taschenbuchausgabe, Bd. 318), 1961. GLASENAPP, H. v.: Der Jainismus, 1925, ND 1964. SCHNEIDER, U.: Einführung in den Buddhismus, 1980. SCHUBRING, W.: Die Lehre der Jainas, 1935. WAERDEN, B. L. van der: Die Pythagoreer, 1979.
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Apollon – Asklepios – Hygieia Drei Typen von Heilgöttern in der Sicht der Vergleichenden Religionsgeschichte „Ich schwöre, Apollon den Arzt und Asklepios und Hygieia und Panakeia und alle Götter und Göttinnen zu Zeugen anrufend ...“, so lautet die Einleitungsformel des Hippokratischen Eides. Die Gottheiten, die hier eine Reihe syntaktisch gleicher Glieder bilden, repräsentieren in der Sicht der Religionshistorikers ganz unterschiedliche Typen von Heilgöttern. Das Anliegen der vorliegenden Studie ist es, diese Typen knapp zu charakterisieren, Parallelen in anderen Hochkulturen aufzusuchen und in der Häufigkeit, Seltenheit oder Besonderheit der Vergleichsbeispiele Merkmale für die historische Einordnung zu gewinnen. Am Anfang soll die Kurzcharakteristik der griechischen Gottheiten stehen.
Apollon – der ambivalente Herr des Übels Mehr als bekannt sind die eindrucksvollen Bilder am Anfang der Ilias: Der schreckliche Schütze versendet mit dem silbernen Bogen lautlose Pfeile, nach Belieben treffend – dies ist wohl die Bedeutung des Epithetons heka(te)bolos –, und sendet damit eine tödliche Seuche ins Vieh und Heer der Achäer. Der Beiname Smintheus, der in diesen Versen gebraucht wird, bezeichnet den Gott vermutlich als Herrn der schadenstiftenden Mäuse. Doch der Gott, der das Übel sendet, kann durch Gebet, Gesang und Opfer auch dazu bewogen werden, es abzuwenden. Ilias I,48ff., 450ff. Wendet man sich in diesem Sinne an ihn, ihm erklingt auch der Paian (Il. 1, 472ff.; vgl. Soph. Oid. tyr. 154 ff.), er erhält die Beinamen Paian, Paion, Apotropaios, Alexikakos, Iatromantis, Epikurios. Unter der letztgenannten Epiklese weiht man ihm den berühmten Tempel bei Phigalia in den Ber-
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gen Arkadiens, anderswo verschmilzt er mit dem Heildämon Maleatas, und der Beiname Smintheus wird explizit als Vernichter der Mäuse verstanden.1 Die Etymologien seines Namens und seines wichtigsten Beinamens, ‚Phoibos‘,2 sind allesamt unsicher; die vorgeschlagenen Erkärungsversuche spiegeln in ihrer Widersprüchlichkeit die Ambivalenz des Gottes selbst: ‚Vernichter‘ oder aber ‚Rufer, Vertreiber, Abwehrer‘ soll die Grundbedeutung für ‚Apollon‘ sein, ‚Schrecken‘ oder aber ‚Glanz‘ für ‚Phoibos‘ . Der außerordentlich vielschichtige Gott steht außerdem in Beziehung zu Hain und Baum sowie zu Naturgeistern, er ist Herr der bedeutendsten Orakelstätten und hat eine besondere Beziehung zum Delphin – um nur die wichtigsten Aspekte zu nennen.3 In unserem Zusammenhang ist jedoch eines vor allem zu unterstreichen: Im Laufe der historisch hellen Zeit trat Apollons Rolle als Krankheits- wie als Heilgott allmählich ganz in den Hintergrund.
Asklepios – der positive Heilgott Was seine ‚Kompetenz‘ betrifft, ist Asklepios sehr viel einfacher zu beschreiben: Er ist so gut wie ausschließlich Arzt, Heiler und Retter; die einzige Nebenfunktion ist die des Orakelgebers, belegt zum Beispiel in Texten aus Epidauros. Vor allem aber hat er keine negative Wesenskomponente, abgesehen davon, dass er in den Iamata von Epidauros4 unziemliche Neugierde (ein Mann will von einem Baum aus einen verbotenen Blick in die Inkubationshalle erhaschen) sowie Unglauben bestraft.5 Einigermaßen klar erscheint es, dass Asklepios von einer, in ihren Ursprüngen wohl mykenischen, heiligen Schlange abzuleiten und in diesem Punkt ein Verwandter des boiotischen Trophonios6 ist. Hingegen ist es nicht evident, wie man sich die Rolle der Schlange 1 2 3 4 5 6
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Strabon 13, 604, p. 92f. Jones (Loeb); vgl. Schol. Ail. Nat. 1, 25; Hesych s. v. σμίς, vgl. Burkert 1977, 398. Vgl. die Zusammenstellung der Etymologisierungsversuche bei W. Fauth, Kl. Pauly I (1964) 441f. Vgl. zu Apollon Grégoire, Goossens und Mathieu 1949, 52ff. 76ff.; Fauth (wie Anm.2) 441-448 mit zahlreichen Literaturangaben; Nilsson 1967 I, 529ff., bes. 538-544 über den Heil- und Sühnegott; Burkert 1977, 225-233. Vgl. die Wundererzählungen Nr. 24, 46, 63 bei Herzog 1931, 16ff., 26,32, Kommentar dazu 112ff. Ebd. 15, Wundererzählung Nr. 11. Anm. der Herausgeberin: Dieser Aufsatz erschien 16 Jahre bevor G. Lorenz durch seine Forschungen zu den Ergebnissen gelangte, die er 2004 in seinem Beitrag zu einem Sammelband niederlegte. – Vgl. den Beitrag ‚Asklepios, der Heiler mit dem Hund, und der Orient‘, S. 25 ff.
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als Heilerin im Einzelnen vorzustellen hat, wie die Rolle des Kultpersonals einzuschätzen ist,7 was es mit den Hunden in Epidauros auf sich hat und wie die Etymologie des Gottesnamens aussehen könnte.8 Dazu kommt noch die religionsgeschichtliche Besonderheit, dass Asklepios zwischen dem 8. und 5. Jahrhundert v. Chr. sozusagen in Gefahr war, auf den Rang eines bloßen Heros festgelegt zu werden.9 Doch begann am Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. sein Aufstieg als göttlicher Heiler; er beerbte in dieser Funktion Apollon (insbesondere in Trikka, Epidauros und auf Kos; auf dieser Insel war ein Apollon Kyparissios sein Vorgänger)10 und gebot schließlich über 500 Kultfilialen in der ganzen Oikumene, unter denen Epidauros, Pergamon und Kos hervorragten.
Hygieia – die personifizierte Gesundheit Die Personifikation des Begriffs ‚Gesundheit‘ gewann erst gegen Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. ein gewisses Eigenleben. Die Inschrift IG II, 3, 1649 bezeugt, dass ihr in Athen um 420 v. Chr. zusammen mit Zeus Soter, Athena, Soteira und Asklepios am Fest der Diisoterien Opfer gebracht wurden, und die lyrischen Dichter Ariphron von Sikyon und Likymnios von Chios, die um 400 v. Chr. nachweisbar sind, verfassten Hymnen auf die Göttin.11 Genealogisch und im Opferkult wurde sie mit Asklepios verbunden; die Bildhauer schufen seit dem vierten vorchristlichen Jahrhundert ikonographische Typen, die die Göttin zeigen, wie sie eine heilige Schlange aus einer Schale trinken lässt.12 In Titane bei Sikyon, wo es auch einen Schlangenkult im Vollsinn des Wortes gab, stand, einer Pausanias-Nachricht zufolge, ein altes Kultbild der Hygieia, das über und über mit geop-
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Nach Ansicht des Verfassers deuten bestimmte Wunderberichte aus Epidauros darauf hin, dass das Kultpersonal ähnliche Scheinoperationen durchführte wie die Medizinmänner vieler rezenter Naturvölker, vgl. Lorenz 1985, 185ff. 8 Vgl. Herzog 1931; Edelstein 1975 passim; Fauth (wie Anm. 2) 644-648; Nilsson 1967 I, 538ff. und bes. 806-808 (im Vergleich zu anderen Gottheiten wird Asklepios von Nilsson auffallend knapp behandelt); Burkert 1977, 327330. 9 Ilias 2, 731f.; 4, 194, 219; Hesiod frg. 125; Pindar Pyth. 3, 55ff.; Euripides Alc. 3f., 122ff. Dazu Edelstein 1945, II, 1ff. 10 Sherwin-White 1978, 346f. mit Belegen. 11 Die Belege übersichtlich bei Hamdorf 1964, 47f. u.105-107. 12 Ebd. 47f., 106f. (Nr. 389-396). Eine bes. hübsche Statue steht im Museum von Kos.
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fertem Frauenhaar behangen war.13 Ansonsten sind uns keine weiteren ‚Kultusaltertümer‘ überliefert – ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Verehrung der Göttin nicht in traditionsreichen alten Glaubensgeschichten gewurzelt hatte.14
Vergleichsbeispiele aus anderen Hochkulturen a. Zum Typ Apollons, des ambivalenten Herrn des Übels Im alten Ägypten begegnet uns dieser Typus in einer sehr markanten weiblichen Ausprägung, als vergöttlichte Löwin, unter dem Namen Sachmet.15 Es waren wohl Erfahrungen mit dem realen Jagdverhalten der Großkatzen, die gerade die weibliche Form des Raubtieres zur Verkörperung von Blutdurst, Gewalttat, Körperverletzung, Krieg und jeder Bedrohung, die aus der Wüste kam, werden ließ. Einem Mythos zufolge wurde Sachmet einstens ausgeschickt, um die Menschen zu vertilgen, die sich gegen Re empört hatten. Als der Sonnengott Mitleid mit den letzten Überlebenden verspürte, ließ er rot gefärbtes Bier auf die Wüste gießen, mit Erfolg, denn die Göttin berauschte sich nunmehr daran.16 Sie hatte auch stets ein Gefolge von ‚Messerdämonen‘ um sich, das für alle schmerzhaften Leiden verantwortlich gemacht wurde. Andererseits galt Sachmet als ‚Herrin des Zaubers‘, ja, ihre Priester beherrschten das Feld der Krankenbehandlung so weit, dass der Titel ‚Prophet‘ oder ‚Priester der Sachmet‘ fast zum Synonym der Berufsbezeichnung swnw ‚Arzt‘ geworden ist. Die Beschwörungen der Messerdämonen auf der Rückseite des medizinischen Papyrus Smith zeigen eindrucksvoll, wie das Kultpersonal der Sachmet seine ‚Vertrauensstellung‘ zur Göttin gegenüber ihrem Gefolge zum Wohle der Kranken ausspielte.17
13 Paus. 2, 11, 6; zum Schlangenkult 2, 11, 8: Man brachte Futter an den Eingang des Schlangengeheges, ohne dieses zu betreten. 14 Vgl. zu Hygieia außer Hamdorf 1964 auch Nilsson 1967 I, 137f.; W. Fauth, Kl. Pauly II (1967) 1262. 15 Vgl. Kees 1941, 7-10, 286ff.; Hoenes 1976. 16 Vgl. Kees 1941, 8; Hoenes 1976, 68f. 17 Zum Beispiel P. Smith, Rs 18, 5-16; ebd. 19, 2-14. Dazu Hoenes 1976, 44-48, vgl 42-45 über die Sachmet-Priester.
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In der Spätzeit Ägyptens hat sich der rein heilende Aspekt der Sachmet gleichsam verselbständigt, und zwar im intensiven und äußerst populären Kult der Bastet, der vergöttlichten weiblichen Hauskatze, die als ‚besänftigte Sachmet‘ verstanden wurde.18 In Vorderasien erhielten Seuchengötter wie der akkadisch geprägte Nergal und sein nordwestsemitisches Gegenstück Rešep Kulte, die ihre Macht, das Übel auch wieder abzuwenden, ansprachen, wenngleich entsprechende Beinamen fehlen.19 Ansonsten gab es in Mesopotamien eine Tendenz, die Rolle des göttlichen Krankheitsurhebers bzw. Heilers nach dem jeweiligen Leiden auf verschiedene Gottheiten zu verteilen. So war zum Beispiel der Mondgott Sin im Besonderen für Anfallsleiden zuständig.20 Die religiösen Hymnen des altindischen Rigveda beschreiben den Gott Rudra – sein Name bedeutet vielleicht ‚der Rote‘ – als hochrot mit blauschwarzem Hals. Er thronte nach vedischem Glauben auf den Bergen des Nordens und verschoss mit seinen Pfeilen Fieber und Krankheit gegen Mensch und Vieh.21 Auf der anderen Seite erfleht Rigveda (RV) 1, 114, 3. 10 seinen Schutz und sein Erbarmen: „Komme wohlwollend zu unseren Niederlassungen; bei uns soll deine Gnade sein.“ Von Rudra heißt es aber auch, er sei der größte und beste Arzt, der Not, Seuche und Anfeindung vertreibt,22 und in spätvedischer Zeit (8./7.Jh. v. Chr.) erhält er die Beinamen Sambhu, ‚der Heilbringende‘, Śankara, ‚der Wohltätige‘ und Śiva, ‚der Freundliche‘.23 In dieser Funktion soll er auch den asketischen Schamanen und Einsiedlern Nordindiens, den Munis, Mittel zur Krankenheilung offenbart haben.24 Auch im alten China war der Elementargedanke, dass Krankheiten von Wesen mit besonderen einschlägigen Fähigkeiten verursacht würden, äußerst lebendig. Im Land des Hoangho erfuhren jene Wesenheiten allerdings weder Ehrerbietung noch Gebet oder Opfer in geregelter Form – sie erhielten also keinen Kult und sind demnach in europäischer Terminologie eher den Dämonen als den Göttern zuzurechnen. Und so fehlt es in China
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Vgl. Kees 1941, 82f. Edzard 1965, 77-79, 109-113; Schretter 1974, 83ff., 88ff., zusammenfassend 216ff. Vgl. die bei Saggs 1966, 675-682 in deutscher Übersetzung wiedergegebenen Diagnose- bzw. Omina-Texte. Rigveda (RV) 7, 46; 1, 114; 2, 33. Zu Rudra vgl. Oldenberg 1917, 215-225, bes. 219f., außerdem 336f.; Gonda 1960, 85-89; Moeller1984, 156. 22 RV 2, 33,2. 23 Gonda 1960, 86; Moeller 1984. 24 Zu den Munis vgl. RV 10, 136.
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zwar nicht an öffentlichen wie an privaten Riten der Krankheitsaustreibung,25 wohl aber an direkten Parallelen zu den bisher besprochenen ambivalenten Seuchen- und Heilgöttern. Richten wir jetzt den Blick noch auf das alte Mexiko: Dort glaubte man an den großen Regengott Tlaloc – oder statt dessen manchmal auch an mehrere kleinere Tlaloque –, der auf den Bergen thronte, Körper und Gesicht geschwärzt wie Gewitterwolken, und aus Krügen den Regen auf die Erde gießend. Wurden die Krüge zerschlagen, so donnerte es, und ihre Splitter fielen als Blitze auf die Erde; auch gab es Gefäße mit gutem oder schlechtem Inhalt, der den ersehnten Mais entweder gedeihen oder an Krankheit und Frost zugrunde gehen ließ.26 Tlaloc wurde nun auch als Urheber von Krankheiten betrachtet, die irgendwie mit Wasser (Regen) und Kälte (Bergwind) zusammenzuhängen schienen. Die Liste dieser Leiden war ziemlich lang und umfasste zum Beispiel Gicht, Lähmungen und Versteifungen, Schwellungen (besonders am Hals), Geschwüre, Lepra und Wassersucht. Um den Regenund Berggott wieder günstiger zu stimmen und damit Heilung zu erlangen, gelobte man ihm in solchen Nöten eine Votivstatue, ein Opfer oder ein Fest.27 Da die Anlässe dafür so vielfältig und zahlreich waren, spielte Tlaloc (neben seinen anderen Funktionen) in hohem Maße die Rolle des ambivalenten Seuchen- und Heilgottes.28 b. Zum Typ des Asklepios, des positiven Heilgottes Das Ägypten der Spätzeit kannte zwei göttliche Nothelfer voller Weisheit und Güte: Imhotep und Amenophis, Sohn des Hapu. Bemerkenswerterweise handelt es sich bei beiden um deifizierte historische Persönlichkeiten.
25 Vgl. etwa das han-zeitliche öffentliche Fest der Krankheitsaustreibung am Hoang.ho Nebenfluss Lo. Es fand am Vorabend des großen Winteropfers, am 7. Tag des dritten Wintermonats statt, und wird in dem Werk HouHan-Shu, Kap. 95, geschildert; dazu Münke 1976, 190. Die Mittel der taoistischen Dämonenmedizin hatten fast ausschließlich apotropäischen Charakter, vgl. dazu Unschuld 1980, 33ff. 26 Krickeberg und Kutscher 1975, 213ff. Soustelle 1986, 358. Vgl. über Tlaloc die Quellentexte von Bernardino de Sahagún, übers. von Seler 1927,3, 36, und von Gall 1940, 265 Anm. 3. 27 Soustelle 1986, 345f. 28 Wen Tlaloc trotzdem sterben ließ, sei es durch Ertrinken, Blitzschlag oder als Folge der aufgezählten Leiden, der wurde begraben, nicht verbrannt, und sollte im Jenseits in die Gärten des Regengottes eingehen: Bernardino de Sahagún, übers. Von Seler 1927, 300. Da das Begraben die Bestattungsart der seit langem voll sesshaften Hochlandvölker war, dürfte in dem ganzen Vorstellungskomplex eine Tradition der autochthonen Ackerbauern zu greifen sein, die im Gegensatz zur Ideenwelt der zugewanderten Azteken stand, vgl. Soustelle 1986, 358ff.
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Imhotep hat dem König Djoser um 2600 v. Chr. als hoher Beamter gedient und unter anderem den Bau der Stufenpyramide von Sakkara geleitet.29 Das berühmte Lied des Harfners (um 2000 v. Chr.) erwähnt ihn als Verfasser ‚klassischer‘ Sprüche und als Autorität vergangener Zeiten.30 Im Turiner Königspapyrus (19. Dynastie, gegen 1300 v. Chr.) erscheint der Repräsentant ehrwürdiger Buchweisheit schon als Sohn des Ptah, des Gottes der Schreiber, und der irdischen Mutter Chereduanch (Hrdw- nh). Spätestens ab der 26. Dynastie (663 525 v. Chr.) befand er sich in Memphis in der Position eines Vollgottes mit Tempel, Priesterschaft, Kult und Kultbild, das ihn als Sitzfigur mit entrolltem Papyrus und dem Kopfschmuck des Ptah darstellte.31 Amenophis, Sohn des Hapu, war unter Amenophis III. (1403-1364 v. Chr.) aus kleinen Verhältnissen zum Vertrauten, Haushofmeister und Architekten des Pharaos aufgestiegen. Er selbst betonte in Inschriften sein Eingeweihtsein in die heiligen Schriften und sein außergewöhnliches Vertrauensverhältnis zu Amun; damit hatte er für die Schicht der Schriftgelehrten sein Fortleben als ihr ‚Zunftpatron‘ und als ihr – im Wesentlichen auf das oberägyptische Theben beschränkter – Sondergott vorbereitet, der zum Beispiel mit folgenden Worten angesprochen werden konnte: „...du kennst die geheimen Kräfte in den Schriften der Vergangenheit“.32 Die Rolle des göttlichen Arztes ist explizit für Amenophis früher belegt als für Imhotep, und zwar durch die Sockelinschrift einer Statue, auf welche Prinzessin Merit-Neith, Tochter Psammetichs I., im Jahre 628 v. Chr. die Bitte gesetzt hatte: „Komm, du guter Arzt! Siehe ich leide an den Augen. Ach, mögest du geben, daß ich sogleich gesund werde.“ 33 Imhoteps analoge Funktion ist erst später ausdrücklich bezeugt, nämlich durch eine nicht sicher datierte Statue im Vatikan (nach D. Wildung vermutlich erst 30. Dynastie, Nektanebos II., also 360- 341 v. Chr.; nach früheren Bearbeitern eventuell etwas älter)34; dafür gewann er in der ptolemäischen Zeit immer mehr das Profil eines ‚ägyptischen Asklepios‘ und wurde weitaus populärer als Amenophis.
29 30 31 32
Vgl. die Quellen aus dem Alten Reich bei Wildung 1977, 5FF. Ebd. 27. Ebd. 30ff. (zum Turiner Königspapyrus), 34, 37. Priesterstammbaum aus der Zeit der 22. Dynastie im Amun-Tempel von Karnak, Raum XIV, der Text bei Wildung 1977, 281; zum Übrigen ebd. 286ff., 299, 300. 33 Ebd. 277. 34 Ebd. 42 Anm. 3.
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In Theben entwickelte sich im Übrigen ein Zentrum gemeinsamen Doppelkults für beide Heiler und Nothelfer.35 In Vorderasien lässt sich keine klare Parallele zu Asklepios finden.36 Erwähnenswert ist es immerhin, dass es in Mesopotamien neben dem oben erwähnten furchterregenden Unterweltsgott Nergal auch einen freundlichen gab: Ninazu (sein Name bedeutet sumerisch ‚Herr Arzt‘) wurde in Ešnunna bis in die Ur-III-Zeit (ca.2150-1950 v. Chr.) verehrt. Nach dem Mythos hatte er einen Sohn namens Ningizzida, welcher ebenfalls Unterweltsgott war, dorthin verbannte Dämonen bewachte und über eine gehörnte Schlange als Symboltier gebot.37 Außerdem gab es in Mesopotamien eine Anzahl von Heilgöttinnen, deren Gestalt für uns freilich blass bleibt. Die wichtigste unter ihnen trug den sumerischen Namen Nin’insina, der sie als ‚Herrin von Isin‘ und somit als Stadtgöttin ausweist; des Weiteren führte sie auch den Beinamen ‚Große Ärztin der Schwarzköpfigen‘ (d. h. der Sumerer). In altbabylonischer Zeit synkretisierte man sie mit Gula (sumerisch ‚die Große‘), die wie sie von einem Hund begleitet wurde.38 Der positive Heilgott Indiens trug den Namen Dhanvantari. Er begegnet nicht im vedischen Schrifttum, sondern erst im Mahabharata-Epos und in der Suśruta-Samhita; da . sowohl das indische Nationalepos als auch die große Sammlung medizinischer Lehrtexte, die unter dem Namen Suśrutas läuft, jahrhundertelang tradiertes Überlieferungsgut in einer Endredaktion des ersten nachchristlichen Jahrtausends bieten, bleibt für die theologische Konzeption dieses Gottes ein beträchtlicher Datierungsspielraum rund um die Zeitenwende. Jedenfalls soll er bei der mythischen Quirlung des Milchmeeres am Weltenanfang mit der Schale des Unsterblichkeitstrankes Amrta . (vgl. die lateinische Vorsilbe a- und mors, mortis!) aufgetaucht sein und den Ayurveda (‚Veda der vollständigen Lebensdauer‘) vom Gotte Brahma selbst erhalten haben. Als Avatara (also Emanation) des großen Visnu . . wur39 de er in die Göttersystematik eingefügt. 35 36 37 38 39
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Ebd. 201ff. Vgl. S. 166, Anm. 6. Edzard 1965, 112f. Ebd. 78. Moeller 1984, 192 sw. v. Visnu; . . Gonda 1960, 232. Zu Dhanvantari siehe die Primärquelle Suśruta-samhita I, 1; VI, 66; vgl. Zimmer 1948, 36-44 (mit ausführlicher Wiedergabe der Mythologie).
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Das alles passt sehr gut in die Jahrhunderte um Christi Geburt, in welchen die vedischbrahmanische Religion in Konkurrenz zu den Erlösungshoffnungen der Buddhisten ihre eigenen Verheißungen erweiterte und sich – unter anderem eben dadurch – zum Hinduismus weiterentwickelte. Als selbständiger Sondergott hat Dhanvantari, soweit ich sehe, allerdings keine besonders große Volkstümlichkeit erlangt. Ikonographisch interessant ist eine von H. E. Sigerist erwähnte Statue vor der Ärzteschule von Jamnagar, die außer einem medizinischen Text und einem Heilkraut auch Blutegel und Messer in Händen hält und so alle zentralen Teile der indischen therapeutischen Tradition versinnbildlicht.40 Im alten China wurde die Heilkunst auf zwei mythische Gestalten zurückgeführt, nämlich auf Huang-ti und Ch’i Po. Huang-ti, ursprünglich ein Sonnengott, war für die Han-Zeit und die Folge-Epochen ein mythischer Gottkaiser und Kulturheros ersten Ranges. Er soll zum Beispiel Kulttänze und den Feuerbohrer erfunden und den Gott der Schrift, Ts‘ang Hieh, als Chronisten beschäftigt haben; darüber hinaus hat er angeblich auch dem Ch‘i Po, dem Vorkoster der Drogen an seinem Hofe, den Auftrag gegeben, den Kreislauf der Energie ch‘i im Körper und andere medizinische Probleme zu untersuchen. Diese Fragen habe Huang-ti anschließend in einem Buch behandelt, dem ‚Huang-ti nei-king su-wen‘ – und das ist nichts Geringeres als der klassische Grundtext der Akupunktur!41 Mag Huang-ti auch letztlich auf einen Gott im vollen Sinn des Wortes zurückgehen, so ist nicht zu übersehen, dass die Erzählungen über seine Kulturtaten gelehrte Konstruktionen sind, die übrigens auch mit spekulativen Datierungsversuchen ausgestaltet wurden. Diese rein literarischen Mythen dienten unter anderem dazu, der weitgehend irreligiösen Krankheitsätiologie und Kosmologie der Akupunkturlehre die Weihe der Herkunft von den vorzeitlichen Gottmenschen zu verschaffen.42 Ein lebendiger Glaube an eine Heilgottheit Huang-ti oder Ch‘i Po resultierte daraus nicht. Überhaupt fehlte es der altchinesischen Religion trotz dieser Buchmythen an warmherzigen, mitfühlenden Gottheiten,43 wie sie der nach China vordringende Mahayana-
40 41 42 43
Sigerist 1963, 644; zur Therapie in Indien Lorenz 1985, 113ff. ,168ff. Münke 1976, 172 mit Hinweis auf Huang-fu Mi, Ti-wang shih-ki. Vgl. Lorenz 1985, 122ff. Vgl. Unschuld 1980, 117.
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Buddhismus (2./3. Jahrhundert n. Chr.) in seinen Bodhisattva-Gestalten anbieten sollte; dies machte wohl auch einen Teil seiner Anziehungskraft aus. Auch dem alten Mexiko fehlte eine derartige Gottheit, obwohl es einen Ansatzpunkt für die Entwicklung einer solchen Glaubensgestalt gab, und zwar im mütterlichen Aspekt der Erdgöttin. Dieser Aspekt dominierte bei der Gottesmutter Teteo innan, die in der Stadt Colhuacan unter dem Namen Cihuacoatl (‚weibliche Schlange‘) verehrt wurde, und bei der aztekischen Tlazolteotl, deren Attribute und Beinamen auf eine Herkunft aus dem baumwollreichen Land der Huaxteken in Nordost-Mexiko hindeuten. Von ihr, der Muttergottheit, erhoffte man Beistand für die Frauen im Kindbett.44 Hier ergab sich eine wichtige Gedankenbrücke zu einer der beliebtesten Einrichtungen indianischer Krankenbehandlung – zum Schwitzbad (temazcalli). Die aztekischen Bilderhandschriften zeigen es als kleine überwölbte Anlage mit zwei Öffnungen, der Feuerung und einem sehr niedrigen – übrigens an den Geburtskanal erinnernden! – Eingang, durch den nun auch werdende Mütter geschoben wurden, um eine schwere Entbindung zu beschleunigen.45 Über dem Eingang brachten die Azteken das Bild der Tlazolteotl an, auf das nun der Blick aller Kranken fiel, die einer Schwitzkur unterzogen wurden. Es gab noch einen weiteren, spezifischen Bezug zwischen der Göttin und der Reinigung im Dampfbad: Als Herrin des Geschlechtslebens gewährte sie nach dem Glauben Alt-Mexikos Hilfe, wenn unerlaubte Geschlechtslust Krankheit, Schwermut und Schwindsucht nach sich gezogen hatte. Der verunreinigte Missetäter musste ein Schwitzbad nehmen und dabei Tlazolteotl anrufen.46 Diese Verbindung zu Geburtshilfe, Krankenbehandlung und magischer Reinigung machte die Erdgöttin zu einer besonders hilfreichen und gütigen Gestalt, freilich noch zu keiner spezialisierten Heilgöttin.47
44 Krickeberg und Kutscher 1975, 209f. 45 Bernardino de Sahagún, übers. Von Seler 1927, 5 (Teteo innan als ‚Göttin der Medizinleute‘ und ‚Großmutter der Schwitzbäder‘). Krickberg und Kutscher 1975, 47, 260 (mit Abb. Eines Dampfbades aus dem Codex Magliabecchi), 521; Soustelle 1986, 346. 46 Krickeberg und Kutscher 1975, 211; Soustelle 1986, 346. 47 Im Übrigen gab es insbesondere bei den Azteken auch eine schreckliche Erscheinungsform der vergöttlichten Erde Coatlicue. Mit einem Schlangenrock angetan, repräsentierte sie die Erde, die die Gestirne bei ihrem Untergang, die Verstorbenen beim Begräbnis und das Blut beim Opfer zu verschlingen schien.
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c. Zu Hygieia, der personifizierten Gesundheit Mit aller Zurückhaltung, die bei Existenzaussagen geboten ist, möchte ich hier feststellen: Trotz intensiver Nachforschungen vermag ich der deifizierten Hygieia keine Parallele aus einer anderen Hochkultur zur Seite zu stellen.48 Die Denkweise, die abstrakte Begriffe personifiziert und zugleich vergöttlicht, ist natürlich auch anderen Völkern der Alten Welt nicht fremd gewesen. Die ägyptische Maat, das Ordungsprinzip in Natur und Gesellschaft, zeigt das ebenso wie die inhaltsverwandte indische Rta . (vgl. lateinisch ritus), die personifizierte magische Wirkungskraft Brahma der Veden ebenso wie die göttlichen Wesen ‚Vohu Mana‘ (‚gutes Denken‘) und ‚Armatay‘ (‚fromme Ergebenheit‘) der zarathustrischen Gathas. Mit diesen Gottheiten wäre am ehesten die griechische Themis, die althergebrachte Ordnung, zu vergleichen, die vermutlich schon in archaischer Zeit Kulte erhalten hat49 – nur sind die Begriffsinhalte, um die es hier geht, eben andere, und so muss es bei der oben getroffenen Feststellung bleiben.
Zusammenfassung und Bemerkungen zur historischen Einordnung Aus dem hier vorgelegten Material wird Folgendes deutlich: Der ursprünglichste und zugleich auch der ‚normale‘ Typ des Heilgottes in alten Kulturen ist der ambivalente, also jener Apollons. Götter seines Zuschnitts sind fast überall anzutreffen, sie sind voll in die Mythologie integriert, ihre Kulte sind sehr intensiv, formenreich und volkstümlich, besonders göttliche Jäger und Totenherrscher sind für diese Rolle prädestiniert. Die göttliche Person, die Krankheiten sendet, kann diese auch heilen; der Mensch, der sie für sich günstig stimmt, kann das Übel am Ursprung, beim Urheber, anpacken: So besteht zwischen Mensch und Gott ein ähnliches Verhältnis wie bei Naturvölkern zwischen den Stammesangehörigen und ihren Schamanen und Medizinmännern, die in aller Regel nicht nur Heiler sind, sondern auch als Schadenzauberer auftreten können. Da dem 48 Von der römischen Valetudo bzw. Salus ist hier natürlich abzusehen, da beide dem griechischen Vorbild nachempfunden sind. 49 Dies scheint für das Heraion von Argos und für Thessalien zuzutreffen, vgl. Hamdorf 1964, 50, 109.
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so ist, muss der historische Mutterboden für diesen Göttertypus die Gesellschaft ohne Ärztestand sein, insbesondere ohne solche Ärzte, die sich mit der ‚profanen‘ Behandlung innerer Leiden befassen. Was Apollon und Rudra betrifft, so gehen ihre Gemeinsamkeiten über die allgemeinen Merkmale des Typus hinaus: Nicht nur, dass Rudra den Bogen führt und Pfeile gleicher Art und Wirkung verschießt wie Apollon; seine Behausung im Norden erinnert an die Beziehung Apollons zu den Hyperboreern, seine ihn begleitenden Söhne – die beutegierigen Wölfen gleichen50 – darf man wohl nicht übersehen, wenn man sich fragt, ob Apollons Beiname Lykeios eine Beziehung zu Wölfen andeutet oder nicht. Es lassen sich wohl noch einige weitere Parallelen zwischen beiden Göttern ausfindig machen, auch wenn man nicht so weit gehen will wie H. Grégoire und R. Goossens, die sich bei ihrer totalen Gleichsetzung beider Gottheiten unter anderem auf ganze Ketten von Etymologien stützen.51 Auch ohne derartige Argumentation lassen sich mit einiger Wahrscheinlichkeit die Hauptzüge eines indogermanischen Seuchen- und Heilgottes rekonstruieren, der in Hellas ganz folgerichtig mit wesensverwandten vor bzw. außergriechischen Göttern synkretisiert wurde. Der hypothetische vorgriechische Smintheus und Rešep, dem die Griechen auf Zypern begegnen konnten, sind hier besonders zu nennen.52 Wo der interkulturelle Vergleich auf Reihen von Parallelbeispielen führt, wie in unserem Fall, sind stets auch die Lücken lehrreich, denn sie signalisieren Sonderentwicklungen. Das gilt hier für China, wo ein ‚hochrangiger‘ Seuchen- oder Heilgott fehlte. Eine Erklärung könnte etwa in folgender Richtung zu suchen sein: Der religionsgeschichtliche Prozess konzentrierte sich im Reich der Mitte unter dem Einfluss der sakralen Herrscherund Kaiseridee und der – ihr zumindest partiell verpflichteten – Denkschulen auf einige wenige, mit dem kosmischen Gleichgewicht der Elemente eng verbundene Gottheiten. Krankheiten wurden nicht unmittelbar auf diese Götter zurückgeführt, sondern allenfalls mittelbar über kosmische Einflüsse – diese Denkweise bevorzugten die Konfuzianer –, oder man machte niedere Dämonen dafür verantwortlich, die zu zähmen sich besonders die Taoisten anheischig machten, darin Erben der alten Volksreligion.53 Für einen chinesischen Apollon oder eine chinesische Sachmet blieb so kein rechter Platz. .
50 Śankhàyana-Śrauta-Sùtra 4, 20, 1; vgl. Gonda 1960, 85; Moeller 1984, 156. Zu Apollon Lykeios Burkert 1977, 108, 227. 51 Besonders R. Goossens, in: Grégoire, Goossens und Mathieu 1949, 134-142. 52 Vgl. Schretter 1974, 151ff., 174ff., 216ff. 53 Zum Konfuzianismus und der ‚Medizin der systematischen Entsprechungen‘ Unschuld 1980, 48ff., 59ff., zur Dämonenmedizin ebd. 33ff.
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Aus der Zusammenstellung wird auch klar – und damit kommen wir zum zweiten Hauptpunkt –, wie selten und sekundär reine Heilgottheiten in den alten Kulturen erscheinen. ‚Sekundär‘ sind diese Heilgottheiten in einem mehrfachen Sinn: • Manchmal handelt es sich nur um mehr oder weniger deutliche Spezialisierungsansätze bei Göttern ursprünglich anderer Funktion. • Die göttlichen Heiler sind meist nur oberflächlich in die Mythologie integriert. • Die Erzählungen über sie wirken literarisch konstruiert (Dhanvantari, Huang-ti und Ch‘i Po). • Oft fehlt es den Kulten an Intensität, Formenreichtum und Volkstümlichkeit. • Neue religiöse Bedürfnisse der Menschen und Interessen der Priester, denen die Heilgötter entsprechen, lassen sich erkennen. • Ihre religionsgeschichtlichen Ursprünge sind ganz unterschiedlich. Gehen wir sie – vornehmlich unter den letztgenannten Gesichtspunkten – noch einmal durch: In Ägypten kam es zur Vergöttlichung historischer Personen, die es mit klassischem, geheimem Buchwissen zu tun hatten, bezeichnenderweise zuerst in Kreisen, denen dieses Wissen heilig war. Volkstümlichkeit erlangte vor allem Imhotep, und das erst in der letzten Phase der ägyptischen Kultur, in der das Vorbild des griechischen Asklepios möglicherweise schon verstärkend einwirken konnte. In Mesopotamien gab es nur Spezialisierungsansätze bei Unterweltgöttern und einer Göttin mit mütterlicher Komponente. In Indien war Dhanvantari, dem Namen und Mythos nach eine offensichtlich literarisch-priesterliche Konzeption, die sich allmählich zum göttlichen Vertreter, ja Abbild der ärztlichen Kunst entwickelte. Hier ist das priesterliche Interesse der Brahmanen nicht zu übersehen, die Konkurrenz mit dem Buddhismus zu bestehen, dessen Mönche sich um Christi Geburt vermehrt der Ausübung der Heilkunde zuwandten und in den Jatakas viel von klugen Ärzten wie Jivaka zu erzählen wussten.54 An Dhanvantari wurde auch fiktive Literaturgeschichte angeschlossen: Ein kanonischer Grundtext soll aus seiner Hand gekommen sein.
54 Z.B. Mahavagga VI, 1-14; dazu M. Winternitz, Geschichte der ind. Literatur III (1920) 543f.
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Dasselbe Verdienst schrieb man im alten China Huang-ti zu, dem Gott und dutzendfachen Kulturheros, der im Grunde nur cum grano salis ein Heilgott genannt werden kann. Im alten Mexiko war es wiederum der mütterlich-gütige Aspekt einer Göttin, der zur Entstehung einer Heilgottheit tendierte. Und Asklepios? Innerhalb des Grundtypus des positiven Heilgottes hebt sich seine Besonderheit nun immer deutlicher ab: Er war ein voll spezialisierter Heilgott, doch haftet seinem Wesen nichts Literarisch- Künstliches an, im Gegenteil, sein Kult weist einige sehr altertümliche Züge auf, und er wurde überaus volkstümlich! Beim Versuch, diese Besonderheiten zu erklären, sind sicherlich zwei Momente zu berücksichtigen: Sein Aufstieg ist ungefähr datierbar, und zwar ins 6./5. Jahrhundert v. Chr.; und er steht in Beziehung zu jenem Götterkreis, den man etwas vage als chthonisch bezeichnet, und zwar insbesondere durch seine enge Verbindung mit heiligen Schlangen, die offenbar schon für die minoisch-mykenische Religion von großer Bedeutung waren. Da meines Erachtens in Griechenland zwischen Bronzezeit und Eisenzeit zwar keine Bevölkerungskontinuität, wohl aber mancherorts Kulturkontinuität bestand, scheinen die folgenden Überlegungen erlaubt: Schlangen können apotropäisch aufgefasst werden, also als abschreckende Wächter, oder aber als Seelentiere, letztlich also als Verkörperung der (erdbestatteten!) Toten, die in Gestalt der Reptilien wieder am Erdboden erscheinen. Die gedanklichen Zusammenhänge, die durch die minoischmykenischen Statuetten und Kultplätze und auch nach dem großen Kulturbruch von 1200 v. Chr. durch die überlieferten Kulte der historisch hellen Zeit nahegelegt werden, weisen meiner Ansicht nach auf die zweite Interpretation. Die Schlangen des Asklepios, des Trophonios (und der Hygieia) wie auch die Burgschlange von Athen sind harmlose Nattern, und an ihren Kultstätten gibt es Orakel oder Krankenheilungen – beides wird typischerweise von beschworenen, freundlichen, gütig gestimmten Totengeistern oder Unterweltsherren (vgl. Ningizzida, in Mesopotamien von der Schlange begleitet!) erwartet. Einwandernde (totenverbrennende!) Griechen haben wohl nach 1200 v. Chr. an entsprechenden Kultstätten der (erdbestattenden!) Vorbevölkerung derartiges Gedankengut und die dazugehörigen Riten angenommen und fortgeführt, die sich zwanglos in den griechischen Heroenkult einfügen, der ja der Intention nach ein Kult großer
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Verstorbener war. In einem solchen Kontext muss der vorgriechische Asklepios (sein Name widersetzt sich allen griechischen Etymologien)55 zunächst als Heros erschienen sein. Seinem Kult haben priesterliche Heiler, die andere uralte Traditionen magischreligiöser Krankenbehandlung – darunter Scheinoperationen56 und Traumdeuterei – mit diesem Vorstellungskomplex verbanden, von Epidauros aus zum großen Durchbruch verholfen – auf welche Weise ihnen das möglich war, ist für uns nicht mehr genau nachvollziehbar. Dass der Anschluss an die (olympische) Götterwelt erst gefunden werden musste, zeigt sich jedenfalls in den widersprüchlichen Geburts- und Lebensgeschichten des Asklepios.57 Der Aufstieg des Asklepios fällt zeitlich mit der Ausbildung eines starken profanen, ja aufklärerisch-antireligiösen Ärztestandes zusammen. Der Heilgott kann daher nicht dessen Abbild sein, sondern er wird eher ein Komplement dazu, eine Adresse, an die sich die leidenden Menschen wenden, wenn die Ärzte mit ihrer Kunst am Ende sind. Vielleicht liegt gerade hier das für das klassische Griechenland so spezifische Bedürfnis, das dort einen ganz besonderen Heilgott entstehen ließ! Zum Schluss noch einmal zu Hygieia: Wenn ihre Einstufung als Einzelfall unter den Heilgöttern zutrifft, müssen sehr spezifische Umstände, Ideen oder Vorbilder für ihre Entstehung verantwortlich sein. Nun gibt es eine Reihe griechischer ‚Kultpersonifikationen‘ der vorhellenischen Zeit, die W. F. Hamdorf in einem Buch eben dieses Titels zusammengestellt hat.58 Soweit es sich dabei um personifizierte Abstrakta vergleichbaren Begriffsumfanges handelt, sind nur zwei mit hoher Wahrscheinlichkeit älter als Hygieia: Plutos, der schon in der Odyssee als Kind von Demeter und Jasion, aber auch bei Hesiod und im homerischen Hymnus an Demeter vorkommt,59 sowie die oben bereits zitierte Themis. Plutos als Verkörperung der materiellen Wohlfahrt steht der Hygieia, dem körperlichen Wohlsein, inhaltlich so nahe, dass man an eine Vorbildwirkung bzw. Analogiebildung denken könnte. Da Plutos in Eleusis große Bedeutung hatte und im benachbarten Athen der Kult einer Athena Hygieia seit der Mitte des 5. Jahrhunderts überliefert ist,60 gibt
55 56 57 58 59 60
Vgl. S. 166, Anm. 6. Vgl. S, 167, Anm. 7. Die Zeugnisse bei Edelstein 1945, I, Testim. 10-49. Hamdorf 1964. Odyssee 5, 125; Hesiod, Theog. 969f.; hom. Hymn. Dem. 489f. Vgl. Hamdorf 1964, 49. Ebd. 47 u. 48.
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es gute Gründe, hier den Entstehungsort der selbständigen Hygieia zu suchen,61 jener Heilgöttin, die unter dem Blickwinkel des Kulturvergleichs eine bemerkenswerte Besonderheit darstellt.
Erstveröffentlichung in: SAECULUM XXXIX, Heft 1, Verlag Karl Alber, Freiburg-München1988, S. 1-11.
61 Sie wurde bald mit der Asklepios-Schlange verbunden, deren Symbolwert bereits allgemein verständlich gewesen sein muss.
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Ehrfurcht vor dem Leben der Tiere bei frühen Griechen und Römern und bei Naturvölkern?1 Beim Buphonienfest in Athen, zu Beginn des Hochsommers,2 wurde nach der Tötung des Opferstiers eine Art von Gerichtsszene aufgeführt, welche die Forschung zu Recht immer wieder beschäftigt hat.3 Das Geschehen sei hier kurz in Erinnerung gerufen: Da legten die Wasserträgerinnen den Männern, die das Opferbeil geschärft hatten, die blutige Tat zur Last, diese wieder demjenigen, der das Beil dem Schlächter übergeben hatte, und der letztgenannte bezichtigte schließlich das Schlachtwerkzeug selbst, das nun auch vor Gericht gestellt wurde. Nach Pausanias wurde dann das Beil (πέλεκυς) freigesprochen, nach Porphyrios das Messer (μάχαιρα) schuldig erkannt und im Meer versenkt.4 Wir kennen aus den griechischen und römischen Quellen keine genaue Parallele für dieses umständliche Ritual, aber wir wissen, dass doch auch bei anderen Anlässen gewisse kultische Besonderheiten mit der Tötung von Rindern verbunden waren: Auf der Insel Tenedos vor der Küste der Troas erhielt ein neugeborenes Kalb, dessen Mutter wie eine Wöchnerin behandelt wurde, Kothurne, wie Dionysos sie auf manchen Darstellungen trägt, wurde dann mit dem Beil erschlagen, der Schlächter aber mit Steinwürfen bis ans Meer verfolgt.5 In Lindos überhäufte der Priester bei einem Opfer zweier Pflugstiere den Herakles, für welchen dieses bestimmt war, mit Verwünschungen,6 und in Athen fluchten die Buzygen 1
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Der vorliegende Beitrag geht zum Teil auf die (maschinschriftliche) Dissertation des Verfassers (Die Einstellung der Griechen zum Tier. Ihre Entwicklung von Homer bis Theophrast, mit einem Ausblick auf das frühe Rom. Innsbruck 1972) zurück, in der auch Fragen um die Buphonien und andere griechische Opferbräuche diskutiert werden, und zwar, durch die Gliederung des Stoffes bedingt, an verschiedenen verstreuten Stellen. Einzelne Passagen der hier vorgelegten Arbeit sind direkt aus der Dissertation übernommen, jedoch neu gruppiert. Manche Einzelheiten werden hier knapper behandelt, manche ausführlicher. Darüber hinaus wird hier weitere Literatur berücksichtigt. Der Abschnitt, der sich mit ethnologischen Vergleichsfällen befasst, stellt fast zur Gänze eine neu erarbeitete Erweiterung dar. Am 14. Skirophorion. Die wichtigste Literatur jetzt am bequemsten zu finden bei W. Burkert 1972, 109, Anm.2. Paus. I, 24, 4; 28, 10; Porphyr. abst. II, 30, weniger ausführlich II, 10; Schol. Aristoph. nub. 985 (Ausgang der Gerichtsverhandlung Paus. I, 28, 10; Porphyr. abst. II, 30). Ael. nat. anim. XII, 34. Lact. inst. I, 21, 31, der Text auch bei Nilsson 1906, 450, Anm. 3; ebd. 451 erklärt Nilsson, die Verwünschungen seien „unschwer zu verstehen aus der geläufigen Vorstellung, daß Lob gefährlich ist“, warnt aber davor, sie mit
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bei der heiligen Pflügung am Abhang der Akropolis demjenigen, der einen Ackerstier tötete.7 Während die Überlieferung zu diesen Kultbräuchen recht dürftig ist, sind wir über die athenischen Buphonien verhältnismäßig gut informiert. Das Ritual dieses Festes war den Athenern offenbar schon im fünften und vierten Jahrhundert ganz unverständlich geworden. Einerseits verspottete es Aristophanes in den Wolken als lächerlichen Atavismus: „Altvätrisches Zeug! Diipolischer Brauch! Urmode der goldenen Zikaden! Kekeidasgeleier! Buphonienzeit!“ 8 Andererseits entstanden verwickelte Erzählungen, die den Brauch und seinen Ursprung erklären wollten. Wie J. Bernays schon im vergangenen Jahrhundert durch eine quellenkritische Untersuchung der Schrift Über Enthaltsamkeit des Neuplatonikers Porphyrios gezeigt hat, war es das zweite Schulhaupt des Peripatos, Theophrast von Eresos, der diese mythische Tradition aufgenommen und vielleicht sogar an ihr mitgewoben hat.9 Sie berichtete von einem ersten Stiertöter, je nach Variante Thaulon, Diomos oder Sopatros mit Namen. Er lebte – immer dieser Überlieferung zufolge – in einer Zeit, in der man niemals einen Ackerstier tötete und einem solchen Tier auch nur einmal den Garaus machte, weil es sich an Opfergaben vergriffen hatte, die schon auf dem Altar gelegen waren.10 „Zur Erinnerung“ daran11 soll dann das Buphonienopfer eingeführt worden sein. Da man aber die Tötung des Ackerstiers noch immer als Frevel empfand, hätte man die seltsame Gerichtsszene veranstaltet. Theophrast von Eresos zog in seiner von Bernays und späteren Philologen mühsam rekonstruierten religiösen Reformschrift Über die Frömmigkeit diese mythische Herleitung des Buphonienrituals als Paradebeispiel heran, um zu zeigen, wie sehr die Athener der Vorzeit
den Buzygenflüchen zusammenzustellen (Anm. 1); GGR I, ²1955, 153 bespricht er aber „die Schlachtung der Pflugstiere und die Unerlaubtheit dieser Handlung, die in den Verwünschungen ihren Ausdruck findet“, ohne die darin enthaltene Meinungsäußerung zu begründen. 7 Die Belege bei Toepfer RE III, 1, Sp. 1095, s. v. Buzygai und Buzyges. 8 Schol. Aristoph. nub. 984 f. 9 Vgl. Bernays 1866. 10 Porphyr. abst. II, 10, 29ff.; Schol. Aristoph. nub. 985; vgl. auch Otto 1950, 111 und 113f.; daran denkt wohl auch Plut. soll. an. I, 2, 959 E. Aus derartigen Erzählungen eine sakralrechtliche Bestimmung abzuleiten – so K. v. Amira und R. Hirzel – dürfte zu weit gehen. Das Aition spielt hier darauf an, dass der Stier erst geopfert wurde, nachdem er vom Getreideopfer gekostet hatte. Möglicherweise gibt es auf Kos eine Parallele dazu, vgl. jetzt Burkert 1972, 156. 11 Εἰς ὑπόμνησιν Schol. Aristoph. nub. 985, Schol. Aristoph. Pax 419.
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von der Gewissensüberzeugung durchdrungen gewesen seien, die Tötung der zahmen und menschenfreundlichen tierischen Arbeitsgenossen sei alles andere als fromm. Ein ähnliches Bild von den Zuständen der athenischen Vorzeit steht hinter den Überlegungen, die Xenokrates, der Leiter der platonischen Akademie zwischen den Jahren 339 und 314 v. Chr.,12 im Zusammenhang mit den sogenannten Gesetzen des Triptolemos anstellte. Porphyrios zitiert in seiner Schrift Über Enthaltsamkeit13 Hermippos von Smyrna, der seinerseits erzählt: „Man sagt auch, daß Triptolemos den Athenern Gesetze gegeben habe, und Xenokrates behauptet, daß die folgenden drei der von ihm eingeführten Vorschriften in Eleusis erhalten seien: Die Eltern ehren, den Göttern Früchte darbringen und keine Lebewesen schädigen.“ 14 Die ersten beiden Gebote leuchteten Xenokrates (laut Hermippos) ein, aber das dritte bereitete ihm Schwierigkeiten: „In Bezug auf das dritte war er sich nicht im Klaren, aus welchem Motiv Triptolemos geboten hatte, die Lebewesen zu schonen.“ 15 Hier stellte sich die Frage: war Triptolemos der Meinung, dass die Tötung von verwandten Lebewesen auf jeden Fall schrecklich sei, oder sah er, dass die Menschen gerade die nützlichsten und zahmsten Tiere zu Nahrungszwecken schlachteten? Nun – jedenfalls hat jener Kulturheros, immer nach Hermippos/Xenokrates, versucht, das Leben zu veredeln und wenigstens die sanftesten, mit dem Menschen lebenden Tiere zu retten.16 Vorausgesetzt, dass sich Porphyrios und Hermippos zu Recht auf ihn berufen und seine Ansicht unverfälscht wiedergeben,17 wäre Xenokrates ein recht guter Gewährsmann dafür, dass man zu seiner Zeit in Eleusis diese Gebote kannte und Triptolemos als ihren Urheber betrachtete. Man wird freilich die Möglichkeit erwägen müssen, dass die Gebote des Triptolemos zwar mit dessen Kult in Eleusis, aber nicht unmittelbar mit den bekannten Mysterien zu tun hatten,18 zumal die dort obligatorischen Ferkelopfer nur schwer mit ihnen in Einklang zu bringen sind.19 12 Belege bei Dörrie, RE IX A 2 , Sp. 1512f., s. v. Xenokrates Nr. 4. 13 Porphyr. abst. 4, 22 = Xenokr. fr. 98 Heinze. 14 Griechisch: γονεῖς τιμᾶν, θεοὺς καρποῖς ἀγάλλειν, ζώα μὴ σίνεσθαι. 15 Übersetzung vom Verfasser. 16 loc. cit., vgl. auch Haußleitner 1935, 200. 17 Über die Urteile Rohdes, Kerns, Nilssons betreffend die Authenzität der drei eleusinischen Gebote vgl. Lorenz, 1972, 161f. 18 Rohde 1903, 299 betrachtet diese Möglichkeit als die einzige. 19 Zu diesen Ferkelopfern vgl. Deubner, ²1966, 75; Nilsson ²1955, 105 (Anm. 1) und 663; Mylonas, 1961, 249f. Um sie mit den Triptolemos-Geboten in Einklang zu bringen, müsste man sie als letzten Reinigungsakt vor dem Eintritt in das Dasein als Eingeweihter betrachten und annehmen, dass die Mysten fernerhin kein Tieropfer mehr darbrachten. Vollzog sich das Ferkelopfer in der Form des μεγαρίζειν, wie sie im Demeterkult geläufig war, so musste es überhaupt nicht als Tötung mit daraus folgendem μίασμα gelten.
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Im Übrigens spiegelt sich in den angeblichen Forderungen des Triptolemos nur zu deutlich die orphisch-pythagoreische Doktrin, und es scheint nicht abwegig, die dritte Weisung in engen Zusammenhang mit der ersten und zweiten zu bringen: Bekanntlich können nach der Seelenwanderungslehre die Seelen der verstorbenen Eltern in Tiere eingehen.20 Die Tiere sind dann eben deswegen tabu, ohne dass dabei tierfreundliche Empfindungen im modernen Sinne im Spiele wären, denn es geht ja letztlich nur um die Menschenseelen, die nun in anderen Körpern stecken.21 In unserem Zusammenhang ist es wesentlich, dass die Versuche des Xenokrates, die ‚Gebote des Triptolemos‘ zu interpretieren, keineswegs isoliert stehen. Der Akademiker schwankte nämlich genau zwischen jenen Positionen, deren Widerstreit die pythagoreischen Gemeinden des 4. Jh.s v. Chr. beschäftigte: Schonung aller Tiere oder nur bestimmter Arten oder vielleicht gar nur Meidung gewisser Fleischteile – was hatte Pythagoras wohl seinerzeit gepredigt?22 Als Vertreter der Meinung, der weise Samier habe lediglich den Genuss von Ackerstier und Widder verboten, kennen wir Aristoxenos von Tarent.23 Über die Motive, die ihn zu dieser Interpretation der pythagoreischen Lehre führten, gibt uns das knappe Zitat bei Diogenes Laertios, das uns als einzige Quelle zur Verfügung steht, freilich keine Auskunft. Immerhin wissen wir, das Aristoxenos eine Art von aufgeklärtem Pythagoreertum vertrat.24 Xenokrates neigte wohl zu dieser Richtung und ließ im Zusammenhang mit der Fleischenthaltung ein ethisches Motiv anklingen,25 indem er die ‚Gebote des Triptolemos‘ vor allem auf die vertrautesten Haustiere, die eigentlich den Dank ihrer Besitzer verdie-
20 Vgl. bes. 31 B 136 Diehls-Kranz. 21 Über den eher geringen ethischen Gehalt des orphisch-pythagoreischen ‚Tierschutzes‘ vgl. Lorenz 1972, 84ff. 22 Einschränkung auf Herz und Hirn: Aristoteles bei Ael. var. hist. IV, 17 (nicht in der Fragmentsammlung von Rose!), Demetrios von Byzanz bei Ath. 10, 452 D; Plut. de lib. educ. 12 E; Porphyr. vit. Pyth. 42; für weitere Belege vgl. Arbesmann 1929, 36. Einschränkung auf Gebärmutter, Hüfte, Hoden und Schamteile: Aristoteles bei Gellius IV, 11 = Plut. Hom. ex. fr. 4 = fr. 126 Sandbach (LCL), bei Diog. Laert. VIII, 19 = fr. 194 Rose. Einschränkung auf Pflugstier und Widder: Aristoxenos fr. 7 Müller = 29a Wehrli = Diog. Laert. VIII, 20. Zur Frage, ob diese eingeschränkte Fleischenthaltung eher auf Pythagoras oder auf eine spätere Entwicklung zurückzuführen sei, vgl. Lorenz 1972, 94ff. 23 Vgl. das Zitat in der vorangehenden Anmerkung 22. 24 Über die Kreise, die in diese Richtung tendierten, vgl. Rohde 1901, 102ff., bes. 108; Jaeger 1928, 416; Burnet ²1913, 82; Haußleitner 1935, 120; Wehrli 1945, 55f.; v. Fritz RE XXIV 1, Sp. 174, 192ff., 223ff., 264ff. Von Aristoxenos ist bekannt, dass er mit dem gut belegten pythagoreischen Bohnentabu provozierend umsprang, indem er erklärte, der große Samier habe die purgierende Wirkung der Hülsenfrüchte sehr geschätzt: fr. 25 Wehrli = Gellius IV, 11, vgl. dazu Wehrlis Kommentar 1945, 55. 25 Das bisher für die Pythagoreer vor Xenokrates nicht gesichert ist – auch nicht für Aristoxenos.
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nen, bezog und in diesen Anweisungen einen Beitrag zur allgemeinen Kultivierung sah, die mit dem Wirken des Triptolemos verbunden gewesen sein soll.26 Während hier der Gedanke eines Kulturfortschritts aufleuchtet, hat Arat von Soloi, der stoisierende Dichter, das Motiv des flevlerisch geschlachteten Pflugstiers in die Variation der pessimistischen Weltalterlehre Hesiods aufgenommen, die er in seinen Phainomena (Vers 100ff.) bot: „Sie genossen als erste das Fleisch von Pflugstieren“ – das ist eine der Untaten des Ehernen Zeitalters, deretwegen Dike, voll Hass auf das Geschlecht dieser Menschen, zum Himmel flog und beim Sternbild des Boōtes Wohnung nahm.27 Dieses Erzählmotiv hat Arat weder bei Hesiod noch etwa bei Empedokles gefunden (vgl. unten S. 195). Bei der Überprüfung seiner literarischen Beziehungen und Abhängigkeiten aber ergibt sich: Sein Vorbild Eudoxos von Knidos führt wiederum in die schon erwähnten aufgeklärten pythagoreischen Kreise, und die peripatetische Grundschrift seiner Wetterzeichen in die Nähe Theophrasts.28 Die Phainomena, eines der meistgelesenen Werke der Antike und von den Grammatikern als Textgrundlage verwendet,29 dürften sehr viel zur Verbreitung des Gedankens beigetragen haben, dessen Auftauchen und Weg durch die Überlieferung wir hier verfolgen. Wir wollen auch seinen weiteren Gang durch die Tradition kurz nachzeichnen, zumal er mit gewissen inhaltlichen Verschiebungen verbunden war. Arats Wirkung wird bei Cicero greifbar, der die besprochenen Verse in De deorum natura (II, 159) ins Lateinische übersetzte. Er tat dies freilich in einem Kontext, der sich mit den Intentionen Theophrasts und Arats eigentlich schlecht verträgt, nämlich im Rahmen einer stoisierenden Betrachtung darüber, dass die Tierwelt ausschließlich zu Nutz und Frommen des Menschen existiere: „Tanta putabatur utilitas percipi e bubus ut eorum visceribus vesci scelus haberetur.“ In seinem Alterswerk Über die Landwirtschaft weiß Varro einige Jahre später dann auch die Strafe zu nennen, die auf dem scelus der Tötung jenes Tieres gestanden haben soll, das
26 Soweit es die Fragmente erkennen lassen, hat sich Xenokrates freilich nicht zu den entschiedenen Maximen Theophrasts durchgerungen, der die Opferung eines zahmen Tieres klipp und klar als Unrecht bezeichnete, vgl. unten S. 220. Ob man Xenokrates auf Grund dessen als noch zögernden Vorläufers des Peripatetikers einstufen soll oder ob er bei der Abfassung der durch Hermippos und Porphyrios überlieferten Passage Theophrasts Lehre bereits kannte und ihr nur halben Herzens zustimmte, lässt sich nicht verbindlich entscheiden. 27 Vers 131ff. 28 Vgl. Böker 1964, Sp. 488; Mau 1967, Sp. 410; Erren 1971, 130 nimmt eine gemeinsame Vorlage für die peripatetische Schrift und Arat an. 29 Vgl. Knaack, RE II, 1, 395f; Böker 1964, 488.
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hier den schönen Ehrentitel ‚socius hominum in rustico opere et Cereris minister‘ erhält: „... manus ita abstineri voluerunt (scil. antiqui),ut capite sanxerint, siquis occidisset.“ 30 Rund 100 Jahre später rief Columella seinerseits Varro als Autorität dafür an, dass das Rind höher zu schätzen sei als alles andere Vieh.31 Er suchte die Gründe dafür zu vermehren und wandelte die Formulierung, die er bei seinem Vorbild fand, etwas ab: „... quod item Atticis Athenis Cereris et Triptolemi fertur minister … quod deinde laboriosissimus adhuc hominis socius in agricultura; cuius tanta fuit apud antiquos veneratio, ut tam capitale esset bovem necuisse, quam civem.“32 Zwar ist hier nichts grundsätzlich Neues zu Varros Nachricht hinzugekommen, aber sie hat doch einiges an Dramatik gewonnen, weil ausgesprochen wird, was die von Varro behauptete Kapitalstrafe tatsächlich bedeuten musste: Gleichstellung von Tiermord und Mord an einem Bürger. Weniger wortreich, aber dafür scheinbar um so genauer informierte der ältere Plinius, der Columella kannte und mehrfach benützte,33 seine Leser: Es gebe „In den Aufzeichnungen“ ein Beispiel dafür, dass jemand, der einen Stier, „socium laboris agrique culturae“, tötete, bei den Vorfahren damit rechnen musste, als „actus in exilium tamquam colono suo interempto“ behandelt zu werden.34 Das Gewicht eines solchen Falles wird hier also wieder auf ein Maß zurückgeführt, das ihn aus dem Bereich des Blutgerichts ausscheiden lässt, aber er bleibt gravierend genug. Auch die Dichter der frühen Kaiserzeit haben sich das Motiv, das wir zunächst bei den Prosaschriftstellern verfolgt haben, zu eigen gemacht und es mit poetischem Schwung verarbeitet. Zunächst Ovid: Nachdem der Autor der Fasti schon im ersten Buch dieses Werkes milderer Zeitläufte gedacht: „hic, qui nunc aperit percussi viscera tauri, in sacris nullum habebat culter opus“ (I, 347f.), und eine recht gewundene Erklärung, wie es dann doch zum ersten Stieropfer kam, in Verse gesetzt hat,35 ruft er den Opferdienern im vierten Buch zu:
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Varro, rust. II, 5, 4. Colum. VI, praef. 6. loc. cit. Vgl. Plin. nat. VIII, 153; XV, 66; XVII, 51. 52. 137.162; XVIII, 70. 303; XIX, 68. Plin. nat. VIII, 180. Als Aristaeus um seine Bienen klagte, deren Tod die Schwester der durch seine Schuld umgekommenen Eurydike bewirkt hatte, gab ihm Proteus den Rat, einen geschlachteten Jungstier einzugraben, damit aus dem verwesenden Kadaver neue Bienenschwärme entstünden. Vgl. Verg. georg. IV, 281ff.
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„a bove succincti cultros removete ministri! bos aret, ignavam sacrificate suem! apta iugo cervix non est ferienda securi: vivat et in dura saepe laboret humo!“ (IV, 413-416) und Vergil stimmte ein, indem er die Tage Romulus’ und Remus’ besang, jenes Zeitalter, „Ehe die eiserne Weltzeit geherrscht und ehe ein rohes, Fühllos Geschlecht sich Stiere erschlug zu üppigem Schmause.“ 36 Nach Sueton soll Kaiser Domitian zu Beginn seiner Regierungszeit unter dem Eindruck dieser Vergil-Zeilen ein Edikt herausgegeben haben ‚ne boves immolarentur‘ (Sueton, Domit. 9). Sueton ordnet diesen Einzelzug in das Gesamtkonzept der Domitian-Vita ein, die zeigen will, wie der Kaiser durch die Machtausübung allmählich korrumpiert wurde, was einen gewissen Vorbehalt gegenüber dieser Mitteilung nötig macht. Grundsätzlich gilt aber, dass wir sie akzeptieren müssen, bis sie widerlegt ist. Um zu Ovid zurückzukehren: Das Stieropfer war nicht der einzige blutige Kultakt, für den er eine mythische Ableitung suchte und bei seinen Gewährsleuten fand. Warum opfert man Schweine, Ziegenböcke, Lämmer, Esel? In allen diesen Fällen ist es bei Ovid wie im Buphonien-Kultaition das Motiv der Tierstrafe, das die Riten verständlich machen soll.37 Ceres erfreut sich am Blut des Schweines, weil die borstige Sau im Frühjahr die Saat aus dem Acker wühlt, Bacchus begehrt den Tod des Ziegenbocks, weil er am Weinstock nagt, die Lämmer büßen das Vergehen eines Artgenossen, der sich einmal Kräuter rupfte, welche eine alte Frau den Flurgöttern gespendet, und der Esel fällt dem Priap zum Opfer, weil er ihm einst durch sein Geschrei ein galantes Abenteuer mit der Nymphe Lotis vereitelt hat.38 Bevor sich all diese – als historisch betrachteten – Präzedenzfälle zugetragen 36 Verg. georg. II, 536f. 37 Das wirkt weniger befremdlich, wenn man berücksichtigt, dass es in Griechenland tatsächlich Tierprozesse gab (vgl. unten S. 215) und auch in Rom Relikte davon nachweisbar sind, vgl. Lorenz 1972, 55ff. Ganz analoge Vorstellungen haben sich in Ägypten um die Schlacht- und Brandopfer von Ochsen, Gazellen und Gänsen entwickelt: Nach Auffassung der Spätzeit bluteten sie „als Sinnbilder des Seth, des vermaledeiten“ , denn Seth hatte sich einst im Kampf gegen Horus in einen roten Stier verwandelt, die Gans spielt eine unrühmliche Rolle im Seth-Mythos und die Gazelle hatte sich einst am heiligen Auge vergriffen, vgl. Junker 1911, 71ff; Kees ²1956, 20. Es könnte ein innerer Zusammenhang mit dem Aufkommen von Tabu- bzw. Sündenbockvorstellungen rund um den abgetrennten Kopf des Opfertieres bestehen, vgl. unten Anm. 108. 38 Ov. fast. I, 349ff., 354ff., 381f.,391ff. – Aus dieser Reihe fallen die Herleitungen für das Stieropfer (vgl. oben Anm. 35), für das persische Rossopfer und das Hirschopfer an Diana. Pötscher 1964 möchte, über Bernays hinausgehend, auch die Nachricht über die erste Ziegentötung, die bei Ovid auftaucht, in die rekonstruierte Schrift des Eresiers aufnehmen (Porphyr. abst. II, 10, 15f. = fr. 5 Pötscher, dazu ders. op. cit. 22, 102), ebenso Porphyr. abst.
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hatten, kann es keinen blutigen Opferkult gegeben haben – das ist der Sinn der langen Rede bei Ovid. In die gleiche Richtung gehen die Berichte über den unblutigen Kult, den einstens König Numa allein zugelassen haben soll,39 und die Behauptung bei Dionysios von Halikarnassos und Plutarch, auch für die ‚Termini‘ sei früher kein Blut vergossen worden.40 Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die Tradition, die den Schutz des Ackerstiers auf alt-attisches Gesetz zurückführte, auch im späteren antiken Schrifttum wieder aufgenommen wurde. Neben Pausanias’ Bemerkungen über die Buphonien41 sei hier Aelian erwähnt42 und schließlich noch einmal Porphyrios, dem wir ja unsere Kenntnisse von Theophrasts Gedankengängen in der Hauptsache verdanken. Die Grundtendenz der umfangreichen Überlieferung, die wir hier kurz vorgeführt haben, wurde von zahlreichen Forschern übernommen, und das nicht nur in den Tagen von J. Bernays, der 1866 aus Ritus und Sage der Buphonien auf den „Abscheu früherer Zeitalter vor der Tötung nützlicher Tiere“ schloss,43 oder von A. Mommsen, der meinte, „daß das Dipolienfest auf der Grenze zweier Zeiten steht, der älteren kekropischen, der blutige Opfer fremd waren, und der späteren, die sie gestattete“44. E. Orth referierte in der Realenzyklopädie unter dem Stichwort ‚Stier‘: „Die leichtsinnige Tötung des Ackerstiers war in Altgriechenland, wo der ‚Mörder‘ verflucht wurde, ebenso wie in Altrom, wo Verbannung auf das Vergehen stand, streng verboten.“45 U. v. Wilamowitz suchte die Wurzel des Initiationsrituals ebenfalls in einer besonderen inneren Beziehung zum Opfertier, drehte aber den angenommenen Verlauf der Entwicklung um, indem er den Sühneritus der „späteren Zeit“ zuschrieb, „in der das Rind gegen-
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II, 9, 1-9, 8 = fr. 4 Pötscher, mit einer anderen Version zur ersten Schweinetötung. Die Echtheit dieser Fragmente bezweifelt Gottschalk, 1969, 342. Plin. nat. XVII, 7, unter Berufung auf Cassius Hemina (wo vielleicht nur ein Kultaition zum ‚far torrere‘ ohne weitergehende Geschichtskonstruktion stand), Ov. met. XVI, 4 - 481, Plut. quaest. Rom.267 C, vgl. Rom. 12. Dion. Hal. II, 74, 2; Plut. Num. 16. Paus. I, 24, 4; 28, 10. Ael. var. hist. V, 14. Bernays a. o. (vgl. Anm. 9) 123. Mommsen 1898, 12. Ganz ähnlich, freilich im Zusammenhang mit den Buzygenflüchen, äußerte sich Toepfer 1889, 139: „Die sprichwörtliche Anwendung der βουζύγειοι ἀραί zeigt, wie tief und nachhaltig der Eindruck gewesen ist, den diese im Sinne der Humanität erlassenen Gesetze auf die Gemüther der Vorzeit geübt haben.“ Stengel 1910, 219ff. nahm zwar keine besondere Heiligung des Ackerstiers an, rechnete aber jedenfalls mit dem Übergang von einem unblutigen zu einem blutigen Opfer, das an dieser Stelle (dies das Entscheidende nach Stengel) als Frevel empfunden wurde. RE III A 2, Sp. 2504 und 2513f.
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über der heroischen Zeit kostbar geworden war, der βοῦς ἀροτήρ sozusagen ein Hausgenosse des Kleinbauern“46, während L. Deubner an die Stelle der ‚heroischen Zeit‘, die das Rind geringschätzte, die Jäger und Hirten setzte: „Ritus und Legende der Dipolieia sind aus der Scheu des Ackermanns vor der Schlachtung und Verzehrung seines Artgenossen zu erklären, den er doch als Jäger und Hirte ohne Anstand getötet hätte.“47 Auch J. Haußleitner identifizierte sich in seinem Werk über den Vegetarismus in der Antike weitgehend mit der antiken Tradition, indem er Porphyr. abst. 2, 9f. kommentierte: „Wie hier das Opfer der Haustiere erst künstlich erklärt und entschuldigt werden muss, so war natürlich auch ihre Tötung und ihr Genuß ursprünglich verboten. Aus den angeführten Zeugnissen des Porphyrios geht hervor, daß die Schonung des Ackerstieres, die Aristoxenos dem Pythagoras zuschreibt, nach griechischem Empfinden eigentlich selbstverständlich war“48, und L. Ziehen unterstrich: „ … daß diese Scheu tatsächlich bestand und insbesondere die attische Religion daran Anstoß nahm, ist gegenüber den klaren und mehrfachen Zeugnissen nicht zu bezweifeln.“49 Nach dem Kriege hat nicht nur F. Wehrli diesen Gedanken wieder aufgegriffen,50 sondern auch K. v. Fritz, der in der RE unter dem Stichwort ‚Pythagoreer‘ vermutet: „ … so mag Pythagoras darin (scil. im Schutz für Ackerstier und Widder, den Aristoxenos postulierte) an sehr alte religiöse Vorstellungen angeknüpft haben, die zu seiner Zeit noch nicht ganz vergessen waren und die das Töten von Tieren überhaupt verboten, es sei denn, daß das Tier einem Gott geopfert werde, in welchem Falle die Tötung nicht als eigentliche Tötung betrachtet wird.“51 Endlich schließt sich auch M. P. Nilsson in seinem Standardwerk über die griechische Religion an Deubner an in der Überzeugung, „daß das Schuldbewußtsein, das in der Verfolgung des Täters und der Verurteilung der Mordwaffen zum Vorschein kommt, auf der Scheu des Ackermanns beruht, seinen Arbeitskameraden, den Pflugochsen, zu töten“52. Diese Stellenauswahl aus der älteren und jüngeren wissenschaftlichen Literatur möge zeigen, dass die Anschauung, es habe bei den alten Griechen (und Römern) doch so et46 47 48 49 50 51 52
Wilamowitz 1931, 296. Deubner ²1966, 172. Haußleitner 1935 (vgl. Anm. 16) 116 und 391. L. Ziehen, RE XVIII 1, Sp. 596f., s. v. Opfer. Wehrli ²1967, 56. Fritz, RE XXIV 1, Sp. 245f. Nilsson GGR ²I, 1963, 152f.
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was wie ‚Heilige Rinder‘ gegeben, keineswegs überlebt und abgetan ist. Folgen doch alle genannten Forscher der antiken Tradition in der Annahme, der Ackerstier hätte einmal besonderen Schutz genossen, und unterscheiden sich nur darin, welcher historischen Entwicklungsphase sie den angeblichen Respekt gegenüber diesem Tier zuschreiben wollen. Entweder glauben sie in ihm den Ausdruck von Empfindungen zu erkennen, die unter Ackerbauern bzw. Kleinbauern neu aufkamen, oder sie qualifizieren ihn als Relikt aus frühen Tagen, in denen man sich ganz allgemein scheute, Tiere zu töten. Die zweite Anschauung, die schon bei A. Mommsen anklang, hat K. v. Fritz an der zitierten Stelle deutlich formuliert, und zwar unter ausdrücklicher Berufung auf W. F. Ottos Aufsatz „Ein attischer Kultmythos vom Ursprung der Pflugkultur“53, der seinerseits eine Reaktion auf die Ausführungen K. Meulis über „Griechische Opferbräuche“54 darstellt. Meuli hat die Buphonienzeremonie und das Ritual von Tenedos (und darüber hinaus viele Einzelheiten des ‚normalen‘ griechischen Tieropfers, die uns hier nicht weiter zu beschäftigen brauchen) mit gewissen Bräuchen primitiver Jägervölker verglichen,55 die zum Teil schon J. G. Frazer und F. Schwenn zusammengestellt haben.56 Die vollständigste Parallele zum abschließenden Teil des Initiationsrituals liefern dabei die Ostjaken (zwischen dem nördlichen Ob und Jenissej) und „Wogulitzen“ (im nördlichen Ural), die dem von ihnen erlegten Bären beteuern, sie wären nicht an seinem Ende schuld, sondern die Beile, Messer, Pfeile und Eisen, die die Russen geschmiedet und gemacht hätten,57 während jugrische und giljakische Bärentöter „zur Reinigung“ mit Moos und Erde beziehungsweise Schnee beworfen werden wie der Schlächter von Tenedos.58 Diese Parallelen sind so auffällig, dass wir uns Nilsson nicht anschließen können, der schon seinerzeit über die Gedanken Schwenns sehr rasch geurteilt hat: „Die Buphonien sind ein agrarischer Ritus, und es scheint mir nicht rätlich, Bräuche und Anschauungen aus der sehr verschiedenen Kulturstufe des Jägerlebens zur Grundlage der Erklärung zu machen“59, und noch in der zweiten Auflage seines Hauptwerkes Meulis These, die in die gleiche Richtung geht, zusammen mit älteren Deutungsversuchen pauschal verwirft: „Das 53 54 55 56 57 58 59
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Otto, Kultmythos, 1950 (vgl. das Literaturverzeichnis). Meuli, Opferbräuche 1946 (vgl. das Literaturverzeichnis). Meuli 1946, 227ff. Frazer ²1900, II, 366-448; Schwenn (1927), 102ff. Meuli 1946, 228f., nach Adam Brand ³1734, 89f., und Ph. J. v. Strahlenberg 1730, 84. Meuli 1946, 229, Anm. 4 und 5. Nilsson in der Deutschen Literaturzeitung NF 5, 1928, 1748f.
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alles ist ätiologisch oder zu weit hergeholt und zu schwach begründet.“ 60 Es ist doch nicht zu übersehen, dass Meuli zumindest den einen Satz Deubners, Jäger und Hirten hätten den Stier auf jeden Fall „ohne Anstand getötet“, glatt widerlegt hat. Was nun die Motive der Jägerriten betrifft, so suchte sie Meuli in Angst und Gewissensqual: „Er (scil. der Jäger) weiß nur zu wohl, dass er das Tier leiden macht: wenn er außerstande ist, das Tier leiden zu sehen, wenn er von seinen Qualen das Schlimmste für sich selbst befürchtet, so darum, weil er diese Leiden an sich selber verspürt, weil er sie miterlebt, weil er Mitleid hat.“ 61 Oder: „ … heilig ist dem Jäger wie dem Hirten jedes Tier, heilig ist ihnen das Leben, und jede Tötung ist bedenklich, jeder folgt die Sühne.“ 62 Endlich glaubte er zu sehen, „wie tief im Menschen die Scheu wurzelt, zu töten, wie mächtig im Grunde doch der Glaube an die Heiligkeit und die Ganzheit des Lebens steht“ 63. Indem Meuli die Buphonien in engen Zusammenhang mit den Jägerritualen stellte und ihren Ursprung bei den einwandernden indogermanischen Elementen suchte, die sich von dieser Gedankenwelt innerlich noch nicht allzu weit entfernt hatten,64 führte er auch den griechischen Festbrauch letztlich auf derartige Grundmotive zurück, mögen auch diese einigermaßen verschüttet und vergessen sein. Die Reaktion W. F. Ottos auf die Aufstellungen Meulis lässt sich auf zwei Hauptanliegen reduzieren: Einerseits hält Otto die Frage, warum sich die auch für die Griechen selbst auffälligen Fluchtzeremonien und Gerichtsszenen just in den besprochenen und keinen anderen Kulten hielten, für weiterhin legitim – und das mit Recht, wird man sagen dürfen –, und andererseits will er nicht zugeben, dass „der primitive Jäger nur an die Aussöhnung mit dem getöteten Tier denke, ohne dabei auf höhere Wesen Rücksicht zu nehmen“, denn das ließe sich „weder aus seinem Schweigen, noch aus der gelegentlichen Aussage, das Tier könne sich bei Erhaltung der Knochen wiederbeleben, beweisen65“.66 Er interpretiert die bewussten Riten seinerseits als „kultische Schöpfung“ und „schöpferische Antwort auf die ergreifende Begegnung mit einer höheren Wesenheit“. 60 Nilsson I ²1965, 152. Deubner beruft sich bei seiner Ablehnung Schwenns auf das zitierte Urteil Nilssons in der Deutschen Literaturzeitung, während Nilsson GGR I ²1965 wieder auf Deubner verweist. Es mag wohl sein, dass das Verdikt der beiden wissenschaftlichen Autoritäten den Gedanken Schwenns das Echo entzogen hat, das sie verdient hätten. 61 Meuli 1946, 250. 62 Meuli 1946, 275. 63 Meuli 1946, 283. 64 Meuli 1946, 261 und 281. 65 Otto 1950, 120. 66 Otto 1950, 119.
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Worin er sich von Meuli unterscheidet, finden wir im folgenden Satz konzentriert: „So verstehen wir den uralten Brauch und seine dramatische Gestalt aus der Begegnung mit dem Ungeheuren besser, als wenn wir versuchen, ihn nach unserer Denk- und Empfindungsweise, aus der Achtung vor dem Leben zu erklären.“67 Für Otto folgt das Tun der Jäger aus dem „Mythos von der Zugehörigkeit des Tieres zu einem göttlichen Herrn, mag es ein Allwalter oder ein Hüter des Wildes oder des Waldes sein, in dem alles eins und heilig, ja ewig ist...“.68 Bei allen Meinungsverschiedenheiten im Einzelnen ist den beiden genannten Forschern doch eines gemeinsam: Sie halten daran fest, dass das Buphonienritual und die mit ihm vergleichbaren Kulte entweder ganz unmittelbar oder doch ihrem Ursprung nach auf Empfindungen der Verbundenheit mit dem Tier und der Ehrfurcht vor dem Leben oder auch vor den ungeheuren höheren Mächten, die über das Leben wachen, zurückgehen. Die Anschauungen des Aristoteles-Schülers Theophrast wären demnach vielleicht im Einzelnen zu modifizieren, besonders hinsichtlich der Abfolge der historischen Entwicklungsphasen, wären aber doch in ihrem Kern gerechtfertigt. Wir haben es hier mit einem sehr weitgehenden Urteil über die geistige und sittliche Entwicklung nicht nur der Griechen und Römer, sondern der ganzen Menschheit zu tun. Sowohl die antike Tradition als auch ihre modernen Interpretationen verdienen es daher, sorgfältig geprüft zu werden. Treten wir zunächst an die Überlieferung heran, die behauptet, der Ackerstier sei einst im alten Attika und Rom hoch geehrt und bei Strafe geschützt gewesen. Da stimmt es nun zunächst bedenklich, dass diese Vorstellung nicht vor Theophrast beziehungsweise Xenokrates und in Rom nicht vor Varro begegnet. Die älteren Quellen geben nicht einmal derartige Ratschläge, von strikten Geboten ganz zu schweigen, und weder die frühe noch die späte einschlägige Tradition erwähnt ergraute Ackerochsen, die auf jedem größeren Besitz in erheblicher Anzahl das Gnadenbrot hätten verzehren müssen, wenn sie solche Wertschätzung genossen hätten. Dass die homerischen Epen nichts dergleichen bieten, wäre vielleicht noch ein schwaches argumentum ex silentio, aber dass sich auch in dem hesiodeischen Bauernkalender Werke und Tage keine Spur solcher Ideen findet, wiegt schon schwerer. Arat von Soloi, der sich mit seiner Weltalterlehre an Hesiod anlehnt, hat die Schlachtung des Pflugochsen als tadelnswerten Zug des Ehernen Zeitalters nicht bei Hesiod vorgefun67 Otto 1950, 122. 68 Otto 1950, 121.
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den, sondern erst selber ins Bild dieser traurigen Zeitläufte eingebaut, und das, obwohl er sonst Hesiods Darstellung eher verkürzt. Ein besonderes Anliegen hat ihn offenbar zu dieser Erweiterung der Vorlage bestimmt. Die Anregung dazu dürfte doch wohl von Männern wie Theophrast, Xenokrates oder Aristoxenos von Tarent gekommen sein. Dass sie von Empedokles stammte, ist zumindest nicht nachzuweisen, denn in den erhaltenen Fragmenten nimmt der Pflugochse keine Sonderstellung ein. Lediglich der Stier erscheint einmal in dem von Porphyrios/Theophrast zitierten Vers: „Nicht aber war der Altar von lauterem Mordblut der Stiere benetzt“, und dies offenbar als das sozusagen klassische Opfertier stellvertretend für alle anderen, denn das Fragment fährt fort: „... sondern dies war unter den Menschen größte Befleckung, Leben zu entreißen und edle Glieder hinunterzuschlingen.“ 69 Nun könnte man der späten Tradition immer noch einen gewissen Wert konzedieren, wenn wenigstens eine besondere Gefühlsbindung zwischen dem Ackerstier und seinem Herrn in den frühen Zeugnissen nachzuweisen wäre, wie dies bei zwei anderen Tierarten tatsächlich möglich ist, nämlich beim Hund und beim Pferd: Die Schilderung des Wiedersehens zwischen Odysseus und seinem Hund Argos ist ihrer poetischen Kraft wegen zu Recht berühmt, die Tischhunde der großen Herren, denen ihr Besitzer nach Od. 10, 216f. nach dem Festmahl stets μειλίγματα θυμοῦ mitbrachte, begegnen noch an anderen Stellen in den Epen70, und ein Hund erscheint auch auf einem der ersten Vasenbilder, die ein Tier nicht nur hübsch und humorvoll in die Handlung hineinkomponieren, für die es nicht unbedingt nötig ist, sondern es in den Mittelpunkt einer freundlichen Szene stellen. Wir meinen den Hund auf einer Amphora des Exekias71, der – glücklicher als Odysseus’ Argos – bei der Heimkehr der Dioskuren freudig an Polydeukes hochspringt. Dieser beugt sich, über die Begrüßung gerührt, zu dem Tier nieder und lässt seine Hände beschnuppern. Sehr wichtig ist, dass die wenigen uns bekannten Hundeopfer keine Speiseopfer waren.72 Ähnliches lässt sich vom Pferd sagen, das in den Epen auf höchst anthropomorphe Weise angefeuert wird, je nach dem Charakter seines Herrn mit dem Mordstahl (Antilochos bzw. Nestor73) oder mit einem guten Trunk. So mahnt Hektor sein Viergespann: 69 70 71 72
31 B 129 Diels-Kranz. Il. XXIII, 171ff; Od. XVII, 309. Arias/Hirmer 1960, Abb. 63; Boardman/Dörig/Fuchs/Hirmer 1966, Abb. 102 (heute im Vatikan). Vgl. Ziehen, RE XVIII 1, Sp. 591, s. v. Opfer. Für die Sühn- und Reinigungsopfer wurden möglicherweise die weit verbreiteten Paria-Hunde verwendet. 73 Il. XXIII, 410-413
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„Jetzt vergeltet die reichliche Pflege mir, welche mit Sorgfalt Euch Andromache gab, des hohen Eetion Tochter, Da sie zuerst euch immer den lieblichen Weizen gestreut hat, Auch des Weines gemischt, nach Herzenswunsche zu trinken, Eher denn mir, der doch sich rühmt, ihr Gatte zu heißen!“ 74 Abgesehen davon, dass fast alle Körperteile des Pferdes in Magie und Medizin besonders gefragt waren,75 ist die Verwendung seines Fleisches schwach bezeugt. Dazu stimmt wiederum der Charakter der Pferdeopfer, die zudem selten waren.76 Im römischen Opferkult nahmen Hund und Pferd eine ähnliche Stellung ein wie im griechischen. Auch die römischen Hundeopfer, etwa bei den Robigalia, beim Augurium Canarium und für die Genita Mana,77 waren keine Speiseopfer.78 Vielleicht noch seltener brachten die Römer Pferdeopfer dar. Am bekanntesten darunter ist das Oktoberross. Die kultischen Einzelheiten Kampf um den abgetrennten Kopf und Eillauf mit dem blutenden Schwanz zum Altar der Regia – deuten auch hier wieder auf hohes Alter, aber gewiss auf keine Göttermahlzeit. Cum grano salis könnte man sagen, dass Hunde- und Pferdeopfer ähnliche kultische Funktionen haben wie Menschenopfer. All diese Indizien rücken beide Tierarten ihrem Gefühlswert nach in die Nähe des Menschen, ohne dass davon in den griechisch-römischen Quellen besonders viel Aufhebens gemacht würde. Gerade umgekehrt liegen die Dinge beim Rind. Bekanntlich sind Stiere und Kühe schon bei Homer geradezu klassische Opfertiere, auch und gerade bei Speiseopfern.79 Von einer besonderen Gefühlsbindung findet sich keine Spur, auch nicht in der Odyssee, bei Hesiod oder anderen Autoren bis herab ins fünfte Jahrhundert, während der materielle Wert natürlich sehr geschätzt wurde, so dass man einen regelrechten Preisindex in Rin74 75 76 77 78
Il. VIII, 186f. Steier, RE XIX 2, Sp. 1441, s. v. Pferd. Vgl. Ps. Hippokr. Περὶ διαίτης II, 46; Ziehen loc. cit., Steier a. o. Sp. 1443. Plin. nat. XXIX, 58; Plut. quaest. Rom. 277 A, vgl. Latte 1960, 95 und 379. Zwar schreibt Plin. nat. XXIX, 58: „Catulos lactentes adeo puros existimabant ad cibum (scil. Prisci), ut etiam placandis numinibus hostiarum vice uterentur iis.“ Diese Äußerung ist zwar nicht direkt zu widerlegen, überrascht aber angesichts der belegbaren Rituale, in denen ein Hundeopfer vorkommt. Latte 1960, 68, Anm. 1, nimmt an, Plinius habe das Wort catulus, das bei seinem Gewährsmann stand, missverstanden, weil es nicht nur den jungen Hund, sondern jedes Jungtier bezeichnete, bei Vergil zum Beispiel Löwen und Schlangen (georg. III, 245. 438). Oder aber, so fügen wir hinzu, er hat Reinigungsriten seiner Zeit, bei denen Hunde verwendet wurden, als Götterspeisungen missdeutet. Auf ähnliche Verhältnisse im germanischen Bereich deutet der Bericht des Thietmar von Merseburg (975-1018), Chronicon I, 9 (= Baetke ²1938, 16, Nr. 19), über die Dänen, die alle neun Jahre bei Lederun auf Seeland 99 Menschen, ebenso viele Pferde, Hunde und Hähne (in Ermangelung von Habichten) opferten. 79 Vgl. etwa Il. I, 458ff.; II, 402f. 550; VI, 94. 275. 308; X, 293; Od. I, 25; III, 8. 383. 421ff.; XIII, 182. Diese und weitere Belege bei E. Orth, RE III A 2, Sp. 2512ff.
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derwährung aufstellen kann.80 Man kann auch nicht mit E. Orth81 darin eine besondere Auszeichnung der Ochsen sehen, dass sie in Rom an bestimmten Feiertagen von der Arbeit befreit waren und angeblich bekränzt an voller Krippe standen, wovon freilich bei Cato, auf den sich Orth beruft, kein Wort steht.82 Dort heißt es bloß vom Fest des Jupiter Dapalis: „Eo die feriae bubus et bubulcis et qui dapem facient.“ Ein solcher Tag wurde aber auch den Mühleneseln der Bäcker zum Fest der Vestalia zuteil, für die nun wirklich überliefert wird, dass sie bekränzt an der Krippe standen.83 Übrigens hat Properz daraus mit leichter Hand ein Bildchen aus genügsamer Vorzeit gezaubert: „Vesta coronatis pauper gaudebat asellis Ducebant macrae vilia sacra boves.“ 84 Bei nüchterner Betrachtung freilich lässt sich dazu nur feststellen: Die Tiere wurden beim Jupiter-Dapalis-Fest und bei den Vestalia ebenso in die kultische Begehung einbezogen wie an den feriae in familia, die ja häufig aus unerfreulichem Anlass beobachtet wurden.85 Eine Sonderstellung des Pflugochsen folgt daraus nicht. Was nun die bereits oben zitierte, mit römischen Rechtsbegriffen garnierte Formulierung von Plinius betreffend den Stiertöter angeht, so enthält sie neben sprachlichen und gedanklichen Unwahrscheinlichkeiten auch einen juridischen Anachronismus, denn der Begriff colonus für den halbfreien Pächter lässt sich kaum über die Anfänge des Prinzipats zurückverfolgen.86 Das muss den Argwohn wachrufen, dass dieser Autor seine vermutlichen Gewährsleute Varro und/oder Columella durch einen nicht selten angewandten Historiographentrick ausstechen wollte: vorgetäuschte Genauigkeit. Ja, vielleicht muss sich der gleiche Vorbehalt gegen eben diese Gewährsleute richten? Die Belegstellen bei Cicero, Varro und Columella wurden oben (S. 187 f.) mit Absicht in ihrer chronologischen Abfolge und im Wortlaut zitiert, weil eine Tendenz zur dramatischen und rhetorischen Steigerung bei scheinbarer Präzisierung nach Meinung des Verfassers nicht zu übersehen ist.
80 Orth, a. O., Sp. 2503. 81 Orth, a. O., Sp. 2512. 82 Cato agr. 132. 83 Ov. fast. VI, 311f. und 347f. 84 Prop. IV, 1, 21f. 85 Als feriae in familia galten Geburtstage, Begräbnisse, kultische Reinigungen und Blitzschläge, vgl. Macr. exc. gramm. I, 16, 7; Fest. 242 M. 348 L., dazu Latte 1960, 49, Anm. 3 (mit Text); zur Einbeziehung der Haustiere vgl. Cato agr. 138; Colum. II, 225. 86 Noch Cicero gebraucht den Ausdruck De orat. II, 287, für einen freien Gutsbesitzer, vgl. Cato agr. praef. 2; Seeck, RE IV 1, Sp. 458ff., Kaser 1959, 975 (mit Lit.).
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Wir wollen darauf nicht allzu viel Gewicht legen. Der entscheidende Einwand bleibt: Es gibt ganz einfach keine unverdächtige Stelle aus unseren frühen griechischen und lateinischen Quellen, derzufolge das Leben des Pflugstieres geschützt gewesen wäre. Es gibt aber auch keine solche Stelle, die auch nur eine besondere Gefühlsbeziehung zwischen dem Ackerstier und seinem Herrn belegen würde, während es gleichsam zur Gegenprobe solche Stellen betreffend Hund und Pferd durchaus gibt, die von weiteren Indizien (Opferkult etc.) gestützt werden. Das muss uns gegenüber der relativ späten antiken Tradition und ihren modernen Nachfolgern skeptisch stimmen, die da meinen, es sei die Zuneigung des Landmanns und Kleinbauern zu seinem Arbeitsgenossen am Pflug gewesen, die ihn dazu geführt hätte, nicht an dieses Tier Hand an zu legen, ja die Tötung des Rindes überhaupt zu verabscheuen. Zunächst hat uns also die Kritik der antiken Quellen zu dieser Skepsis geführt. Es wurde schon erwähnt, dass es noch einen zweiten, davon ganz unabhängigen Weg gibt, um die Auffassung zu widerlegen, es handle sich hier um Besonderheiten der Ackerbaustufe. Frazer und seine Nachfolger, darunter Schwenn, Meuli, Otto und neuerdings auch Burkert, haben ihn beschritten, indem sie die Buphonien mit sehr ähnlichen Riten bei primitiven Jägern und Hirten in Parallele setzten. Sicherlich darf hier die vergleichende Methode – auch wenn sie Nilsson im konkreten Anwendungsfall ablehnt – in ihr Recht treten. Sie hat sich ja bei der Klärung religionsgeschichtlicher und allgemein kulturgeschichtlicher Fragen schon vielfach bewährt, weil sich offenbar die geistig-seelische Verfassung Primitiver – dieses Wort bezeichnet hier ohne negatives Werturteil ‚Menschen auf früher Entwicklungsstufe‘ – weithin über Zeiten und Räume ähnlich gestaltet.87 Um nun die Theorie Meulis und Ottos, es handle sich bei den Buphonien und bei den verwandten Riten sowie etwa auch den früher erwähnten pythagoreischen Gedanken um späte Relikte aus einer Zeit, in der man ganz allgemein eine gewisse Scheu kannte, den Tieren ihr Leben zu rauben, weiter zu prüfen – denn sie ist mit den bisherigen Überlegungen noch nicht abgetan –, gibt es ebenfalls nur die eine Möglichkeit: Ähnliche Verhaltensweisen bei verschiedenen Völkern und Stämmen müssen sich gegenseitig erhellen und erklären. Darum soll im Folgenden versucht werden, vor allem aus dem ethnologischen Material einige weitere Fälle beizubringen, die m. E. besonders geeignet sind, Einblick in die Emotionen zu gewinnen, welche die Menschen einer frühen Entwicklungsstufe – 87 Vgl. dazu auch Hampl 1974, 150.
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gleichgültig, ob Jäger, Viehzüchter oder Ackerbauern – bei oder nach dem gewaltsamen Vorgehen gegen ein Tier (bzw. auch gegen Menschen oder nach ihrem Glauben mächtige Pflanzen) bewegen. Zunächst also Beispiele, in denen man die Verantwortung für die bedenkliche Tat auf jemand anderen abschob beziehungsweise abschiebt. (Wie in der Literatur weithin üblich, werden die ethnologischen Berichte im Folgenden überwiegend im Präsens wiedergegeben, ob sie nun aus dem vergangenen Jahrhundert stammen oder aus den letzten Jahren. Man muss sich nur dessen bewusst bleiben, dass sich im Bereich der Naturvölker ein großer Umbruch vollzieht und heute schon mancher Brauch, der hier geschildert wird, der Vergangenheit angehört.) Hat etwa ein Angehöriger des Indiostammes der Huichol (ansässig in der Sierra Madre Occidental in Nordwestmexiko) einen Hirsch gestellt, so bittet er das Tier, es möge sich doch töten lassen, überlässt dann die Tötung einem Sippenfremden und bittet hinterher das Opfer um Verzeihung, wobei er darauf hinweist, dass ja jener andere es getötet habe.88 Sippenfremde werden auch in einem Fall ins Spiel gebracht, den uns B. Gutmann aus Afrika mitteilt, und zwar aus dem Bereich der Dschagger, die rund um den Kilimandscharo siedeln.89 Bei diesen Stämmen ist es üblich, dass Reichere an Ärmere Rinder ausgeben, wobei den ursprünglichen Besitzern die Kälber, die von diesen Kühen geworfen werden, zustehen. Wenn es nun gilt, ein altes Muttertier, das zehn Kälber geworfen hat, zu schlachten, so muss es zuvor dem Eigentümer zurückgegeben werden. Über die Zeremonie, die nun folgt, berichtet Gutmann:90 „Unter vielen feierlichen Handlungen wird sie (scil. die Kuh) für alles bedankt, vom Besitzer ihr daheim am Halfterpfosten versichert, daß er sie nicht töten könne, sondern ihr den Alterssitz im Hause lasse, weil sie ihm zehn Kälber geschenkt habe. Wenn ihr aber einmal ein Unglück widerfahre, solle sie wissen, daß er’s nicht verschuldet habe. Die Sippenbrüder sind aber schon auf den andern Tag fürs Schlachten bestellt. Die Tötung muss aber ein Fremdversippter aus der Nachbarschaft vollziehen, während sich die Sippenbrüder mit dem Eigner versteckt halten. Die zurückgebliebenen Frauen fangen an, laut zu wehklagen um das gute Tier, während es losgebunden und zur Schlachtung fortgeführt wird, und versichern ihm, daß sie unschuldig seien an seinem Tode. Erst nach dem Abledern des Tieres findet sich der Eigentümer mit seinen Brüdern hinzu, bricht in Rufe schmerzlichster 88 Lumholtz 1903, 45. danach Thilenius 1927, 485. 89 Ob hinter der Ablenkung auf Sippenfremde totemistische Gedankengänge stehen oder nicht, braucht uns hier nicht weiter zu beschäftigen. Entscheidend ist hier, dass man eben durch bloße Ablenkung um das Bedenkliche der Tat herumzukommen glaubt. 90 Gutmann 1924, 138f.
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Überraschung aus und fragt voller Zorn nach dem Töter. Der tritt ihm unter die Augen und sagt: ‚Wir haben es dir gestohlen, als du abwesend warst.‘ In einem nun folgenden Streitgespräche zählt der Besitzer alle Verdienste des Tieres auf – aber das letzte Wort behält der Bursche, als er sagt: ‚Sie war eine Alte und musste für andere Platz machen. Wir Menschen müssen es auch.‘ Der Besitzer bricht hierauf in Klagen und Weinen aus, als kränke ihn der Tod seiner Mutter. Vom Fleische genießt er nichts.“ Wir kommen auf dieses Ritual noch einmal zurück91 und wollen zunächst darauf hinweisen, dass eine Art von Ablenkungsmanöver den Dschagger auch bei einem weniger schwerwiegenden Anlass nötig erschien, und zwar beim ersten Melken einer Kuh. Sie überlegen sich dabei, dass die Milch, welche die Menschen genießen wollen, ja dem Kalb entzogen wird und dass das junge Tier – ebenso wie die Mutterkuh – deswegen ungehalten sein könnte. Nur so ist das Ritual zu erklären, das sie bei dieser Gelegenheit einhalten: Es darf keine beliebige Person sein, die ‚den Antrunk tut‘, d. h. als erster Mensch einen Schluck von der Kuhmilch nimmt, sondern das muss ein Knabe tun im Alter von vier bis sechs Jahren, ohne Fehl und Narbe. Auf den Augenblick, in dem er den ersten Schluck zu sich nimmt, muss er das Kalb vorbereiten mit dem Zuruf: „Ich koste deine Milch.“ Weiter erzählt Gutmann: „Während er mit geschlossenen Augen trinkt, rufen die Alten dem Knaben zu: ‚Der Hirte ist’s, der dich bestiehlt, der Wärter des Kindes, nicht wir, die Großen. Erschrick nicht, es ist dein Altersgenosse, der dich bestiehlt.‘ Der Hausvater selber vollzieht dann die Befriedung der Kuh mit Quellwasser, das er im Morgengrauen geschöpft hat, bevor es noch jemand überschreiten konnte. Den endlichen Genuß leitet die erneute Versicherung an das Kalb ein: Man wage nur zu trinken, weil der Hüteknabe es ihnen gegeben habe.“ 92 Auch hier wollen sich die eigentlichen Urheber und Nutznießer der Tat, über die das Tier ihrer Meinung nach ungehalten sein könnte, nicht dazu bekennen, sondern sie schieben jemand anderen vor, in diesem Fall den kleinen Jungen, auf den das Kalb vielleicht nicht so böse sein kann wie auf einen erwachsenen fremden Menschen, der ihm die Milch der Mutterkuh stiehlt. Ebenso deutlich tritt die Absicht, vom eigentlichen Töter abzulenken, bei dem altindischen Tieropfer (Paśubandha) hervor: Wenn das Tier, das bei diesem Ritual erstickt oder erwürgt wurde, denn es durfte äußerlich nicht verletzt werden (vgl. auch das indische Rossopfer [Aśvamedha]!), röchelte, so sagte man: „den, der uns haßt, röchle an, ohne Sündenfleck seien die Leute des Opferers“ 93. Das Röcheln, das man hier den Feinden auf den Hals oder ins Gesicht wünscht, galt übrigens auch beim Bärenfest der Ainus als höchst bedenklich 91 Vgl. unten S. 210 f. 92 Gutmann 1924, 137f. 93 Vgl. Gonda 1960, 149.
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und unerwünscht, bei dem auch möglichst kein Blut fließen sollte, wenigstens nicht auf die Erde, was wiederum an Paśubandha und Aśvamedha erinnert.94 Betrachtet man die bisher geschilderten Ablenkungsrituale unvoreingenommen, so wird man bereits zögern, den Beweggrund, der dahinter steht, so ohne Weiteres mit den hohen Epitheta ‚Ehrfurcht‘ oder ‚Ehrerbietung‘ zu bezeichnen. Wenn heutzutage ein kleines Kind den Diebstahl von ein paar Bonbons seinem Spielgefährten in die Schuhe schiebt, so wird man das Motiv doch auch nicht als ‚Ehrfurcht vor den Eltern‘ oder gar vor dem Eigentum an sich umschreiben. Man wird viel eher meinen, es habe Angst vor der Reaktion des Bestohlenen (Eltern, Gefährten), und der Gedanke, dass letztlich Angst hinter den geschilderten Ritualen steckt, muss sich doch bei unvoreingenommener Betrachtung ebenfalls aufdrängen. Angst vor einer höheren Macht, vor einer höheren Gerechtigkeit, wie es in etwa W. F. Otto formulieren würde, oder eine konkretere Furcht? Es wird nötig sein, noch eine Reihe anderer Bräuche, die von Naturvölkern bei der Tötung von Tieren und Menschen beobachtet werden, zu untersuchen, um eine Antwort auf diese Frage zu geben. Wir wollen mit einigen Fällen aus Afrika beginnen, die in der bisherigen Diskussion zu diesem Thema weniger berücksichtigt wurden als die Beispiele aus dem Bereich der asiatischen und nordamerikanischen Jägervölker. Die Bubi (Bube, Bóbè) der Insel Liwango vor der Küste Kameruns erzählen von zwei Kultheroen, Kowa und Enange mit Namen, die ihren Vorfahren zuredeten, doch ihre Furcht vor dem Wal zu überwinden, und ihnen zeigten, „wie man ein solches Tier entmächtigt. Darum töteten unsere Leute den Wal und erlegten ihn, ohne daß ihnen ein Unheil zustieß“ 95. Dies ist offenbar ein Aition, eine sagenhafte Antwort auf die Frage: Warum haben wir, die Bubi, bestimmte Riten rund um einen erlegten Wal und den erfolgreichen Harpunier? Da es sich um sagenhafte Tradition handelt, ist diese für den Ethnologen und Historiker zunächst ganz unverbindlich, auch was das Motiv 'Schutz vor Unheil' betrifft, es sei denn, dieses Motiv ließe sich aus den Einzelzügen des Rituals bestätigen. Wir geben, im Anschluss an einen ausführlichen und sehr vorsichtig interpretierenden Bericht von J. Ittmann, eine verkürzte Schilderung davon:
94 Batchelor 1901, 489f.; Gonda loc. cit. und 170f. 95 Ittmann 1956, 206.
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Der erfolgreiche Harpunier muss mit verbundenen Augen an einer einsamen Stelle des Strandes der Insel Liwango landen und sich von zwei Alten zu einer Höhle führen lassen, die als Kulthaus dient und tabu ist, muss Waschungen, Klistiere und Einreibungen mit besonderen Drogen über sich ergehen lassen96 und unter Spott- und Reizreden völlig ruhig bleiben. Bringt er dies nicht fertig, so weiß er, „dass er sterben müsse“,97 und kann nur noch zu einer komplizierten ‚magischen Kur‘ Zuflucht nehmen. Der erlegte Wal wird mittlerweile an eine Stelle gezogen, wo ihn die Ebbe an Land setzen muss, und zunächst von einigen Alten, die „längst gegen böse Einflüsse festgemacht“ 98 sind, mit Tüchern bedeckt. Einer der Alten schlüpft nun unter diese Tücher, ‚bespuckhaucht‘ 99 den Kopf und schneidet eine der Fettbeulen am Halse ab, leistet ein weiteres Spuckhauchopfer aus dem geschmorten Fett und allerlei Kräutern in die Nüstern und den After des Tieres, damit ihm keine ‚böse Macht‘ mehr entströme. Bei der Verteilung des Fleisches gehen Kopf und Schwanz des Meeressäugers an die Mitglieder des magisch und sozial bedeutsamen liéngu-Bundes. Es sind dies die gefährlichsten Teile des lebenden Tieres, das ja den schlecht ausgerüsteten primitiven Jägern auf dem Wasser stets einen Kampf auf Leben und Tod liefert und vor allem mit dem Schwanz wild um sich schlägt, wenn es die Harpune spürt. Manchmal lässt sein Schlag eines der zerbrechlichen Eingeborenenboote ganz einfach zersplittern.100 Der Befund ist ziemlich klar: Die Details des Rituals bestätigen in diesem besonderen Fall, dass das oben erwähnte Aition das richtige Motiv getroffen hat. Es soll offenbar verhütet werden, dass der mächtige Meeressäuger Unheil über den Harpunier und über alle anderen Angehörigen des Stammes bringt. Zu diesem Zweck wird der Mann, der die Harpune geschleudert hat, zunächst verborgen, und deshalb muss er sich die Augen verbinden lassen,101 sich reinigen, deshalb wohl darf er sich nicht provozieren lassen, und zu diesem Ende muss der Wal unter großen Vorsichtsmaßnahmen durch ‚Spuckhauchen‘, ‚verschlossen‘ werden. Aus diesem Grund auch das umständliche Vorgehen beim Anschneiden des Fleisches. Man ist, wie auch Ittmann erklärt, auf der Hut vor einer Kraft, welche die Duala und ihre Nachbarn ‚mbaki‘ (‚Anhängsel‘) nennen, die Bakósì '‚eben‘ (‚Blutbehaftung‘; beide Begriffe inhaltlich verwandt mit dem griechischen μίασμα ), vor 96 97 98 99
Früher musste seine Sippe sogar einen Menschen opfern, vgl. Ittmann 1956, 213. Ittmann 1956, 215. Ittmann 1956, 214. Rituelles Bespucken und Anhauchen „geschieht als Gabe oder Abwehr, oft zusammen mit zerkauter Rinde oder Ingwerkörnern“ (Ittmann 1956, 213, Anm. 11). 100 Ittmann 1956, 211f. Und 216. 101 Ittmannn 1956, 213. Vgl. dazu unten S. 206.
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Kräften, die – und dies ist in unserem Zusammenhang wesentlich – nur großen wilden Tieren eigen sind: Elefanten, Walen, Flusspferden, Büffeln, Leoparden; nicht aber Kleinwild, Haustieren und Geflügel. Wer ein Exemplar der letztgenannten Tiergruppe getötet hat, gilt nicht als ‚Blutvergießer‘ bzw. ‚mbaki‘-Behafteter.102 Kriterium ist offenbar, dass das Tier zu Lebzeiten gefährlich werden kann. Als mächtig und gefährlich in diesem Sinn können auch Baumriesen des Urwalds gelten, deren Rinde als Droge und Machtmittel begehrt ist. Wie man vorgeht, um bei der Gewinnung der Borke nicht mit dem „Anhängsel“ behaftet zu werden, erzählt wieder Ittmann: „Mit Speer, Haumesser und einem schwarzen Hahn naht er (scil. ein Stammesangehöriger) sich dem Baum. Er schlägt dem Hahn den Kopf ab und lässt das Blut auf des Baumes Wurzelstock rinnen, dann spuckt er an den Baum, um dessen widrige Kräfte niederzuhalten. Dann betet er gleichsam zum Baum, er versichert, daß er nur aus Not ihn beschädigen müsse. Darauf rennt er seinen Speer in den Baum, ihn zum Stillehalten zu bringen, löst ein großes Stück der Rinde ab, rafft das tote Huhn auf, zieht den Speer aus dem Baum und macht sich rasch davon, ohne nochmals umzusehen.“ 103 Wir begegnen hier den gleichen Momenten wie nach dem Walfang: Flucht und Wahrung des ‚Inkognitos‘ (nicht umsehen!)104, Opfer (Huhn und Spuckhauchen). Dazu kommt noch die Entschuldigung und andererseits das Hineinrennen des Speeres, um den möglicherweise erbosten Baum(geist) niederzuhalten. Doppelt genäht hält besser – nach diesem Prinzip geht der Eingeborene vor. Hilft die Entschuldigung nichts, dann vielleicht der Speer und umgekehrt. Diese für uns vielleicht etwas merkwürdige Kombination kann wiederum zur Warnung gereichen, Ehrfurcht in unserem modernen, ethisierten Sinne als Motiv des Rituals anzunehmen. Genau die gleiche Lehre lässt sich aus dem Verhalten der Ewe in Süd-Togo nach der Leopardenjagd, das schon Schwenn in der Diskussion des Problems eingeführt hat105, ziehen. Der Jäger, welcher der großen Raubkatze den Tod gebracht hat, wird bei diesem Stamm „wie tot betrauert; er muß sich versteckt halten, und die Priester suchen ihn. Dem Leoparden selbst aber werden die Augen verbunden, rotes Palmöl wird auf seine Wunde gestrichen, und die Priester vollführen die Totenklage: ‚Der Jäger hat unseren Vater getötet‘“.106 Schwenn sah hier mit Recht „eine Kontamination verschiedener Gewohnheiten, die, genau genommen, einan102 Ittmann 1956, 213. 103 Ebd., Anm. 12. 104 Vgl. dazu unten S. 205. 105 Schwenn (1927), 102f. 106 Ebd., nach Spieth 1911, 139f.
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der ausschließen“107, wobei er freilich nur an den Widerspruch zwischen dem scheinbaren Tod und der scheinbaren Flucht des Leopardentöters dachte. Eine weitere Ungereimtheit liegt ja darin, dass man dem toten Tier einerseits die Augen verbindet – natürlich, damit es nichts Verräterisches erspähe – und ihm andererseits die Suche nach dem Jäger vorspielt. Ähnliches berichtet L. Frobenius aus dem westlichen Marokko: „Wenn ein Panther erlegt ist, muß der Jäger sogleich von hinten an die Leiche heranschleichen, und zwar mit zugekniffenen Augen. Es gilt, dem toten Tier die Augen schnell zu verbinden, damit es nichts mehr sehen kann. Danach wird dessen Kopf abgeschnitten und an einen entfernten Platz gebracht.“ 108 In Nordost-Liberia gibt es nach der Darstellung von E. Donner mancherlei Bedenken auch bei der Schlachtung harmloserer Tiere: „Jedes Tier hat der Meinung der Eingeborenen nach eine Seele, vor der sich der Mensch in Acht nehmen muß. Das lebende Huhn ist harmlos, die Seele des toten Huhnes jedoch ist imstande, auch einem Menschen zu schaden. Deshalb trifft man bei der Schlachtung eines Tiers auch seine Vorkehrungen: der Eigentümer selbst wird es schwerlich selber töten, und wenn er dies nicht umgehen kann, so wird er dem Tier vorerst erzählen, daß er von jemandem anderen zur Schlachtung beauftragt sei und gehorchen müsse … Wenn das Tier während der Schlachtung einen Schrei ausstößt oder sehr unruhig ist, so bedeutet dies Unglück, weil das Tier sein Schicksal schon vorher erkannt hat und seine Seele sich nun rächen wird.“ 109 Bei den Safwa, einem Bantu-Stamm in Tansania (ein Stück nördlich vom Njassa- bzw. Malawi-See ansässig), über den E. Kootz-Kretschmer ein zweibändiges Werk vorgelegt hat, lauern die Elefantenjäger auf großen Bäumen. Ihre Gefährten treiben die Tiere auf die Bäume zu, und dann werden die Speere geschleudert. Sitzt der Speer im Rücken oder
107 Schwenn (1927), 103. 108 Frobenius ²1954, 79; danach Bilz 1955, 231. Zum Zukneifen der Augen vgl. wieder unten S. 206. Ähnliche Motive wie dem von Frobenius erwähnten marokkanischen Brauch könnten auch dem von Herodot (II, 39) geschilderten ägyptischen Usus zugrunde liegen, den Kopf des Opferstiers abzutrennen und den im Lande lebenden, sozusagen ungläubigen Griechen zu verkaufen oder ihn im Nil zu versenken. Herodot berichtet darüber hinaus allerdings, dass alles Unheil, das dem Lande drohte, auf diesen Kopf herab gewünscht wurde. Es ist vorstellbar, dass man damit zwei Zwecke zugleich erreichen wollte: Man bekam alle drohende Unbill nach einem leicht abgewandelten Sündenbockprinzip (nicht durch Übertragung der Unreinheit auf den Pharmakos, sondern gleichsam vorbeugend, apotropäisch) los und macht zweitens den Kopf, der den Opferern ohnehin unheimlich war, unschädlich. Daneben gibt es freilich die Möglichkeit, dass der Kopf erst als magisch gefährliches Objekt galt, nachdem er durch den Fluch zum Träger des konkret-anschaulich vorgestellten Unheils geworden war. Da ältere Grabmalereien gerade Rindsköpfe unter der aufgemalten Ausstattung und Verpflegung der Toten zeigen, ist anzunehmen, dass derartige Vorstellungen erst in der Spätzeit aufkamen bzw. eindrangen oder herrschend wurden. Die Deutung des Tieropfers als Bestrafung der Seth-Tiere (vgl. oben Anm. 37) könnte damit zusammenhängen. Diese Überlegungen, die zum Teil durch eine Diskussion im Seminar von Prof. Hampl (WS 1973/74) angeregt wurden, sollen nur zeigen, dass eine nähere Untersuchung der Herodot-Stelle ergiebig sein könnte. 109 Donner 1939, 200. Zum Schreien bzw. Röcheln vgl. oben S. 200 f.
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Nacken des Elefanten, so schickt der Jäger schnell ein Sprüchlein hinterher: „Dieser Stock! Ich Mwembe! Diese kleine Feige!“ 110 Wohl zu Recht vermutet die Ethnologin dazu: „… wahrscheinlich um den Geist des sterbenden Elefanten irrezuführen; dieser soll nicht merken, daß der Jäger den Speer warf, sondern denken, es sei nur ein Stock gewesen, der herabfiel und den Elefanten traf, oder eine Frucht vom wilden Feigenbaum.“ Aber ganz verlässt sich der Jäger auf die Wirkung des Spruches auch wieder nicht. Denn ist das Rüsseltier auch tot, so wird ihm doch wieder bange: „Die Furcht zieht in sein Herz, er denkt: ‚Die Elefantenseele ergreift mich, und ich muß sterben.‘“ 111 Deshalb nimmt er eine ‚Medizin‘ in den Mund und lässt von seinen Gehilfen alle Körperöffnungen des erlegten Tieres, „wo der Hauch herauskommt“ 112, mit Medizinwurzeln verstopfen, die an der Stelle ausgegraben wurden, wo der Elefant niedergebrochen ist. Ist eine Antilope auf der Strecke geblieben, so wird nicht nur eine ‚Arznei‘ an je ein Vorderund Hinterbein gebunden – es handelt sich dabei wohl um ein Mittel, das die Läufe des Tieres lahmlegen soll –, sondern man baut auch eine „kleine, flüchtige Hütte, der Jäger muß sich darunter setzen, die Genossen zünden sie an, und wenn sie brennt, springt er im letzten Augenblick wieder heraus. Dann nimmt er sein Gewehr, die anderen tragen das Fleisch, und so kehren sie ins Dorf zurück. Unterwegs darf sich der Jäger nicht umdrehen, darf nicht zurück sehen“ 113. Die Safwa liefern uns also ein weiteres Beispiel für ein Ablenkungsmanöver (von dem wir ja ausgegangen sind), sprechen selbst über ihre Furcht vor der Tierseele und zeigen das Motiv des ‚Verschließens‘. Das zuletzt geschilderte Ritual nach Tötung einer Antilope ist besonders aufschlussreich: Das Verbrennen der Hütte über dem Jäger könnte man als Scheinstrafe, als Reinigung durch das Feuer deuten, aber am besten wohl ganz konkret: Die Antilope beziehungsweise ihre Seele soll ihre Genugtuung daran haben, dass der Übeltäter in der Hütte verbrannt und vertilgt wird, und ihn gleichzeitig aus den Augen verlieren. Dies letztgenannte Motiv taucht nach J. Batchelor auch bei den Ainus auf. Sie verbrennen jene Hütte, in der eine alte Frau gestorben ist, damit ihr Geist, der sich ja schon zu Lebzeiten als zäh und hartnäckig erwiesen hat und gefürchtet wird, sie nicht mehr finde.114 Wenn sich der Safwa-Jäger nach diesem Ritual auf dem Weitermarsch nicht mehr umdreht, kann ihn die Antilope(nseele) gewiss nicht mehr ausmachen und verfolgen. Wir 110 Kootz-Kretschmer 1926, Bd. 1, 111, vgl. 145. 111 Kootz-Kretschmer 1926, Bd. 1, 143. 112 Ebd. 113 Kootz-Kretschmer 1926, Bd. 1, 144. 114 Batchelor 1901, a. O. (vgl. Anm. 94) 130.
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erinnern uns an die ganz entsprechenden Verhaltensregeln für den Harpunier der Bubi, für den Mann, der in Kamerun Rinde vom Urwaldriesen holt, für den Leopardenjäger, der sich in Marokko von hinten mit zugekniffenen Augen an die Leiche der Katze heranschleicht (vgl. oben S. 204). Die Vorstellung, es sei gefährlich, den Blick auf ein Opfer des Schlachtbeils zu richten, konnte auch in Mitteleuropa in christlichem Gewand fortleben. Ein Beispiel dafür liefert eine Votivtafel aus Neufahrn (zwischen München und Freising) mit der Inschrift: „Im Jahre 1583 hat Barbara Steinerin Mitbürgerin in München ein Kind zur Welt gebracht. Das hatte ein Loch im Hals, weil die Mutter sich versehen an einem Kälblein in der Schlachtbank. Sie verlobte sich hierher und in der Nacht ward das Kind gesund.“ 115 Es ist ein ganz verwandtes Angstgefühl, das die Bakwiri in Kamerun daran hindert, in das Blut der Ziege zu schauen, die ein Sippenvorsteher in ekstatischem Tanz geköpft hat, und sie sagen lässt: „Wenn die Geister kommen und ihr Blutmahl lecken, darf man nicht hinsehen.“ 116 Im Alten Testament darf Aaron seinen Blick nicht auf den magisch mächtigen Fetisch der Versöhnungsplatte richten,117 und weil Lots Weib auf den Ort zurückschaut, an dem die Gottheit wütet, erstarrt sie zur Salzsäule.118 Eine ähnliche Unvorsichtigkeit führt die Geschichte von Orpheus und Eurydike und ihr japanisches Gegenstück, das von Izanami und Izanagi erzählt, zu einem unglücklichen Ende.119 Der Augenkontakt mit erbosten Geistern oder Gottheiten muss vermieden werden. Wir kehren noch einmal zu den Safwa zurück: Wenn einer der Ihren im Krieg einen Feind erstochen hat, nimmt man ihn und lässt ihn „um einen großen Baum herumgehen, damit der Geist des Erschlagenen seines Mörders Speer nicht finde … Im Dorf angekommen, darf er nicht in seine Hütte gehen, sondern muß in der Herberge übernachten … Am anderen Morgen wird er an den Bach gebracht; in einer Hand hält er Imbozyo-Blätter, in der anderen Zaubermedizin. So steigt er ins Wasser und wird von den anderen untergetaucht. Unter Wasser läßt er die Blätter und die Medizin los; der Bach nimmt sie mit. Dann steigt er wieder heraus und sie kehren ins Dorf zurück. Auf dem Wege darf er aber nicht hinter sich sehen(!). Jetzt erst geht er in seine Hütte.“ 120 Hier soll das Versteckspiel
115 Vgl. Kriss 1930, 21. 116 Ittmann 1939, 155. 117 Lv 16, 13: „Er lege das Räucherwerk vor Jahwe auf das Feuer, damit die Wolke des Räucherwerks die Versöhnungsplatte verhülle, sonst müßte er sterben.“ Vgl. Lv 16, 2. 118 Gn 19, 17. 26. 119 Geschichte von Izanagi und Izanami: Jockel 1953, 240f. 120 Kootz-Kretschmer 1926, Bd. 1, 230.
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hinter dem großen Baum die Feindesseele verwirren.121 Im Übrigen wieder genau die gleiche Motivation bei der Seele des toten Kriegsgegners wie bei der des erlegten Tieres: Beide sind dem Täter eben Feind. Wenden wir uns von Afrika nach dem Norden, der schon bisher in der Literatur mehr berücksichtigt wurde. Wenn die Lappen (Samen) einen Bären erlegt haben, so fahren sie ihn auf einem Schlitten nach Hause. „Sobald sie sich ihrem Haus näherten, sangen die Jäger: ‚Hier kommen nun Männer aus Schweden, Deutschland, England und allen Ländern.‘ Die Frauen hießen sie willkommen und begrüßten die ‚Männer aus allen fremden Ländern‘, die den Bären erlegt hatten.“ 122 Wieder ein geradezu klassisches Ablenkungsmanöver, verbunden mit einem Versöhnungsritual: Bei der Mahlzeit führte man „einen dramatischen Gesangsdialog auf, in dem die Männer und Frauen vorgaben, die Rolle des Bären zu spielen, und in mimischer Form dessen Zufriedenheit mit der Art und Weise, wie man ihn behandelt hatte, zum Ausdruck brachten. Zuletzt begruben die Männer den Bärenkopf (Schädel mit Schnauze) sowie das Skelett mit den Geschlechtsteilen und dem Schwanz“.123 Die ‚ehrfurchtsvolle‘ Behandlung des Skeletts geht dabei so weit, dass ein Hund, der sich zu seinem Unglück an einem Bärenknochen vergreift, das Prinzip ‚Aug um Aug, Zahn um Zahn‘ zu spüren bekommt: Ihm wird der dem angenagten Knochen entsprechende Teil seines eigenen Körpers abgehackt.124 Die sorgfältige Behandlung der Knochen des Wildes entspricht durchaus der bisher noch nicht erwähnten Versorgung des Walskeletts bei den Bubi125 und der Seehundknochen bei vielen Eskimostämmen (Inuit).126 E. Juel verzeichnet auch bei diesen Menschen Kombinationen von ‚freundlichen‘ und ‚unfreundlichen‘ magischen Akten gegenüber dem erlegten Tier: Es wird in der Hütte auf reinen Schnee gelegt, damit es auf keinem ‚unreinen Fleck‘ liegen muss127, und mit Wasser getränkt. Andererseits werden ihm die Augen herausgeschnitten und dem kleinsten Kind gegeben.128
121 Verschwindet eine Person oder Sache vorübergehend und taucht nach einiger Zeit wieder auf, so gibt sich der Primitive leicht der Vorstellung hin, eine andere sei an ihre Stelle getreten. So meint man zum Beispiel bei Neumond in Kamerun: „... der Mond verschwindet, indem er in die Himmelsdecke hineinschlüpft, nach acht Tagen zwängt sich ein anderer heraus, wird voll und verschwindet langsam wieder.“ (Ittmann 1953, 39). 122 Hultzkrantz 1962, 288. 123 Hultzkrantz 1962, 289. 124 Edsman 1960, 31. Im Übrigen ein schönes Beispiel für eine Tierstrafe. Vgl. dazu auch unten S. 215. 125 Ittmann 1956, 216. 126 Juel 1945, 160. 127 Juel 1945, 155. 128 Juel 1945, 158. Man mag sich hier vielleicht an den kleinen Knaben erinnern, auf den die Dschaggas das Kalb beim ‚Antrinken der Milch‘ ablenken, und an ein Ablenkungsmanöver denken.
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Die Walfänger unter den Küstenstämmen der Eskimos schlitzen dem Wal das Auge auf oder sie bedecken es mit einer grasgeflochtenen Haube, bevor sie das Tier aufschneiden.129 Aber auch sie kennen daneben Riten der Besänftigung. So bekommt der erlegte Wal zunächst einen Trunk von frischem Wasser. Es ist dies eine zeremonielle Form, die von den Reindeer Chukchees (im Nordwesten der Hudson-Bay) bei allen Säugetieren eingehalten wird. Wenn sie, auf der Jagd zur Strecke gebracht, in die Siedlungen dieses Inuit-Stammes gebracht werden, bekommen sie zuerst einen frischen Trunk und ein Lager.130 Anschließend an eine weitere Bewirtung wird dann eine Ritualperiode mit zahlreichen Tabus eingehalten, die der Trauerperiode für einen verstorbenen Menschen ähnlich ist.131 Auch die Seehundjäger unter den Inuits (z. B. die Netsiliks, aber auch andere, vgl. die Belege bei Juel132) bieten ihren Beutetieren zunächst einen Wassertrunk an. Als Motiv bezeichnet Juel „an expression of gratitude towards the animal itself“133. Auf der anderen Seite stellt er freilich fest, dass die Seehundzeremonien gekennzeichnet seien durch eine „ceremonial simplicity boardering on meagreness“, und vermutet den Grund dafür in der „practically everyday occurance of the seal and the comparatively small risks that are involved in its hunting“134. Wir kommen später noch einmal darauf zurück.135 Immerhin können wir hier schon feststellen, dass der zweiten Vermutung Juels eine Beobachtung von K. Rasmussens entspricht. Der Däne hat bei den von ihm erforschten Igluliks (Eskimos der Melville-Halbinsel) große Angst vor der Rache der erlegten Tiere festgestellt136, wobei besonders Bärenseelen als gefährlich gelten.137 Er teilt uns folgende Meinung der Eskimos mit: „Seetiere teilt man ein in gefährliche, die eine besondere Rücksicht erfordern, und ungefährliche, die man nur tötet und verzehrt. Zu jenen gehört der Wal, die Bartrobbe und der Bär.“138 Gewöhnliche Seehunde gehören demnach zu den ungefährlichen Tieren, aber, wie Rasmussen weiter berichtet, werden dennoch im Zusammenhang mit ihnen viele Taburegeln eingehalten.139
129 Lantis 1938, 447 (Alaska-Eskimos ohne nähere Bezeichnung des Stammes und Koryaks). 130 Lantis 1938, 445f. 131 Lantis 1938, 446. 132 Juel 1945, 155f. 133 Juel 1945, 157. 134 Juel 1945, 161. 135 Vgl. unten S. 218. 136 Rasmussen 1929, 187. 189. 261. 137 Rasmussen 1929, 189. 138 Rasmussen 1926 250. 139 Ebd.
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Auch die Ainu kennen die Vorstellung, dass sich ein getötetes oder gequältes Tier rächt. In diesem Fall wird man von ihm besessen und muss hinfort, je nach Tierart, miauen oder bellen oder brummen wie ein Bär usf..140 Hat ein Ainu eine Giftschlange getötet, so muss er sich dagegen vorsehen, dass der böse Geist der Schlange ihrem Körper entfahren kann, indem er ein Stück Beifuß (Artemisia) durch ihren Nacken stößt.141 Beschließen wir unseren Rundgang durch die Welt der Naturvölker wieder im indianischen Bereich: Hat ein Tscherokese (ursprünglich in den Süd-Appalachen, 1838/39 von dort vertrieben, jetzt in Resten in Oklahoma) einen Hirsch getötet, so fürchtet er den Rachedurst des Opfers beziehungsweise des mythischen ‚Häuptlings der Hirsche‘ (in der Übersetzung von Mooney142 ‚Little Deer‘). Um sich zu schützen, zündet er auf dem Pfad hinter sich ein Feuer an, damit ihm der ‚Herr der Hirsche‘ nicht zu seiner Hütte folgen kann.143 Sähe er sich nicht auf diese Art vor, so müsste er fürchten, der Rachedurstige könnte ihn mit Rheumatismus schlagen144 und ihn auf diese Art zum hilflosen Krüppel machen. Das flüchtige Tier, das gleichsam die Beweglichkeit verkörpert, revanchiert sich nach dieser Vorstellung auf seine Art, indem es seinem Feind die Beweglichkeit raubt. Ein alter Bericht über die Indianer Brasiliens beschreibt deren Verhalten, wenn sich ein Jaguar in einer Schlinge verfangen hatte. Man tötete ihn, trug ihn ins Dorf und beschwor ihn: Ich bitte dich, nicht an unseren Kleinen Rache zu nehmen, weil du durch deine eigene Unwissenheit gefangen und getötet worden bist. Denn nicht wir waren es, die dich getäuscht haben, du selbst warst es. Unsere Männer haben nur die Falle gestellt, um Tiere zu fangen, die gut zu essen sind. Sie haben nie daran gedacht, dich darin zu fangen. Lass darum deine Seele deinen Gefährten nicht den Rat geben, deinen Tod an unseren Kleinen zu rächen.145 Ähnliches wird für das Ende des 19. Jahrhunderts von den westlichen Bororo (Ostbrasilien) berichtet. Bei einem nächtlichen Tanz spielt dort der Leopardentöter „selbst die Rolle des wütenden und Rache fordernden Tieres“ 146. Die Rache aus dem Wald fürchtet man übrigens auch im alten Indien: Vom regelmäßigen Tieropfer
140 Batchelor 1901, (vgl. Anm. 94) 507f. 141 Ebd. 370. 142 Mooney 1885/86, 320 u. ö. 143 Ebd. 347. Auf dieses Beispiel hat schon Schwenn (1927), 103, hingewiesen. 144 Vgl. Mooney 1985/86, 320f. 145 A. Thevet, Cosmographie Universelle, 1575, danach Zerries 1961, 318. 146 Ebd. 319 (nach J. Koslowsky. Algunos datos sobre los Indios Bororos, Revista del Museo de La Plata VI, 12f.).
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(Paśubandha) waren dort wilde Tiere ausgeschlossen, denn sie würden den Opferer nur zu bald tot in den Wald schleppen.147 Überblicken wir das hier ausgebreitete Material noch einmal. Ganz gleich, ob wir nach Schwarzafrika oder zu den Lappen, zu den nordasiatischen Jägern, Eskimos oder Indianern blicken, überall verhalten sich die Menschen einer verwandten Entwicklungsstufe ähnlich, nachdem sie ein Tier oder einen Menschen getötet haben oder aus einem anderen Grund fürchten, ein Wesen gegen sich aufgebracht zu haben. 1. Sie versuchen, sich zu verbergen und reinzuwaschen. Sie entfernen sich leise und ohne sich umzusehen, meiden zunächst ihre Hütte, bewahren strenges Schweigen und suchen magische Reinigung von möglicherweise verräterischen oder sonst bedenklichen Spuren ihres Tuns. Drogen, Wasser, Feuer sollen ihnen dabei helfen. Dem gleichen Ziel, Verbergen und Reinwaschen im übertragenen Sinn des Wortes, dienen dann auch Unschuldsbeteuerungen, Ausflüchte bzw. Beschuldigung anderer und eventuell die Bestrafung dieser Sündenböcke. 2. Man trachtet, das Tier mit sich auszusöhnen, indem man es bewirtet, alles vermeidet, was seine Stimmung noch weiter trüben könnte, Trauerzeremonien einhält und seine Reste, Knochen und bestimmte Körperteile, sorgfältig behandelt. 3. Man trachtet, es völlig wehrlos oder – für unsere Begriffe – ‚toter als tot‘ zu machen, indem man es verstümmelt, seine Körperöffnungen verschließt und vor allem seine Augen unschädlich macht, indem man sie aussticht oder verdeckt. Eines ist in unserem Zusammenhang wichtig: Kaum je bestimmt eines der hier herausgearbeiteten Motive allein ein Ritual, sondern sie überlagern und kombinieren sich in verschiedener Weise. Dadurch kommt es mitunter zu Handlungen, die einem Menschen mit rational-aufgeklärter Mentalität widersprüchlich erscheinen, zum Beispiel zur Kombination von Unschuldsbeteuerung und Verstümmelung beziehungsweise Gewaltanwendung auf der anderen Seite.148 Bei solchen Bräuchen wird es ganz deutlich, dass wir mit dem Wort ‚Ehrfurcht‘ – und schon gar, wenn es in der Färbung gebraucht wird, die es in unserem Kulturkreis durch die Ideen Albert Schweitzers bekommen hat – nicht das richtige Motiv erfassen. Aber auch für sich allein betrachtet können magische Reinigung, 147 Taittiriya-brahmana 4, 9, 1, 2, vgl. Gonda 1960, 147. Eine ähnliche Vorstellung herrscht in Sarawak: Schlachtet man dort ein Schwein so leichthin, ohne ihm eine Botschaft an die Gottheit Balli Penyalong mitzugeben, so würde es zurückkommen und die Seelen der Schlächter fortschleppen. Vgl. Hose/McDougall 1901, 182. 148 Vgl. oben S. 203.
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Ablenkungs- und Täuschungsmanöver, Verstümmeln und Verschließen doch nicht ohne Weiteres in dieser Richtung gedeutet werden. Vielmehr lassen sich diese Verhaltensweisen in ihrer Gesamtheit sehr zwanglos interpretieren: Die Menschen einer frühen Entwicklungsstufe, die eben noch ein Lebewesen vor sich hatten, das um sein Leben lief, von unzulänglichen Waffen verwundet schrie und sich wehrte, und jetzt vor dem Kadaver stehen, werden zunächst von einem mächtigen Affekt beherrscht: Angst. Es ist die Angst, das tote Tier (in anderen Fällen das um die Muttermilch betrogene Kalb, der beraubte Baum) könnte sich doch noch erheben und sich rächen. Aus diesem Affekt heraus reagieren Primitive – auch das ist dem mit völkerkundlichem Material vertrauten Leser nichts Neues – wie die Kinder. Sie verstecken sich, sie leugnen und beschuldigen andere, sie versuchen, dem Opfer schön zu tun, nicht ohne es in manchen Fällen weiter niederzuhalten und zu entmächtigen. Es mag unter anderen Aspekten einer genaueren Untersuchung wert erscheinen, ob dabei eine Vorstellung von einer mehr oder minder stofflich aufgefassten Tierseele oder von einem Herrn der Tierart eine Rolle spielt. In unserem Zusammenhang ist es lediglich bedeutsam, dass in keinem der aufgezählten Fälle von einem ‚Herrn der Tiere‘ die Rede ist.149 Dagegen ist es sehr wertvoll zu erfahren, dass gerade in den guten, Berichterstattung und Interpretation nicht allzu sehr verquickenden, ethnologischen Berichten eine Reihe von Gewährsmännern ausdrücklich von der Angst vor dem Tier, und zwar ganz konkret vor seinem Körper, an dem ja mancherlei magische Manipulationen vorgenommen werden oder vor seiner Seele bzw. seinem Schutzgeist, spricht – oder allenfalls von Besorgnis über die Reaktion der Artgenossen des getöteten Lebewesens. Es muss hier noch einmal darauf hingewiesen werden, dass gerade in zusammenfassenden Darstellungen, in denen die Stimme der Eingeborenen nicht mehr unmittelbar zu uns spricht, unter Umständen schon zu viel Interpretation steckt. Dies scheint dem Verfasser der Fall zu sein etwa bei der Formulierung von A. Hultzkrantz:150 „… ist … der Respekt vor der Tierwelt ein sehr charakteristischer Zug der Eskimo-Religion.“ Abgesehen von der Frage, ob wir hier wirklich von einem Charakteristikum sprechen dürfen, das die Eskimo-Religion von der Vorstellungswelt vergleichbarer Völker abhebt, muss auch hier davor gewarnt werden, mit dem Wort ‚Respekt‘ die Vorstellung einer nicht utilitaristischen Gesinnungsethik zu verbinden. Ein gewisser Vorbehalt ist auch anzumelden, wenn Herr149 Der Häuptling der Hirsche (Little Deer) der Tscherokesen ist immer noch Hirsch und agiert nur für seine Art. 150 Hultzkrantz 1962, 383.
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mann meint, jede Tötung sei für einen primitiven Jäger eine „schlimme Tat151“, denn nach den gut belegten Äußerungen der Naturvölker muss man eher von einer ‚gefährlichen Tat‘ sprechen. Schwindet die Sorge vor Gefahr, sei es bei Haustieren oder bei sehr häufigem und ungefährlichem Wild (etwa den Seehunden bei den Eskimos, vgl. oben S. 208), dann verkümmern die Rituale. Gerade das dürfte nicht passieren, wenn wir es mit einer frühen ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ zu tun hätten. Dennoch meint auch der Psychiater R. Bilz, nach einem Streifzug durch das ethnologische Material schreiben zu müssen: „Auch das tierliche Leben ist heilig. Vielleicht müssen wir sogar sagen: Es gibt nur ein Leben.“152 Er steht damit den Anschauungen Meulis und Ottos nahe, die uns zu dieser kritischen Betrachtung veranlasst haben153, und die uns nach dem Dargelegten nicht aufrecht zu halten scheinen. Voll verständlich werden im Übrigen die Handlungen, welche die Primitiven aus dem beschriebenen Angstgefühl heraus setzen, für uns freilich erst, wenn wir uns auch vergegenwärtigen, dass unter ihnen die Vorstellung vom ‚lebenden Leichnam‘ herrscht, und zweitens, dass sie ganz allgemein dazu neigen, Tiere wie Menschen zu sehen, zu behandeln und einzustufen. Auf die Vorstellung vom 'lebenden Leichnam' kommt die Rede auch in einem anderen Beitrag dieser Publikation.154 Das Schlagwort umschreibt eine bekannte Beobachtung: Die Menschen einer früheren Zeit oder Entwicklungsstufe nehmen aus ihrer psychischen Struktur heraus ganz einfach nicht oder nicht in allen Konsequenzen die Realität zur Kenntnis, dass das Leben aus einem toten Menschen (oder Tier) endgültig entwichen ist, und behandeln den Leichnam entsprechend. Vor allem rechnet man damit, dass der Verstorbene im Grab oder im Jenseits die gleichen Wünsche und Bedürfnisse, Gefühle und Reaktionen zeigt wie vor seinem Hinscheiden.155 Nur so ist es zu verstehen, dass etwa im
151 Herrmann 1961, 204. 152 Bilz 1955, 244 (vgl. Anm. 108). 153 Auch die psychiatrischen Fälle von Tiertöter-Skrupulantismus, über die Bilz a. O. berichtet, bedürfen m. E. nicht der weit hergeholten Erklärung durch ein Entelechial-Doppelgängertum Tier/Mensch. Der Mann, der eine Schlange getötet und an einem Ast aufgehängt, und der andere, der eine Schlinge ausgelegt und ein schon halb verwestes Reh darin gefunden hatte, betrachteten ihr späteres Unglück eben als Folge ihrer Taten, die immerhin dazu angetan waren, die Erinnerung noch lange zu beschäftigen. 154 Haider 1974, 117f. 155 Vgl. Wilke, RV V (1925),335f. (s. v. Hockerbestattung); RV VII (1927), 259ff (s.v. Lebender Leichnam); RV XIV (1929), 443ff. (s. v. Wohnungsbestattung). Wie die meisten altertümlichen Reaktionsweisen ist natürlich auch diese Vorstellung im Laufe der Geschichte nicht schlagartig abgekommen, ja selbst sehr verstandesbetonte Mitteleuropäer können sich noch heute mitunter entsprechend verhalten, besonders wenn ihnen der Verstorbene nahestand. Überhaupt führen ja starke Emotionen oft zu Reaktionen, die gleichsam einer früheren entwicklungsgeschichtlichen Stufe angehören.
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Grab des Ruaben zu Saqqara in Unterägypten Klosetts und Baderäume gefunden wurden, die offenbar für die entsprechenden Bedürfnisse des Toten gedacht waren.156 Der gleiche Ausgrabungsbezirk lieferte nach für den Verfasser noch nicht überprüfbaren Nachrichten jüngst ein für uns besonders schönes Beispiel: W. B. Emery soll in den im Zuge seiner letzten Kampagne in Saqqara freigelegten Falkengalerien bei den toten und mumifizierten Vögeln Mäuse als Beigaben gefunden haben, die als Beute und Nahrung gedacht waren.157 Die gleiche Vorstellungswelt – um ganz wahllos einige weitere Beispiele aus der Fülle des Materials herauszugreifen – steht hinter den Massenbestattungen der Phase Ur I in Mesopotamien, die in weiten Kreisen bekannt geworden sind, und hinter den Totenbräuchen der Skythen, von denen schon Herodot seinen Lesern einen Bericht gab, der durch Ausgrabungen auf russischem Boden weithin bestätigt wurde.158 Dabei fand man übrigens auch öfters Fleischstücke, ja manchmal ganze Tiere, zum Beispiel ein Kalb mit einem Eisenmesser zwischen den Rippen,159 Holzkohlenstücke und geglühte Steine: Mahlzeiten für die Verstorbenen. Vermutlich in der gleichen Intention schließen die Safwa die starre Hand des Toten um das Bein eines lebendigen weißen oder schwarzen Huhnes „und schütten nun die Erde auf den toten Menschen und das lebende Tier" 160. Unwillkürlich denkt man an Achill, der stöhnend vier Pferde auf den Scheiterhaufen des Patroklos schleudert, zwei von seinen eigenen Tischhunden nimmt, ihnen die Kehle durchtrennt und sie auf das Brennholz wirft.161 Ob hier der Nutzwert oder der Gefühlswert der Tiere, die den Toten begleiten sollen, im Vordergrund steht, bleibt offen. Es spricht einiges für die Annahme, dass auch die Pferde jenes Gespannes, mit dem Kimon, der Vater des Siegers von Marathon, drei olympische Siege hintereinander errungen hatte (532, 528 und 524 v. Chr.), ein ähnliches Schicksal erlitten wie die Pferde Achills.162 Vielleicht dürfen wir in der verbreiteten Übung, den Verstorbenen auf griechischen Grabstelen mit einem (beziehungsweise seinem?) Hund oder Pferd darzustellen, einen gemilderten Abglanz der
156 Kees 1956, 21, unter Hinweis auf Quibell 1912-14, 13 und Taf. 31. 157 Der Verfasser hat eine Überprüfung der diesbezüglichen Radio- und Fernsehberichte an Hand der Vorberichte im Journal of Egyptian Archeology (vgl. zu den Falkengalerien bes. Bd. 57, 1971, 4ff.) versucht, die aber doch allzu knapp gehalten sind, um auf dieses Detail einzugehen. 158 Hdt. IV, 71f.; zu den Funden vgl. Rolle 1968, passim. Siehe ferner Haider 1974, 90ff. 159 Kurgan 1 von Aksjutincy-Stajkin Verch, vgl. Rolle 1968, Teil 1, 160. Holzkohlestücke und geglühte Steine: Kurgan von Žmalin, Kurgan 35 von Guljajgorod, Kurgan 9 von Elisavetpol, u. ö.; vgl. Rolle ebd. Die Funde sind heute zu einem großen Teil in der Eremitage zu Leningrad zu sehen. 160 Kootz-Kretschmer 1926, Bd. 1, 308f. 161 Il. XXIII, 171ff. 162 Zu Hdt. VI, 103; Ael. nat. anim. XII, 40; Lorenz 1972, 188.
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alten blutigen Bräuche erblicken. In ihrer vollen Urtümlichkeit lebte die Vorstellung vom ‚lebenden Leichnam‘ auch in Griechenland fort in der primitiven Sitte des μασχαλισμός: „Er bestand darin, daß der Mörder dem Ermordeten Extremitäten, Nase und Ohren abschnitt, sie an einer Schnur aufreihte und um den Hals hängte“, wohl „damit der Ermordete seine Kraft, sich an dem Mörder zu rächen, verliere oder damit der Mörder in der Zukunft nichts von ihm zu fürchten habe.“163 Es ist genau dieselbe Gedankenwelt – wir sagen es noch einmal –, aus der heraus es die Safwas für nötig halten, bei der Bestattung eines durch Gottesurteil164 Gestorbenen ein Bein und einen Arm in die Höhe zu binden, damit der Geist des Toten nicht Rache an seinen Gegnern beim Gottesurteil nehmen könne.165 Die Ureinwohner der australischen Kap-York-Halbinsel wiederum fürchten die Rückkehr eines jeden, auch eines unter normalen Umständen Verstorbenen überaus und entfernen deswegen allen Toten ein Bein.166 Es ist dies ein Verhalten, das ganz der Verstümmelung erlegten Wildes entspricht, dem Versuch der Safwas, die Läufe der getöteten Antilope durch Zaubermittel lahmzulegen, oder dem Brauch der Ainus, den Nacken der getöteten Schlange mit einem Zweig zu durchbohren. Der Wassertrunk wiederum, den zum Beispiel Wal und Seehund bei den Eskimos erhalten, ist mit den erwähnten Totenspeisen zusammenzustellen. Auf eine andere, höchst „menschliche“ Art versuchten die Ainus, die Batchelor besucht hat, Kopf und Balg eines von ihnen ins Jenseits geschickten Bären zu erfreuen: Sie hingen ihm einen – für sie kostbaren – japanischen Spiegel um.167 Und schließlich sind ja auch all die Unschuldsbeteuerungen, Ablenkungsmanöver und Scheinstrafen, von denen die Rede war, nur dann 163 So sicher zutreffend Nilsson GGR ²1965, I, 99; dort auch Belege und Literatur sowie Hinweise auf ethnologische Parallelen. 164 Es handelt sich um die sog. Mwamfi-Probe: Man trinkt einen Absud von der Rinde des Umwamfi-Baumes, was zu Erbrechen und Vergiftungserscheinungen führt. Vgl. Kootz-Kretschmer 1926, Bd.1, 223ff., die leider die wissenschaftliche Bezeichnung des fraglichen Baumes nicht angibt. 165 Kootz-Kretschmer 1926, Bd. 1, 226. 166 O’ Connel 1957, 17. 150-152; danach Worms/Petri 1968, 281. Die Ambivalenz des Verhaltens der Hinterbliebenen – einerseits Fürsorge für den Toten, andererseits Angst vor ihm – mag zum Teil darauf zurückzuführen sein, dass vielen Primitiven eine Vorstellung des ‚natürlichen Todes‘ fehlt. Daraus folgt manchmal, dass die Hinterbliebenen den Urheber des Todes suchen oder sogar der Tote selbst ihn durch Ordal bestimmt. Ein Beispiel dafür bei Brenninkmeyer 1928, 38f.: Über dem Grab des Verstorbenen wird eine Stange nach rechts gedreht und dabei gefragt, wer den Begrabenen getötet hat, und „auf einmal fühlen alle, wie eine unsichtbare Hand die Stange nach links drehen will“. Derjenige, dessen Namen in diesem Augenblick genannt wird, ist der Täter. Zugleich ein Beispiel für die Vorstellung vom ‚lebenden Leichnam‘. Da es sich bei Tieren selbstredend um gewaltsamen Tod handelt, ist es umso verständlicher, dass die Angstgefühle überwiegen. 167 Batchelor 1901, 491.
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sinnvoll, wenn das tote Tier oder seine Seele sie registriert, auf sie hineinfällt beziehungsweise in menschlicher Weise daran Genugtuung findet. Das führt zum zweiten Moment, das erst zum vollen Verständnis der geschilderten Riten verhilft: Die Menschen einer frühen Entwicklungsstufe neigen dazu, Tiere ganz unreflektiert wie ihresgleichen zu behandeln und von ihnen entsprechende Reaktionen zu erwarten. Daher meint der Buschmann, „dass ein Büffel ebensowohl wie ein Mensch mit Bogen und Pfeil schießen könne, wenn er solche hätte “,168 glauben die Malaien an Tiger- und Elefantenstädte im Dschungel.169 Nach der Meinung der Tscherokesen treffen sich die Bären in einem ‚townhouse‘170, die Indianerstämme der nordamerikanischen Prärie kommen auf die Idee, einen getöteten Büffel durch Anblasen mit Tabakrauch zu versöhnen171, die Aandonga des Ovambolandes erzählen, dass die Hyäne betet und magische Riten vollzieht172, und ein Safwa zögert nicht, eine Geschichte wiederzugeben, in der eine Schlange ein Ritual zur Wiederbelebung ihrer toten Gegnerin vollzieht.173 Genau auf dieser Stufe stehen im sogenannten klassisch-antiken Bereich die Elefantengeschichten, die vermutlich von Juba über Alexander von Myndos zu Plinius, Plutarch und Aelian gekommen sind. Demnach baden sich die Dickhäuter bei Neumond und besprengen sich, um den Mond zu begrüßen, und verehren überhaupt Sonne und Mond religiös.174 Dass diese Denkweise im Übrigen nicht nur in Mythen, Märchen und Fabeln lebendig ist, sondern auch das praktische Handeln archaischer Menschen bestimmt, zeigen überaus deutlich die Tierstrafen. Ein Beispiel wurde schon erwähnt, nämlich die Anwendung des Talionsprinzips gegen den Hund bei den Lappen (vgl. oben S. 207). Die Kenyahs in Sarawak töten für gewöhnlich keinen Falken, aber wenn ihnen einer ein Hühnchen entführt, klassifizieren sie ihn als gemeinen Kerl, der abschusswürdig sei,175 und wenn einer der Ihren einem Krokodil zum Opfer fällt, dann starten sie eine förmliche Blutracheaktion, die in eine Kollektivstrafe gegen alle benachbarten Krokodile umschlägt, wenn das schuldige Reptil nicht ausfindig gemacht werden kann.176 Tierstrafen sind auch für das ‚klassische‘ Griechenland und das
168 Campwell 1823, 171, danach Thilenius 1927, (vgl. Anm. 88) 482. 169 Thilenius 1927, 483, nach Skeat 1905. 170 Mooney 1885/86, 319. 171 Herrmann 1961 (vgl. Anm. 151), 205. 172 Pettinen 1924/25, 178f. 173 Kootz-Kretschmer 1926, Bd. 1, 247. 174 Plin. nat. VIII, 1, 2f., vgl. Ael. IV, 10; VII, 14, Plut. soll. an. XVIII, 2; Solinus p. 124 M. 175 Hose/Mc Dougall 1901 (vgl. Anm. 148), 179. 176 Hose/Mc Dougall 1901, 186.
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abendländische Mittelalter recht gut bezeugt.177 Ja, noch der russische Zar Paul I (17961801) berief im Zorn über sein Pferd, das ihn abgeworfen hatte, einen improvisierten Gerichtshof ein, welcher auf eine Strafe von 60 Gertenhieben erkannte. Sie wurde vor versammeltem Volk vollstreckt.178 Auf die naive Gleichsetzung von Mensch und Tier weisen im Zusammenhang mit den Jägerritualen auch Herrmann und Burkert hin.179 In Anwendung von Theorien der modernen Verhaltensforschung leitet der Letztgenannte dieses psychologische Faktum aus dem Umstand ab, „dass statt einer festgelegten Raubtier-Beutetier-Korrelation ein eigentlich auf ein menschliches Gegenüber gerichtetes Verhalten das Jägertum prägt, eben die intraspezifische Aggression“, die sich, im Sinne der Aufstellungen von K. Lorenz, nach außen entlädt.180 Der Aggressionstrieb des Jägers soll sich demnach im Beutetier eine Art von Ersatzmenschen schaffen, an dem er sich abreagieren kann. Hier ist einzuwenden: Jene naiv vermenschlichende Sicht der Dinge181 beschränkt sich keineswegs auf die Tiere und schon gar nicht auf die großen Säuger, sondern sie umfasst ebenso leblose Gegenstände und Pflanzen.182 Außerdem halten wir fest, dass sich auch in dieser Beziehung die Psyche des Naturmenschen und die des Kindes von heute begegnen.183 Im Laufe ihrer individuellen Entwicklung rücken die meisten Angehörigen 177 v. Amira (= MIÖG 12, 545-601); Mühl 1971, 1-16; Lorenz 1972, 17f. und 55ff. 178 Federmann 1971, 149; nach Masson 1844, 202f. 179 Herrmann 1961, 204, Burkert 1972 (vgl. Anm. 3), 28. 180 Burkert, loc.cit. unter Berufung auf K. Lorenz 1963, 251-318. 181 Man ist versucht, hier den prägnanten Ausdruck Anthropomorphismus zu gebrauchen, der aber doch nicht ganz das Richtige trifft, denn von der äußeren Tiergestalt sieht man ja nicht ab. Wenn eine Wortschöpfung erlaubt wäre, müsste man von einer anthropothymen Sicht sprechen, denn man verhält sich, als steckte in dem Tierkörper eine menschliche Psyche. 182 Beispiele aus dem hier ohnehin herangezogenen ethnologischen Schrifttum: Die Igluliks erzählen eine Geschichte, in der eine Eskimofrau mit einem See geschlechtlich verkehrt, ganz wie Ocrisia sich mit dem Herdfeuer verbindet. Eine andere Iglulik-Geschichte erzählt, wie eine Eskimofrau ein hinter ihr herjagendes Feuer übertölpelt, indem sie mit einem großen Satz aus der Spur springt, die sie bis dahin durch den Schnee zog. Batchelor teilt die Gebete und Hilferufe an die Bäume und den Erdgeist mit, welche die Ainus ausstoßen, wenn sie von Bären verfolgt werden, schildert die Racheaktion gegen einen Baum, der einen Unfall verursacht hatte; und das Ritual ums Rindeholen in Kamerun wurde hier schon mehrfach erwähnt (vgl. Rasmussen 1929, 221f., 225f.; Batchelor 1901, 382 und 384, sowie oben S. 202 f.). 183 Vielleicht darf hier ein persönliches Erlebnis mitgeteilt werden. Als der fünfjährige Sohn eines Kollegen mit unserem Schäferhund spielen wollte, meinte er: „Ich möchte wieder mit dem Onkel Hund reden!“ Vgl. dazu eine mir freundlicherweise mitgeteilte Beobachtung von F. Hampl: Ein ihm bekanntes Mädchen spricht in Anwesenheit einer Katze nur im Flüsterton über diese, damit sie nichts verstehe. – Vgl. auch Oerter 81970, 305ff. (über „Egozentzrismus in der Wahrnehmung“, Physiognomisches Sehen“, „Personifizierung“ und „egozentrisches Denken“, mit lehrreichen Beobachtungsbeispielen, die Oerter vor allem den Werken von J. Piaget, Ch. Bühler und K. Zietz entnommen hat, mit Hinweisen auf weiterführende Literatur), bes. 305 („Der adäquate Umgang mit den Objekten erfordert kognitive Leistungen, zu denen das Kind anfänglich noch nicht fähig ist. Es versucht …
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unseres Kulturkreises von einem solchen Denken ab – obwohl sich ihre Situation im Hinblick auf den Aggressionsdruck sicherlich nicht ändert. Und schließlich baut Burkert seine Überlegung auf einer ungeprüften Voraussetzung auf: Ist es wirklich eine spezifisch menschliche Eigenschaft, arteigenes Verhalten in eine fremde Spezies zu projizieren und umgekehrt fremde Reaktionen nach den eigenen Maßstäben zu messen?184 Wenn wir zum Buphonienritual zurückkehren, erkennen wir sofort, dass es in allen Details der im vorangehenden Abschnitt betrachteten urtümlichen Geistesverfassung entspricht: Die Gerichtsszene bietet eine enge Parallele zu den geschilderten Streit- und Ablenkungsszenen und verliert das Außergewöhnliche, wenn wir sie vor dem gleichen entwicklungsgeschichtlichen Hintergrund sehen wie die ethnologischen Befunde: Sie gehört einer Phase an, in der die Vorstellung vom ‚lebenden Leichnam‘ noch herrschend war und in der man es für nötig und sinnvoll hielt, durch ein mehr oder weniger durchtriebenes Ablenkungsmanöver alle Gefahrenmomente vom Opferschlächter abzuwenden, wobei dieser Versuch auch wieder nur in sich logisch war unter der stillschweigenden Voraussetzung, dass das Tier (bzw. seine Seele oder sein Schutzgeist) auf ganz menschliche Weise dem Gerichtsschauspiel folgte und sich schließlich bei einem Ausgang der Angelegenheit beruhigte, der auch nur einen Menschen einer frühen Entwicklungsstufe befriedigen konnte: beim Gericht über das Schlachtwerkzeug, also bei einer Sachstrafe. Restbestände dieses entwicklungsgeschichtlichen Hintergrundes sind auch sonst in Griechenland belegbar (vgl. oben S. 213 f.). Es ist auch schon ausgeführt worden, dass dies für führende Männer des fünften und vierten Jahrhunderts bereits eine völlig unverständliche und abstruse Vorstellungswelt war. Auch für die Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts ergaben sich große Schwierigkeiten für das Verständnis, solange man nicht gelernt hatte, völkerkundliches Material zum Vergleich heranzuziehen. Dieses Material zeigt zunächst, was Deubner und Nilsson nicht zugestehen wollten: Dass die Grundmotive des Rituals ganz unabhängig sind von den Wirtschaftsformen des Ackerbaus und der Viehzucht, und genauso, wenn nicht deutlicher, auf der Stufe der frühen Jäger anzutreffen mit den Dingen wie mit Menschen umzugehen:“) und 306 („Zunächst [mit 6 bis 7 Jahren] scheinen alle Objekte Bewusstsein zu besitzen, die einem dynamischen Prozess unterworfen sind ...“). Der 2. Auflage von Oerters Werk entnimmt Reutterer 1971, 67-78, seine Beispiele. 184 Es ist denkbar, dass die Verhaltensforschung mutatis mutandis den Xenophanes-Ausspruch 4 B 15 Diels-Kranz („Doch wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen könnten ...“) wieder zu Ehren bringen wird (Prägung von Jungtieren auf menschliche Nährmütter, Verhalten des Hundes zum Herrn nach den Rangordnungsregeln des Wolfsrudels, Angst der Hühnerglucke um Entenküken etc.).
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sind. Der Verfasser glaubt, dass es der Befund darüber hinaus erlaubt, die Ansichten von K. Meuli und W. F. Otto über die ursprünglichen Motive derartigen Verhaltens zu korrigieren und es in den großen Zusammenhang des frühen Denkens einzuordnen. Beweggrund wäre demnach ursprünglich die Angst vor der Rache des Tieres selbst, voll verständlich erst im Zusammenhang mit der Vorstellung vom ‚lebenden Leichnam‘ und mit der Tatsache, dass primitive Menschen das Tier naiv wie ihresgleichen betrachten. Wenn man hier die Relikte einer jägerischen ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ oder vor einer höheren Macht, die über dem Leben waltet, sehen will, so geht das wohl nicht nur zu weit, sondern es hat die ethnologischen Parallelen direkt gegen sich. Dies zu zeigen, war eines der Hauptanliegen unserer Darlegungen. Das Buphonienritual hat frühzeitig die Bildung aitiologischer Sagen angeregt, weil es nicht mehr verstanden wurde. Nun ist natürlich die Frage legitim – darin hat W. F. Otto sicher recht –, warum sich denn ausgerechnet bei diesem Anlass die uralten kultischen Formen erhalten haben. Hier scheint der Hinweis zu genügen, dass es sich um kein gewöhnliches Speise- oder Sühneopfer, sondern um einen Ritus aus dem weiten Bereich der Fruchtbarkeitsmagie handelt, in dem sich so manche altertümliche Vorstellung bis in späte Zeiten gerettet hat.185 Ähnliches ist für die Buzygenflüche zu sagen, während in Tenedos das Kalb vielleicht doch die Gottheit verkörpert. Auf Rhodos ist der Charakter des Pflugstieropfers am meisten verdunkelt. Wir glauben also nicht, diese Rituale seien ‚kultische Schöpfungen‘, die sozusagen eigens für den tierischen Arbeitsgenossen entwickelt wurden, aber wir nehmen an, dass bei magischen Akten, die für lebenswichtig gehalten wurden, uralte Vorstellungs- und Reaktionsweisen vollständiger und ausdauernder nachvollzogen wurden als bei häufigeren und weniger zentralen Opfern186, ein ähnlicher gradueller Unterschied also wie zwischen der seltenen Tötung eines Wals und der eines gewöhnlichen Seehundes bei den Eskimos (vgl. oben S. 208). Theophrast hat sicher nicht das Richtige getroffen, als er schrieb, ‚die Vorfahren‘ hätten sich gescheut, gerade den Ackerstier, den treuen Helfer und Diener des Menschen, zu
185 Ähnlich Burkert 1972, 160. 186 Man mag mit Schwenn (1927), 119, erwägen, ob nicht die Buphonien und die anderen erwähnten Rituale der mykenisch-minoischen Schicht innerhalb der griechischen Religion angehören – schließlich hatten Stier und Ackerbau im kretisch-mykenischen Bereich zentrale Bedeutung –, aber ohne deswegen anzunehmen, dass die zugrundeliegenden Denkformen etwa den einwandernden Indogermanen fremd gewesen wären.
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töten. Dennoch scheint es uns lohnend, zum Abschluss noch der Frage nachzugehen, warum diese Ansicht in der späteren griechisch-römischen Antike so großen Anklang fand. Zunächst gibt es dafür äußere Gründe beziehungsweise Umstände, welche diese Sicht der Dinge möglicherweise zu stützen schienen: Zu einem ganz idealen Opfertier gehörte vor allem Jugend und Schönheit, vielleicht auch der Wohlgeschmack seines Fleisches. Dies zeigen etwa die Stellen Il. X, 293 und Od. III, 383187, wo es Diomedes bzw. Nestor ganz besonders darauf ankommt, die Göttin Athena günstig zu stimmen. Deshalb opfern sie ihr ein einjähriges ungezähmtes Rind, „das noch kein Mann unter das Joch geführt“. Es ist dem römischen ‚bos bidens‘ zu vergleichen.188 Die Bemerkung, es sei noch nicht unter dem Joch gegangen, spinnt wahrscheinlich überhaupt nur die Schilderung des Jungtieres weiter aus. Misst man ihr mehr Gewicht bei, so kann sie nur bedeuten, dass die Arbeit auf dem Felde nicht heiligte, sondern entwertete, zumindest unter dem Gesichtspunkt des Speiseopfers: Die Gottheit sollte keine Gebrauchtware erhalten.189 Berücksichtigt man außerdem, dass die Ackerstiere, jedenfalls nach dem römischen Schriftsteller Columella,190 erst zwischen dem dritten und dem fünften Lebensjahr abgerichtet wurden, so nimmt es nicht wunder, dass sie sich kaum unter den ausgesuchten Tieren befanden, die an die Altäre geführt wurden.191 Dies mag die Entstehung eines Bildes begünstigt haben, das vielen griechischen Schriftstellern seit dem fünften Jahrhundert und ihren römischen Nachfolgern in späterer Zeit aus ihrer inneren Einstellung heraus zum Ideal wurde. Bei Empedokles (nicht bei Homer, bei Hesiod, in den homerischen Hymnen oder in der frühen Lyrik!) ist zum ersten Mal der Gedanke belegt, dass in einer besseren Vorzeit „noch kein Stierblut von den Altären floß“ 192, ohne dass damit unbedingt eine Sonderstellung des Pflugstiers ausgedrückt wäre (vgl. oben S. 195). Ohne Zweifel handelt es sich hier um eine Zielvorstellung des Akragantiners für das eigene Leben und die eigene Zeit, die in die Vergangenheit projiziert wird. Dadurch gewann sie offenbar für ihren Urheber, von dem wir annehmen müssen, dass er an seine eigene historische Fiktion selber glaubte, und für seine Umwelt an Überzeugungskraft. Zustände, die angeblich oder wirklich schon einmal 187 Nicht Od. III, 135 (so irrtümlich Orth, RE III A2, Sp. 2512). Die Stellen Il. VI, 94 und 275 mit ἤκεστος müssen ausgeschieden werden, da die Etymologie ‚ungestachelt‘ nicht feststeht. 188 Vgl. Ziehen RE XVIII 1, Sp. 596. 189 Ganz entsprechend zählt es zu den Vorzügen der sechsjährigen Stute, die Achilleus als zweiten Preis bei den Leichenspielen für Patroklos aussetzt (Il. XXIII, 265f.), dass sie ungezähmt ist. 190 Colum. I, 9, vgl. Orth RE III A2, Sp. 2508. 191 Schon Stengel 1910, 211, hat vermutet, Ackerstiere seien selten geopfert worden, ohne dass dafür „sentimentale Gründe“ maßgebend waren. 192 31B 128 Diels-Kranz.
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geherrscht haben, scheinen eben leichter zu erreichen zu sein als solche, die zum ersten Mal angestrebt werden. Dies ist vielleicht einer unter mehreren psychologischen Gründen dafür, dass wir derartigen Projektionen in der Geschichte immer wieder begegnen können.193 Es gibt auch eine Spielart des Phänomens: Ansiedelung von Idealvorstellungen in fernen Ländern und bei fremdartigen Völkern, vorzugsweise bei primitiven. Auf diese Weise hat schon die orphisch-pythagoreische Mystik des 5. Jahrhunderts v. Chr. ihren Niederschlag gefunden: Sicher hat sie die Vorstellung von Naturvölkern, deren mustergültige Ethik sich auch in der Meidung von Fleischkost äußert oder sogar darin gründet, inspiriert. Andeutungsweise ist sie zuerst in Herodots Bericht über die Argippaioi194 und ganz eindeutig bei Hellanikos in seinen Bemerkungen über die Hyperboreer belegt.195 Wie oben gezeigt, tauchte nun im vierten Jahrhundert, für uns greifbar bei Xenokrates und Theophrast, der Gedanke auf, dass die Tötung von zahmen und mit den Menschen lebenden Tieren ein Unrecht darstelle. Nun griff man zu den Kultaitien, die von so manchem blutigen Opfer wissen wollten, wann es zum ersten Mal geschah. Vermutlich haben sich die Urheber dieser Geschichten – zumindest die älteren Geschichten unter ihnen, denn die jüngeren mögen bereits Analogieschöpfungen sein – zunächst gar keine Rechenschaft darüber abgelegt, wie man sich die Zustände vor dem Eintreten der angeblichen Präzedenzfälle vorzustellen hätte – genauso wenig, wie etwa die Bubi, die von Kowa und Enange, den Lehrmeisters des Walfangs, erzählen.196 In dieses gedankliche Vakuum konnten nun Männer wie Theophrast umso eher hineinstoßen, als die bewussten Kultaitien naturgemäß stets von mit dem Menschen zusammen-
193 Weitere Beispiele bei F. Hampl 1957, 249-271, bes. 254ff., 268ff. (wieder abgedruckt bei Klein WdF 46, 1966, dort bes. 122ff., 140ff.); ders. 1959, bes. 498ff., 502ff. (= WdF 46, 145ff., 149ff.) (in diesen Arbeiten Beispiele für Idealisierung der griechischen und römischen Frühzeit); ders. 1975, Bd. 1, 252-298 (Verherrlichung der chinesischen Frühzeit in den Tagen des Kaisers Schi huang-ti, Äußerung Johannes’ XXIII. gegen ähnliche Tendenzen in seiner Umgebung). Vgl. etwa auch Eichhorn 1964, 11f., mit wörtlichen Zitaten aus den Quellenschriften Han Fei-tzû (Kap. 49), Mo-tzû (Kap. 6), Li-chi (Kap. 9, 1). Noch nach 1900 verband ein chinesischer Herausgeber des „Buches des Höchsten von den Taten und Vergeltungen“ (Kan Yin Pien) mit der Neuedition dieses ethischen Traktates die Hoffnung, dass das chinesische Volk seiner Zeit „wieder warmherzig und verständig werde wie in der Zeit des gnadenvollen Kaisers Yao und des erleuchteten Kaisers Schun“. Vgl. Schüler 1909, 240f. 194 Hdt. IV, 23. Das Volk soll von den Früchten des Pontikon-Baumes gelebt haben, wobei freilich das entscheidende Wörtchen ‚nur‘ fehlt und ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem sittlichen Niveau dieser Leute und ihrer Kost nicht ausdrücklich hergestellt wird. 195 Hellanikos bei Clem. Alex. strom. I, 15 = FGrHist I, S. 150, fr. 187b. – Über verwandte idealisierende Tendenzen im Germanenbild des Tacitus vgl. Hampl 1955, 92f. 196 Vgl. oben S. 201.
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lebenden Tieren handelten, die den Großteil der Opfer stellten.197 Schon die Buphonienlegende für sich genommen und erst recht die verschiedenen Kultmythen in ihrer Summe luden geradezu zu der Folgerung ein: Die Athener der Vorzeit waren vom Bewusstsein durchdrungen, die Tötung von ζῷα σύνεργα sei alles eher als fromm, von einem Empfinden also, dass Theophrast persönlich in sich trug, das vielleicht einige seiner Zeitgenossen teilten, das jedoch nicht alt war, sondern neu. In den folgenden Jahrhunderten traten im griechischen Kulturraum und nicht zuletzt unter den geistig führenden Römern, die innerlich in die hellenistische Kultur hineinwuchsen, immer wieder Männer auf, welche dieses Empfinden ebenfalls in sich verspürten und sich von jenem Bild der Vorzeit angesprochen fühlten, das Schriftsteller wie Empedokles, Xenokrates und Theophrast entworfen hatten. Dies ist gewissermaßen der innere Grund für die reiche Entfaltung der Tradition, mit der wir uns hier auseinanderzusetzen haben. Es ist noch nicht lange her, dass einzelne Forscher über das Geschichtsbild jener antiken Autoren hinausgekommen sind. Doch selbst heute noch scheint die Gefahr gegeben, dass man auf einer anderen Ebene erneut der gleichen Versuchung erliegt wie Hellanikos bzw. sein Gewährsmann und Theophrast, indem man Ideen wie die der ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ und des Respekts vor einer höheren Macht, die über dem Leben waltet, in die ethnologischen Parallelfälle und damit letztlich in die griechischen Rituale hineininterpretiert. Es schien wesentlich, die sachlichen und methodischen Bedenken dagegen vorzutragen, weil die Idealisierung früher Entwicklungsphasen nur den Weg zu einer gerechten Wertung späterer Kulturperioden und jener Männer, welche die Entwicklung in diesen Epochen vorangetrieben haben, wie zum Beispiel Theophrast in der Antike und Albert Schweitzer in der Neuzeit, versperrt.
Erstveröffentlichung in:
Franz Hampl/Ingomar Weiler, Kritische und vergleichende Studien zur Alten Geschichte und Universalgeschichte (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft Bd. 18), Innsbruck 1974.
197 Vgl. oben S. 189.
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Exkurs: Tiere kennen und die Tierwelt erklären – Leistungen und Irrwege der alten Kulturen Wie hängt unser Weltbild von den Tieren ab? Als Althistoriker, der kulturvergleichend zu denken gelernt hat, stellt sich mir unter dieser Überschrift zunächst eine Vorfrage: Durch welche Faktoren wird das Weltbild eines Menschen – als Einzelperson gesehen oder als idealtypischer Vertreter seiner Kultur – generell bestimmt?1 Die wichtigsten Elemente erscheinen hier einigermaßen evident: Zunächst einmal hängt das Weltbild des Menschen naturgemäß davon ab, welche Informationen für ihn prinzipiell zugänglich sind, sei es durch direkte Erfahrung, sei es durch sprachliche Mitteilung. Es gibt dabei Grenzen räumlicher beziehungsweise geografischer Art; andere liegen in den überschaubaren Zeitdimensionen und in den Größenordnungen des Erkennbaren. Man könnte das den Informationshorizont des Betreffenden nennen. Zum Zweiten kommt es darauf an, welche dieser Informationen die Aufmerksamkeit eines Menschen selektiert, weil sie ihm für seine physische und mentale Existenz wesentlich erscheinen. Und drittens ist es von Belang, welche Erklärungsmuster er anwendet, um die Kenntnisse und Erfahrungen, die in seinem Bewusstsein präsent sind, zu ordnen und zu verstehen. Es liegt auf der Hand, dass sich die genannten Faktoren in den verschiedenen Phasen der Menschheitsgeschichte sehr unterschiedlich gestaltet haben. Dies geschah insbesondere in Abhängigkeit von den historischen Existenzformen der Menschheit. Orientiert man sich daran, auf welcher Grundlage eine Gesellschaft die Grundbedürfnisse ihrer
1
Dieser Beitrag bringt ausgewählte Fakten und Überlegungen aus meinem Buch: Tiere im Leben der Alten Kulturen, Wien/Köln/Weimar 2000; darüber hinaus geht er in konzentrierter Form auf die Fragestellungen der Tagung ein. Zusätzliche Literaturangaben im genannten Buch. Anmerkung der Herausgeberin: Dieses Buch meines Mannes wurde im Jahr 2013 erneut herausgegeben: Günther LORENZ, Tiere im Leben der Alten Kulturen. Schriftlose Kulturen, Alter Orient, Ägypten, Griechenland und Rom, Innsbruck, ²2013 (
[email protected] (Verlag) oder amazon).
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Mitglieder sichert, so ergeben sich, von feineren Unterschieden einmal abgesehen, die folgenden Hauptstufen: • das Wildbeutertum, • die Kulturen der schriftlosen Bauern und Viehzüchter sowie • die primären und sekundären Schriftkulturen. Mit der Industrialisierung ist die Menschheit neuerlich in eine stark veränderte Existenzform eingetreten. Neben allen anderen Elementen hat sich auch der Platz und die Rolle der Tiere im Weltbild des Menschen im Zusammenhang mit diesen grundlegenden Kulturstufen verändert. Wegen der Kürze der Zeit möchte ich diese Veränderung hier nur exemplarisch durch einige Beispiele illustrieren. Der erste Teil meiner Ausführungen steht dabei unter dem Motto: ‚Tiere kennen‘ – damit soll das Wissen über die Vielfalt der Arten, über tierisches Verhalten und Lebensvorgänge in der Tierwelt angesprochen werden. Zum zweiten Teil unter dem Titel ‚Tiere erklären‘ ist zu bedenken, dass die Menschen im Zusammenhang mit Tieren unendlich vielfältige Fragen stellen können. Wieder möchte ich nur eine davon herausgreifen: Wie steht es um die Interpretation tierischen Verhaltens? Ist es grundsätzlich gleich oder anders als beim Menschen aufzufassen?
1. Tiere kennen Wildbeuter, die noch in der jüngsten Vergangenheit gelebt haben, und analog wohl auch jene der prähistorischen Epoche, mussten Tierarten, die in ihrer Umgebung lebten, unterscheiden und konnten das auch. Wie differenziert diese Kenntnisse waren, hat eine Untersuchung auf Neuguinea in den Sechzigerjahren gezeigt. Demnach haben die dortigen Eingeborenen 136 Spezies in ihrer Umgebung namentlich unterschieden und blieben damit in nichts hinter dort arbeitenden Zoologen zurück, die bei der wissenschaftlichen Erfassung der Fauna auf 137 Arten kamen. Über die bloße Unterscheidung von Arten hinaus sammeln Wildbeuter im Umfeld ihres Lagers und speziell auf der Jagd Erfahrungen, die analog schon für die Altsteinzeit vorauszusetzen und durch Indizien bestätigt sind: So lernen sie zum Beispiel, mit dem 228
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Jagdspeer auf das Herz des Beutetieres zu zielen, und sie können einschätzen, welche Verhaltensweisen in bestimmten Situationen zu erwarten sind. Es gilt, bei der Pirsch auf die Windrichtung zu achten, das Fluchtverhalten vorauszusehen und den Herdentrieb zu nutzen. Besonders wichtig ist es, die Flucht- oder Angriffsdistanz der einzelnen Tiere zu kennen, zumal die Schussweite der Wildbeuterwaffen gering ist. Die Fähigkeiten der Jägerstämme zur Spurensuche sind legendär, auch für die Anlage von Fallen und Hinterhalten muss man Wildwechsel beobachten. Über all dies tauscht man sich untereinander aus, und so unterhalten sich rezente Wildbeuter im Lager sehr ausführlich über all diese Aspekte von Fauna und Jagd.2 In den primären Schriftkulturen, also solchen, die die Kunst des Schreibens und Lesens ohne äußeres Vorbild selbst entwickelt haben, wurden darüber hinaus neuartige Formen oder Kategorien des Wissens über Tiere möglich. Ein besonders schönes Beispiel dafür stammt aus Ägypten, und zwar schon aus der Phase des Alten Reiches: Nahe beim unterägyptischen Memphis, im Sonnenheiligtum des Königs Ni-user-Re zu Abusir (Abu Gurob) aus der fünften Dynastie (um 2425 v. Chr.), fanden Archäologen die sogenannte ‚Weltenkammer‘, in der die vom Sonnengott gesetzte Ordnung der Natur dargestellt war. Die Wände dieses Raumes bedeckten Repräsentationen der Jahreszeiten, des Nillaufs und der einzelnen Gaue Ägyptens mit ihrer Tierwelt. In das Bildprogramm wurden unter anderem die Wanderungen der Zugvögel einbezogen, unter denen etwa der Kiebitz, die Seeschwalbe und der Pirol beziehungsweise die Goldamsel zu identifizieren sind.3 Die Jahreszeiten kennzeichnete der Künstler durch Paarung und Wurf von fünfzehn verschiedenen Wildtieren – vom Leoparden bis zum scheuen Zorilla oder Bandiltis. So eindrucksvoll dies alles sein mag, so handelt es sich freilich durchaus um Kenntnisse, die auch in schriftlosen Kulturen geläufig waren. Bei einem weiteren Themenkomplex der ‚Weltenkammer‘ (Abb.1) hingegen kommen die neuen Wissensmöglichkeiten zum Tragen, die sich nur in der Schriftkultur und im großen Flächenstaat eröffneten, der seinerseits auch nur mit Hilfe der Schrift zu verwalten und insofern fest mit ihr korreliert war. Es handelt sich dabei um die Beobachtung weiträumiger Fischwanderungen: Am klarsten nachzuvollziehen ist der Fall der Meeräsche oder Seebarbe. Sie tritt in zwei ge2 3
Laughlin, 1968, S. 308 und 314. Edel 1961 (Teil I) Nr. 8, 220-239; 1963 (Teil II) Nr. 4 und 5, 92-111, bes. die Zusammenfassung 105-111; Charakterisierung der Jahreszeiten S. 163-192.
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ringfügig verschiedenen Arten auf, die von den Ägyptern des Alten Reiches terminologisch bereits streng geschieden wurden: Die dünnlippige Meeräsche, Mugil capito, ägyptisch hb3 (Aussprache etwa heba), später brj (Aussprache etwa beri), und die großköpfige Meeräsche, Mugil cephalus, ägyptisch hskmt (Aussprache etwa heskemet) zogen in der Zeit zwischen Jänner und Juni aus den sumpfigen Uferzonen des Deltas nach Assuan und Elephantine. Dort trafen sie ungefähr zur Zeit der Nilschwelle ein und wanderten dann im Herbst wieder zurück. In der ‚Weltenkammer‘ buchte man das in Gestalt einer Darstellung von südwärts strömenden Fischschwärmen mit der Beischrift: „Das Kommen und Eintreten des hskmt-Mugils und des hb3-Mugils (aus der) Westhälfte (des Deltas) nach Elephantine zu den Zelten des Kugelfisches
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(Tedrodon fahaqa).“ Die Wege aus der Osthälfte des Deltas und die Rückwanderung der Fische wurden ganz analog dokumentiert.4 Die Voraussetzung für eine solche Darstellung ist nicht mehr oder weniger als die organisierte Verknüpfung von präzisen Informationen über einen geografischen Raum mit einer Längserstreckung von rund tausend Kilometern! Damit ist eine Wissensdimension erschlossen, die einer schriftlosen Kultur so nicht zugänglich ist. Man hat in Ägypten auch besondere Fortpflanzungsweisen, etwa bei Fischen und Lurchen, einerseits erstaunlich gut beobachtet, andererseits waren manche Abläufe doch nicht im Detail erfassbar und verständlich. Einen Fall dieser Art bildeten die Buntbarsche (zoologisch: Tilapia), die im Nil lebten. Man hat es sogar bildlich festgehalten, dass die Art Tilapia zilii ihre Eier zu einer Kugel verklebt. Während dieser Fisch die ‚Eierkugel‘ mit den Flossen fächelnd beschützt, nehmen die Weibchen der Spezies Tilapia nilotica und Tilapia galilaea Eier und Sperma ins Maul; daraus schlüpfen schließlich die Jungtiere. So konnte der Eindruck einer ungeschlechtlichen Zeugung und Selbsterneuerung entstehen, und die Ägyptologin Ingrid Gamer-Wallert vermutet wohl zu Recht, dass Tilapia eben deshalb eine Rolle im Jenseitsglauben gespielt hat: Sie begleitet, Texten und Abbildungen zufolge, die Barke des Sonnengottes, später jene des Totengottes Sokaris auf ihrer Fahrt, und verkörpert so die Verheißung der Erneuerung im Jenseits. Diese mythische Vorstellung bildet ihrerseits den Hintergrund dafür, dass den Verstorbenen seit dem Neuen Reich Buntbarsche in Gestalt von flachen Schalen mitgegeben wurden; sie figurieren darüber hinaus auch auf Sarkophagen der Spätzeit. Eine ähnliche Gedankenverbindung zwischen merkwürdiger Vermehrung und religiösem Weltbild ergab sich beim Frosch. Sobald das Nilwasser nach der alljährlichen großen Überschwemmung zurückwich, saßen die Tiere zu Tausenden auf dem Schlamm. Dies inspirierte die Vorstellung, sie entstünden direkt daraus – in gleicher Weise wie die Urgötter, von denen der Mythos erzählte.5
4 5
Edel (Teil II), 128 Abb. 5 und 133 Abb.5a (Südwanderung); (Teil I), 216f. Abb.3 (Nordwanderung); vgl. GamerWallert 1970, 14.39-42.52 (mit Literatur); Boessneck 1988, 121. Gamer-Wallert 1970, 123-127 mit Abb. 23 (Tilapia mit Kugel auf Stelenfragment der 12. Dyn. aus Abydos) sowie Tafel XIII, 3 (Tilapia auf dem Sarkophag des Psusennes, 21. Dyn.) und weiteren Nachweisen sowie Literatur. – Tilapien, denen Lotusblumen aus dem Maul wachsen, erscheinen auf Skarabäen und verdoppeln oder verdreifachen gewissermaßen die Lebenssymbolik. Zum Frosch, insbesondere als Auferstehungssymbol, siehe auch Kákosy, Lászlo, in: Lexikon der Ägyptologie Bd. II, S. 335, unter dem Stichwort ‚Frosch‘.
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Der zoologische Wissensstand der griechisch-römischen Antike ist vor allem im Werk des großen Aristoteles repräsentiert. Er nennt in seinen Schriften etwa 550 Tierarten. Diese Zahl wurde durch planmäßige Erforschung vor allem der Meeresfauna – unter anderem hat Aristoteles die Fänge und Berichte der Fischer und Schwammtaucher der Ägäisinsel Lesbos ausgewertet – und durch Benutzung schriftlicher Quellen möglich. Auf den Gelehrten aus Stageira auf der Chalkidike gehen gute anatomische Beschreibungen wie jene der Mundpartien des Seeigels (noch heute ‚Laterne des Aristoteles‘ genannt) und Beobachtungen wie jene zur Regeneration verletzter Gliedmaßen bei Eidechsen zurück. Daneben stehen gute Verhaltensbeobachtungen: Fischwanderungen von kalten in wärmere Gewässer, die Brutpflege durch den männlichen (!) Katzenwels, der Vogelzug in den Süden oder der Winterschlaf der Bären werden dem Leser des Aristoteles vorgestellt.6 Man erfährt auch, dass der Hund Gras frisst, um zu erbrechen; anderen Partien zufolge kann der Specht eine Mandel in einen Baumspalt stecken, um sie dann mit dem Schnabel zu öffnen; das Steinhuhn läuft manchmal unbeholfen hin und her, um eine Verletzung vorzutäuschen und so den Feind von seinen Küken wegzulocken; Delphine versuchen verletzte Jungtiere an der Wasseroberfläche zu halten. All dies trifft auch nach heutigem Wissensstand zu.7 Eine besondere Leistung des Aristoteles liegt in der neuartigen Systematisierung der Tierwelt nach physiologischen und anatomischen Kriterien. So fasst er die Gesamtheit der Tiere zunächst in zwei große Reiche zusammen: Einerseits ‚Blutführende‘ und andererseits ‚Blutlose‘ (im Griechischen énaima versus ánaima, fast ein Wortspiel). Zur erstgenannten Großgruppe zählt er neben dem Menschen auch die Lebendgebärenden und die Eierlegenden sowie die Wale (!), zu denen auch die Delphine gerechnet werden.8 Die zweite Gruppe deckt sich nach moderner Begrifflichkeit ungefähr mit den Wirbellosen und umfasst Weichtiere, Krebse, Schaltiere und Insekten. 6
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Seeigel: Aristoteles, Historia animalium (Tierkunde) IV, 5, 530B, vgl. Aristoteles, de partibus animalium (Über die Körperteile der Tiere) IV, 94; Eidechsen (Schwanz): hist. an. II, 17, 508B 7; Fischwanderungen: hist. an. VIII, 13, 597B 32ff; Katzenwels: hist.an. IX, 37, 621A, vgl. VI, 14, 569A; Zugvögel: (u. a. Kraniche, Pelikane): hist. an. VIII, 12, 596B 20ff; Bären: hist. an. VIII, 17, 599B 29ff (einschließlich der Beobachtung, dass Bärinnen die Jungen bei sich haben). Hund: hist. an. IX, 6, 612A 8; Specht: hist. an. IX, 614A 34ff., bes. B 17; Steinhuhn (Perdix): hist.an. IX, 87, 613B 6ff; Delphine: hist. an. IX, 48, 631 AB. Zu Walen und Delphinen als atmend und lebendgebährend (zootókos): hist. an. I, 5, 489AB; III, 68, 669A; part. an. II, 37, 655.
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Die Grenzen und Schwächen der aristotelischen Zoologie sind einerseits Grenzen der Beobachtung – so war man ohne Lupe und Mikroskop auf den Augenschein angewiesen –, andererseits ergeben sie sich wohl daraus, dass der Philosoph einfach fremde Angaben und Berichte übernommen hat: Vielleicht weiß er etwas vom ‚Tanz der Bienen‘; er kennt zwar die Drohnen, hält sie aber für ‚Könige‘, er kennt die Arbeiterbienen, aber nicht die Königin.9 Damit sind wir bei der Frage nach der Fortpflanzung der Insekten, der Schaltiere und der Fische: Aristoteles weiß nichts von den Insekteneiern und hält die Puppen irrtümlich für Eier. Umso leichter kann er die Meinung vertreten, Fliegen, Moskitos und Bremsen entstünden direkt aus Unrat und Läuse bildeten sich direkt aus den Fellen, in denen sie leben. Bei den Fischen fällt eines auf: Ausgerechnet jene Arten, die in Ägypten mehr oder weniger generell unter Tabu standen, sollen abnormale Zeugungsmuster aufweisen. Vermutlich erliegt der Gelehrte aus Stageira hier der Faszination ägyptischer Informationen, obwohl er sich im Fall der Meeräsche merklich sträubt.10 Eine ganz besondere Kategorie von Kenntnissen erwarben sich jene Forscher der klassischen Antike, die aus medizinischem Interesse und ausgehend von der hippokratischen Säftelehre die Vorgänge im Körperinneren aufklären wollten. Sie drangen zum physiologischen Geschehen in tierischen Organismen mit einer besonders aggressiven Methode vor: durch Tierexperiment und Vivisektion! Galenos von Pergamon (129 – ca. 216 n. Chr.), zeitweise Leibarzt des Kaisers Marc Aurel, verfasste dazu ein eigenes Buch ‚De vivorum dissectione‘. Es ist für uns verloren, doch auch im übrigen überlieferten Werk finden sich ausführliche Belege für seine Tätigkeit auf diesem Gebiet. Galen führte seine Versuche ärztlichen Kollegen, Philosophen und Schülern, aber auch vor einem neugierigen Publikum in der Öffentlichkeit vor.11 Er bevorzugte als Experimentator das Schwein, doch nennt er unter anderem auch Affen und
9 Aristoteles, de generatione animalium (Über die Fortpflanzung der Tiere) III, 92. 10 Aristoteles, hist. an. III, 10, 517B 2ff. (Meer-Aal und Muräne haben kein bröckeliges Ei, der Aal gar keines); V, 15 546B 20ff. (Purpurschnecken und Einsiedlerkrebse); VI, 15, 569A 10ff. (eine Art der Meeräsche in Knidos, aber nicht alle Tiere dieser Art; ‚Schaumfisch‘); VI, 16, 570A 3 (Aale); VIII, 2, 591B (Mugil/Meeräsche lebt vom eigenen Saft und wird immer mit leerem Magen gefunden); gen. an. I, 1, 715B; II, 1, 733B; III, 11, 762A ff. (Mugil bzw. Meeeräsche, Aal). 11 Galen, de anatomicis administrationibus (Über anatomische Verrichtungen) I, 1, p.1 Singer = II, 215K; Brief an Epigenes, XIV, 627f.K.
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Tiere kennen und die Tierwelt erklären – Leistungen und Irrwege der alten Kulturen
eine trächtige Ziege. Er riet möglichen Kollegen und Nachfolgern zu Tieren, die keine allzu großen Messer nötig machten.12 Galens Studien erstreckten sich insbesondere auf das Verdauungssystem, Atmung, Blutgefäße und Nervenfunktionen. So beobachtete er, dass der Darm stets Peristaltik zeigt, während ein gefüllter Magen prall und reglos wirkt, bis nach einer gewissen Verweildauer der Nahrung der Magenpförtner (Pylorus) aktiv wird; der Funktionsverteilung zwischen Niere und Blase ging er nach, indem er wechselweise Harnleiter und Harnröhre abband. Im Gegensatz zu älteren Lehrmeinungen trachtete er ferner nachzuweisen, dass sich auch in den Arterien Blut befindet, indem er eine solche Ader abband und den Abschnitt dazwischen öffnete. Anordnung und Funktion der Nerven verfolgte er mit Hilfe von Rückenmarksschnitten und schließlich entdeckte er einen Nervenstrang mit einigermaßen gewundenen Verlauf: Der Nervus laryngeus recurrens tritt zwischen dem letzten Hals- und dem ersten Brustwirbel aus der Wirbelsäule aus und verläuft über den Brustraum zum Kehlkopf – damit war für Galen bewiesen, dass das Gehirn auch die Stimme kontrolliert und nicht, wie damals teilweise noch behauptet, das Herz. Bei seinen Ausführungen über die Lungenfunktion, die er anhand von Schnitten durch die Zwischenrippenmuskulatur, Rippen und Lungenfell prüfte, lässt der Pergamenier mit einer trockenen und beiläufigen Bemerkung das Grauenvolle der ganzen Szenerie lebendig werden: „Am besten ist die Operation an einem Schwein zu praktizieren, weil das Tier mit dem lautesten Schrei am besten für Versuche geeignet ist, bei denen die Stimme betroffen ist.“ 13 Nach seinem eigenen Zeugnis hat Galenos seine dramatischen öffentlichen Vivisektionen im Jahre 163 n. Chr. aufgegeben. All dies ist Ergebnis eines Erkenntnisinteresses und eines methodischen Denkens, das in seinen positiven wie negativen Aspekten geradezu bestürzend modern wirkt.
12 Galen, anat. admin. VII, 12, p.190 Singer = II, 627K.; VIII, 8, p.219 Singer = II, 691K.; 17B 244, vgl. 16, 226. 13 Peristaltik: Galen, de naturalibus facultatibus (Über die natürlichen Funktionen) III, 4, 157; Niere/Blase: nat. fac. I, 13 Brock = II, 36f K.; III, 4 = II, 155 K., III, 8 = II; 175 K.; Arterien: Galen, an in arteriis sanguis (Ob in den Arterien Blut ist) IV, 724 K.; N. Laryngeus: de usu partium (Über den Gebrauch der Körperteile) I, 412-415; Stimme des Schweins: anat. admin. VII, 12, p.190 Singer = XIV, 627 K.
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Tiere kennen und die Tierwelt erklären – Leistungen und Irrwege der alten Kulturen
2. Tiere erklären – ihr Verhalten interpretieren Im Umgang mit anderen Menschen und mit Tieren zeigen und verspüren wir wohl alle die Neigung, über die existentiell wichtige unmittelbare Verhaltensprognose hinaus auch die Reaktionen unseres Gegenübers genereller zu interpretieren: Wir vermuten in ihm Absichten, Überlegungen und Motive, Stimmungen und Emotionen. Im Moment des Erlebens erfassen wir dabei viel quasi instinktiv und spontan zugleich mit Wahrnehmung von Körpersignalen und Körpersprache, aber auch in der rückblickenden, abwägenden und planenden Reflexion bilden wir uns unsere Vorstellung vom Partner in Analogie zum eigenen Innenleben. Der Verfasser vertritt nun folgende These: Das eben beschriebene Wahrnehmungs- und Denkmuster hat die Interpretation tierischen Verhaltens in ihren historischen Ursprüngen bestimmt. Spontan sah der Mensch die Tiere analog zu sich selbst – er schrieb ihnen dieselben Emotionen, ähnliche intellektuelle Möglichkeiten und sogar gleichartige soziale Verhältnisse zu wie seinesgleichen: Diese Sichtweise möchte ich mit dem Adjektiv anthropothym charakterisieren, weil der inhaltlich verwandte eingeführte Terminus ‚anthropomorph‘ einen sachlich unpassenden Bezug zur äußeren, körperlichen Gestalt (griechisch morphé) enthält, die in diesem Zusammenhang keine Rolle spielt. Das griechische Wort thymós hingegen zielt auf die geistig-seelischen Reaktionen eines Lebewesens auf seine Umwelt, und zwar mit einem besonderen Akzent auf der Emotion. Im Übrigen begründet die anthropothyme Wahrnehmung des Tieres keineswegs per se so etwas wie Verehrung oder Scheu vor der Kreatur, denn die einzelnen Tiere werden eben innerhalb dieses Denkmusters in manchen Situationen als unterlegen, in anderen als überlegen eingeschätzt. Besonders sinnfällig äußert sich die beschriebene Einstellung des frühen Menschen gegenüber dem Tier in einem Phänomen, das in zahlreichen frühen Kulturen nachweisbar ist: in der Tierstrafe, verhängt für unliebsames Verhalten, wobei der Vergeltungs- und Abschreckungsgedanke unter anderem durch die Anwendung des Prinzips ‚Aug‘ um
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Aug‘, ‚Zahn um Zahn‘, welches man in der Rechtsgeschichte auch als Talionsprinzip bezeichnet, deutlich wird.14 Nach dem Übergang zu Viehzucht und Ackerbau hat man freilich die Tiere, die man nun als Schlacht- und Arbeitstiere nutzte, vermehrt als lenkbare und unterlegene Wesen erlebt. Dies ist wohl der Hintergrund dafür, dass man vermutlich schon seit dem Neolithikum, besonders aber in den Jahrtausenden der alten Schriftkulturen zu anderen Einschätzungen und Handlungsmustern gelangte. So lässt sich unter anderem feststellen, dass im alten Sumer und Babylon die Tierstrafe aus den Rechtsgrundsätzen verschwand. In den sekundären Schriftkulturen der Hethiter und der Israeliten, die erst relativ spät in die Welt des agrarischen Alten Orients hineingewachsen sind, ist dieses Rechtsphänomen hingegen noch relikthaft vorhanden, in der iranischen Überlieferung sogar sehr ausgeprägt.15 Eine ausdrückliche Differenzierung zwischen dem Menschen auf der einen Seite und der pauschal unter einem Begriff zusammengefassten Tierwelt auf der anderen – das blieb freilich griechischen Denkern vorbehalten. Die Trennlinie, deren Nachwirkung geistesgeschichtlich bis in die Gegenwart reicht, lautet dabei im Endeffekt: Moral und Vernunft versus Instinkt. Wie das stets in der Geschichte solcher Konzepte zu sein pflegt, haben auch in diesem Fall mehrere Autoren daran mitgewirkt. Die Reihe beginnt mit dem Dichter und ‚Theologen‘ Hesiod. Es ist bezeichnend für die Denkweise und die Hauptthemen des 7. Jahrhunderts v. Chr., in dem seine Werke entstanden sind, dass die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier zunächst im Bereich der Moral und Sozialordnung gesucht wird, und nicht etwa im Bereich des kognitiven Vermögens. Dies zeigen etwa folgende Verse aus Hesiods ‚Werken und Tagen‘: „Höre immer aufs Recht, und niemals übe Gewalttat, Denn ein solches Gebot erteilte Kronion den Menschen: Bestien zwar und Fische und flügelspannende Vögel Sollten einander verschlingen, denn sie ermangeln des Rechtes, Aber den Menschen verlieh er das Recht, das bei weitem der Güter bestes.“ 16 14 Vgl. dazu auch Lorenz (2000, 118-123 ( 22013, 130-135). 15 Beispiele und Belege bei Lorenz (2000, 134-140 ( 22013, 145-151). 16 Hesiod, Erga 275-280, Übersetzung von Thassilo von Scheffer.
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Der soziokulturelle Hintergrund kann hier nur angedeutet werden: Es handelte sich um eine Epoche rascher sozialer Veränderungen, in der bei Absenz herrscherlicher und priesterlicher Autoritäten tragfähige Begründungen für Normen des Zusammenlebens gesucht wurden. Um 500 v. Chr. verschob sich dann der Akzent von der Moral auf den Bereich des Intellektuellen, der Erkenntnis- und Verstehensmöglichkeiten. So schrieb um diese Zeit Alkmaion von Kroton: „Der Mensch unterscheidet sich von den übrigen Lebewesen dadurch, dass er allein begreift, während die übrigen zwar wahrnehmen, aber nicht begreifen.“ 17 Im fünften Jahrhundert führte dann Protagoras in der Schrift ‚Über den Urzustand‘, die aus Platons Dialogen zu rekonstruieren ist, Folgendes aus: Mensch und Tier bestehen zwar aus den gleichen Elementen, aber der Mensch ist durch den göttlichen Vorzug der Vernunft ausgezeichnet, das Tier jedoch ein álogon.18 Álogon – dieses griechische Wort besagt in seiner Grundbedeutung zunächst bloß ‚ohne Sprache, nicht sprechend‘, doch im Wortgebrauch der sogenannten Vorsokratiker erlangte die Vokabel lógos (‚Wort‘, ‚Rede‘) mehr und mehr die Bedeutung ‚Vernunft‘, und damit erschien ein álogon auch als ‚vernunftlos‘.19 Damit verbunden war auch die Ansicht, ein solches Wesen sei auch ohne politiké téchne, ohne politisches Denk- und Handlungsvermögen.20 Auf diese Weise wurden hier essentielle Merkmale des Menschen, nämlich Sozialordnung und Intellekt, miteinander verbunden. Auch Platon war der Terminus álogon als Synonym für ‚Tier‘ durchaus geläufig.21 Aristoteles hingegen äußerte sich um einiges differenzierter. Ein Satz seiner ‚Tierkunde‘ lautet: „Der Mensch allein kann etwas mit Überlegung wollen … und er allein kann sich (willentlich) auf Vergangenes besinnen22“. In der zweiten Formulierung liegt eine strenge Unterscheidung zwischen der Erinnerung (mnéme), die – nach moderner Terminologie – assoziativ bei wiederkehrenden Erlebnissen geweckt wird, und dem intentionalen Sich-Erinnern (anamimnéskesthai), eine Unterscheidung, die schon von Platon im Dialog ‚Philebos'‘durchgeführt 17 Fragment A 5 = b 1 a Diels-Kranz = Theophrast, de sensibus (Über die Sinne) 25. 18 Platon, Protagoras 321 B; vgl. Nestle 1942 (1975), 282ff. 19 Für lógos = ‚Vernunft‘ vgl. die Stellennachweise bei Diels-Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker III (Wortindex), 121967, 260f. Vgl. die Hinweise von Cartmill 1993, 242f., auf die Versuche der Fünfziger- und Sechzigerjahre des 20. Jhdts., symbolisches Verhalten und Sprache als unübersteigliche Trennlinie zwischen Mensch und Tier zu postulieren (Leslie White, Noam Chomsky). Cartmill sieht die Abwehr von Rassismus, der Teile der Menschheit dem Gorilla nahestehend sehen wollte, als Motiv. 20 Platon, Protagoras 322 AB. 21 Vgl. das bereits zitierte Referat über Protagoras Prot. 321 B, aber auch Platon, Über den Staat, IX, 591 C. 22 Aristoteles, Historia animalium (Tierkunde) I, 1488 B 24f.
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wurde. An der mnéme haben nun nach Aristoteles auch viele Tiere Anteil, nicht aber an der intentionalen Rückbesinnung.23 Versuchen wir dies zu konkretisieren: Ein Pferd, das mit seinem Reiter eine bestimmte Route galoppiert ist, kann sich, wenn es nach Aristoteles geht, an diese zwar erinnern, wenn es wieder dorthin geleitet wird. Aber es kann sie nicht willentlich in der Erinnerung durchgehen, während es im Stall steht! Es ist klar, dass diese Behauptung – jedenfalls bislang – die Grenzen des Prüfbaren überschreitet. In einer weiteren Schrift, nämlich jener ‚Über die Seele‘, hat Aristoteles Folgendes behauptet: Den Tieren geht Denken und Schließen ab, dementsprechend lebt auch nur der Mensch in Hoffnung und Erwartung des Künftigen. Ganz gewiss nicht aus genauer Beobachtung, sondern aus eben diesem theoretischen Postulat, folgt eine Aussage des Mannes aus Stageira, die sehr ins Konkrete geht: Es soll nämlich aus dem genannten Grund bei den Tieren kein ängstliches oder freudiges Herzklopfen geben.24 Die nächsten Gedankenschritte zum Thema der Differenz zwischen menschlichem und tierischem Verhalten setzte die Philosophenschule der Stoa. Auf der Suche nach einer rationalen Begründung sittlicher Normen beschäftigte sie sich mit den Unterschieden zwischen Mensch und Tier, um den Menschen in der Ethik auf den spezifisch menschlichen Teil seiner Natur zu verpflichten – und das war für sie die Vernunft. Die Stoiker sahen den Menschen als von der Vorsehung privilegiertes Wesen. Die – letztlich göttliche – Vorsehung war für sie eine Macht, die die ganze Welt fürsorglich auf den Menschen hingeordnet hat. In diesen Zusammenhang fällt der Terminus ‚Kosmos‘, der ja so viel wie Ordnung bedeutet: Tierpsychologie wird in diesem philosophischen Kontext sehr wichtig und dient letztlich der Stützung eines Weltbildes, das den Menschen mit besonderem Nachdruck in den Mittelpunkt stellt. Vor diesem Hintergrund entdeckten die Stoiker jene natürliche Verhaltenssteuerung, die wir – mit einem lateinischen Ausdruck, der in dieser Spezialbedeutung erst im Mittelalter geprägt wurde – ‚Instinkt‘ nennen. Sie benannten auch schon die wesentlichen Kriterien, die heute noch als Charakteristik von Instinkthandlungen gelten: Es geht um zweckmäßiges Verhalten, das spontan, vor jedweder Belehrung und Erfahrung, auftritt, dessen Zweckhaftigkeit aber auch dadurch Grenzen gesetzt sind, dass sie stets gleich
23 Vgl. dazu auch Aristoteles, Metaphysik I, 1, 980 B. 24 Aristoteles, de anima III, 10, 43 A 10f. in Verbindung mit part. an. III, 6, 669 A 19.
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artig, stereotyp abläuft. Die Zeugnisse und konkreten Beispiele dafür finden sich vor allem in den Schriften von Cicero, Seneca und Hierokles aus Alexandria, einem weniger bekannten Autor des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts, der ein Buch unter dem Titel ‚Ethische Grundlegung‘ herausgebracht und damit eine popularisierte Stoa im gebildeten Publikum verbreitet hat. So geht es Cicero in seinem Werk ‚Über die Natur der Götter‘ unter anderem um den Nachweis der göttlichen Umsicht und Fürsorge. Sie hat auch den Tieren entsprechende Verhaltensmuster eingegeben: Lässt man Enteneier von Hühnern ausbrüten, so verlassen die kleinen Entchen sogleich ihre Pflegemutter, sobald sie Wasser erblicken, steigen hinein und schwimmen davon. Schildkröten und Krokodile vergraben ihre Eier, und die Jungen, die daraus schlüpfen, werden durch sich selbst geboren und erzogen. Belehrung spielt also im Werdegang dieser Jungtiere keine Rolle.25 All dies sind wichtige Beobachtungen und Überlegungen, die sich noch nicht bei Aristoteles finden. Cicero hat sie am ehesten von Poseidonios, dem Universalgelehrten aus dem syrischen Apameia, oder von einem anderen Stoiker. Seneca schlug in seinem 121. Brief in die gleiche Kerbe: Von Geburt an, so meint er, bewegen sich die Tiere sehr geschickt. Die Natur ist dabei ihre Lehrmeisterin; auch erkennen sie ohne jede Belehrung, was für sie gefährlich ist. Freilich, anhand der Spinnennetze und der Bienenwaben fällt dem römischen Stoiker auch die Stereotypie und permanente Gleichartigkeit dieser Leistungen ins Auge.26 Hierokles schließlich bewundert die sinnvolle Kampfesweise der Tiere, die nicht nur ihre eigenen Stärken und Schwächen, sondern auch jene ihrer Gegner spontan erfassen. Von Natur aus fürchten sich die Küken nicht vor dem Stier, wohl aber vor dem Wiesel und dem Habicht.27 Noch einmal sei es unterstrichen: Es handelt sich um eine große Entdeckung und um eine bedeutende naturwissenschaftliche Leistung! Zugleich freilich stehen wir vor einem Musterfall für den Einfluss des Erkennnisinteresses auf das wissenschaftliche Denken: Für ein eventuelles Lernvermögen der Tiere und für dessen methodisch sauberen Nachweis haben sich die Stoiker nämlich nicht interessiert. Auch der Kontrollfrage zu ihrer Beschreibung der Tiere als Instinktwesen, der Frage nämlich, ob etwa auch beim Menschen Instinkthaftes vorhanden sei, sind sie nicht
25 Cicero, de natura deorum (Über die Natur der Götter) 2, 124 und 129. 26 Seneca, Briefe, 121, 5. 19. 21. 23; vgl. Dierauer 1977, 208-210, 214, 216. 27 Hierokles 3, 19-52; vgl. Dierauer 1977, 208f.
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nachgegangen, obwohl es bei Cicero durchaus ein schönes Beispiel gibt. Ebenfalls in ‚De natura deorum‘ führt er aus: Kinder suchen die Mutterbrust ohne einen Lehrmeister und nur durch die Natur geführt (sine magistro duce natura). Freilich hat eine ganze Reihe von Denkern und Philosophen in der Antike eine Gegenposition zu den Stoikern eingenommen: Die Tiere – oder zumindest viele von ihnen – seien sehr wohl intelligent und charaktervoll – ja vielleicht sogar mehr als die Menschen. Auch diese Strömung im altgriechischen Denken hat zunächst mit der ‚Moral‘ der Tiere argumentiert. So meinte Demokrit von Abdera, der zwischen 380 und 370 v. Chr. etwa neunzigjährig verstorben ist: Der Mensch kann von den Tieren noch viel mehr lernen als bloß das Weben und Stopfen, Bauen und Singen: „(Um wie viel weiser als der Mensch ist das Tier), das in seinem Bedürfnis weiß, wie viel es bedarf! Der Mensch dagegen, der etwas bedarf, erkennt das nicht.“ 28 Die Aufwertung der Tiere, die so eingeleitet war, wurde von den Kynikern systematisch fortgesetzt, und in der Dichtung hat man diese Denkmotive gerne aufgenommen. So lautet ein wichtiges Fragment aus einer unbekannten Komödie Menanders, der noch überwiegend dem vierten Jahrhundert v. Chr. angehört: „Alle Tiere sind glücklicher als der Mensch, und alle haben mehr Verstand als der Mensch“.29 Man betrachte zum Beispiel den Esel, obwohl er doch allgemein als unglückliches Wesen gelte: „Was die Natur ihm gegeben, bloß dies besitzt er.“ Wir Menschen aber schaffen uns unsere Sorgen selbst, was halb ernst, halb humoristisch, mit Seitenhieben auf abergläubische Leute belegt wird: Wenn jemand niest, sind wir beunruhigt, wenn uns jemand schmäht, sind wir erzürnt, und wenn eine Eule schreit, fürchten wir uns: „Angst und Aberglaube, Ehrenkodex und Gesetze, alle bloße Zutat zur Natur ist von Übel.“ 30 Das Tiervorbild wird so gleichsam zum Rammbock gegen den Nomos, gegen die Konvention, die Stadtkultur und das Establishment. In der römischen Kaiserzeit wurde die Argumentation, die die Tiere im Gegensatz zu den stoischen Argumenten aufwerten wollte, vor allem von griechischen Schriftstellern fortgeführt: Philon von Alexandrien und Plutarch gingen hier voran; dazu kommt Sextus 28 Fragment B 198 Diels-Kranz (= Stobaios III, 4, 72), ergänzt von Hermann Diels (S. 186, Zeile 6f. mit kritischem Apparat). 29 Menander, Fragment 620 Körte, Zeile 1f. 30 Menander, Fragment 620 Körte, Zeilen 6 und 12f., Übersetzung vom Verfasser; inhaltliche Anregung vielleicht durch Theophrast, Charaktere XVI (daisidaimonía).
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Empiricus, ein Skeptiker, dessen erhaltene Bücher um 180/200 n. Chr. entstanden sind,31 und schließlich Porphyrios (234-304 n. Chr.) mit seiner Abhandlung ‚Über Fleischenthaltung‘ (de abstinentia). Freilich war die Argumentation dieser Männer der stoischen, von einem methodisch strengen Standpunkt aus betrachtet, weithin unterlegen. Während die Stoiker sich tatsächlich auf jederzeit wiederholbare Beobachtungen stützten, überwogen bei ihren Gegnern weithin Erzählungen mythischen, fabelhaften und anekdotischen Charakters oder Interpretationen tierischen Verhaltens im Sinne der anthropothymen Sicht; nur selten finden sich einzelne gute Beobachtungen. Besonders beliebt waren Delphingeschichten, darunter jene von der Rettung des Sängers Arion als eine der ältesten und bekanntesten. Reale Erlebnisse der Seefahrer und Fischer mit den lernfähigen und kontaktfreudigen Meeressäugern, die nach den Erkenntnissen der modernen Verhaltensforschung im Bereich des Möglichen liegen, wurden hier wahrscheinlich mit Legenden unentwirrbar verknüpft.32 Daneben figurierten kluge Vögel, und auch hier spannte sich der Bogen von der Realität bis zur zoologischen Münchhausiade. Insbesondere religiös-magische Rücksichten, aber auch Zauberei traute man diversen Vögeln zu. So erzählte man gegen alle Empirie, dass der Geier dreizehn Eier lege, um mit einem davon das Nest zu ‚entsühnen‘ und es dann wegzuwerfen; die sonst so gierige Weihe stehle nie das Fleisch vom Zeusaltar in Olympia; das Rebhuhnweibchen hingegen treibe Liebesmagie nach Art zauberischer Frauen: Um die Männchen von weiblichen Lockvögeln abzulenken, singe es ein Lied, das klinge wie der Ruf eines aufs Rad geflochtenen Wendehalses. Das alles liest sich, als sei Aristoteles’ Mimikry-Beobachtung am Steinhuhn ins Skurrile übersteigert worden.33 Adler, so hieß es, werfen Schildkröten so auf Steine oder Dachziegel, dass ihr Panzer zerbricht. Das klingt nach Jägerlatein – und doch könnte hier gute Beobachtung vorliegen, denn so wurde es tatsächlich vor kurzem in Nordgriechenland im Rahmen einer Fersehdokumentation gefilmt! In Libyen gab es nach solcher Überlieferung angeblich rechnerisch begabte Tiere: Sie verzehren zehn Teile der Beute und einen elften lassen sie liegen – hier wird ein häufiges Fressverhalten einfach anthropothym und mathematisch interpretiert. Aufgescheuchte
31 Insbes. Pyrrhon. hypotheseis I, 65-72. 32 Vgl. bes. Plutarch, de sollertia animalium (Über die Klugheit der Tiere) 984 A- 985 b. 33 Plinius, naturalis historia (Naturkunde) 10, 19 (Geier); 10, 28 (Weihe); Älian, de natura animalium (Über die Natur der Tiere) 4, 16 (Rebhuhn); diese und einige weitere Beispiele bei Rink 1997, 40, 43, 45.
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Elstern befestigen jeweils zwei Eier an einem Zweig und tragen diesen wie ein Joch anderswohin – Kommentar überflüssig.34 In hellenistisch-römischer Zeit etablierte sich auch eine spezielle Erzählgattung, die eines zeigen wollte: Tiere behandeln sich selbst medizinisch auf höchst intelligente Art und Weise. Unter anderem kennen sie die beliebteste Methode der Humanmediziner, nämlich den Aderlass! So erzählt Plinius, sicher nach einer hellenistischen Quelle, vom Flusspferd: Bei Bedarf sucht es sich am Ufer des Gewässers abgeschnittene Rohrstauden und presst den Körper daran. Dadurch vermag es eine Ader am Bein zu öffnen und erleichtert durch den Blutverlust seinen Körper. Die Nachbehandlung vollführt es dann mit Schlamm.35 Wurde hier eine Zufallsverletzung, nach der das Tier wieder den Morast aufsuchte, rationalisierend beziehungsweise anthropothym interpretiert? Ziegen entlasten sich, wenn man Plinius oder seinem Gewährsmann glaubt, durch gezielte Dornenstiche von jenem schlechten Blut, das ohne diese Therapie eine Augenentzündung hervorrufen würde. Dazu muss man wissen: Bei Augenleiden ordneten die Ärzte der Antike einen Aderlass in der Schläfengegend an, weil sie die dort sichtbaren Blutgefäße als eine Art von Kanal betrachteten, durch den Schadstoffe zu den Sehorganen strömen.36 Im Spannungsfeld dieser konträren Einschätzungen und Interpretationen tierischen Verhaltens hat sich das antike Christentum eindeutig für die stoische Tierpsychologie entschieden: Nicht zufällig findet sich die Zusammenfassung dessen, was die Antike bei der Erfassung des Instinktverhaltens geleistet hat, in jenem Werk des Kirchenschriftstellers Origenes (ca. 185 – 253 n. Chr.), in dem er die literarischen Angriffe des Neuplatonikers und Christengegners Kelsos (Celsus) Punkt für Punkt zu widerlegen sucht. Origenes weist ausdrücklich auf die Lehren der Stoa hin, was für einen antiken Autor und für einen Christen keineswegs selbstverständlich ist, und argumentiert dann gegen Kelsos: Nein, die Tiere handeln nicht aus Überlegung, sondern aus einer „natürlichen Anlage“ heraus. Mit 34 Plinius, nat. hist. 10, 7 und Älian, nat. an. 7, 16: Adler und Schildkröte; vgl. Plinius, nat. hist. 10, 30: Krähen und Nüsse; Älian, nat. an., 3, 20: Möwen und Muscheln; 4, 53: Libyen; Plinius, nat. hist. 10, 98: Elstern. Zum Ganzen: Rink 1997, 59f., dort auch die Erklärung des libyschen Beispiels. 35 Plinius, nat. hist. 8, 40 (96). 36 Plinius, nat. hist. 8, 201; vgl. dazu Herodot IV, 187; (Hippokrates) Über die Stellen am Menschen 13. 39. Dazu und zum gesamten Hintergrund Lorenz 1990, 183f., 186, 200f.
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der Formulierung „eine Art Vorkehrung der Natur“ (paraskeué tis tes phýseos) kommt Origenes dabei dem modernen Instinktbegriff besonders nahe.37 Origenes teilt darüber hinaus den stoischen Anthropozentrismus und betont mit großer Prägnanz: Die diversen Naturerscheinungen sind nicht in gleicher Weise für Mensch und Tier geschaffen. Vielmehr kommen den Tieren gleichsam „nebenbei“ und durch den großen „Überfluss Gottesgaben, die eigentlich für den Menschen bestimmt“ sind, zugute. Sie selbst sind durchwegs und ausschließlich für den Menschen geschaffen. Das gilt auch für die gefährlichen und schädlichen unter ihnen – sie dienen dem Menschen zur Übung seiner Kräfte, zur Herstellung von Heilmitteln und so weiter. Dabei führt Origenes einen Seitenhieb auf die antike Atomlehre, die von den religionskritischen Epikureern schon in der Entstehungszeit ihrer philosophischen Schule übernommen worden war: Wer das Gegenteil des eben Gesagten behaupte, solle doch gleich sagen, dass alles nur eine zufällige Zusammenballung von Atomen sei. Im Übrigen gebraucht der christliche Autor auch ein schönes Bild, das doch zugleich die Abwertung der Tiere in seiner Weltsicht plastisch zeigt: „Die Vorsehung hat um der vernünftigen Lebewesen willen alles hervorgebracht; die vernünftigen Wesen sind wie die geborenen Kinder, die unvernünftigen Tiere gleichsam die Hülle, die das Kind im Mutterleib umgibt“ – und diese Hülle geht, so muss man das Gleichnis fortsetzen, schließlich als Nachgeburt ab! Diese Parteinahme des Christentums ist historisch durchaus zu erklären und zu verstehen. Einerseits folgt sie aus den jüdischen Wurzeln des Christentums: Innerhalb der israelitisch-jüdischen Religion war – in Abwehr vor allem der kanaanäischen Kulte – das Tier weitgehend aus allen religiösen Bezügen verdrängt worden. Im fünften Jahrhundert vor Christus, im Zuge der priesterlichen Zusammenfassung der Thora, kam auch der berühmte Gottesauftrag: „Macht euch die Erde untertan ...“ in den Text des Buches Genesis. Damit war ein Motiv angeschlagen, das der stoischen Idee, die Vorsehung habe die gesamte Natur auf den Menschen hingeordnet, sehr nahe kam. Andererseits gibt es die Spezifika der christlichen Entwicklung. Im ersten Jahrhundert der neuen Religion ließ die starke Endzeiterwartung im Grunde keinen Raum für die Frage, wie sich der Mensch in dieser Welt und damit auch in der Natur einrichten sollte. Im zweiten und dritten Jahrhundert hingegen geriet das Thema ‚Tiere‘ aus christlicher Sicht in den Kontext einer tiefgreifenden Auseinandersetzung: Die religiös-philosophi-
37 Origenes, Gegen Celsus 4, 74-87; vgl. Dierauer 1977, 217 und 237; Lorenz 2000, 238-241 (Lorenz ²2013, 243245).
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sche Strömung der Gnosis verhieß den Menschen Erlösung und Befreiung der Seele durch Erkenntnis, durch Loslösung vom Körper und von der Materie, und sie griff die Seelenwanderungslehre auf, die ja schon Platon, einen ihrer geistigen Urväter, fasziniert hatte. Die Vertreter der kirchlichen Hauptströmung betrachteten die Gnosis als Gefahr, unter anderem, weil sie Jesus nur als eine von vielen Verkörperungen des göttlichen Prinzips in der Geschichte betrachtete, und weil in ihr der Gerichtsgedanke durch die Idee einer graduellen Läuterung oder eines stufenweisen Abstiegs der Seele im Verlaufe vieler Existenzen verdrängt wurde. Und so bestanden nun zahlreiche christliche Denker darauf, dass die menschliche Individualseele mit der Zeugung des Einzelmenschen beginnt und direkt den eschatologischen Ereignissen (Endgericht oder Gericht nach dem Tode) entgegengeht. Jede Brücke zum Seelenwanderungsgedanken musste im Zuge dieses anti-gnostischen Kampfes abgebrochen werden, und damit wurde auch jene Hinwendung zur Tierwelt suspekt, die in der Antike mit der Metempsychosis-Lehre verbunden war. Die Hinwendung zur Stoa war eine logischen Konsequenz davon. Damit wurde freilich auch deren prinzipielle Abwertung der Tiere zum Erbe, das das Christentum in die Spätantike, ins Mittelalter und letztlich bis in die Neuzeit mitgenommen hat. Auf dem Höhepunkt der mittelalterlichen Theologie, in der Scholastik, wurde der ursprünglich stoische Standpunkt erneut sehr stürmisch vertreten, und eben in diesem Zusammenhang prägte Thomas von Aquin, wie bereits erwähnt, den wichtigen Terminus ‚instinctus naturalis‘. Das konkrete Beispiel, das Thomas nennt, ist die Gabe der Tiere, ohne Belehrung Gefahren zu erkennen (ex naturali instinctu hoc iudicat) – also ein Phänomen, das schon ein stoisches Standardbeispiel gebildet hat.38 Das Problem dabei ist nicht der Instinktbegriff an sich, sondern die einseitige Festlegung aller Tiere auf reine Instinktwesen und die apodiktische Definition des Menschen als Vernunftwesen. Was das Christentum anlangt, erfolgte sie eindeutig im Kontext der (nicht nur) geistigen Konflikte der Spätantike. Damit mag unser exemplarischer Rundgang durch die alten Kulturen beendet sein. Für jede von ihnen bedeutete es eine Herausforderung, die Tierwelt in ihr Weltbild einzuord38 Thomas von Aquin, Summa theologiae I, 83, 1: Es geht konkret um die Angst des Schafes vor dem Wolf, vgl. Dierauer 1977, 133 Anm. 17.
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nen. Wie dies im Einzelnen geschah, hing von sehr komplexen Zusammenhängen ab – die vorhandenen Kenntnisse und Anschauungen sind denn auch sehr charakteristisch für die jeweiligen Kulturen; es lassen sich aber auch Entwicklungsschritte erkennen. Aus Anlass der Diskussionen und Gespräche auf der Tagung dazu noch ein Wort: Es wurde in diesem Beitrag mehrfach darauf Bezug genommen, dass es nach der Überzeugung des Verfassers in der Menschheitsgeschichte so etwas wie eine kulturelle Evolution gegeben hat. Mit der biologischen hat sie unter anderem gemein, dass prozesshaft im Laufe der Zeit immer neue Möglichkeiten auftauchen, und dass man im Ergebnis Repräsentanten unterschiedlicher historischer Entwicklungsphasen zugleich nebeneinander beobachten kann – beziehungsweise konnte, solange auf dieser Erde noch Wildbeuter neben vorindustriellen und industrialisierten modernen Gesellschaften lebten. An einigen Beispielen sollte hier verdeutlicht werden, in welcher Weise sich der Erfahrungs- und Informationshorizont der Menschen, ihre Existenzfragen und ihre Denkmodelle im Laufe langer historischer Prozesse verändert haben und in ihr Bild von den Tieren eingegangen sind. Unter anderem wurde davon gesprochen, dass durch Schriftlichkeit, durch systematisches Forschen und durch experimentelles Vorgehen auch im Hinblick auf die Tiere neue Wissenskategorien erschlossen worden sind – insofern stellen die schriftlosen Kulturen, die von Ethnologen erforscht werden, ‚frühere‘ (=ältere) Stufen des Denkens dar. Davon zu sprechen, hat mit der Arroganz nichts zu tun, die sich oft mit dem Gebrauch des – ursprünglich auch wertfreien und hier bewusst vermiedenen – Wortes ‚primitiv‘ verbunden hat. Es war auch von ‚Irrwegen‘ der alten Kulturen die Rede – unter anderem im Zusammenhang mit der Reduktion der Tiere auf Instinktwesen, die von der Stoa ausgegangen ist, also von einer Denkrichtung in einer sehr ‚fortgeschrittenen‘ Kultur. Natürlich schließt dieses Urteil die Überzeugung ein, dass wir es heute besser wissen, dass ein Bild, das die Tiere höchst differenziert von instinktiven Antrieben und erlerntem Verhalten geprägt sieht, der Wirklichkeit eher adäquat ist – und natürlich auch angemessener als eine schlicht menschenanaloge ‚anthropothyme‘ Sicht. Damit ist das Bewusstsein verbunden, dass auch unsere Auffassungen jederzeit kritischer Modifikation unterliegen, und dass Menschen nicht abgewertet werden dürfen, die aus ihrer kulturellen Zugehörigkeit heraus solche Vorstellungen in sich tragen oder getragen haben.
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Erstveröffentlichung in: Hartmut Böhme u. a. (Hrsg.): Tiere. Eine andere Anthroplogie (=Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden 3), Böhlau Verlag, Köln-Weimar-Wien 2004, S. 79-96.
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Archäologischer Anzeiger
ABAW
Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse (NF = Neue Folge)
ABSA
The Annual of the British School at Athens. London
ANET
Ancient Near Eastern Texts
AC
L’ Anntiquité Classique. Louvain
AJA
American Journal of Archaeology. Princton
AOAT
Alter Orient und Altes Testament. Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte des Alten Orients und des Alten Testaments
AR
Archaeological Reports. London
BABESCH
Bulletin Antieke Beschaving. Nijmegen(= Annual Papers on Mediterranean Archaeology)
BASO
= BASOR Bulletin of the American Schools of Oriental Research
DNP
Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, 16 Bde., 1996-2003
EEAth
Epistimoniki Epetiris tis Philosophikis scholis ton Panepistimiou Athinon (= EpistEpetAth: Im Abkürzungsverzeichnis des Deutschen Archäologischen Instituts, Internet, Dezember 2014) 249
Abkürzungsverzeichnis
HbAW
Handbuch der Altertumswissenschaft. München
HbdO
Handbuch der Orientalistik
HZ
Historische Zeitschrift. München
JAOS
Journal of the American Oriental Society
JCS
Journal of Cuneiform Studies
JHS
Journal of Hellenic Studies. London
JdI
Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts
KIP
Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike, 5 Bde., 1964-75
LIMC
Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae
MIÖG Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Wien OBO
Orbis Biblicus et Orientalis
RA
Revue Archéologique. Paris
RdM
Religionen der Menschheit. Stuttgart
REG
Revue des études grecques. Paris
RGVV RhM
Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten Rheinisches Museum für Philologie. Köln
RV
Reallexikon der Vorgeschichte. Berlin
250
Abkürzungsverzeichnis
SBBerlin Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin TAPhA
Transactions and Proceedings of the American Philological Associations. New York
TUAT
Texte aus der Umwelt des Alten Testaments
WdF
Wege der Forschung, Darmstadt
WJA
Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft. Würzburg (NF = Neue Folge)
251
Register
Aal ................. 68, 86, 89, 233 Anm. 10 Ablenkungsritual .............................. 201 Abwehrriten .................................... 8, 98 Achäer ........................... 49, 82, 137, 165 Achill (Achilleus) ............... 49 Anm. 77, 58, 102, 135 Anm. 110, 137, 141 Anm. 130, 146, 146 Anm. 150, 213, 219 Anm. 189 Ackerbau [Ackerbauern:] ......... 102, 170 Anm. 28 Aderlass ................................ 91, 93, 242 Aelian .................. 157 Anm. 9, 190, 215 Aesculapius (lat. Namensform von Asklepios) ........................................... 83 Agamemnon ....................... 50, 82, 103, 110 Anm. 37, 112, 113, 122, 122 Anm. 82, 135, 141 Anm. 130, 146 Ägypten ..................... 7 Anm. 2, 10, 22, 22 Anm. 2, 29 Anm. 10, 56, 70-72, 76, 77, 87, 89, 89 Anm. 16, 97, 107, 117 Anm. 60, 125, 127, 132 Am 104, 168-170, 177, 189 Anm. 37, 227 Anm. 1, 229, 231, 233 ahiṃsa -Prinzip ......................... 159, 161 Ahnenkult ......... 116, 116 Anm. 58, 132 Ainu (Nordjapan) ........... 200, 205, 209, 214, 216 Anm. 182 Aischylos ............................................... 50 Aition [Kultaition:] ........................... 184 Anm. 10, 189, 190 Anm. 39, 201, 202
Akropolis (Athen) ....................... 33, 83, 105 Anm. 13, 111, 184 Akupunktur .................... 23, 94, 97, 173 Alexandrien (Ägypten) .............. 23, 240 Aliki (Attika) ..................................... 109 Alkmaion von Kroton ....................... 137 Alphabet [phönikisches A.:] .......... 110, 127-129, 129 Anm 98 Alter Orient [altorientalisch] ....... 7, 10, 22 Anm. 2, 25, 28-30, 34, 48, 57, 76, 87, 88, 89 Anm. 16, 90, 98, 221, 227 Anm. 1 Altes Testament ........................... 79, 249 Amenophis, Sohn des Hapu (altes Ägypten) ............. 87, 170, 171 Amphitryon ....................................... 121 Amphiktyonie ................................... 102 Amyklai (Lakonien) .................. 62, 110, 110 Anm. 37, 128, 141 'Anat ......................................... 55, 56, 60 Anatolien ....................................... 38, 42 Anaxagoras aus Klazomenai .............. 74 Andromeda ............................... 121, 140 Angst [vor Rache: vor Tieren:] ...... 208, 211, 212, 218 Annalen ............................................. 129 Anthesterien ...................................... 103 Anthropomorphismus [anthropomorph] ................ 195, 216 Anm. 181, 235 253
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Anthropothymismus [anthropo thym:] ...................216, 235, 241, 245 Anthropozentrismus ......................... 243 Aphrodite .................................52, 57, 57 Anm. 104, 140 Anm. 129 Apollon Medicus ..................................82 Apollodoros von Athen ......................31 Apollon/Apollo [Apollon Amuklos: A. Asgelatas: A. Epikourios: A. Karneios: A.Kyparissios: A. Maleatas: A. Pythios: A. Smintheus:]............... 8, 9, 26 Anm. 5, 31, 32, 39, 40, 45, 47-50, 52, 53, 55, 57, 58, 60, 67, 76 Anm. 24, 81-83, 86-89, 110, 140 Anm. 129, 165-168, 175, 176 Apotropaion [apotropäisch:] ........... 70, 170 Anm. 25, 178, 204 Anm. 108 Arabien [Araber:] ....................... 19, 138 Arat von Soloi ............................ 187, 194 Archäologie [archäologisch] ............. 30 Anm. 15, 35, 40, 41, 75, 76, 96, 104, 107, 108, 114, 114 Anm. 52, 117, 120, 127, 128, 133, 135-137, 140, 144, 146 Archilochos .................. 54, 54 Anm. 93 Ares [Enyalos:] ....................... 43, 59, 70 Argolis (griech. Landschaft) ............ 26, 83, 109, 118, 119, 125, 131, 132, 139 Anm. 124, 141 Am,- 131, 145 Anm. 146, 146 Argos (Argolis) [Heraion von Argos:] ..................... 44, 52 Anm 85, 109, 109 Anm. 31, 112, 120, 125, 138, 141, 146, 175 Anm. 49, 195 254
Ariadne ............135, 140 Anm. 129, 146 Aristophanes ...........................83, 84, 184 Aristoteles ............................. 157 Anm. 9, 186 Anm. 22, 194, 232, 233, 237-239, 241 Aristoxenes von Tarent ...............186, 195 Arkadien (griech. Landschaft) ...........49, 50, 58, 82, 106, 109, 137, 166 Artemis [Artemis Hekata: Artemis Hegemone:] ...................44, 44 Anm. 67, 50, 52, 56, 57, 70, 113, 117 Anm. 64 Ärztestand .....................61, 87, 176, 179 Ashdod (südl. Palästina) .....................36, 36 Anm. 38 Asine (Argolis) [Barbouna-Hügel:] ............. 114, 115, 115 Anm. 55, 116 Anm 59, 120, 128 Askalaphós .............................. 26, 48, 59 Askalon (südl. Palästina) ............. 36, 37 Asklepieion .................................. 32, 33, 33 Anm. 28, 51-53, 57, 85 Asklepios ........................................ 25-61 Asklepios [Ἀσκληπιός, Αἰσχλαβιός, Αἰσκλαπιός, Ἀσκλαπιός, Ἀσχλαπιός, Ἀγλαπιός]............ 46-48 Asklepios Agnitas (Sparta) ................ 26 Asklepios-Heiligtum ..................... 33,88 Asklepios-Kind ................................... 50 Asklepios-Mythos .............................. 57 Asklepioskult ................................ 29, 33 Äskulap-Natter [Äskulapsymbol:] ........................... 59 Aśoka (Kaiser, Indien, 3. Jhdt. v. Chr.) ............................. 161
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Assuan (Oberägypten) ........ 70, 89, 230 Astarte (hurritische A. = Astarte des Feldes)/ 'Aštart/'Aṯtart/) ............ 38, 39, 55, 56, 60, 87, 88, 121 asû(m) kalbu(m) ('Arzt/Heiler (mit dem) Hund') ....................................... 46, 47 Athen (Attika) .............................. 10, 26, 31-34, 50, 52, 71, 72, 74, 88, 89, 111, 113, 120, 143, 167, 178, 179, 183 Athen, Erechtheion auf der Akropolis ...................................... 111 Athen, Hlgt. des Akademos/Hekademos ................................................ 111 Athena Hygieia ................................. 179 Attika (griech. Landschaft) ................... 109, 110, 110, 112, 118-120, 124, 125, 132, 145 Anm. 146, 194 Baal [Ba ̓lu; Belos] ........................ 38, 47 Anm. 75, 56, 58 Anm. 106, 138 Barbe .............................................. 68, 86 Bastet (Ägypten) ............................... 169 Bauchfellentzündung ......................... 96 Bauchhöhle ......................................... 97 Bauer ................................ 119, 120, 124, 125, 132, 154, 228 Behandlungsmethoden ..................... 90, 93, 95 Berytos (= Beirut, Libanon) ............. 36 Beschwörer/Beschwörerin .......... 41, 46 Beschwörungspriester ....................... 47 Beschwörungsritual ............................ 40 Bestattungsbrauch/-bräuche .......... 118
Beth Šean (Palästina) ......................... 38 Bettelpriester ................................. 67, 85 Blasensteine ......................................... 96 Blutgefäße .......................... 92, 234, 242 Bohnen .............................................. 156 Boiotien (antike griech. Landschaft) ........ 26, 43 Anm. 61, 59, 102, 102 Anm. 4, 109, 118, 124, 125, 131, 132, 138 Brandbestattung .............................. 119, 119 Anm. 71 Brandopfer ......................... 54 Anm. 91, 189 Anm. 37 Brauron (Attika), [Hlgt. der Artemis: Hlgt. der Iphigenie:] .................. 113, 142 Anm. 37 Brech- und Abführmittel ......... 8, 91, 98 Brennen und Schneiden .......... 8, 91, 98 Bubi (Insel Liwango, Kamerun) ............ 201, 206, 207, 220 Buddha ............................................... 161 Buddhismus [Mahayana-Buddhis mus:] ................ 7, 160, 161, 174, 177 Buntbarsch ........................................ 231 Buphonien [Buphonienopfer: Buphonienritual: Dipolieia:] ...................... 10, 183, 183 Anm. 1, 184, 189, 190, 192, 193, 198, 28 Anm 186, Buzygen [Buzygenflüche:] ............. 183, 184 Anm. 6, 190 Anm. 44, 218 Chalkis (Euboia) ....................... 120, 147 Cheiron (Kentaur) ....................... 32, 49, 49 Anm. 77, 58 255
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China ......................................... 9, 22, 23, 87, 93, 97, 98, 169, 173, 176, 178 Chirurgie ................................... 8, 23, 81, 94, 96-98 Christentum (antikes Chr.) .......... 7, 20, 242-244 Chronik .............................................. 129 Cicero ................................. 187, 197, 197 Anm. 86, 239, 239 Anm. 25, 240 Columella ........................... 188, 197, 219 Curtius ........................... 43, 43 Anm. 61 Dark Ages ............................ 27, 39, 110 Anm. 37, 116, 121 Anm. 102, 133, 136, 140 Anm. 129, 143, 145 Delphin ............... 166, 232, 232 Anm. 8 Demokrit von Abdera ....................... 240 Dendera (Oberägypten) .............. 71, 89 Dhanvantari (altes Indien) ............... 87, 172, 172 Anm. 39, 173, 177 Diätetik (hippokratische Medizin) ............... 91 Differenzierung/Unterschied Mensch – Tier ............................. 239 Diodor ................................................. 155 Dionysios von Halikarnassos ............ 190 Dionysos ....................................... 50, 52, 56, 117 Anm. 64, 183 Dioskuren ........................ 105, 112, 113, 135, 195 Dioskurides (aus Anazarbos, Kilikien) .......................................... 96 Dorer [dorisch, dorische Wanderung:] ................. 138, 143-145 256
Dschagga (afrikanisches Volk, Gebiet des Kilimandscharo) ................... 207 Anm. 128 Ebla (Syrien) ....................................... 37 Edfu (Oberägypten) .................... 71, 89 Ehrfurcht (vor dem Leben) ................... 183-226 Eileithyia [Elioneia:] ........................... 44 Anm 68, 57, 140 Anm. 129 Elefant ....................................... 203, 205 Elementenlehre [Lehre von den vier Elementen:] ............................. 22, 73, 75, 76 Elephantine (Deltagebiet des Nil, Ägypten) .......................... 71, 89, 230 Eleusis (Attika) ................ 117 Anm. 64, 120, 179, 185 Elis (griech. Landschaft) ................ 118, 125, 137 Empedokles von Akragas ............ 73, 74, 75 Anm. 22, 78, 154, 155, 187, 195, 219, 221 Enkidu ............................................... 121 Entsühner ............................................ 85 Entwicklungsstufen ................... 10, 228 Epheben .............................................. 43 Epidauros (Argolis) .......................... 26, 30, 31, 31 Anm. 16, 32, 32 Anm. 23, 34, 40, 46, 46 Anm. 70, 47 Anm. 74, 52, 53, 57, 57, 82, 83, 88, 166, 167, 167 Anm. 7, 179 Epikureer (Philosophenschule) ....... 243 Epilepsie [heilige Krankheit: epileptische Episoden: Anfallsleiden: 'de
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morbo sacro' ] ......................... 67, 68, 85, 90 Eponyme ....................................... 28, 58 Anm. 108, 136-141, 145 Erasistratos aus Keos ........................ 95 Erechtheus/Erichthonios ........ 111, 135 Eretria (Euboia) .............. 107, 115, 116, 118, 120, 128, 147 Ersatzopfer ................................... 44, 45 Esel [Mühlenesel:] ...................... 41, 189, 197, 240 Eshmun/Ešmun .................... 37, 38, 58 Anm. 106 Eskimos ........................... 207, 208, 210, 212, 214, 218 Ethnogenese ............... 9, 124 Anm. 89, 143, 145, 147 Eudoxos von Knidos .................. 155, 187 Euripides .........................50, 167 Anm. 9 Evolution (kulturelle E.) ................. 245 Ewe (Südtogo) .................................. 203 Feuer ........................................ 41, 75, 75 Anm. 23, 77, 91, 102, 115, 205, 206 Anm. 117, 209, 210, 216 Anm. 182 Fischwanderung ...................... 229, 232, 232 Anm 6 Fluchtzeremonien ............................ 193 Frosch ......................... 231, 231 Anm. 5 Fünf Agenzien ................................... 93 Galenos von Pergamon ................. 95, 233 Galle ............................. 73, 73 Anm. 19, 90, 92, 93
Gebärmutter .................... 157, Anm. 10 186 Anm. 22 Geburtsgottheiten .......................... 8, 70 Gemeinschaftsgefühl [Identität:] ...................... 17, 103, 145 Gerichtsszenarien ............................ 183, 184, 193, 217 Gesinnungsethik ............................... 211 Gilgamesch ............................... 121, 126 Gnosis ................................................ 244 Gortys (Arkadien) .............................. 26 Gottesbegriff [Gottes auffassung:] ............................. 68, 73, 74, 75, 87 Gottesstrafe ......................... 8, 68, 91-99 Gottesurteil ....................................... 214 Gottheit [gesunkene G.: olympische G.:] ..................... 53, 113, 131 Anm. 103, 133-135, 140 Grabkult ........................... 113 Anm. 51, 116 Anm. 59, 119, 124, 128, 133 Anm. 105, 144, 145 Anm. 146 Gula ................................... 34-37, 39, 45, 47, 57, 86, 172 Hahn ................... 33, 196 Anm. 78, 203 Heereslustration [lustratio:]............... 45 Heiler ............................................. 25-66, 67-70, 72, 73, 77, 78, 80, 83, 84, 88, 166, 167, 169, 172, 1, 177, 179 Heilgott/Heilgöttin [ambivalenter Heilgott:] ................................. 25, 27, 32, 34-37, 39, 42, 48, 52, 53, 57, 58 Anm. 106, 57-61, 82, 86-89, 165 257
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Heilmaßnahmen ................................. 98 Heilungsberichte [H. von Epidauros:] ......................... 30, 40, 83 Heilungsrituale .................................... 81 Hekate [Enodia] ................................ 44, 45, 52, 57, 67, 70, 70 Anm. 14 Helena ........................................ 105, 105 Anm. 195, 221 Hellanikos von Lesbos ...................... 220, 220 Anm. 195, 221 Hellenen [Hellenos: Hellenenname:] ........................... 227 Hera ............................................. 35, 102, 111, 113 Anm. 49, 122 Anm. 80 Herakles ...................................... 52, 102, 110, 111 Anm. 39, 113, 121 An. 77, 126, 135, 139 Anm. 125, 183 Heraklit von Ephesos .............. 74, 75, 77 Hermes .......................................... 32, 52 Hermippos von Smyrna .................... 185, 187 Anm. 26 Heroengestalt ............................. 28, 106, 133, 134 Heroenglauben [Heroenvorstel lung:] ................................... (101-147) 27, 104, 105, 125, 132, 144, 145 Heroenikonographie ........................ 126 Heroenkultstätten ............................ 128 Heroenmythologie ................... 126, 132 Heroenwelt ................................. 33, 133, 135, 137, 140, 142, 147 Heroon ...................................... 114, 120 Herophilos aus Chalkedon .............. 23, 95, 96 258
Heros/Heroinen [Kulturheros:] ..................... 101-151, 173, 178, 179, 185 Herr/-in der Tiere ............................ 211 Herrscherlisten ................................. 129 Hesiod [Ehoien/Frauenkatalog: Erga/Werke und Tage: Theogonie:] ..................................... 44, 49, 50, 50 Anm. 82, 104-106, 120, 236 Anm. 16 Hethiter [hethitisch] ..................... 38-45, 122, 132, 236 Hippokrates ......................... 67 Anm. 3, 73, 81, 85 Hippokratische Lehren [hippokr. Theorie:] .................. 73 Anm. 20, 81, 90-92 Hippokratischer Eid .................. 81, 165 Hirsch .................................. 68, 86, 109, 199, 209, 211 Anm. 149 Hirten ................................ 191, 193, 198 Holokaust-Opfer [Ganzkörperverbrennung: Ganzopfer:] .................. 52, 54, 54 Anm. 91, 56, 102, 109 Homer [Homerische Epen: das Epos: homerische Dichtungen: Ilias: Odyssee: Schiffskatalog: Dolonie: Nekyia: homerische Welt:] ............................. 25, 28, 31, 83, 105-107, 112, 117, 124, 137, 138, 194, 219 Hörnerkrone ................................. 55, 55 Anm. 98, 88 Huang-ti = Huangdi (altes China) ............................ 87, 173, 177, 178, 220 Anm. 193
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Huhn [Henne, Hahn, Küken;] ......... 33, 196 Anm. 78, 203, 204, 213, 215, 217 Anm. 184, 232, 239, 241, 241 Anm. 33 Hund [Hündin, Welpen, Hundebaby;] ............................. 25-61 Hundefleisch ........................................ 70 Hundefriedhöfe [Hundebeisetzung: Hundegräber:] ................... 35, 36, 41 Hundeführer ........................... 32, 37, 52 Hundetötung [Hundetötungs rituale:] ......................... 37, 42, 45, 60 Hundevotive ....................................... 37 Hygieia [Athena Hygieia] ......... 165-180 Hymettos (Attika) ........................... 110, 110 Anm. 38, 113 Anm. 51, 124, 128 Hypnos ................................................ 52 Idalion (Zypern) ................................ 39, 39 Anm. 51, 45, 87 Idealisierung ...................................... 220 Anm. 193, 221 Ilias .......................................... 26, 46, 49, 53, 58, 59, 65, 81, 85, 105, 123, 127, 138, 141 Anm. 130, 165 Imhotep (altes Ägypten) .................. 87, 170, 171, 177 Initiation (Jünglings-Initiation: Mädchen-Initiation:) ...................... 39, 60, 76, 87, 136, 142 Anm. 135 Initiationsgott ..................................... 39 Initiationsriten .................................. 125 Inkubationsraum .......................... 26, 30 Innere Leiden ....................... 91, 94, 176 Inschrift aus Idalion (Zypern) ............ 87
Inschriften von Epidauros .................... 83 Instinkt ...................................... 236, 238, 239, 243-245 Inuit ............................................ 207, 208 Ionien [Ionier: ionisch] ..................... 74, 76, 117 Anm. 60, 144 Iphigenie ................................... 113, 135, 142, 142 Anm. 135, 142 Anm. 138 Ischys ............................................ 49, 50, 50 Anm. 83, 53, 56 Isin (südl. Mesopotamien) ............ 35-37, 172 Israeliten ............................................ 236 Ištar ............................................... 39, 54, 54 Anm. 91, 55, 56, 60, 87 Ithaka (Ionische Inseln) .................. 109 Anm. 34, 113, 117 Anm. 64 Ithome (Messenien) ..................... 49, 52 Jagd [Jäger: Jägertum: Jägervölker:] ............................. 32, 39 39 Anm. 52, 87, 154, 159, 175, 168, 191, 192, 201, 208, 216, 228, 229 Jaina .................................... 153, 158-160 Jainismus [Religionsstifter Mahavira Jina:] ..................... 158-161 Jamblichos .................... 155, 155 Anm. 6 Jarri ............................... 39, 39 Anm. 50, 59 Anm. 110 Karatepe (Kilikien) ............................ 38 Keuschlamm ................................. 26, 52 Kilikien ......................................... 27, 37, 42, 45, 76, 109 Anm. 28, 127, 128 259
Register
Kition (Zypern) ...................... 39, 45, 88 Kolophon (Ionien) ..................... 44, 119 Anm. 71, 155 Komombo/Kom Ombo (Oberägypten) ......................... 71, 89 Kontinuität [Kulturkontinuität: Bevölkerungskontinuität: Kultkontinuität:] .................................. 107, 111, 116, 117, 122, 143, 178 Korinthia (antike griech. Landschaft) .................................. 118 Koronís ................................... 31, 49-51, 53-57, 83, 88 Körperbestattung ..................... 118, 119 Körpergefäße ................................ 92, 93 Kraft (magische) ...................... 131, 157, 171, 175, 202, 203 Krankenbehandlung (antike K.) ................................. 81-99 Krankenheilung ............................... 136, 169, 178 Krankheitsauffassung (religiös-magisch) ................ 67, 68, 81 Krankheitsursache ....................... 68, 84 Kreta (Ägäische Insel) ..................... 117 Anm. 64, 119, 119 Anm. 71, 127 Am. 93, 129 Anm. 98, 140, 146 Kroton (Kalabrien, Unteritalien) .......................... 155, 156 Kultepiklese ................................ 28, 134 Kultplätze ............................ 26, 28, 103, 113, 125, 135, 140, 155, 178 Kulturbruch ...................................... 123, 136, 178 260
Kulttopographische Listen ................... 71, 72, 89 Kulturkonflikt ..................................... 72 Kulturkontakt [griechisch-orientalischer K.] ................... 72, 97, 120, 127 Kulturstufen [Entwicklungsstufen (kulturelle E.):] ...................... 10, 75, 228 Kulturtransfer .............................. 21, 22, 126, 127 Kulturvergleich ............................ 22, 81, 86, 93, 94, 97 Kuppel-und Kammergräber ............ 118 Kuros/Kouros ............................ 76, 142 Anm. 135 Kybele [Magna Mater:] ................ 67, 70 Anm. 14, 85 Kyllene (Korinthia) ............................ 26 Kyme (Karien) .................................... 44 Kyniker (Philosophenschule) .......... 240 Lakonien (antike griech. Landschaft) ......................... 110, 112, 119, 119 Anm. 69, 124, 125, 138, 138 Anm. 124, 146 Lappen .............................. 207, 210, 215 Lebena (südliches Kreta) .................. 33 Lebensführung ................... 91, 153-162 Lefkandi (Euboia) .................... 114, 115 Legitimationshypothese (Ian Morris) ..........................119, 120, 124, 125 Leistenbruch ....................................... 96 Lindos (Rhodos) ........................ 82, 121 Anm. 77, 183
Register
Linear-B-Täfelchen [Linear-B-Schrift: Linear B: Linear-B-Texte:] ......... 118, 122, 123, 134, 136 Livius ............................. 43, 43 Anm. 61 Löwe .......................... 67, 68, 68 Anm. 5 85, 121, 126, 196 Anm. 78, 217 Anm. 184 Luftröhrenschnitt ............................... 96 Machaon ................................. 31-33, 49, 52, 58, 83 Magie [Fruchtbarkeitsmagie:] ........... 47 Anm. 74, 77, 196, 218, 241 Magier .............................. 70, 72, 78, 85, 89, 127 Anm. 93 Maultiere .............................................. 82 Meidias-Maler ............... 33, 33 Anm. 27 Menander ................... 240, 240 Anm. 29 Menelaos [Menelaion:] ..................... 49, 106, 107, 112, 112 Anm. 43, 113, 117 Anm. 60, 122, 122 Anm. 82, 135 Menidi (Attika) [Menidhi:] ............................. 109, 120 Menschenopfer ................................. 196 Mesopotamien [mesopotamisch] .................... 34, 35, 37-39, 42, 45, 89, 86, 87, 121, 126, 127, 169, 172, 177, 178, 213 Messene (Messenien) ......................... 52 Messenien (antike griech. Landschaft) ....................... 25, 49, 52, 58, 109, 118, 119, 125, 146 miasma (μίασμα) ............................... 185 Anm. 19, 202
Minoisch-mykenische Kultur ......... 116, 122, 140 Minoische Kultur [minoisch] ......... 218 Anm. 186 Minyer ............................................ 26, 59 Molosser (altgriechische Hunderasse) ................................... 33 Moxibustion ........................................ 94 Mukol ...................................... 37, 38-40, 53, 60, 87, 88 Mykenäer .................................. 107, 117, 118, 120, 123 Mykene [Gräberrund A: Agamemnoneion:] ........... 109, 109 Anm. 31, 110, 112, 113, 116 Anm. 59, 118, 120, 123, 129 Anm. 59, 118, 120, 123, 129 Anm. 100, 130 Anm. 101, 138 Mykenische Gräber .......................... 103 Anm. 6, 108-111, 109 Anm. 34, 113115, 118, 119, 123-125, 135, 144 Mykenische Kultur [mykenisch] ........................... 75, 116, 120, 123 Mykenische Zeit .............. 106 Anm. 16, 107, 112, 113, 113 Anm. 51, 117, 118, 121, 123, 143 nakušši-Rituale..................................... 40 Narkose [Mandragora:] ..................... 96 Natter (sumer. Niraẖ) ....................... 31, 31 Anm. 15, 59, 84, 88, 178 Naturphilosophie ............................... 78 Naturvölker ........................ 167 Anm. 7, 175, 183-221 261
Register
Naturwissenschaft (antike N.) .................................. 67-78 Naxos (Kykladen) ................... 115, 116, 116 Anm. 89, 117 Anm. 64, 128, 146 Neoptolemos .................................... 137 Nergal ........................... 38, 86, 169, 172 Nerven ................................. 23, 95, 234 Nervenforschung [Nerven funktionen:] ...................... 81-99, 234 Nikkal/Niggalu ........... 39, 39 Anm. 50 Nildelta ............................. 70, 72, 84, 94 Nin ̓insina (sumer. Heilgöttin) ......... 172 Nintinugga .................................... 34, 57 Ninurta (sumer.-akkad. Gott) ......... 121, 121 An. 76, 126 Nippur (Mesopotamien) ................... 34 Nordsyrien .......................................... 42 Nubadig ............................................... 38 Odysseus .................. 106, 113, 146, 195 Oichalia (Messenien) ................... 25, 49 Olympia (Elis) ...........................106, 111, 117, 123, 136 Anm. 112, 241 Opfergaben ....................................... 184 Oralität ............................... 21, 128, 130, 130 Anm. 101, 136 Orchomenos (Boiotien) ............ 46, 109 Orient [orientalisch] ..................... 25-61, 70 Anm. 14, 72, 105, 109 Anm. 28, 114 Anm. 54, 117, 120, 121, 125-132, 134 Anm. 108, 140, 146, 236 Origenes ............. 242, 243, 243 Anm. 37 Orphik .............. 186, 186 Anm. 37, 220 Ovid .......... 188, 189, 189 Anm. 38, 190 262
Paläolithikum/Altsteinzeit [paläolithisch] ........................................... 228 Panakeia ................................... 32, 52, 84 Anm. 7, 165 Papyrus [Papyri, Papyrusfunde, Papyrusrollen] ................................ 20, 121 Anm. 78, 138, 168, 171 Pasiphae .................. 135, 140 Anm. 129 Pausanias .................... 26, 31, 43, 44, 51, 52, 54, 83, 112, 135, 167, 183, 190 Pelops ....................... 111, 111 Anm. 41, 113, 117 Perachora (Korinthia) ..................... 125, 125 Anm. 91 Perseus ...................... 102, 121, 126, 135 Pferd [Pferdeopfer:] .................... 67, 68, 85, 102, 108, 114, 195, 196, 198, 213, 216 Pflanzen ............................ 153, 199, 216 Pfriemenfisch ................................ 68, 86 Phaidra .................... 135, 140 Anm. 129 Pherekydes von Athen .......................... 49 Anm. 81, 50, 56, 60 Phigalia Bassai (Arkadien) ................ 82 Philon von Alexandrien .................... 240 Phönikien [phönikisch] .............. 36, 37, 39, 42, 55, 56, 76, 109 Anm. 28, 127, 128 Phratrie .............................................. 102 Phyle ........................................... 102, 138 Pindar [dritte Pythische Ode] ............. 25, 27, 50, 56, 57 Piräus (Attika) ........................ 26, 32, 34, 52, 53, 88
Register
Platon ............................... 111, 154, 156, 185, 237, 244 Plinius der Ältere ...................... 188, 196 Anm. 78, 197, 215, 242 Plutarch .............................. 43, 146, 190, 215, 240, 241 Anm. 32 Podaleirios ............ 31-33, 49, 52, 58, 93 Poleis .............................. 71, 72, 97, 102, 124, 131, 132 Porphyrios ............................ 155 Anm. 6, 183-185, 187 Anm. 26, 190, 241 Poseidon .................................. 67, 68, 85 Poseidonios von Apameia .................. 239 Properz ............................................... 197 Protagoras ........................................... 237 Pythagoras ................................ 155, 156, 186, 186 Anm. 22, 191 Pythagoreer ............................... 153-158 Pythagoreismus [Pythagoreertum] ............... 158-161, 186, 191 Rabe ............................................... 50, 55 Reinigung [magische R.:] ............ 68, 85, 90, 161, 174, 210 Reinigungsriten ............................ 68, 85, 90, 196 Anm. 78 Religionskritik ................................ 67-78 Reliquie....................................... 103, 123 Rešep (Syrien) [Rešep-Mukol:].................. 37-40, 45, 57, 58, 53, 55, 56, 59, 86-88, 169, 176 Rhodos................................. 82, 119, 218
Rind [Stier, Ochse, Kuh, Kalb].................. 37, 51, 54, 82, 183, 184, 184 Anm. 6, 184 Anm. 10, 186-199, 202 Anm. 99, 204 Anm. 108, 109, 200, 206, 207 Anm. 186, 213, 218, 218 Anm. 186, 219, 228, 239 Ritual [Versöhnungsritual: Abwehrritus:] ................................ 34, 40-43, 43 Anm. 61, 48, 70, 91, 103, 132, 133, 153, 207 Rudra (altes Indien) .................. 86, 168, 169, 176 Sachmet (altes Ägypten) ........... 86, 168 169, 176 Säftelehre (hippokratische S.) .......... 69, 73, 74, 78, 233 Safwa (Tansania) ...................... 204-206, 213-215 Sam’al (Nordsyrien) ........................... 38 Samos (Insel östliche Ägäis) ............ 35, 76, 117 Anm. 64 Sardes (Lydien) ................................... 41 Sataran (elam. Heilgott) .................... 59 Schaf [Widder: Lamm:] .................... 37, 39, 54 Anm. 91, 76, 106 Anm. 15, 157, 186, 191 Schamanismus [schamanis tisch] ..................... 153, 154, 169, 179 Scheinoperation ........................... 30, 84, 167 Anm. 7, 179
263
Register
Schlange [Schlangenkult:] ................ 25, 31, 33, 59, 84, 103, 121, 166, 167, 168 Anm. 13, 172, 178, 196 Anm. 78, 209, 212 Anm. 153, 214, 215 Schleim (phlegma) ............ 68, 73, 90-93 Schriftkultur ............... 76, 228, 229, 236 Schriftlosigkeit [schriftlose Kulturen:] .................. 89 Anm. 16, 130, 136, 227 Anm. 1, 228, 229, 231, 245 Schröpfung/Schröpfen ..................... 91 Schwarze Galle ............ 73 Anm. 19, 90 Schwarzschwänze ......................... 68, 86 Schwein [Eber: Sau: Ferkel:] ............ 36, 41, 51, 54, 68, 86, 189, 210Anm. 147, 233, 234 Seebarbe ......................... 70, 71, 89, 229 Seehund ........................... 207, 208, 212, 214, 218 Seele [Seelensitz:] ................ 76, 77, 153, 157, 186, 204, 205 Seelenglaube ...................................... 153 Seelenwanderung [MetempsychosisLehre:] ................................... 153-162 Semele ............................................ 50, 56 Seneca Minor (der Jüngere, 1.Jhdt. n. Chr.) ............................. 158 Seuchengott [Seuchen- und Heilgott:] ............. 38, 38 Anm. 41, 54, 60, 169 Sextus Empiricus ............................... 241 Sidon (Phönikien) .............................. 38
264
Siedlung/Siedlungsplätze ................. 28, 111-113, 115, 117, 120, 130, 135, 136, 140, 144, 208 Sikyon (Korinthia) ....................... 26, 52, 52 Anm. 85, 53, 83, 167 Skythen ...................................... 138, 213 Sonnenheiligtum (des Ni- user -Re zu Abusir) .................................... 70, 229 Sparta ............................... 26, 43, 44, 52, 53, 57, 83, 112, 114 Speisegebot .......................... 71, 89, 154 Stammesgesellschaft .......................... 75 Staroperation/Starstich ............... 96, 97 Stoa (Philosophenschule) ................. 52, 56, 57, 238, 239, 242, 244, 245 Storch ................................................... 33 Strafe [Tierstrafe: Kollektivstrafe: Scheinstrafe: Sachstrafe:] .......... 189, 205, 207 Anm. 124, 214, 215, 217, 235, 236 Substitution [Substitutions opfer:] ....................................... 40, 70 Sueton ................................................. 189 Sündenbock ..................... 189 Anm. 37, 204 Anm. 108, 210 Sunion (Attika) .......................... 95, 112, 113 Anm. 51 Sybaris (Kalabrien, Unteritalien) ...... 155 Synkretismus ....................................... 39 Syrien [syrisch] ....................... 27, 37, 39, 45-47, 76, 86-88, 127, 128, 239
Register
Tabu [Speisetabu: Speiseverbot:] ...... 70, 71, 88, 89, 157 Talionsprinzip ........................... 215, 236 tarpalli-Substitut ................................. 41 Täuschung ......................................... 211 Telemachos-Monument .................... 32 Anm. 23, 52 Tell Qasile (Palästina) ........................ 36 Tenedos (ägäische Insel vor der Küste der Troas) .................... 183, 192, 218 Thalamai (Lakonien) .................... 46, 46 Anm. 70 Theben (Boiotien) ................... 104, 109, 171, 172 Theologie von Mendes (altes Ägypten) .............................. 77 Theophrast von Eresos ....................... 148 Therapie .................... 173 Anm. 40, 242 Therapnai (Lakonien) ...................... 105 Anm. 12, 112, 112, 124 Theseus ........................... 142 Anm. 138, 146, 146 Anm. 148 Thessalien (griech. Landschaft) ......... 25, 31, 32, 50, 58, 58 ANm. 108, 60, 119, 124, 125, 137, 138, 175 Anm. 49 Tholos/Tholoi (= Kuppelgrab) ...... 109, 119, 119 Anm. 69, 130, 135, 139 Thomas von Aquin ........................... 244, 244 Anm. 38 Thorikos (Attika) ...................... 109, 109 Anm. 26, 120 Thrasymedes (Bildhauer) .................. 31 Tiberinsel (Rom) .......................... 33, 82 Tiere ........................................... 228-246
Tierexperiment ........................... 95, 233 Tiertötung ................................. 155, 159 Timaios von Tauromenion ................. 155 Tiryns (Argolis) ................................ 120 Titane (Sikyonia) .......................... 26, 26 Anm. 6, 51, 52 Anm. 85, 54-57, 83, 167 Tlaloc (Azteken, altes Mexiko) ......................... 86, 170, 170 Anm. 25 Tlazolteotl (Azteken, altes Mexiko) ................................ 174 Totenbuch (altes Ägypten) ............ 72, 90 Totenkult ................................... 105, 106 Anm. 16, 114, 16, 116 Anm. 58, 131 Totenritual [Totenfeste: Totenspiele: Totendienst: Totenspeisung:] ........ 27, 29, 101-103, 106, 110, 114, 119, 134 Tötungsverbot ................. 154, 156, 157 Trankopfer ........................................ 118 Traum ...................................... 26, 30, 57, 84, 153, 179 Trikka (Thessalien) ...................... 25, 26, 26 Anm. 6, 32, 49, 58, 167 Triptolemos .............................. 185-187, 185 Anm. 19 Troja [Ilion; Trojaner, trojanisch] ..................... 59, 104, 105, 106, 15 Anm. 55, 137, 141 Anm. 131, 144, 146 Tscherokesen (Süd-Appalachen) ...... 211 Anm. 149, 215 Tyche .................................................... 52
265
Register
Ugarit (Mesopotamien) .................... 37, 28, 55, 55 Anm. 94, 56, 87 Universalgeschichte [universalhistorisch:] ......................................... 87, 99 Unreinheit ................ 82, 204 Anm. 108 Unterweltsgott .................................. 172 Varro ................................. 187, 188, 188 Anm. 30, 194, 197 Vegetarismus .................... 158, 160, 191 Vergil ......................... 189, 196 Anm. 78 Vergleich .......................... 17, 20, 22, 86, 87, 93, 97, 176, 227 Verhaltensforschung ................ 216, 217 Anm. 184, 241 Viehzüchter ...................... 154, 199, 228 Vivisektion .......................... 95, 233, 234 Vivisektion/Lebendversuche ........ 23, 95 Vögel ................................... 40 Anm. 54, 51, 54, 54 Anm. 91, 56 Anm. 102, 83, 213, 236, 241 Vogelzeichen ................................. 41, 43 Vorstellung vom 'lebenden Leichnam' .................. 212, 214, 214 Anm. 166, 217, 218 Votiv [Votivgabe:Votivdepot: Votivrelief:] ....................... 26, 31, 33, 103 Anm. 6, 108-110, 112, 113, 115, 118-120, 123, 124, 128, 132, 139 Anm. 127 Wanderpriester ............................ 48, 85, 127, 127 Anm. 93
266
Wasser ...................................... 54, 73, 73 Anm. 19, 75, 102 Anm. 3, 103, 103 Anm. 6, 170, 202, 207, 208, 210, 239 Weihegaben ......................................... 29 Weihinschriften ............................. 26, 35 Weinbau ............................................. 102 Weißdorn ............................................. 41 Weltalterlehre ............................ 187, 194 Weltenkammer .......................... 229, 230 Wildbeuter .................................. 21, 228, 229, 245 Xenokrates ................................. 185, 186 180 Anm. 25, 187 Anm. 26 Xenophanes von Kolophon ................... 75 Anm. 22, 155, 217 Anm. 184 Zauberer .................................. 67, 69, 70 77, 85, 89 Zauberpapyri ........................................ 72 Zerstückelungsritual .......................... 45 Zeus ......................................... 50, 52, 56, 57, 67, 82, 110, 110 Anm. 38, 111, 135, 139, 140 Anm. 129, 167 Zicklein ................................................ 41 Ziege [Ziegenbock: Zicklein:] ............ 31, 33, 41, 54 Anm. 91, 67, 68, 72, 82, 85, 86, 90, 189, 206, 234, 242 Ziegenfell .......................... 68, 72, 86, 90 Ziegenopfer ........................................ 31 Zoologie (antike Z.) ......................... 233 Zypern ........................................ 87, 107, 109 Anm. 28, 129 Anm. 98, 176
Zur Person des Autors Kurzbiographie: Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Innsbruck mit abschließendem Doktorat aus Alter Geschichte 1973 Promotion sub auspiciis Praesidentis 1984 Ernennung zum Leiter der Abteilung für Vergleichende Geschichte früher Kulturen am Institut für Alte Geschichte der Universität Innsbruck 1986 Habilitation aus Alter Geschichte und Vergleichender Geschichte früher Kulturen 1989 Gastdozentur an der University of New Orleans 2007 Versetzung in den Ruhestand, jedoch rege Lehrtätigkeit bis ins Jahr 2012 Forschungsschwerpunkte: • Vergleichende Religionsgeschichte (im Besonderen Christentum, Islam, Judentum, Buddhismus) • Medizingeschichte (von den schriftlosen Kulturen über China, Indien bis zum Ende der Antike) • Tiere im Leben der alten Kulturen • Universalhistorischer Kulturvergleich allgemein